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Eine starke Frau, ein wundervolles Land und ein Neuanfang mit Hindernissen.
1900: Die junge Erzieherin Nola verlässt England, um als Hauslehrerin auf einer Farm in Australien zu unterrichten. Dort wurde jedoch ein Mann erwartet. Der verbitterte Besitzer der Farm sowie sein Verwalter Galen nehmen Nola widerwillig trotzdem auf. Nola muss beweisen, dass sie das raue Leben im australischen Outback meistern kann. Dabei fühlt sich zusehends zu dem attraktiven Galen hingezogen ...
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Seitenzahl: 663
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Über dieses Buch
Titel
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Über die Autorin
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Impressum
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1900: Die junge Erzieherin Nola verlässt England, um als Hauslehrerin auf einer Farm in Australien zu unterrichten. Dort wurde jedoch ein Mann erwartet. Der verbitterte Besitzer der Farm sowie sein Verwalter Galen nehmen Nola widerwillig trotzdem auf. Nola muss beweisen, dass sie das raue Leben im australischen Outback meistern kann. Dabei fühlt sich zusehends zu dem attraktiven Galen hingezogen …
E L I Z A B E T H
HARAN
Im Land desEukalyptusbaums
Aus dem Englischen vonNikolaus Gatter
London 1910
Den Brief, den er gerade gelesen hatte, hielt Tilden Shelby noch in der Hand, als er die Fenster seines engen, im ersten Stock gelegenen Büros aufstieß. In der frischen Kühle des Herbstmorgens stieg sein Atem wie Rauch empor, während er zerstreut die gewohnte Betriebsamkeit auf der Oxford Street überblickte. Er hörte kaum die Schritte der Menschenmassen auf dem schmutzigen, nassen Pflaster; in Gedanken war er Tausende Kilometer entfernt. Erst das wütende Fluchen eines Mietkutschers, der seine elegante Kalesche an den Bordstein dirigierte, lenkte Tildens Aufmerksamkeit auf die Straßenszenerie.
Mitten im trüben Londoner Alltag war Tilden gedanklich im Outback Australiens gewesen, das in dem Brief als sonnenverbranntes Land mit riesigen, unerschlossenen Gebieten und endlos blauem Himmel beschrieben wurde. Von diesem entlegenen Kontinent wußte Tilden kaum etwas, weshalb er die detaillierte Schilderung des Absenders genoß, die seine Phantasie beflügelte: gnadenlose Hitze; Dürrezeiten, die manchmal jahrelang andauerten; und die Einsamkeit, mit der nur wenige fertigwurden ...
»O nein. Nicht schon wieder!« stöhnte er plötzlich, als er die Gestalt sah, die der Kutsche am Straßenrand entstieg. Nola Grayson, die den Kopf höher trug als die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen, war kaum zu übersehen. Obwohl sie sich mit natürlicher Grazie bewegte, unterstellte Tilden ihr ein übersteigertes Selbstwertgefühl. Sie arbeitete als Erzieherin und Lehrerin, behielt allerdings kaum eine Stelle länger als ein paar Wochen.
Mit wachsender Panik – und derselben unguten Vorahnung, die er jedesmal empfand, wenn Nola Grayson sein Büro aufsuchte – beobachtete er Nola. Plötzlich versperrte ihr ein junger Mann auf dem Bürgersteig den Weg. Die Neugier hielt Tilden am Fenster, denn der Herr war anscheinend von Adel. Selbst aus dieser Entfernung fielen Tilden der gekräuselte Hemdkragen und der elegante Schnitt seines Schwalbenschwanz-Mantels auf. Ein goldbeschlagener Spazierstock und ein seidener Zylinderhut gehörten ebenfalls zu seiner Ausstattung. Ganz in der Nähe wartete ein Diener neben dem offenen Schlag der auf Hochglanz polierten Phaeton-Kutsche, deren Pferde goldschimmernde Federbüsche trugen. Nola wollte ihren Weg fortsetzen, doch der Herr sprach sie erneut an. Er schien sie geradezu anzuflehen, was Tilden noch mehr wunderte. Wußte dieser junge Mann nicht, was er tat?
Tilden spitzte die Ohren, um dem Wortwechsel zwischen Nola und ihrem vornehmen Freund zu lauschen, doch die Stimmen drangen nur gedämpft zu ihm herauf. Sekunden später riß sie sich los und verschwand im Eingang des Bürogebäudes. Der junge Mann blickte ihr nach, während er das Gesicht kummervoll verzog. Er wirkte untröstlich, als er in seine Kutsche stieg.
Als Tilden Nolas raschen Schritt auf der Treppe hörte, die zu seinem Büro führte, überfiel ihn wieder Panik. Ob er sich in einem Schrank verstecken und die Türen verrammeln sollte? Dann schalt er sich selbst für sein kindisches Verhalten und nahm den Tadel doch gleich wieder zurück, denn Nola Grayson war keine gewöhnliche Vertreterin des schönen Geschlechts. Ihm blieb gerade noch Zeit, hinter seinem Schreibtisch Posten zu beziehen, aber seine Gemütsruhe war dahin, als die Tür geöffnet wurde.
»Guten Morgen, Mr. Shelby«, grüßte Nola nicht besonders herzlich.
Bis jetzt war er das auch, dachte Tilden im stillen und sank in seinen Stuhl zurück.
Ohne eine Antwort oder auch nur die Aufforderung, Platz zu nehmen, abzuwarten, zog Nola ihre Handschuhe aus und ließ sich auf einem Stuhl gegenüber dem Mahagonischreibtisch nieder. Einen flüchtigen Moment lang nahm Tilden eine winzige Unsicherheit in ihrem kühlen Benehmen wahr, die vielleicht noch von der Begegnung auf der Straße herrührte.
Ohne weitschweifige Einleitung kam er gleich zum Grund ihres Besuches. »So schnell wieder da, Miss Grayson?« Er riskierte einen Blick in ihre mokkabraunen Augen und unterdrückte, tief Luft schöpfend, das Bedürfnis, die Papiere auf der Ablage zu ordnen.
»Ich weigere mich, bei Leuten zu arbeiten, die mich nicht akzeptieren wie ich bin, Mr. Shelby«, stellte Nola ungerührt fest.
Mit anderen Worten: Sie war wieder entlassen worden.
Tilden stützte den Ellbogen auf die Tischplatte und barg die Stirn in einer Hand. »Sie haben die Erzieherinnenstelle bei den Gareth-Kindern doch erst vor drei Wochen übernommen ...«
»Ich weiß.«
Da war er wieder, dieser trotzige Unterton in ihrer Stimme.
Tilden Shelby seufzte unüberhörbar. Diese Situation war ihm nur allzu bekannt. Er versuchte, das Bild von Austin Gareths Miene aus seinem Kopf zu verbannen. Obwohl er es für seine Unterlagen wissen mußte, verspürte er nicht die geringste Lust, nachzuforschen, was diesmal hinter der Kündigung steckte.
Gerade sammelte er all seinen Mut, um Nola auszufragen, als das Telefon klingelte und ihn vorübergehend erlöste. »Sie erlauben, Miss Grayson«, unterbrach er sich.
Sie nickte kurz, während er sich räusperte und den Hörer abnahm.
»Guten Morgen ...«
Seine Stimme wirkte höflich und einladend, ganz anders als der Ton, mit dem er Nola wegen ihres Verhaltens zu tadeln pflegte.
»... Arbeitsvermittlung Shelby hier, Tilden Shelby am Apparat.«
Fast unmittelbar darauf erstarrten seine Gesichtszüge und er wurde kreidebleich. Nola, die ihn beobachtete, fühlte mit ihm. Sicher waren es schlechte Nachrichten! Möglicherweise ein Todesfall in der Familie?
»Guten Morgen, Mr. Gareth«, stammelte Tilden mit schreckgeweiteten Augen.
Nola seufzte. Austin Gareth! Sie lehnte sich im Stuhl zurück und blickte konzentriert auf ihre Handschuhe, während sie sich innerlich auf die bevorstehende Auseinandersetzung mit Tilden vorbereitete.
»Verstehe«, nickte Tilden. »Durchaus. Es tut mir furchtbar leid, Mr. Gareth. Ich konnte ja nicht ahnen ... Aber nein. Das ist wirklich nicht zumutbar.« Er riß die Augen noch weiter auf und blickte Nola entgeistert an. »Sehr begreiflich, Mr. Gareth. Sie hat ... o nein! Ist Mrs. Gareth wohlauf, Sir? Natürlich. Selbstverständlich erstatte ich Ihnen die Vermittlungsgebühr, wenn ich keinen passenderen Ersatz finde. Ich schicke Ihnen gleich jemanden vorbei, Sir ...«
Ein lautes Klicken am anderen Ende der Leitung signalisierte das abrupte Ende der Unterhaltung. Tilden Shelby legte vorsichtig den Hörer auf die Gabel. Als er aufblickte, um Nola vorwurfsvoll anzusehen, war er nicht mehr blaß, sondern dunkelrot im Gesicht aus Scham über die Demütigung. Nola verzog keine Miene.
»Sie haben ...« Tilden blinzelte und stockte, als könne er es kaum aussprechen. »... Georgina und Magdalene Gareth als Jungen verkleidet und in einer Cricket-Mannschaft angemeldet, in einem der vornehmsten Vereine Londons? Ich glaube das nicht ... selbst von Ihnen hätte ich so etwas nicht erwartet!«
»Warum nicht? Frauen sollten lernen, sich zu behaupten. Ich glaubte, dem alten Gareth einen Gefallen zu tun. Er hätte eindeutig lieber Söhne gehabt, und die Kinder mögen Cricket. Zu Hause dürfen sie spielen, warum also nicht in einem Verein?«
»Ich brauche Ihnen wohl nicht auseinanderzusetzen, daß es nicht nur gegen die Vorschriften verstößt, sondern gegen alle gesellschaftlichen Gepflogenheiten! Was die Kinder daheim machen, ist etwas ganz anderes.« Obwohl es ihm schwerfiel, die Fassung zu wahren, wirkte Tilden noch fast geduldig – obwohl er das, wenn es um Nola Grayson ging, ganz und gar nicht war.
»Deswegen kleidete ich sie doch als Jungs! Ein kleiner harmloser Spaß, mehr nicht. Übrigens hat ihre Mannschaft mit deutlichem Vorsprung gewonnen, was ihrem Selbstbewußtsein nur guttun wird. Wie leicht sich die Vereinsvorsitzenden auch hinters Licht führen ließen!«
Nolas Mangel an Verantwortungsgefühl und Takt überraschte Tilden Shelby immer wieder. Er hatte sogar den Eindruck, die Angelegenheit hätte ihr Vergnügen bereitet! »Glaubten Sie, Mrs. Gareth einen Gefallen damit zu tun? Wie beschämend das alles für die arme Frau gewesen sein muß!« Er wußte genau, daß es keinen Zweck hatte, an ihr Gewissen zu appellieren, aber was sollte er tun?
»Georgina, das Dummerchen, fiel aus der Rolle und winkte ihrer Mutter zu. Die saß neben dieser Lady Hartley, deren Sohn Napoleon heißt und auf der gegnerischen Seite spielte. Er ist ein so eingebildetes, verzärteltes ... ach, lassen wir das. Jedenfalls konnte ich nicht wissen, daß Mrs. Gareth sich derart vergessen und auf das Spielfeld laufen würde. Ich predige seit jeher, wie unpraktisch Damenkleidung ist. Man stolpert so leicht über all die Petticoats ... Der Ball hat sie übrigens nur knapp verfehlt. Sie kann von Glück sagen, daß sie keinen Kieferbruch erlitten hat!«
»In der Tat! Aber ein verstauchter Fußknöchel ist auch schon schlimm genug. Mr. Gareth sieht sich gezwungen, eine Pflegekraft für seine Frau einzustellen. Natürlich eine, die nicht durch diese Agentur vermittelt wird. Mein guter Ruf geht die Themse hinunter, zusammen mit Ihrem, Miss Grayson!«
»Ich finde, daß Sie jetzt wirklich übertreiben, Mr. Shelby.« Nola reckte energisch das Kinn vor. »Ich hatte das Pech, einen Arbeitgeber zu haben, der meine Auffassungen nicht teilt. Ich finde, Mädchen sollten für den Ernst des Lebens gerüstet sein, in dem sie sich alle Rechte erkämpfen müssen!«
Tilden spürte, wie er die Beherrschung verlor. »Bitte verzeihen Sie, wenn ich den Eindruck einer Überreaktion erwecken sollte«, entgegnete er aufgebracht, stand auf und stützte die Hände auf den Tisch. »Aber halten wir uns doch an die Tatsachen! Letzten Monat beschwerte sich Lord Stamford, daß Sie seinen Töchtern das Pokerspielen beibringen ...«
»Ach, Mr. Shelby«, verteidigte sich Nola, »insgeheim hat ihm das gefallen. Übrigens haben sie dabei eine erkleckliche Summe gewonnen. Schließlich brauchen junge Damen auch eine Aussteuer. Wenn seine Frau Gemahlin nicht gewesen wäre ...«
Jetzt war Tilden so weit, Nola ins Wort zu fallen. »So begeistert war er, daß er beinahe handgreiflich mir gegenüber geworden wäre!« Nola entging nicht das Zucken seiner Mundwinkel, das mit seinem zornigen Blick einherging, und sie tat gut daran, zu schweigen.
»Zuvor hatte sich Lady Claudia Cranley über Sie empört, weil ihre Töchter ein Baumhaus in ihrem Park errichtet hatten.«
»Und wenn schon! Ich glaube, jeder darf – und sollte – lernen, mit Hammer und Nägeln umzugehen.«
»Wenn Sie mich ausreden ließen, Miss Grayson, würden Sie begreifen, daß es nicht um das Baumhaus selbst ging. Vielmehr hieß es, Sie hätten den Mädchen beigebracht, sich Pfeil und Bogen zu basteln und damit zu schießen. Vom Baumhaus zielten sie dann auf Besucher. Nachdem Sie bereits entlassen waren, hat Lord Linley Lady Cranley auf Schmerzensgeld verklagt – wegen Körperverletzung an seiner Frau, die in den ... sagen wir: die seitdem nicht mehr richtig sitzen kann.«
Nola konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. »Sie können auch kaum ein Ziel verfehlen, das so groß ist wie ...« Tilden schien Nolas Belustigung allerdings nicht zu teilen, und so nahm sie sich zusammen und räusperte sich.
»Und davor hatte man Sie entlassen, weil Sie unter Alkoholeinfluß rauchten und Schnupftabak nahmen – im Haus Ihrer Arbeitgeber!«
Nun schien Nola ernstlich gekränkt. »Warum soll eine Frau nicht auch Zigarre rauchen oder schnupfen? Außerdem habe ich Ihnen damals schon erklärt, daß ich nur betrunken gespielt hatte.«
»Da müssen Sie meinem Gedächtnis nachhelfen, Miss Grayson. Wieso gaben Sie vor, betrunken zu sein?« Tilden hob eine seiner buschigen Brauen.
»Um eine andere Angestellte vor der Kündigung zu bewahren.« Obwohl ihre ständigen Rechtfertigungen sie allmählich ermüdeten, erinnerte sich Nola nicht ungern an den Spaß in der Küche von Grange Lodge. Sie und die Haushälterin Lily Bramston hatten angenommen, alle im Haus schliefen bereits. Vier kleine Brandys hatten sie schon getrunken, als sie auf die Idee kamen, eine Zigarre zu rauchen und die Schnupftabakdose zu öffnen. Husten und hysterische Lachsalven, Niesen und Prusten waren die Folge. Mit dem Lärm weckten sie den Hausherrn, Viscount Wallace, und als sie ihn die Treppe herunterpoltern hörten, verbarg sich Lily in der Besenkammer, und Nola fing an, aus voller Kehle zu singen. Der Viscount sah die offene Weinbrandflasche und glaubte, Nola sei völlig betrunken. Daraufhin wurde sie entlassen, aber wenigstens hatte Lily ihre Stellung behalten.
»Ich begreife nicht, wieso sich Männer über solche Kleinigkeiten aufregen können!« gab Nola schnippisch zurück. Immerhin durfte der Butler rauchen, und zwar mit ausdrücklicher Genehmigung des Hausherrn, und mehr als einmal hatte sie ihn beim Nippen an der teuersten Weinbrandflasche ertappt.
»Ob Sie das begreifen, Miss Grayson, oder nicht, spielt keine Rolle. Diese Männer zahlen Ihr Gehalt!« Tilden senkte seine Stimme plötzlich. »Und der Mann, der vor Ihnen steht, hat keine Stelle mehr, die er Ihnen vermitteln könnte!«
»Sie finden doch bestimmt noch etwas für mich, Mr. Shelby.« Nola gingen allmählich die Ersparnisse aus, und die Miete für ein anständiges Wohnheim war recht hoch.
Tilden fiel in den Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Er schloß kurz die Augen und dachte an die Schreibarbeit, die auf ihn wartete. Er war vollkommen ausgelaugt und am Ende seines Lateins – jedenfalls, was Nola Grayson betraf. Er hätte sie einfach wegschicken können, woran ihn jedoch Anstand und sein Gewissen hinderten. Hatte sie nicht erwähnt, daß ihre einzigen verbliebenen Angehörigen in Übersee lebten? Zum ersten Mal fragte er sich, ob sie auf der Flucht vor ihr ausgewandert waren.
»Ich würde vorschlagen, daß Sie Ihr Glück bei einer anderen Stellenvermittlung versuchen, Miss Grayson«, erklärte er resigniert, »wenn ich nicht wüßte, daß Sie die schon alle abgeklappert haben. Ich glaube, drei Agenturen mußten bereits dichtmachen. Würde mich nicht wundern, wenn meine die nächste ist!«
Nola zeigte den wohlvertrauten Glanz in den Augenwinkeln. Damit entlockte sie ihm immer wieder kleinere Indiskretionen und verleitete ihn dazu, zuviel von sich preiszugeben.
»Haben Sie eigentlich schon daran gedacht, zu heiraten?« fragte er plötzlich, und sie stutzte. »Sie könnten doch ihre eigenen Kinder großziehen – und gebe Gott, daß es nur Jungs werden!« Der Gentleman, den sie auf der Straße getroffen hatte, fiel ihm wieder ein. Der wäre sicherlich eine gute Partie; obwohl ihm der Mann bereits jetzt schon leid tat, dem Nola Grayson eines Tages ihr Jawort geben würde.
»Ich stand vorhin am Fenster, wissen Sie, und sah zufällig, wie Sie mit einem außerordentlich gutaussehenden vornehmen Herrn sprachen ...«
Nola wirkte verblüfft, dann entrüstet. Es war das erste Mal, daß Tilden erlebte, wie sie um ihre Fassung rang. Obwohl er sie eigentlich sofort wegschicken wollte, interessierte er sich doch für diesen winzigen Moment der Schwäche.
Sie schlug die Augen nieder und strich unnötigerweise ihren Rock glatt. »Sie meinen Leith, den Sohn von Lord Rodwell. Für uns kann es keine gemeinsame Zukunft geben. Obwohl er noch immer vom Gegenteil überzeugt ist ...«
Noch nie hatte Nola über ihre Privatangelegenheiten gesprochen, seit Tilden sie kannte. Ihr Berufsleben gestaltete sich so schwierig, daß für anderes kaum Zeit blieb.
Tildens Neugierde war geweckt. »Aber warum nicht, Miss Grayson? Den Sohn eines Lord würde doch jede Frau als Gatten schätzen, nicht wahr? Ich habe Sie ja nur kurz miteinander beobachtet, aber was ich in den paar Sekunden sehen konnte, läßt vermuten, daß er sehr bemüht ist.«
Nola hob ihren Blick, und plötzlich war Tilden sich nicht mehr sicher, ob er gut daran tat, über ihr bislang rein berufliches Verhältnis hinauszugehen. Doch sie versetzte ihn abermals in Erstaunen.
»Sagt Ihnen der Name ›Rodwell‹ wirklich nichts, Mr. Shelby? Auch für seinen Vater habe ich einmal gearbeitet.«
Tilden überlegte einen Moment. »Kommt mir ganz vage bekannt vor ...«
Nola war überzeugte, daß er den Skandal nicht vergessen haben konnte, der wochenlang Schlagzeilen gemacht hatte.
»Stand da nicht mal etwas in der Zeitung? Muß jetzt aber schon über ein Jahr her sein«, murmelte Tilden. »An die Einzelheiten erinnere ich mich nicht mehr.«
»Die Aufregung hielt Monate an, Mr. Shelby. Ich habe Lord Rodwell überrascht, wie er splitternackt seine frivole Schwägerin küßte und umarmte, im Wohnzimmer – während im Obergeschoß seine Frau im Ehebett schlief.«
Tildens Augen weiteten sich. Nolas Mangel an Dezenz schockierte ihn, aber mehr noch das, was sie ihm gerade mitteilte. Eine derart delikate Nachricht hätte er doch bestimmt nicht vergessen, wenn sie in der Zeitung gemeldet worden wäre!
»Haben Sie damit gedroht, es seiner Frau zu erzählen?«
»Allerdings!«
»Und – was passierte?«
»Er ließ es darauf ankommen!«
»Und Sie?«
»Ich habe klein beigegeben.«
Verblüfft und atemlos dachte Tilden, daß Miss Grayson, wie er sie kannte, einer derartigen Herausforderung doch jederzeit die Stirn bieten würde. »Das paßt aber gar nicht zu Ihnen«, stellte er fest.
»Ich wollte es auch nicht, das können Sie mir glauben!« Sie erhob sich, trat ans Fenster und starrte in den trüben Vormittag hinaus. Tilden konnte kaum erwarten, daß sie weitersprach.
»Ich weiß, nach außen hin wirke ich dreist, sogar gefühllos, Mr. Shelby. Das ist nun mal meine Art. Aber ich versichere Ihnen, daß auch ich ein Herz habe, besonders, wenn Kinder betroffen sind.«
»Daran ... daran habe ich nie gezweifelt, Miss Grayson. Keiner Ihrer ehemaligen Arbeitgeber hat sich je beschwert, daß Sie das Wohl der Kinder vernachlässigen ...«
Sekundenlang wandte sie sich zu Tilden um, und er war unerwartet gerührt von der Zärtlichkeit ihres Blicks. Er spürte, wie gern sie sich alles von der Seele reden würde. Hatte sie denn keine Freundinnen, denen sie sich anvertraute? Zum ersten Mal realisierte er, wie schwierig es sein mußte, dauerhafte Freundschaften zu pflegen, wenn man ständig die Stellen wechselte.
»Seine Töchter vergöttern ihn«, berichtete sie leise. »Und seine Frau Clarissa hat ein schlichtes Gemüt. Außerdem machte sie den Eindruck, als balanciere sie ständig am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Drei unschuldigen Menschen das Leben verbittern, das wollte ich nicht auf mich nehmen.«
»Es war sehr feinfühlig von Ihnen, daran zu denken«, entgegnete Tilden. Nola hatte also noch andere Qualitäten, die er erst jetzt kennenlernte – eine sanfte, feminine Seite. »Und – haben Sie es sich dann anders überlegt? Die Angelegenheit wurde doch trotzdem ruchbar.«
»Nein. Obwohl es mich innerlich fast zerrissen hat, bin ich still weggegangen. Eine seiner Küchenangestellten hat die Presse informiert. Ein junges Mädchen, das er sexuell belästigt hat, seit sie noch fast ein Kind war, das alte Ekel! Wie ich später hörte, konnte sie seine ständigen Annäherungen nicht mehr ertragen. Offenbar hat Rodwell sie entlassen, weil sie ihn abgewiesen hatte und dafür nahm sie Rache.«
»Das war sehr mutig, für ein so junges Mädchen«, sinnierte Tilden. »Aber daß jemand vom Personal genannt worden war außer Ihnen, ist mir entgangen.«
»Das war auch nicht der Fall. Das Mädchen wollte sich rächen, verlor aber den Mut, als die Stunde der Wahrheit schlug. Vermutlich mußte sie auch an ihre Familie denken und wollte deren Namen nicht mit in den Schmutz ziehen lassen. Sie wußte jedoch, daß ich Lord Rodwells Ehebruch entdeckt und deshalb eine heftige Auseinandersetzung mit ihm gehabt hatte. Das reichte für einen Skandal, auch ohne daß man ihren Namen ins Spiel brachte. Natürlich hat Rodwell mich beschuldigt, ihn verraten zu haben.«
Nola war eine sehr rücksichtsvolle Frau, dachte Tilden. Ob er sich unter ähnlichen Umständen ebenso großmütig verhalten würde, wußte er nicht. »Hat er Sie denn bedroht?«
»Er fand eine andere Weise, sich zu rächen.« Sie setzte sich wieder.
Plötzlich erinnerte sich Tilden, daß damals von einer Affäre mit einem Kutscher die Rede gewesen war ... »Hatten Sie nicht ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann?« Er kratzte sich hinter den Ohren und rutschte unruhig auf seinem Stuhl.
»Daran war kein Körnchen Wahrheit, Mr. Shelby. Ich bin weiß Gott keine Heilige, aber mit verheirateten Männern habe ich mich nie eingelassen. Rodwell streute häßliche Gerüchte aus: Ich hätte eine Affäre mit Clyde Tirrell, dem Kutscher eines Nachbarn, mit dem ich kaum ein Wort im Leben gewechselt habe. Seine Frau erwartete gerade ihr erstes Kind, und sie litt furchtbar unter dieser Geschichte, wenige Wochen vor der Geburt. Beinahe wäre ihre Ehe auseinandergegangen. Die Zeitungsartikel waren schrecklich; Rodwell erfand immer neue Details. Ich war so wütend, daß ich ihn auf einem seiner gesellschaftlichen Empfänge zur Rede stellte. Mehrere Minuten haben wir gestritten, vor einer Schar illustrer Gäste, die unserer Auseinandersetzung lauschten. Als er mich als ›frustrierte alte Jungfer‹ bezeichnete, die es heimlich auf ihn abgesehen habe, stieß ich ihn in den Froschteich.«
Tilden mußte wider Willen lachen.
Auch Nola lächelte. »Das Wasser war grün und schleimig. Als sich das Publikum vom ersten Schrecken erholt hatte, wurde mir applaudiert!«
»Das hätte ich gern mit angesehen«, seufzte Tilden und vergaß ganz, wie empört und zumindest peinlich berührt er damals gewesen war.
»Irgendwo müßte ich noch einen Zeitungsausschnitt haben«, meinte Nola achselzuckend.
Tilden erbleichte. »Die Presse war auch dabei?«
»Aber ja doch! Rodwell hatte gerade die Nachricht von einem Gesandtschaftsposten in Indien erhalten. Nachdem sie jedes Wort, das zwischen uns fiel, genauestens notiert hatten, nahmen die Reporter seine haltlosen Erklärungsversuche unter die Lupe. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß ich eine Frau sei, die sich Genugtuung verschafft habe; und das stimmte ja auch gewissermaßen, denn ich hatte mir ja nichts vorzuwerfen.« Sie sah Tildens Gesichtsausdruck und wußte genau, was er jetzt dachte. »Ausnahmsweise«, setzte sie augenzwinkernd hinzu.
»Und Rodwells Entsendung nach Indien ...?«
»Dazu kam es nicht mehr.«
Tilden schüttelte verwundert den Kopf. »Aber was hat der junge Rodwell mit all dem zu tun?« Jetzt machte ihn die Geschichte erst richtig neugierig.
Nolas Miene verdüsterte sich. »Leith ist Lord Rodwells Sohn aus erster Ehe. Als die Klatschpresse mich so richtig auf den Kieker nahm, hat er mich besucht und mir seine Unterstützung angeboten. Offenbar kannte er den wahren Charakter seines Vaters. Aber er wollte seine Halbschwestern nicht verletzen, genau wie ich. Er bewunderte die Courage, mit der ich mich gegen seinen Vater zur Wehr setzte. Wahrscheinlich hatte er das selbst schon versucht und war damit gescheitert. Trotzdem war ich froh über seinen Zuspruch.« Seufzend wandte sie sich wieder dem Fenster zu, hinter dem die ersten Tropfen eines Regenschauers fielen. Tilden spürte, daß zwischen ihr und dem jungen Rodwell mehr gewesen war.
»War seine Anteilnahme nicht auch – persönlicher Art?« erkundigte sich Tilden sanft.
»In der Tat!«
Tilden spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug.
Plötzlich lächelte Nola wieder. »Wie Sie schon sagten, er ist ein gutaussehender junger Mann, Mr. Shelby, und ich bin eine Frau ... die auch ihre Bedürfnisse hat.« Tatsächlich hatte Nola und Leith monatelang eine heftige Liebesbeziehung verbunden. Die bloße Erinnerung an ihre heimlichen Treffen reichte aus, um ihr das Blut in die Wangen zu treiben.
Tilden öffnete erstaunt den Mund, als er Nola erröten sah, aber er schloß ihn wieder, bevor sie es merkte.
»Wir standen uns ... eine Zeitlang sehr nahe«, gestand sie schüchtern. »Ich glaubte sogar ...« Sie räusperte sich und reckte die Schultern. »Ob er es wirklich so ernst meint, ist nicht ganz sicher, obwohl er alles unternimmt, um es mir zu beweisen. Ich glaube, daß Leiths vorgeblicher Eifer auch daher rührten könnte, daß er seinem Vater weh tun oder seine Aufmerksamkeit erregen will. Dafür gäbe es kein besseres Mittel. Ich bin ja bloß Gouvernante und gehöre zum niederen Pöbel – doch sein Vater könnte wohl eher hinnehmen, daß er eine Dirne aus dem East End ehelicht als mich, die Frau, die ihn öffentlich gedemütigt hat!«
»Aber Miss Grayson, denken Sie denn gar nicht an die Gefühle, die Lord Rodwell junior für Sie hegt? Außerdem könnten Sie in Wohlstand leben, eine höhere gesellschaftliche Stellung einnehmen und den Respekt der einflußreichsten Persönlichkeiten Londons genießen. Kurz und gut: Sie hätten eine Welt zu gewinnen!«
Nola schob die Unterlippe vor und lächelte nachdenklich. Tilden musterte sie, während ihre Gedanken in die Vergangenheit zurückschweiften und ein schmerzlicher Ausdruck in ihre Augen trat.
Sie hatte zunächst von ganzem Herzen geglaubt, daß Rodwell sie liebte. Immer wieder hatte er Bilder von Heirat, Kindern und einem langen, glücklichen Zusammenleben beschworen. Ihre Beziehung verlief sehr ungestüm, mit ihm hatte Nola die aufregendsten Tage ihres Lebens verbracht. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, traf es sie wie ein Schlag. Es folgte die unvermeidliche Auseinandersetzung zwischen Leith und seinem Vater. Beide Männer ahnten nicht, daß Nola sie belauschte. Was sie hörte, war niederschmetternd: Leith hatte sie lediglich benutzt, um seinen Vater zu kränken. Ihre Affäre hatte sie nur einem Vorwand zu verdanken! Sie fühlte sich verraten, schamlos betrogen. Als sie Leith später zur Rede stellte, erklärte er alles für ein Mißverständnis. Wieder und wieder behauptete er, sie zu lieben, flehte um die Fortdauer ihrer Gunst. Aber sie konnte weder vergessen was sie gehört hatte, noch den Ton, mit dem Leith seinen Vater angriff. Er hatte geklungen wie ein Fremder, ein abgebrühter, ruchloser, unpersönlicher Feind.
»Es mag Ihnen allzu romantisch erscheinen, Mr. Shelby, aber wenn ich heirate, soll es aus dem einzig richtigen Grund geschehen: aus Liebe. In meinen Augen kann sich keine noch so hohe gesellschaftliche Stellung, kein Adelstitel, kein Wohlstand der Welt mit dem wahren Glück der Liebe messen. Diese Tatsache kann ein Leith Rodwell in seinem schalen Dünkel nicht akzeptieren. Er hatte nichts anderes im Sinn, als seinen Vater zum Narren zu halten. Jetzt aber hat sich das Blatt gewendet; eine Frau aus dem einfachen Volk hat ihm einen Korb gegeben, und vor seinen feinen Freunden wird er dadurch zum Gespött.«
»Aber warum bedrängt er Sie noch immer?«
»Vermutlich will er bloß wieder anbandeln, damit er mich in aller Öffentlichkeit kompromittieren kann. Schon, um seine Ehre wiederherzustellen ...«
»Das kann nicht stimmen. Nach allem, was ich gesehen habe, war er ernstlich bekümmert, als Sie ihn auf der Straße stehen ließen. Es wäre doch möglich, daß er Ihnen zunächst den Hof machte, um seinen Vater zu ärgern, sich aber dann doch verliebte?«
Nola schaute entgeistert auf. »Genau das behauptet er auch!«
»Sehen Sie? Er könnte doch ehrenwerte Absichten haben.«
»Was ändert das schon. Liebe entspringt dem Vertrauen, und ich traue ihm nicht mehr über den Weg. Eine Zeitlang konnte ich es blindlings, aber das ist vorbei. Und da ich von Ehen aus Bequemlichkeit nichts halte, gibt es keinen Grund mehr, mit Leith Rodwell zu verkehren. Sie mögen das altmodisch nennen, und es paßt auch nicht zu mir. Aber ich glaube nach wie vor, daß Liebe das einzige Motiv für eine Eheschließung sein sollte.«
Tildens Gesichtszüge wurden weich, und sein Blick wanderte auf den Schreibtisch, wo das Foto seiner verstorbenen Frau stand. Er hatte sich mit vierzehn in Irene verliebt. Dreißig Ehejahre hatten sie miteinander verbracht, und es war die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Sie war still, bescheiden, fast schüchtern gewesen, hatte ihm das Gefühl gegeben, der ›Herr im Haus‹ zu sein. Und jeden Tag vermißte er sie mehr.
Er wandte sich wieder der außergewöhnlichen Frau zu, die vor seinem Schreibtisch saß. Seit zwei Jahren kannte er Nola, und ihre revolutionären Ideen über Bildung und Erziehung hatten ihm mehr als einmal Kopfzerbrechen bereitet.
»Gar nichts an Ihnen ist altmodisch, Miss Grayson«, versicherte er.
Sie strahlte wieder, und ihr altes Selbstbewußtsein kehrte zurück.
»Ehrlich! Ich habe nicht die geringste Lust, in eine muffige, lieblose Ehe gesperrt zu werden, in der mein Mann alle Rechte für sich beansprucht und mir keines gewährt. Danke, verzichte!«
Ihre Erklärung war alles andere als überraschend. Sie klang mehr nach jener Nola, die er kannte, der stolzen, unabhängigen Frau. Dennoch war er froh, etwas über ihre Schwachstellen erfahren zu haben.
»Vielleicht sollten Sie nach Übersee gehen, all Ihre Sorgen und den unerwünschten Verehrer hinter sich lassen?«
»Nach Übersee?« Nola überlegte. In London hatte sie keine Wurzeln geschlagen: kaum berufliche Aussichten, wenig Besitztümer, nicht einmal ein eigenes Dach über dem Kopf. Kurz, was hielt sie eigentlich noch hier?
Tildens Vorschlag war aus der Not geboren. Erst als er die Hand auf das Schreiben legte, das er vorhin gelesen hatte, war ihm der Einfall gekommen. Jetzt nahm er den Brief auf und überflog ihn. Gesucht wurde eine Lehrkraft. Zwar hatte der künftige Arbeitgeber mehr als einmal ein ›er‹ eingeflochten, aber nicht speziell und ausdrücklich nach einem Mann verlangt. Das war gewissermaßen eine Frage des Abwägens, eine regelrechte Gratwanderung, aber Tilden wollte das Risiko gern auf sich nehmen. Es war schwierig genug, jemanden zu finden, der bereitwillig ins Ausland ging, Tausende von Kilometern reiste und dann fernab jeder Zivilisation lebte. Er mußte Nola die Stellung so verlockend wie möglich machen, und er wußte auch schon, wie. »Australien vielleicht?« frohlockte er. »Ständig warmer Sonnenschein, große Weiten ...«
»Australien ...« Nola hatte sichtlich Feuer gefangen. Sie beugte sich interessiert vor, um mehr zu erfahren.
Tilden geriet in Fahrt. Den Köder hatte er ausgelegt, und sie hatte wunschgemäß angebissen. »Hier ist ein Stellenangebot für eine Lehrkraft«, holte er aus. »Ich war ganz überrascht, daß man sich an mich wendet. Offenbar ist mein Ruf auf dem fünften Kontinent noch ungebrochen ...« Wieder riskierte er einen Blick zu Nola, aber sie war noch immer in Gedanken versunken.
»Australien! Ziemlich weit von England«, murmelte sie.
Tilden grinste und konnte sein Frohlocken nicht verbergen.
Sie bemerkte seine gute Laune, fühlte sich aber nicht gekränkt. Die Aussicht auf eine Lehrerstelle in Australien fand sie faszinierend.
»Was steht denn noch in dem Brief?« wollte sie wissen.
»Es handelt sich um eine Viehfarm. Der Absender ist ein gewisser Galen Hartford. Er schreibt im Namen des Eigentümers, Langford Reinhart. Mr. Hartford ist sein Verwalter, und dessen Kinder brauchen offenbar Unterricht. Sie sind dreizehn, zehn und vier Jahre alt.«
»Jungen oder Mädchen?« erkundigte sich Nola.
Tilden hob die Brauen. »Davon steht hier nichts.«
Einem anderen Bewerber hätte er wohl kaum alle Einzelheiten offenbart. Doch für Nola würde es den Reiz nur steigern, je dramatischer er die Herausforderung darstellte.
»Mr. Hartford fordert mich auf, den Bewerbern nicht zu verschweigen, daß der Einsatzort sehr abgelegen ist. Und Sie müssen mit allerlei Widrigkeiten rechnen: Hitze, Dürreperioden, Überflutung. Im Umkreis von Hunderten von Kilometern wären Sie anscheinend die einzige Frau.« Einfach ideal, dachte er. Keine, mit der man sie vergleichen könnte. Plötzlich fiel ihm etwas ein, was er nicht bedacht hatte, und er runzelte die Stirn.
Er war noch nicht sicher, ob er es erwähnen sollte, aber Nola kam ihm zuvor. »Stimmt etwas nicht, Mr. Shelby?«
»Mir wird nur gerade klar, daß es keine Anstandsdame gäbe ... das wäre natürlich ein Risiko für Ihre Unbescholtenheit.«
Nola lachte unbefangen. »Um Himmels willen, Mr. Shelby! Eine Anstandsdame, was für ein Unsinn! Ich kenne junge Damen, die ihre leidenschaftlichsten Liebschaften direkt unter den Augen ihrer ›Anstandsdame‹ ausgelebt haben ...«
Tilden überlegte, ob sie wohl sich selbst damit meinte.
Als sie spöttisch hinzufügte: »Was verboten ist, reizt doch am meisten«, wußte er Bescheid. »Würde ich mich um meinen guten Ruf sorgen, dann hätte ich doch niemals ... Na, über meine Reputation brauche ich Sie nicht zu belehren. Sie ist schließlich der Grund, weshalb ich derzeit ohne feste Anstellung bin. Aber wir wollen doch hoffen, daß mich der Klatsch nicht auch noch in der Wildnis Australiens einholt, oder?«
Tilden schüttelte den Kopf und wechselte rasch das Thema. »Mr. Reinhart bietet einen festen Vertrag für ein Jahr und will alle Auslagen erstatten.«
»Großartig! Die Beschreibung klingt, als nähme die Stelle meine ganze Kraft in Anspruch. Es wäre etwas völlig anderes für mich. In dieser einsamen Gegend dürften Mr. Hartfords Kinder bisher nur wenig Schulbildung genossen haben.«
»Sehr wahr!« Tilden gab sich Mühe, das Feuer ihrer Begeisterung zu schüren. »Und mitten in der Wildnis brauchen Sie sich nicht um Konventionen zu scheren. Da können Sie nach Herzenslust auf Bäume klettern, in Flüssen schwimmen, Cricket oder Poker spielen, ohne daß Ihnen ein Lord oder eine Lady mißbilligend über die Schulter blickt ...«
Zwischen Nolas Augenbrauen erschien eine steile Falte. »Ist das ein ernsthaftes Stellenangebot, Mr. Shelby, ja oder nein?«
»Aber sicher doch. Ich wollte nur die angenehmen Seiten aufzeigen für ... nun, für eine Bewerberin, die so ›einzigartig‹ ist wie Sie, Miss Grayson!« Tilden warf einen weiteren Blick in den Brief, studierte den letzten Absatz gründlich, und seine Miene drückte Beklommenheit aus. »Bevor ich die Zusage gebe, Miss Grayson, muß ich Sie jedoch vorwarnen. Wer immer die Lehrkraft sein wird, von ihr wird mehr erwartet, als Unterricht zu erteilen ...« Hastig setzte er hinzu, als er ihre Verwirrung sah: »Vergessen Sie nicht, das Gehalt ist doppelt so hoch wie das, was Sie in London bekommen. Aber wie gesagt, die Reinhart-Farm liegt sehr einsam, und von allen, die dort arbeiten, werden eine Menge Fertigkeiten verlangt. Nicht viel anders als in einem Wanderzirkus.«
Nola hatte ein ungutes Gefühl. Wenn so gut bezahlt wurde und der Arbeitsplatz so entlegen war, wollte sie lieber ganz genau wissen, was zu ihren Aufgaben gehörte. »Steht drin, was die Lehrkraft alles machen müßte?« fragte sie und spitzte die Lippen. Ihre Phantasie gaukelte ihr allerlei Bilder vor: Sie sah sich schon Ställe ausmisten, oder gar Bullen kastrieren ... keine angenehme Vorstellung!
Aus der Traum, dachte Tilden, als er ihr Zögern bemerkte. Rasch überflog er die Liste und suchte umständlich nach einem Beispiel, das nicht allzu abschreckend wirkte. »Ein bißchen Buchführung wird hier verlangt.«
Nola atmete erleichtert auf. »Das dürfte kein Problem sein. Bei der Buchführung helfe ich gern. Sonst noch etwas?«
Jetzt mußte Tilden seufzen. Wieder vertiefte er sich in den Brief. »Und wenn der Auftrieb stattfindet, geht offenbar jeder mit zur Hand.«
»Auftrieb!« Nola schlug die Hand vor den Mund. Also doch Bullen kastrieren oder die armen Viecher mit glühenden Eisen brandmarken ...
»Nur die Ruhe, Miss Grayson. Die Lehrkraft wird allenfalls den Viehtreibern im Camp etwas zu essen vorsetzen. Das wäre doch nicht zuviel verlangt, oder?«
»Essen machen?« Kochen war, um es höflich auszudrücken, nicht gerade ihre starke Seite.
»Am Ende eines schweren Arbeitstages wird den Viehtreibern mehr oder weniger alles schmecken ...«, ermunterte Tilden sie.
Nola hob eine Augenbraue.
»Zweifellos verstehen Sie sich auf eine delikate Küche!« beeilte sich Tilden, sie zu beschwichtigen, bevor sie seine Bemerkung als Beleidigung auffaßte. »Ein paar Hühner füttern wird Ihnen doch auch nichts ausmachen, nicht wahr?« wechselte er das Thema. »Oder die Schoßtiere der Kinder? Ab und zu eine Kuh melken? Oder mal bügeln?«
»Ich glaube fast, die suchen keine Lehrerin, sondern ein Mädchen für alles, Mister Shelby. Kein Wunder, daß sie beim Honorar nicht geizen. Ich will wenigstens hoffen, daß ich nach all der Plackerei nicht beim Unterrichten noch einschlafe.«
»Immerhin haben Sie Energie genug, die halbe Aristokratie Londons in Aufregung zu versetzen, Miss Grayson. Da werden Sie auch von ein paar Haushaltspflichten nicht überfordert!«
»Komisch, daß Sie mir plötzlich so viel zutrauen, Mr. Shelby. Aber was habe ich zu verlieren? An London bindet mich sowieso nichts mehr.«
Tilden Shelby gab sich Mühe, seine Erleichterung zu verbergen, aber Nola bemerkte sie trotzdem. Aber wie sehr er die Unerschrockenheit bewunderte, mit er sie ihre neue Aufgabe anpackte, ahnte sie nicht.
»Ich lasse Ihre Zusage noch heute abgehen«, erklärte er, »und veranlasse alles für die Überfahrt. Wenn Sie morgen früh anrufen, kann ich Ihnen Genaueres sagen.«
»Danke sehr.« Einen Augenblick lang musterte sie ihn nachdenklich. »Ihre Freude über meine bevorstehende Abreise könnten Sie ruhig ein wenig verbergen, Mr. Shelby, wenigstens so lange, bis ich mich nach Australien eingeschifft habe. Daß es Sie derart entzückt, mich endlich loszuwerden, kränkt mich nicht wenig!«
Tilden wurde über und über rot. »Aber wenn ich Ihnen doch sage«, stammelte er nervös, »ich freue mich bloß mit Ihnen, daß Sie endlich ... Ihre Berufung finden und einen Ort, wo man Ihre Talente zu schätzen weiß!«
Nola amüsierte es, wie er nach Ausreden suchte.
Er schaute auf, und seine Verwirrung legte sich. Jetzt mußte auch er lächeln.
»Mr. Shelby, ich glaube, daß Sie mich dennnoch vermissen werden!«
Als sie sich erhob, eilte er voraus, um ihr die Tür aufzuhalten. Sie wandte sich zum Abschied noch einmal um, und er blickte kurz in ihre gefühlvollen, braunen Augen. Ihre Körpergröße hatte ihn stets eingeschüchtert und ihre resolute Art ebenfalls. Doch nun, wo er sie vermutlich zum vorletzten Mal sah, betrachtete er ihr Gesicht zum ersten Mal genauer.
Daß Nolas Erscheinung und Auftreten nicht gerade als ›hübsch‹ gelten konnte, verstand sich von selbst. Doch wenn man sich Zeit nahm, wie er jetzt, entdeckte man doch die gutaussehende Frau in ihr. Tilden fragte sich, wie ihr honigfarbenes Haar wohl in modischen Ringellöckchen aussehen würde. Wie lang mochte es sein, war es naturgewellt? Jetzt, wo sich erste zarte Bande zwischen ihnen knüpften, verlangte ihn beinahe danach, sich hochzurecken und die Nadeln herauszuziehen, die ihr Haar immer streng zu einem Knoten zusammenhielten. Er stellte sich vor, wie sie in einem femininen Ballkleid aussehen mochte ...
Doch dann schüttelte er sich, wenigstens innerlich, und rief sich selbst zur Ordnung. Ballkleider und Ringellöckchen waren nichts für Nola Grayson. Und wenn er es wagen würde, ihr Haar zu lösen, würde sie das als Übergriff betrachten und ihn vermutlich die Treppe hinunterstoßen.
»Bis morgen dann, Miss Grayson«, nickte er steif.
»Bis morgen, Mr. Shelby.«
Tilden Shelby sah ihr nach, wie sie die Treppen hinabging. Eine Frau, die gegen alle herkömmlichen Sitten und Gebräuche verstieß, die ihrer Zeit weit voraus war. Nie im Leben würde er es offen zugeben, aber tief in seinem Innersten glomm ein Funke Respekt für diese Haltung. Und heute hatte er gelernt, daß sie auch nur ein Mensch war – wie alle anderen auch.
Tildens Gedanken kehrten zu Galen Hartford zurück. Sein Brief erweckte den Eindruck, als wüßte der Absender genau, was er wollte. Ein unflexibler, sturer Mensch, mit eigenen Idealen und Grundsätzen. Wie Galen Hartford reagieren würde, wenn er auf Nola Grayson stieß, war schwer vorstellbar. Aber eins war sicher – sobald sie in der kleinen, entlegenen Viehfarm im Outback von Australien eintraf, würde sie das Leben aller, die dort wohnten, umkrempeln.
Nola saß auf ihrer Seekiste im Hafengelände von Maryborough Port an der Ostküste Australiens, als sie von einem schmallippigen Reverend namens Tristram Turpin angesprochen wurde. Sie waren umgeben von Schafen, die an Bord getrieben wurden, um sie zu den Märkten im Süden zu verschiffen. Fasziniert hatte Nola zugesehen, wie die Hafenarbeiter mit ihren Hunden die Schafherde auf die Rampe dirigierten. Ebenso begeistert war sie vom Entladen der Schafe in Sydney gewesen, wo sie die Reise nach Norden angetreten hatte.
Der Reverend räusperte sich geräuschvoll. »Verzeihen Sie, Miss Grayson!«
Nola fuhr herum. Obwohl sie als Passagiere desselben Dampfers aus England gekommen waren – der Louisa May, zusammen mit Hunderten anderer Emigranten –, hatten sie einander unterwegs kaum gesehen. Er hatte die meiste Zeit unter Deck verbracht, wo er sich um seine Frau kümmerte, die, wie es hieß, entsetzlich unter Seekrankheit litt.
»Sie beladen gerade die Kutsche, die uns nachher zur Bahnstation bringen soll.«
Nola nahm das Taschentuch von Nase und Mund. »Danke, Reverend Turpin. Ich kann es kaum abwarten, daß es endlich weitergeht. Diese Hunde sind zwar entzückend, aber der von den Schafen aufgewirbelte Staub verstopft mir Hals und Lunge!«
»Kein Wunder. Und dann auch noch die Fliegen! Meine Frau hat eine sehr empfindliche Konstitution; von dem Geruch der Tiere wird ihr übel. Sie hat mit den Kindern bereits Zuflucht in der Kutsche gesucht.« Während er sprach, tupfte er sich den Schweiß von Stirn und Nacken. »Aber das Herdenvieh, die Fliegen und der Staub sind noch das kleinere Übel, verglichen mit dem hiesigen Klima. Immer so schwül und feucht ...«
»Wenn Sie darauf bestehen, in diesen Breitengraden Ihre Kutte zu tragen, sollten Sie die Unterwäsche weglassen, Reverend. Es wird sicher keinem auffallen!«
Der Reverend schaute Nola verblüfft an, und die Farbe wich aus seinem Gesicht. Nola schwenkte den Saum ihres Kleides vor und zurück, um sich den Unterleib zu fächeln, was der Reverend für höchst anstößig und wenig damenhaft hielt. Er wandte den Blick ab und murmelte ein Gebet für sie.
»In diesen Breitengraden müssen wir uns auf das Praktische besinnen«, belehrte ihn Nola und sah den beiden breitschultrigen, untersetzten Männern in löchrigen Westen und Hosen zu, die ihr Gepäck aufnahmen. Seekiste und Kleiderkoffer überließ sie ihnen, aber ihren Handkoffer wollte sie lieber selbst tragen.
»Schnürleibchen und Büstenhalter habe ich noch nie gemocht, aber Petticoats kommen bei dieser Hitze sicher nicht in Frage. Die Eingeborenen gehen fast splitternackt, habe ich mir sagen lassen. Nicht, daß wir uns ein Vorbild daran nehmen sollen, aber – andere Länder, andere Sitten!«
Die Männer, die offenbar etwas aufgeschnappt hatten von dem, was Nola vorbrachte, warfen dem nun errötenden Reverend neugierige Blicke zu. Verzweifelt bemühte er sich, das Thema zu wechseln. »Wie, äh ... wie weit reisen Sie noch, Miss Grayson?«
»In das Gulf Country, Reverend. Das liegt am anderen Ende der Postkutschenstrecke, glaube ich. Und Sie?«
»Bis Winton.« Sie gingen jetzt nebeneinander; die Träger folgten ihnen mit Nolas Gepäck.
»Dann brauchen Sie wenigstens nicht umzusteigen«, seufzte sie. »Soviel ich weiß, liegt Winton an der Bahnstrecke.« Nola musterte den Reverend, den sie um Haupteslänge überragte. »Ich fürchte, von dort aus sind es für mich noch zwei Tagesreisen mit der Kutsche. Trotzdem freue ich mich, endlich die Landschaft zu sehen. Wie wäre es, wenn wir uns im Speisewagen verabreden und gemeinsam den Abend verbringen?«
Der Pfarrer machte große Augen, und er verspürte ein leichtes Flattern in der Brust. Als Nola hellauf lachte, verwandelte sich seine Bestürzung in Unmut.
»Aber, aber, Reverend – ich wollte Ihnen keinen unsittlichen Antrag machen. Ich dachte nur, wir könnten zusammen zu Abend essen. Mit Ihrer Familie, versteht sich.«
»Natürlich. Ich, äh ... ich dachte bloß ... meine Kinder lenken Sie nur von der Aussicht ab und vom Essen, Miss Grayson. Sie können sehr ungezogen sein, wissen Sie!«
»Ich bin Lehrerin, Reverend. Mit Kindern komme ich hervorragend zurecht.«
»Verstehe ...« Der Pfarrer grinste schwach und betete erneut, diesmal darum, daß Nola seiner Frau nicht vorschlagen würde, die Unterwäsche auszuziehen. Womöglich würde sie der Schlag treffen!
Während sie auf dem Weg zum Bahnhof das Städtchen Maryborough durchquerten, staunte Nola über die vielen klapprigen Pferdekutschen, die neben schicken Einspännern durch die Straßen schaukelten. Mehr noch überraschte sie, daß Ochsenfuhrwerke erlaubt waren. Schaf- und Rinderherden trabten zwischen den Häusern, von hektisch bellenden Hunden begleitet, und wirbelten Staubwolken auf. Die Gebäude waren aus Holz und verfügten über überdachte Veranden zum Schutz vor der sengenden Hitze. Wenn man aus der gepflegten Londoner Innenstadt mit ihren exakt gestuften Reihenhäusern kam, wirkte Maryborough sehr abgelegen und ländlich. Der Bahnhof bestand aus einer einzigen Holzbank auf einem schmalen Bahnsteig; sonst war weit und breit nichts zu sehen. Tickets mußten in einem überfüllten Kaufladen an der Hauptstraße besorgt werden, einem Bretterbau, wo alles Mögliche und Unmögliche feilgeboten wurde.
Die Zugfahrt nach Winton gestaltete sich überraschend angenehm. Allerdings mußten die Abteilfenster offenbleiben, denn je weiter sie nach Norden kamen, desto größer wurde die Hitze. Der Schaffner warnte Nola, daß der australische Sommer noch bevorstehe – dann erst würde das Klima nahezu unerträglich, besonders im Gulf Country mit seiner hohen Luftfeuchtigkeit.
»Wenn diejenigen damit fertig werden, die dort wohnen, bringt es mich auch nicht um«, versetzte Nola zuversichtlich. Der Schaffner zog die Augenbrauen hoch. Wieso gaben sich Neulinge immer so optimistisch? Sie redeten jedoch anders, wenn sie die Rückreise antraten – was seiner Erfahrung nach bei den meisten nie allzu lange dauerte.
In der bequemen Abgeschiedenheit ihres Erste-Klasse-Abteils, das Langford Reinhart ihr gewährt hatte, konnte Nola die vorüberziehende Landschaft betrachten. Als geradezu fürchterlich empfand sie diese endlose Ödnis. Jetzt waren sie schon Hunderte von Kilometern durch menschenleeres Gebiet gereist; nur ab und zu sah man ein paar Siedlungen. Für deren Einwohner war der vorüberfahrende Zug eine Sensation. Sie standen auf den Bahnsteigen, neugierig und aufgeregt, und schwatzten in ihrem australischen Akzent lebhaft durcheinander. Die Männer – gebeugt, mit breiten Schultern – rauchten meist Pfeife, die Frauen trugen merkwürdig anmutende Hüte und wirkten unerschütterlich. Ihre Haut war gebräunt und schien leicht gegerbt. Von den Lagerfeuern stieg Rauch empor, der nach verbrannten Eukalyptusblättern duftete. Alles war so neu, aufregend und verlockend.
An beiden Abenden ihrer Zugfahrt nahm Nola das Abendessen mit Reverend Turpin und dessen Familie ein, doch der Reverend wirkte sehr nervös. Jeder Versuch Nolas, seine Laune aufzubessern, schien alles zu verschlimmern. Mehrmals hätte er sich, als sie sich beim Essen – nach Nolas Ansicht – ganz normal unterhielten, fast verschluckt und daraufhin jeden weiteren Bissen verweigert. Seine Ehefrau Minerva wirkte auf Nola hektisch und erinnerte an ein Wiesel. Nolas Humor schätzte sie nicht, dafür kicherten die Kinder ständig. Als Nola ihre Besorgnis wegen des Reverends vorbrachte, behauptete seine Frau im Flüsterton, er vertrüge das Essen im Speisewagen nicht. Auf sie traf das offensichtlich nicht zu. Sie aß sehr große Portionen, als müsse sie die fehlenden Mahlzeiten während ihrer Seekrankheit aufholen.
Am Ende der Bahnstrecke in Winton mußte Nola der Familie Turpin Lebewohl sagen. Ihr entging nicht, wie erleichtert der Reverend darüber war, endlich angekommen zu sein, doch Nola freute sich ebenfalls. Sie verbrachte eine Nacht im Hotel, bevor sie ihre Reise nach Julia Creek mit der Postkutsche fortsetzte, wo sie von einem Angestellten der Reinhart-Farm abgeholt werden sollte.
Das Zimmer im Hotel von Winton war annehmbar für ein sogenanntes ›Buschhotel‹. Zum Abendessen durfte Nola zwischen Lammkoteletts und Rumpsteak wählen. Angesichts der Größe der Steaks entschied sie sich für die Koteletts. Zwar hatte Nola für eine Frau sowieso schon einen gesegneten Appetit, doch diese Mahlzeit konnte selbst sie nicht bewältigen. Die anderen Gäste hingegen schienen keine Schwierigkeiten damit zu haben. Sie warf der Kellnerin einen fragenden Blick zu. »Hier draußen müssen Sie ein Pferd aufessen, wenn es nottut, Miss!« erklärte sie. Nola zog eine Grimasse, sie war nicht ganz sicher, ob die Frau das wörtlich meinte. Merkwürdig war auch die Gewohnheit der Hiesigen, zu jeder Mahlzeit Unmengen von schwarzem Tee zu trinken.
Die Stadt war klein und beherbergte eine schlichte Kirche, die jetzt in der Obhut von Reverend Turpin lag, einen Lebensmittelladen, der an den in Maryborough erinnerte, sowie eine Schmiede. Fünf schmale Häuser waren an der Hauptstraße zu erkennen. Daher war Nola sehr überrascht, als sie von Phoebe Pillar, der Zimmerwirtin, erfuhr, daß der Ort einhundertdreißig Einwohner haben sollte.
»Aber wo sind die alle?« wollte Nola wissen.
»Die meisten leben auf den Rinderfarmen draußen«, erklärte Phoebe. »Sie kommen nur samstags her, um einzukaufen, im Hotel zu speisen und mit den Nachbarn zu plaudern. Wer würde sich in diesem Kaff schon für immer und ewig niederlassen? Nur die fünf Mädchen, die mir in der Küche helfen.«
Am anderen Morgen stand Nola mit dem ersten Dämmerlicht auf. Merkwürdigerweise war es die Stille, die sie weckte. Im Speisesaal traf sie den Kutscher, Tierman Skelly, der bei seinem Frühstück saß. Beinahe drehte sich ihr der Magen um, als sie seinen Teller sah: überladen mit dicken Scheiben Speck vom Wildschwein, Ziegenfleisch und drei fettigen Spiegeleiern. Nola mochte ihm bei dieser Schlemmerei keine Gesellschaft leisten und nahm ihren Tee mit nach draußen.
Wenig später tauchte Mr. Skelly auf und wischte sich – ausgesprochen unfein – den Mund mit dem Hemdsärmel ab.
»Ist mein Gepäck auch gut verstaut?« erkundigte sich Nola, die besonders um die Seekiste fürchtete, welche ihre unersetzlichen Schulbücher enthielt.
»Klar, Miss Grayson.« An die Launen seiner Passagiere gewöhnt, gab er sich seelenruhig. Zwei Reisetage durch das unwirtliche Landesinnere Australiens, in extremer Hitze, minderten den Wert der materiellen Besitztümer seiner Kunden normalerweise erheblich.
Eine halbe Stunde später waren sie abfahrbereit, und Tierman hielt den Schlag für Nola auf.
»Ich möchte lieber auf dem Kutschbock sitzen«, entschied sich Nola rasch.
»Sind Sie sicher, Miss? Da oben weht ein rauhes Lüftchen.«
»Bitte glauben Sie mir, daß ich keine Mimose bin, Sir. In der engen Kabine ist es bei der Hitze nicht auszuhalten.«
»Wie Sie wünschen, Miss. Aber der Kutschbock ist kein Ohrensessel, wenn wir uns überschlagen oder von den Aborigines attackiert werden ...«
Nola wurde ein wenig blaß. »Wenn Sie mir rechtzeitig Bescheid sagen wollen, springe ich herunter und gehe in Deckung. Aber so oder so, mir passiert schon nichts.«
Der Kutscher lachte schallend: »Ein Quentchen Humor hier draußen kann nie schaden!«
Ohne sich helfen zu lassen, raffte Nola ihren Rock hoch – wobei sie ungeniert den größten Teil ihrer Beine zur Schau stellte – und kletterte behende auf den Kutschbock. Tierman war überzeugt, daß sie es sich nach ein paar Stunden auf der Straße anders überlegen würde. Dann setzte er sich neben sie und nahm die Zügel in die Hände. Ein Peitschenknall und das Gefährt, von sechs Gäulen gezogen, setzte sich Richtung Nordwesten in Bewegung und hinterließ nichts als eine große Staubwolke.
Auf dem Kutschbock hatte Nola die beste Aussicht auf die Landschaft. Aber auf das halsbrecherische Tempo ihrer Fahrt war sie nicht gefaßt gewesen. Der heiße Nordwind hatte ihr schon nach anderthalb Kilometern den Hut weggerissen und das aufgebundene Haar gelöst, das nun schrecklich zerzaust war. Die Sonne verbrannte ihre zarte Haut. Doch trotz aller Widrigkeiten mochte Nola nicht an die Alternative denken – im Innern der stickigen Kutsche mit vier nörgelnden Kindern sitzen, deren Mutter in stiller Resignation erschlafft war.
Tierman Skelly war ein wetterharter, rauhbeiniger Kerl, der jedoch viel Humor hatte. Er unterhielt Nola mit ausgedachten haarsträubenden Geschichten und behauptete, Kutscher seien hierzulande für ihre Lügenmärchen berüchtigt. Das glaubte ihm Nola sofort, zumal er ein lebendes Beispiel dafür abgab. Anfangs hatte er gezögert, ein Gespräch mit ihr anzufangen, doch da sie angesichts seiner seltsamen Geschichten nicht mit der Wimper zuckte – schließlich wollte sie ihren kostbaren Platz auf dem Kutschbock nicht verlieren –, erachtete er sie für würdig, seinen besonderem Anekdoten zu lauschen. Zu seinem Entzücken gab sie schließlich selbst ein paar Geschichten zum Besten.
Inmitten der angeregten Unterhaltung flocht Tierman plötzlich ein, daß er Freigänger war – Gefangener auf Abruf, sozusagen. Nola konnte ihre Überraschung nicht verhehlen.
»Mehr als die Hälfte aller australischen Siedler waren zu Gefängnisstrafen verurteilt, früher«, stellte er klar. »Diejenigen, die’s nicht sind, stammen von Häftlingen ab.«
»Wirklich?« Einen Moment lang fragte sie sich, was zum Teufel in sie gefahren war, Zuflucht in einem Land von Verbrechern zu suchen. Dann mußte sie grinsen. Wenn es das Abenteuer war, was sie reizte, dann würde sie es hier bestimmt finden. Eigentlich wollte sie nach Tiermans Vergehen fragen. Doch gerade, als sie sich dagegen entschied, offenbarte er, daß er die Bank von England überfallen hatte. Ihre verdutzte Miene brachte ihn zum Lachen, woraufhin Nola auch lächeln mußte, weil er vermutlich wieder ›übertrieben‹ hatte.
Die Kutschfahrt wurde mehrmals unterbrochen, um die Pferde zu wechseln, was den Passagieren zugute kam, die sich die Beine vertreten konnten. Doch kaum hielten sie an, senkten sich bedrohliche Fliegenschwärme herab. Außerdem war die Hitze ohne den Fahrtwind unerträglich. Es war geradezu erleichternd, wenn es wieder weiterging, selbst wenn sie über Stock und Stein polterten.
Im Laufe des Nachmittags kletterten die beiden ältesten Jungs auf den Bock neben den Kutscher und Nola.
»Der Himmel ist wunderbar blau hier«, seufzte Nola, als die Kutsche an einer Serpentine zu kippen drohte. Tierman holte das Äußerste aus den Pferden heraus. Mehrmals fürchtete Nola, die Kutsche würde sich überschlagen, aber sie wagte nicht, ein langsameres Tempo vorzuschlagen. Doch sie ermahnte die Kinder, sich gut festzuhalten.
»In der Dürrezeit werden Sie ihn noch hassen lernen«, kommentierte Tierman ihre Bemerkung über den Himmel.
»Kommt das oft vor?«
»Klar! Sie hält Monate an, manchmal Jahre. Riesige Spalten klaffen im Erdboden auf, die selbst die Kutsche verschlingen könnten. Es ist eine Landschaft für Viehherden. Es kommt vor, daß man Tausende zählt. Mehr als die Hälfte des Viehs stirbt während der Dürre. Und nicht selten finden eine Woche später diejenigen, die überlebt haben, einen qualvollen Tod in der Sturzflut.«
Von der Trockenheit und den streunenden Herden hatte Nola schon gelesen, aber sie nahm an, daß nur ein Bruchteil dessen wahr war, was der Kutscher erzählte, zumal die Kinder hinter seinem Rücken feixten.
»Solche Dürrezeiten kennen wir in England nicht. Aber es gibt Füchse, die ein gerissenes Schaf auf dem Rücken davontragen!« versicherte sie, und zwinkerte den Jungs zu. Tierman lachte und deutete auf die Vegetation. »Das Zeug sieht wie Weizen aus, aber es heißt Mitchellgras. Es wächst rasch nach den kleinsten Regenfällen. Auf dem sandigen Gelände drüben ist ein dichtes Geflecht von Old-Man-Salzbüschen.«
Nola sah zu, wie der Wind in das runde, fast wurzellose Gebüsch fuhr und es über die Ebene wehte.
»Die Eingeborenen nennen es ›Bindeah‹«, erklärte Tierman. »Teufelszeug, wilde schwarze Büschel.«
»War das heute früh ernst gemeint, daß die Eingeborenen uns angreifen könnten?«
»Da können Sie Gift darauf nehmen! Deshalb habe ich immer das hier bei mir.« Er zog ein altes, zerbeultes Jagdgewehr hervor. Nola verzog ängstlich das Gesicht, aber er blinzelte, und sie schüttelte den Kopf.
»Mit den Aborigines komme ich gut zurecht«, prahlte er. »Die haben mir sogar schon geholfen, wenn ich in Schwierigkeiten geriet. Soviel Glück hat nicht jeder!«
»Ich hoffe, daß wenigstens einige von ihnen gutmütig sind. Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen!«
Jetzt war Tierman verblüfft. »Dann wollen wir hoffen, daß Sie zu denen gehören, die Glück haben!« Mitten in einer Kurve richtete sich ein Känguruh auf, als wolle es ihr Recht zur Durchfahrt anzweifeln. Zwar erschreckte sich Nola sehr, aber gleichzeitig war sie begeistert. Vom Zug aus, in gewisser Entfernung, hatten die Känguruhs eher wie schüchterne, wehrlose Kreaturen gewirkt, nicht viel größer als normale Straßenköter. Doch aus der Nähe waren ihre kräftigen Gliedmaßen zu erkennen, und das Känguruh war viel größer als ein Mensch. Sie sahen auch Emus und wilde Truthühner. Tierman und die Jungs lachten, als sie darauf hinwies, wie merkwürdig sie ihre Köpfe hochreckten.
Während sie immer weiter ins Landesinnere vorrückten, huschten silbergraue, tief herabhängende Myall-Bäume und graugrüne Coolabahs vorbei, die mit dem intensiven Blau des Himmels harmonierten. Sogenannter Geister-Eukalyptus stand hochgewachsen da, mit nackten Stämmen und Rinde, die in Fetzen herabhing. Nola wunderte sich über das fremdartige Tageslicht, es kam ihr wesentlich heller vor.
Am Nachmittag, als Nola über die Trockenheit sprach, wurde Tierman sehr ernst. »In Dürrezeiten krümmen sich Blätter und Zweige wie gefolterte Gliedmaßen. Unser Land ist schön wie kein anderes, aber es kann auch grausam sein!«
Endlich erreichten sie Julia Creek, wo ihre Kutschfahrt endete. Die Jungs und die Buschfrau wurden von einem Mann abgeholt, der allein vor dem Wirtshaus stand und sie überschwenglich begrüßte. Nola nahm an, daß es der Vater und Ehemann war. Die Frau tat ihr leid, sie wirkte vollkommen erschöpft und unfähig, Wiedersehensfreude zu zeigen.
Der Ort bestand lediglich aus drei Gebäuden: das Julia-Creek-Hotel, eine Schmiede mit Stallungen und ein kleiner, einem Wohnhaus angeschlossener Lebensmittelladen. Tierman verschwand, und Nola blieb auf der niedrigen, schmalen Veranda des Hotels stehen. Ringsum waberten Wolken aus rötlichem Staub. Was sie am meisten irritierte, war die absolute Stille. Nur ab und zu ließ sich das Summen der allgegenwärtigen Fliegenschwärme oder vereinzelte Krächzer eines Vogels vernehmen, dann war alles wieder ruhig. Ein bißchen zu ruhig vielleicht. Nola hatte keine Ahnung, ob der Kutscher zurückkommen und ihr beim Abladen des Gepäcks behilflich sein würde. Schließlich erledigte sie es selbst, setzte sich auf ihre Kiste und nahm die Gegend in Augenschein.
Am anderen Ende der Veranda führte eine Schwingtür in die Kneipe des Hotels. Ab und zu drangen laute Stimmen nach draußen; ein Betrunkener lehnte an der Wand und achtete nicht auf die Fliegen, die über sein Gesicht krabbelten. Nicht weit davon standen sechs Pferde an einen Querpfosten gebunden und verscheuchten die Fliegen mit ihren ständig peitschenden Schwänzen. Neben dem Wirtshaus saßen mehrere Aborigines – Männer, Frauen und Kinder – sowie drei räudige Hunde im Schatten der Bäume und musterten Nola mit ihren dunklen, unergründlichen Augen. Als Nola sie entdeckte, bekam sie zuerst einen Schreck, weil ihr die Warnung des Kutschers einfiel. Doch die Menschen sahen nicht aus, als wollten sie ihr etwas zuleide tun. Selbst auf einen oberflächlichen Betrachter machten sie einen trägen, apathischen Eindruck, als spiele die Zeit in ihrem Alltagsleben keine Rolle. Ihre Umgebung schienen sie kaum zur Kenntnis zu nehmen, nicht einmal eine weißhäutige Lady mit feuerrotem Gesicht und ungepflegtem, windzerzaustem Haar. Nola wollte sie nicht unhöflich anstarren, aber ihre mageren, hochgewachsenen Körper und das krause Haar faszinierten sie.
Nola überlegte schon, wie sie die Aborigines ansprechen könnte, als Tierman aus der Kneipe kam. An seiner Oberlippe klebte noch der Schaum von seinem Bier.
»Donnerwetter, die kleine Erfrischung hatte ich bitter nötig!« Er stieß laut auf, und Nola zuckte zusammen.
»Kommen Sie doch mit hinein, Miss Grayson!«
»Mein Gepäck, Mr. Tierman ...«
»Das hol’ ich gleich, Sekunde noch ...« Daß sie es selbst abgeladen hatte – sogar die Seekiste, die außerordentlich schwer war –, würdigte er keines Kommentars.
»Ist das denn unbedenklich? Meine ganzen Schulbücher sind in der Kiste.«
Tierman runzelte die Stirn. »Wir sind doch nicht in London. Wer sollte hier schon Ihr Gepäck klauen?«
»Vielleicht jemand, der zufällig vorbeikommt? Keine Ahnung!«
Tierman lachte schallend. »Hier kommt die ganze Woche niemand mehr vorbei, bis ich dieselbe Route wiederkomme, glauben Sie mir!« Er warf den Aborigines einen Blick zu. »Von denen haben Sie nichts zu befürchten. Sie können gar nicht lesen und haben vermutlich noch nie ein Buch gesehen. Wenn ich so drüber nachdenke, kann ich ja selbst kaum lesen.«
Nola kam sich unsagbar dumm vor. So vieles hatte sie noch zu lernen! Wieder spähte sie zu den Aborigines und fragte sich, ob sie wohl gerne lesen lernen würden. Vielleicht war es hochinteressant, ihnen etwas beizubringen, oder gar von ihnen zu lernen!
»Sie sind doch bestimmt völlig verdurstet«, erklärte Tierman, während er sie zum Haupteingang des Hotels führte. Von dort kamen sie in einen privaten Salon.
»Bin ich auch, um die Wahrheit zu sagen«, nickte Nola.
Nach dem hellen Sonnenlicht im Freien wirkte es hier drinnen schmuddelig und düster. Eine Frau trat auf sie zu.
»Esther, hier ist die Dame, von der ich erzählt habe.« Tierman drehte sich zu Nola um. »Esther ist die Inhaberin des Hotels ...«
Wie die meisten hierzulande bedachte auch Esther sie mit einem neugierigen Blick.
»Seit mein Mann tot ist, Kleine!« fügte sie mit schleppendem australischen Akzent hinzu. »Nicht, daß er viel getaugt hätte. Hat zuviel getrunken, um irgendwem von Nutzen zu sein.«
Vorsichtshalber strich sich Nola mit den Fingern durchs Haar, aber die Frau wunderte sich offenbar nicht über ihr verwahrlostes Äußeres. Vielleicht, weil ihr braunes Haar selbst nicht gekämmt und zu einem Knoten zusammengebunden war, dachte Nola. Ihre Haut wirkte trocken, war faltig und voller feiner Risse. Ihr fleckiges Blümchenkleid krönte ein Spitzenkragen, der als sogenannter ›Fisher‹ bei den Buschfrauen zwischen Julia Creek und Maryborough sehr beliebt war. Bei Esther jedoch wirkte er fehl am Platz.
»Ich brauche ein Zimmer für die Nacht«, bat Nola. »Haben Sie eins frei?«
Esther grinste. »Wir haben sowieso nur drei Zimmer. Sonst ist das kein Problem, aber eins ist schon vergeben und das andere reserviert.« Sie wandte sich an Tierman. »Wenn du bei Hank schläfst, geht es aber!«
»Der schnarcht ja schlimmer als ein alter Köter!« murrte Tierman. »Lieber würde ich im Pferdestall schlafen. Da fällt mir ein, daß mir Hank noch ein Bier schuldet.« Damit machte er kehrt und ging zurück in die Kneipe.
»Sollte sich selbst mal schnarchen hören«, grinste Esther, ungeachtet der Schlüsse, die Nola unweigerlich daraus ziehen würde. Andererseits wollte Nola lieber nicht danach fragen. Esther musterte sie gerade von oben bis unten. »Viele Frauen kommen hier nicht gerade durch, Kleines. Bist doch keine Braut aus dem Versandkatalog?« Von Förmlichkeiten schien Esther nicht viel zu halten.
»Ganz und gar nicht!« Nola wunderte sich mindestens ebenso, auf eine andere Frau zu treffen, behielt das aber lieber für sich.
»Wo kommst du denn her?«
»Aus England. London, um genau zu sein.«
»Ach ja ... man hört’s auch am Dialekt. Bist du den ganzen Weg allein gereist?«
»Esther«, unterbrach Nola die ihrer Ansicht nach allzu vertraulichen Fragen, »ich hätte gern etwas zu trinken. Es war ein langer Tag für mich.«
»Klar, Kleines. Tut mir leid. Wie gesagt, hier kommen nicht viele Frauen herein. Willst du einen Tee? Die Ziege hat das Weite gesucht, deshalb gibt es keine Milch. Ansonsten haben wir nur Bier und Whiskey.«
Schon beim Gedanken an bitteren schwarzen Tee krampfte Nolas Magen sich zusammen. »Mr. Skelly scheint sein Bier sehr zu genießen.« Nola konnte von hier aus die Theke erkennen, wo Tiermann ein weiteres Glas kippte. »Ich nehme dasselbe.«