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"Heller später" beschreibt das Leben eines fünfzehnjährigen Mörders, der unmittelbar nach seiner Verurteilung im Gefängnis stirbt.
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Seitenzahl: 565
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Kirchmess, Kirmes, Rummel in der Stadt! Schockbunter Lärmfleck! Leuchtspuk zwischen Betongrau und Abgasblau. Pützchens Markt, das Herbstereignis, größtes Spektakel weltweit, für die Bonner Ureinwohner auf de schäl sick des Rheins, umso besser!
Nachmittags die Familien, Papmama und die klebrige Kinderschar, abends die Stecher, die Sauf- und Prügelwütigen und ihre Schnallen. Fettgeschminkte Verladung. Wo dein Puls startet. Wo deine Achseln nässen. Nur dort im Zahnradgetriebe, im Pop-Gedudel: nur dort die echten Typen, die richtige Kluft, der wahre Schwung. Schon die Wagen in den umliegenden Straßen auf Leck-mich! geparkt, an die Bordsteinkanten gerotzt. Du kreuz, ich quer. Fuchsschwänze an den Antennen, Vereinswimpel im Heckfenster… Dazwischen Motorräder, die schon im Stehen röhren.
Stimmen dich frech.
Hinterm Lieferwagen-Wall die Buden: Speedway Skyriser Moonrider Starlight... Übers Bierschaumpflaster schwingen die Typen in ihrem engarschigen schulterrollenden Gang. Gott, sie haben diese Woolworth-Wühltisch Rabatt-Klamotten, diese Kunstlederwesten, diese mit Ziernähten und Chromknöpfen veredelten Stiefel... Sie schwitzen Nickel, pissen Phosphat. Am Arm Silberimitatketten, um den Hals Totenkopfamulette mit Augen aus synthetischem Rubin. Rasierklingenfeine Augenschlitze. Zur Stirnkrone runtergezwirbeltes Haar.
Sie und ihre Mädchen, eingehakt: Mädchen! Hüften wiegen, Blicke kreisen – linkische Annäherungen tropfen an ihnen ab wie nur was. Weil du nicht danach aussiehst. Nach was? Nach Rock im Stock und Rollen in den Knollen. Nach Wildkatze. Nach Schmollgemüt. Nach Mamas Feindling.
Da rein. Da mit. Schau hin. Bizeps in Leder. Metzgerkragenhemden. Schwarze Jeans. Stiefelabsätze wie Hufe. Seildicke Adern am Unterarm. Adamsäpfel als hätten sie Vaters Faust verschluckt. Hemd bis zum Nabel auf, damit die Brustwolle zur Geltung kommt. Stiernacken. Für Schultern Tischplatten. Brilli am Ohrläppchen. So sehen Götter aus! Hinter verspiegelten Brillen. So läufst du rum, wenn du auf der Welt was darstellst...
Zeiten, wo du mit raushängender Zunge versucht hast, Holzbälle in Blecheimern zu versenken, darfst du vergessen. Oder hast du schon mal einen der Bomber entgeistert den rumhoppenden Teufelsdingern nachstarren sehn? Danke mit Pferdkuss.
Die beste Musik läuft am Skooter. Die wildesten Hosen, irrsten Blicke sind am Skooter. Strom zischt im Eisengebälk. Die Wagen sprühen in den Kurven Funkenschweife. Deine Finger kleben am Geländer, hier an der Balustrade überm blanken Metallboden. Übernimm die Pose:
Wippen im Absatz.
Daumen am Gürtel.
Und das.
All das eben.
Staunt er selber.
Auf einen der Flitzer zuspurten. Mit dem Tutzeichen Saft reintreten. Lenker im Kammgriff Ristgriff rumwerfen und lospreschen, wo Opa noch die Pedalen sortiert... Diese Miniaturgeschosse sind nach fünf Fahrten seine zweite Haut. Wenn er auf die Mitte zusteuert, in die Bremse steigt, am Lenker reißt, eine Pirouette dreht, rückwärts weiter schleudert, da werden selbst die Kartensammler wach! Kleines verwundertes Zucken in ihren dauermüden Augen. Höchste Auszeichnung für den Skooterero...
Jedes Fest hat seine Prinzen. Die Kartensammler regieren unumstritten. Wortlos. Segeln aus dem Nichts heran, kleben plötzlich an der Gummifalz deines Renners, strecken die Hand aus, Gesicht abgewandt, Blick im Leerlauf über die rummsenden Blechkisten. Du glaubst, du könntest denen statt eines Chips ein Plastikplättchen aus deinem Flohspiel in die Hand drücken? Versuch’s erst gar nicht! Die hebeln dich in voller Fahrt aus‘m Wagen und schleifen dich zur Kasse... Ihr dreckpralles Haar... ihre verquollenen Gesichter... Am Hosenstoff dunkelölige Spur entlang der Arschspalte; schwitzen sich den Hintern ab bei dem Job, bei dem Mob.
Kassieren und weg.
Aber Lutz hat was los mit den Wagen, Nachbar! Hoffentlich merken die‘s am Rand auch, die Pfostenglotzer. Mädchenhaar im Dämmerlicht: der Glanzhaubeneffekt. Zigaretten-Glutpunkte. Süßsaure Abendluft. Papageibunte Ballerinatreter. Spitzentanz in Turnschuhen. Halbgötter rund um den Colastand. Hochgequollene Schwänze, aufgesprungene Messer, zertrümmerte Bierflaschen, im Hohlraum der Hände glimmende Stengel, zeitlupenlangsames Drehen eines blutverschmierten Gesichts, zusammengetreten. Holzwolle, die aus einem Puppenhals bricht. Wilde Pullover. Tittenbüge, Spitzberge, Hupen, Milchhügel: Mädchenwinke. Federleicht gesträhntes, sturmfest gesprühtes Haar unterm Kunstlichtnebel. Entrückt. Eine Armlänge von dir sternweit entfernt. Schlaksige Beine verschwinden vielsagend auf Kniehöhe unter Röcken. Storchenbeine, Stummelbeine, Sprinterbeine, Speckbeine.
Mädchen: um die Hüften gefasst, am Ellenbogen gesteuert, am Nacken geführt, am Haaransatz gestreichelt, in die Halsgrube geküsst, gegen die Bretterwand des Losverkäufers gelehnt. Prallärsche, Senkärsche, Kugelärsche, Entenärsche, Flachbrettärsche. Straffes Armfleisch aus der Bluse geschlitzt. Sonnenverbrannte Gesichter, kellerwandblasse Ausschnitte. Untergehakt, eingeklinkt, hängengelassen... den Schritten entgegengependelt... den Schlagern der Saison.
Zwei Meter vom Papierkorb Erbrochenes im Gras. Du siehst an der Spur, wie der vom sauren Aufstoß Überraschte noch sprang, um den Kopf über den Korb zu kriegen – misslungen. Was zählt, ist der Versuch.
Ganzkörperbelederte lachen ihre Mädchen nicht an. Sie stehn in der Gruppe, Felsen im plappernden Strudel, schwarz, unantastbar. Ihre Mädchen, ihre Flocken, ihre Pfannen, ihre Torten, ihr Nachtprogramm. Mädchen, die ihre Arme heben, um die Hände zu berühren, die wie zum Gebet gekrümmt im Innern ein brennendes Streichholz halten, auf das ihre Filterzigaretten zufahren.
Solche Gesten, solche Musik, solche Rauch saugenden Wangen, solche Mädchen: die nächste ist immer noch besser. Lippenstiftmünder, dick getuschte Wimpern. Pony, Pferdeschwanz, Helmfrisur, Naturzotteln...
Du kannst dich nicht satt sehn. Hakennasen, Sattelnasen, Stupsnasen, Schiefnasen, Riechkolben. Du nennst sie Fotzen, Fickritzen, um sie nicht dauernd als unerreichbare Engel anbeten zu müssen.
Himmelaugen, Wasseraugen, Steinaugen, Augenblitze. Du weißt nicht, wohin mit dir, aber du weißt, nie mehr weg von ihnen. Nie mehr ohne diese Wunderwesen! Sirenenhaft anwachsendes Lachen.
Aus dem Pflaster wachst ihr raus, federt ihr näher, schwingt ihr ran und vorbei: prüf weiter, warum du nicht hast, was die Mädchen auf dem Rummel suchen. Es gibt auch andere. Ich sag, es gibt auch andere Mädchen, aber nicht für mich. Lutz mit einem Bein noch im Tretrolleralter. Egal. Er braucht was zum Anfassen, zum Mitreden und Dabeisein. Herz als Geigerzähler. Er will eine an sich binden um zu haben, was die andern haben, wenn sie ihre Zimmertür hinter sich zumachen und nicht mehr gestört sein wolln.
Nachts, wenn nur noch die Knochen der Geräte strahlen. Wenn sich Krakeeler in Eisenkäfige sperren lassen, hochschießen, einen Augenblick im Himmel stehn, ins Leere starren, kreischen, abwärts sausen. Talfahrten, die Traumstürze nachahmen. Wie zur Hölle geschickt werden und in Abrahams Schoß erwachen.
Je entschiedener dich die Maschinen aus der Fassung werfen, desto ungerührter blicken die Helden der Szene. Sie sind unempfänglich gegen Schleudertraumen, Schwindelanfälle, Brechreize, Lärmfolterstörung. Wo andern der Magen durch die Augen quillt, blüht ihnen ein Lächeln. Kopier ihre Gesten und wart auf das Wunder, sie zu werden und womöglich noch besser.
Natürlich weiß Lutz, wie’s geschieht, wenn einer gekonnt an die Seite der großen Fremden gleitet, sie antippt, Blicke an sie hinflammt, sie schneller gewinnt als ein Nietenzettel von der Hand auf den Boden fällt... natürlich weiß er’s, hat aber keine Ahnung. Vom Körper her keine Ahnung. Alles läuft anders. Bin ja nicht ich! Kenn nicht die Tricks, find nicht den Farbtopf, meine Verwirrung zu überschminken. Um glaubhaft zu werden.
Für die große Unbekannte, die Fee, den Feger, für... ich denk nur immer, mit meinen unfertigen Bewegungen, verklemmten Blicken, jetzt hab ich mich fortgeschmissen… ein Kotzfleck am Boden, möglichst zu meiden, so denk ich von mir, im Vergleich zu dem Steher, dessen Blicke über mich weg zum ernsthaften Rivalen wandern.
Vor dem Spiegel Unabänderliches ertragen lernen: In dem Körper bist du also gelandet! Das ist dein Gesicht, unwiderruflich. Zu der Augenfarbe bist du verdammt, auf das Haar festgelegt. Den Kopf bewohnst du, die Nase hast du. Scheiße aber auch. So sieht man dich. So siehst du aus. Für immer. Du willst noch was ändern? Vergiss es. Oder überfall eine Bank und lass dich für den Raub unterm Messer neu machen.
Muss es überhaupt sein? Findest dich vor dem Scheißspiegel in dem Scheißbad gar nicht so übel? Oder spielt dir jetzt die Gewohnheit nen Streich? Hast dich mit was abgefunden, weil du‘s nie anders kanntest? Dein Aussehen – eine Zwangsehe. Das ist es. Unbemerkt eingewöhnt, magst du schon bald keinen Pickel mehr missen... gewachsene Treue zu einer in vielem missglückten Figur.
Ohne Schmiss im Haar! Ohne dicke Adern an den Händen! Ohne tobenden Kniff in der Stirn! Nase zu uneben, Kinn zu klein... Einziger Trost die Zähne: die würd ich mir, wenn’s nicht meine wärn, zuallererst aus dem Mund reißen und selber einsetzen! Hals zu dünn. Schultern ein Witz. Himmel sind meine Schultern ein Witz im Vergleich zu dem Kürbis, den ich meinen Kopf nenne!
Lutz schlägt den Hemdkragen hoch, dass die Zipfel die Wangen berühren. Die obersten fünf Knöpfe vom Hemd bleiben auf. Goldkettchen mit Doppelaxt oder Tigerkralle könnt nichts schaden. Er spreizt seine Hände in den Hüftknick. Daumen locker nach hinten abgewinkelt. Aha. Rechte Augenbraue kaum merklich angezogen, linke sanft runtergedrückt, bis ein forsches Fragezeichen im Gesicht steht. Sieh da!
Soweit zum Äußeren. Zusätzlich gilt es, die Sprüche der Straßenhelden zu kopieren, den Gang der Sieger über die eigene Staksigkeit zu stülpen. Zunächst fremd, nach und nach eigen. Wie seine erste Jeans, bevor er damit in die Badewanne stieg, um sie einen Tag lang am Körper zu trocknen. Da fing sie an, mit seiner Haut zusammenzuschmelzen, in den Schritt zu ziehen, Oberschenkel und Waden fest zu umspannen. Er tarnt sich mit der Niethose, gleichzeitig zeigt sie eine Seite seines Körpers, die anders nie ans Licht gekommen wär.
Glaub doch nicht, du könntest so gehn, wie du dich fühlst, ohne deine Jeans! Oder hast du an deinem blanken Hintern Taschen, aus denen Kämme kucken können? Oder an deiner Flanke eine Naht? Oder einen Bauchnabel aus Eisen mit Lederzunge? Was ich sage: Ohne Jeans auf der Straße wie Schnupfen ohne Nase.
Lutz setzt noch Reißzwecken zu den Eisenplättchen unter seine Schuhsohlen. Das vibriert, das hebt. Knallende Unterstützung von den Füßen bis unter die Achseln.
Gib nicht auf. Geh immer wieder los. Pass dich ein. Pass dich deinen Helden an. Sonder dich von der Familie ab. Von diesen peinlichen Spinnern. Diesen Versagern und Verrätern. Entwickle dich weg. Mach dich bei den Mädchen magnetisch. Der Entwurf passt. Die Ausführung ist schwer.
Also los.
Allein in seinem Zimmer dann das innere Rumpeln, die Stürze, die Ernüchterung. S‘gibt Leben und Scheißleben. Und Oberscheißleben wie seines, nämlich ein Scheißleben unter der Decke von Wohlleben. Hätte er doch nie was von sich gewusst!!! Mal ganz unter sich gesagt. Hat er um seine Geburt gebeten? Nein. Hat er davor was vermisst? Nein. Hat er Schmach, Schmerz, Scham, Bestürzung, Panik durchlitten? Nein. Und jetzt? Jetzt hängt er an dem Oberscheißleben wie verrückt und hat Todesangstattacken! Und soll dem lieben Gott noch dafür danken, dass er die Eltern so lange zusammenstöpselte bis er – Lutz, nicht der liebe Gott – fertiggebaut war? Nur über seine Leiche!
Als er in die fleischliche Trennung rutschte, saugewöhnlich und trotzdem eigen, wie sie sagen, hatte er als Fleischkeim im Fruchtwasserbad die Stadien Fisch, Lurch, Katze, Affe durchlaufen, hoffentlich nur ein Gerücht, um ihm gleich mal Demut beizubiegen, und endlich doch noch, ja: Mensch – Schwein gehabt.
Es gibt Leute, die behaupten, sie könnten sich an ihr Fruchtwasserdasein erinnern. Kopf zwischen den Knien, ein gieriges Bündel im Nervengewitter, umgluckert, angepocht, ein aus dem Urkanal herauswachsendes Zellengeflecht, ein Drüsensystem, ein Knochengestell, schaukelnd zwischen Sog und Stoß, fußverfingert, schenkelverstirnt, schmeckt durch den Nabel, sieht mit dem Zahnfleisch... Glückwunsch, wer so weit zurückdenken kann: danach kann für solche Gedächtnisgiganten nichts Nennenswertes mehr kommen.
Warum hat man ihn überhaupt auf die Welt geferkelt? Wer hier mit einer Antwort überrascht, lügt.
Ab da hieß es: Nimm Platz, wenn du einen findest!
Kirmes ist seine Grundprägung. Er hat ältere, wache und halbwache, blitzklare und naturtrübe Erinnerungen, aber der Rummel ist beim Erstkontakt vollumfänglich in ihn gefahren. Vollumfänglich. Auf so ein Wort muss man erstmal kommen! Die Erzgaudi hat seinen Leib durchgerüttelt. Ein Schock. Eine Anprallung. Da gehört er hin! In die musikdurchdröhnte Kunstwelt mit dem fahrenden Volk. Farbkreischender Schein. Wirbelndes Eisengestänge. Fressbuden und Saufhallen.
Fassadenpracht traf auf unechtes Sein: Klick! Kurzschluss und Kernschmelze. Grundprägung, wenn man ihn fragt, was bislang unterblieb. Also doppelt wahr.
Ja, richtig, hier, vollumfänglich – Lutz‘ Augen zur Zimmerdecke – schiebt sich vor Pützchens Markt bei Bonn die Wiesn in München. Der Erstkontakt. An diesem föhnklaren Septembermorgen, an dem die Straße leuchtet wie von einer zweiten Sonne unterirdisch angestrahlt. Die Luft kalt, der Himmel ein den Blick fortsaugendes Blau.
Auf den Federn der Amseln, die in der Gartenschüssel baden, liegen Topfen wie Diamantsplitter. „Bei Föhn“, sagt Papi, „stehn die Alpen vor der Haustür.“
Und nicht nur das. Bei Föhn blinken die Dächer der Autos, als wärn sie in der Nacht von Heinzelmännchen oder Autowachs-Werbern poliert worden.
Drinnen am gedeckten Morgentisch Mami und Papi. Launige Worte zwischen den beiden, Bombenstimmung, während sie Kaffee gießen und Brötchen schmieren. Jung Lutz eine Hand in der Haferflockentüte, eine Hand auf dem Toastturm...
Er spürt. Er sieht. Er hört.
„Nimm du doch den Schinken!“
„Noch eine Scheibe?“
„Ich bitt dich!“
„Maggi statt Salz zum Ei?“
„Warum nicht?“
„Lang mal die Butter rüber!“
Mamis Feiertagskopf leicht gerötet. Wie aus Versehen bei einer Sünde ertappt. Ihr weißes Kleid mit gelben Punkten sehr blumig an ihr, mittendurch ein breiter roter Lackgürtel, die Schnalle wie ein Fotorahmen ohne Bild, gelbe Stoffschuhe. Irgendwie alles von oben bis unten zum Reinriechen. Papi hat seine Ohren auf Hochglanz gecremt, hat seinen Hals auf der Jagd nach letzten Härchen rot geschabt. Trägt Trachtenschuhe, „damit man mich nicht mit einem friesischen Touri verwechselt“, klobige Fußquäler, dazu seine übliche graue Hose, aber ein Hawaihemd, „damit jeder sieht, ich kann auch Freizeit.“
„Bevor die Marmelade schimmelt, hab ich auch alle Wurst verkümmelt.“
Wenn er anfängt zu reimen, ist der Tag gerettet.
Erfahrungswerte.
„Noch dieses Zipfelchen?“
„Wir zusammen?“
„Was macht die Kondensmilch auf’m Fensterbrett?“
„Ist leer.“
„Trinkt Lutz immer noch pur?“
„Pro Tag halbe Dose.“
„Herrje, aus dem muss was werden.“
„Ist schon. Ist schon geworden.“
Mami ordnet ihre Altgoldspange überm Ausschnitt ihres buttergelb gepunkteten Kleids. Lutz ordnet mit den Augen mit. Er nennt’s ihren Herzipopo. Die Sonne rollt über seinen rechten Ellenbogen zum Tisch rüber an der Anrichte vorbei die Küchentür raus.
„Ein Zigarettchen?“
Knuffer in die Halsfalte.
Dankbares Quietschen.
Aber jetzt husch rein in den Wagen und ab dafür! Sie fahren an vornärrischen Leuten vorbei. Der da hat eine rosa Flauschfeder auf seiner Rübe. Seine Begleiterin trägt eine Glocke am Kropfband. Andere blasen in Luftpapierpfeifen, Plastiktrompeten. Sie drehen Rasseln. Wer schon tutet, will zusätzlich winken. Wer mit dem Klapperholz klappert, beginnt noch zu brüllen.
Die Autoschlange fängt schon weit vor der Theresienwiese an. Wobei „Wiese“, das muss Jahrhunderte her sein. Stattdessen breite Straßen auf solider Schotterfläche. Parkwächter mit Imponierbinden haben es Bier bei Fuß aufgegeben abzuwinken. Anraunzer bleiben unerhört. Anfassen gilt nicht. Lack Staub Glas Chrom Gummi Gas Stein Blech Stoßdämpfer vorn an Stoßdämpfer hinten. Lückenlose Serie von Autoärschen vor ihnen, stinken und qualmen als gäb’s nichts Schönres auf der Welt. Aber schon das Dudeln der Budenlautsprecher im Ohr, schon die fliegenden Geräte in den Augenwinkeln... Gedrehter zergräteter Himmel... Lutz aufgewühlt. Er muss mal. Auch das noch.
„Um Gottes Willen die Nerven behalten!“
Die Nerven behält er, aber nicht das Wasser.
„Da ist wer rausgefahrn!“
Rein in die Lücke! Türen auf! Mami mit klein Lutz ans Wagenheck. Zielt sein Pipi zwischen Kotflügel und Weißwandreifen.
Zu dritt wandern sie dem Lärm entgegen, in die Bratfettwolken Bierschwaden Türkenhonigdünste hinein. Lutz zwischen Mami und Papi Hand-Händchen-Händchen-Hand eingeklinkt. Die zäh walzende Menge: Krachlederne Urbayern. Almhütchenbekopfte. Dirndl neben pettycoatgebauschten Röcken. Trillerpfeifenbehängte grundsätzlich nur in Gruppen. Einigen baumeln brustbreite Lebkuchenherzen vom Hals.
„Hat der Junge seine Zuckerwatte?“
Ja.
Lutz sinkt mit der Nase bis zu den Ohren ins süße weiße Klebekissen.
„Schieb noch’n Kokosball nach, damit er seine Kola verträgt!“
Als das Drängeln an den Buden zunimmt, will sich Papi klein Lutz auf die Schultern setzen, damit der Bub – ihr einziger! – nicht zerquetscht wird. Eben noch statt den Buden nur Nietenzettel, zertretene Plastikbecher, senfbeschmierte Pappteller zu sehen, eben noch im Hindernislauf voluminöser Steiße und rempelnder Hüften, plötzlich hoch über Hüten und Frisuren reitend: endlich ordnen sich die Stände! Wenn’s ihm jetzt noch gelingt, Papi an der Nase in die gewünschte Richtung zu lenken, hat sich die Butterseite des Rummels auch für ihn geöffnet.
Gefahren springen ihn von den Kulissengemälden her an: Kopf eines Jägers im aufgerissenen Krokodilsmaul. Bis auf den Lendenschurz nackter Mann auf einem Tigerrücken vor Felsentrümmern. Eine Dame im engen Reitdress auf eine Holzscheibe geschnallt, einen Heiligenschein von Wurfmessern um ihr Gesicht! Eine Heldin in schwarzer Ledermontur raketet mit ihrem schwarzem Motorrad durchs Innere einer silbernen Lochblechkugel. Am Eingang eines Rundbaus hängen Fotos von an Wände geklatschtem Publikum. Lautsprecher übertragen Angstjauchzer für die Zögernden draußen...
Die eigene Verzehnfachung im Spiegelpalast.
Lippenstiftmünder wie Verkehrszeichen.
Draußen kennen die Schausteller am Mikro nur eine Sensation: die eigene. Frauen in knappen Trikots beugen ihre Milchware zum Publikum. Unter einem Baldachin entdeckt Lutz ein Mandelaugenmädchen, bestimmt kein Tag älter als er selbst, hockt da farbenfroh, um sie her arabische Nacht, Pyramiden an die Budenfront gemalt, Kamele, Sklaven, Aufseher... Plastikpalmen wehen im Ventilatorwind.
Wenige Buden weiter eine Schaustellertruppe, die vom Bauchtanz bis zum Keulenjonglieren alles vorzuführen verspricht, was den Atem stocken macht. Wohin sieht das Kind mit dem Rabenfederhaar, den Mokkaaugen? Die mit dem eingedrückten Gesicht? Wer hat sie entführt, gefesselt, aus ihrem Wunderland vertrieben, dass sie jetzt so verloren herumsteht? Wer hat sie an den Haaren aus ihrem Palast gezerrt, über den Wüstensand geschleift, durchs Meer gezogen, dass sie jetzt hier die Oktoberfest-Gaffer mit Blicken anspucken können? Zum die Rampe stürmen und sie entführen!
„Mami, darf ich da rein?“
„Nein.“
„Papi, Mami hat auch schon Ja gesagt!“
Es ist was Tiefes zwischen ihm und ihr.
„Nein? Nichts für Kleine.“
Schwarzseher trifft Mokkaauge. Zack.
Eine Kernschmelze
„Doch.“
„Geh halt zu!“
„Doch doch doch doch doch doch doch doch! „
„So ein Schmarrn!“
Das ist der Nachteil, wenn klein Lutz auf Papi reitet: wie fest er ihm auch auf den Kopf trommelt, an der Nase zerrt, der Mensch geht weiter, und Lutz geht, auf seine Schultern gesattelt, mit. Was bleibt? Schnell umdrehn und dem Mädchen mit aller Kraft der inneren Stimme zuschrein:
Wart ab! Ich komm wieder! Vergiss mich nicht!
Nächstes Jahr zur gleichen Zeit.
Ich ohne Paps.
Versprochen.
Du ohne Keulenschwinger.
Ab jetzt
mein
alles!
Wir ohne alle.
Abgemacht.
Zauber hier, Wunder da, die meisten glauben eh nur dem, was sie im Magen haben. Sie zieht es an die Stände, wo Krachmandeln brutzeln, Maronen dampfen, Fritten zischen, Würstchen bräunen, wo sich Hendl und Steckerlfische über Glutkohle drehn. Schaumgebäck Mäusespeck Krapfen schokolasierte Bananen Zuckeräpfel am Stiel warten auf die Gnade, verputzt zu werden...
Jede Wendung neue Sensationen. Schimpansen unterm Schapoklack. Oder ist‘s – ein Mensch?! Dass sowas überhaupt lebt! Liliputaner winken aus der Hochzeitskutsche mit Taschentüchern als seien es Bettlaken. Ihre Kutsche wird von Zwergpudeln gezogen. Gegenüber Käpten Cook und die Eispickelkatastrophe. Der Wolfsmensch. Der Hufeisenverbieger. Der Feuerspeier. Wie bitte entleert sich eine Dame ohne Unterleib? Die Meerjungfrau, „nur im Aquarium überlebensfähig, für Sie auf die Bühne gebracht!“ Der Schwertschlucker. Der Messerwerfer. Die Schlangenfrau. Die menschliche Bronzestatue. Der Entfesselungskünstler. „Fassen‘S ruhig hi, überzeugen‘S Earna von der Qualität der Ketten, die der Fleischfels mit sei Stahlgliedern sprengat...“
Da wird in echt geköpft, beim Schichtl, da radeln Hunde kostümiert, befahnt, beflittert durch einen Parcours mit Wasserschikanen, da liest der Hamster Noten, schreibt das Pferd, spielt das Seelöwenorchester, tanzt der Floh, kellnert der Löwe, kegeln Bettwanzen mit Staubkörnern auf Spannlaken...
Wohin zuerst?
Was auf keinen Fall verpassen?
Lasst mich den Mann sehn, der in einer Minute ein Ölbild malt: Angespannte Stille, als Madam – vorhin noch an der Kasse – durch die Mitte der Vorhänge bricht, etwas ruft, zwei Mädchen in Tüll gegen Lichtkegel tanzen, die Bühne sich verdunkelt, der Scheinwerferkegel unter dem Donner einer geschüttelten Blechplatte den Meister erfasst, ein langer Mensch im Malerkittel, hohlwangig, rotwunde Augenränder – Respekt!
Madam mit Stoppuhr. „Vergleichen Sie!“ Gong. Aus Töpfen fliegen Farben an die Leinwand. Eine Quaste schmiert den Hintergrund, ein Spachtel sorgt für Wolken, aus fingerbreitem Pinsel entspringt ein Fluss, wachsen Felder, Bergzacken, Tannen, ein zuckender Feinpinsel schleudert Vögel in die Luft... Gong! Die Minute um. Landschaft aus Oberbayern. Bittsehr. Der Meister steht, als begreife er selber nicht, wie einer sowas schafft. Und das zigdutzend Mal am Tag. Benommen vor Ehrfurcht wankt Lutz ins Taglicht zurück.
Die Ausrufer werden persönlich. „Komman‘S halt fürre, Herrschaftn! Komman’S halt fürre, Baazis! Grad au du, oida Dackl, wo dia fo Kumma scho’s Knie ausam Kopf wachsat! Wos siggi do jezzat? Sie! Sie mit Earnam Glasaug! Drückan’s Earna Wimpern fei fest zamma, wann’s oiwail nachat herinnen obgaat!“
Boxer aus Furcht vor Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Kapuzen überm Kopf, damit keiner ihre zerschlagenen Gesichter sehen muss. Vielleicht versteckt sich auch der eine oder andre berühmte Exboxer unter der Kapuze, mit dem sich keiner anlegen will. „Müllers Aap“, sagt Papi, „der tingelt jetzt durch die Kirmes-Boxbuden, wie man munkelt, nach seiner lebenslänglichen Sperre, weil er ‘nem Ringrichter die Lichter ausgeblasen hat, der Irre aus Köln, immerhin fünfmal deutscher Meister. Wer möcht schon gegen so’n Kaliber antreten?“
Die Boxer posieren, Schlagarm angewinkelt, der Anreißer winkt mit der freien Hand junge Männer heran, um sie gleichzeitig durch bluttriefende Drohungen zurückzujagen. Er jault auf, sobald sich ein Jugendlicher trotz Warnung seiner Klicke die Treppen hoch wagt. Lebensmüde. In Geldnot. Oder einfach nur sturzbesoffen.
Zu schaun, wie sie sich drinnen die Fressen einschlagen, darf Lutz dann doch nicht. Auch ins Zentrum der Wiesn, ins Bierzelt, darf er nur mal eben durch‘n Eingang spingsen. Da sieht er einen auf der Sitzbank stehen, die Blaskapelle dirigieren, die seine Bewegungen dirigiert. Seichengestank Schwitzschwaden Urinschwall Bierdunst Parfümwellen Senfstiche Schnapsfahnen Bratengeruch Kartoffelsalataromen Tabaksqualm... örtliche Betäubung aller tiefer gelegten Sinne...
„Wo in aller Welt hat der Bub glasierte Äpfel gesehn?“
„Ich lad euch zu den Steckerlfischen ein.“
Gestärkt sucht Papi sein Glück. Kein Kraftprüfer, auf den er nicht draufdrischt, um als lahme Ente fortzuwackeln. Mami wirft mit Stoffbällen an dem Konservendosenturm vorbei eine Pralinenschachtel vom Prämienregal.
Vom Riesenrad will Lutz nichts wissen. Er hat gehört, dass Leute bei Stromausfall tagelang in den oberen Gondeln festsitzen, bis sie sich einnässen oder vor Kummer in die Tiefe springen. Die Achterbahn übersteht er nur mit einer geballten Ladung Nougat im Nasenloch. „Halt fest!“ schreit Papi, wenn er selber rutscht. Bevor sie ins letzte Tal kippen, hebt sich ihr Wagen ins reine Nichts. Sie kreischen im Chor. Bauch steigt zur Brust. Dann pfeilt der Wagen in den Abgrund. Aus den Augenwinkeln fegen Tränen um die Ohren. Billiger kann keiner die Fassung verliern.
Die Raupe ist spannend, weil Lutz nicht weiß, was den Leuten passiert, wenn die Plane zuklappt. Einige tauchen lässig wie vorher in die Sitze gelümmelt auf, andere rollen die Augen und brüllen ihre Nachbarn an.
Beim Autoskooter geht‘s Schlag auf Schlag, Knall auf Knall, Schrei auf Schrei. Hämmernde Hits machen letzte Reserven locker. Gegner werden geschnitten, in die Flanke gerammt, an die Bande gefunkt, in den Wagenpark geschmettert, zugekeilt und abserviert. Erschütterungen aller Art, von allen Seiten, werden weggesteckt, der Verursacher vorgemerkt, besonders die Stoßer ins Heck, diese Genickbrecher: „Wart, Burschi, des mochst nett nomoil!“ Alles Pipifax gegen einen Frontalstoß mit Brillenverlust und Kniescheibensalat.
Papi hat eine neue Herausforderung entdeckt.
„Halt doch mal die Jacke!“
Tischtennisball in der Rechten, wiegt er sich zum leichten Wurf, schlenkert den Arm, seine Augen in den Nippes gewühlt. Ziel ist die Glasschale auf dem Kopf der goldnen Venus. Jezzat ums Verrecken ein lockres Handgelenk plus gelöster Haltung bis zu wippenden Fußspitzen! Er wiegt sich vor, zurück, wiegt sich vor, zurück, wirft, als schon keiner mehr dran glaubt, und sie glotzen dem Zellophanball hinterher, der über die Ränder der Haupt- und Nebenpreise pottert, plötzlich im Hals einer Vase verschwindet, sich zwischen den Glaswänden schüttelt, dann mit einem Plop im Vasenbauch versinkt.
„Glaubt bloß nicht, das sei Zufall gewesen!“
„Nach diesem Treffer ein Steak mit Pfeffer.“
Ach Papi.
In der Nachmittagsdämmerung zerkracht da und dort schon ein Nasenbein. Kinder suchen ihre Eltern. Unbekannte fallen sich um den Hals. Papi hält nur noch grob die Richtung. Mit der Männertraube um den Lukas steht er gleich auf Du. Aufnahmeritual Nackenklaps.
„Halt doch mal die Jacke!“
Die Burschen in der ersten Reihe begrüßen ihren Favoriten. Hintermänner drängen nach. Vorn stehn aber wie hingenagelt die vom Fach, die Luftpakete vom wirklichen Armschmalz zu scheiden wissen. Der Favorit hat‘s, wo du‘s brauchst, wenn du am Lukas was werden willst. Damit‘s nach dem Hammerschlag auf den Nippel oben knallt. Der Favorit schwingt den Hammer seitlich hoch und haut in einem so sauber hin, dass das Gewicht hochschießt, als wollt‘s durchs Gestänge zum Himmel.
„Schooor-schiii! Schooor-schiii!“ skandieren die Burschen und zählen die Anschläge mit. Der Besitzer fängt das fallende Gewicht mit einem Holzscheit ab, legt Zündplättchen nach. Er möcht gern verzweifelt wirken, das könnt Schorschi auf die Idee bringen, er haue den Lukasbetreiber arm.
Für zehn Punkte gibt’s einen Piccolo. Wahlweise zwei Stoffrosen. Die nächsten beiden, die reinklettern, sind allemal Flaschen. Ihre Mädchen kichern. Macht nichts. Sie hämmern mal hierhin, mal dorthin. Einer reißt den Hammer hintenüber, rudert und stürzt. „Der dürft mir sogar auf die Hühneraugen schlagen, der Pimpel.“
Da verraten Papis tellergroße Schweißränder unter den Achseln ernstere Dinge. Er krempelt die Ärmel hoch. Guten Ratschlägen wird wohlwollend zugenickt, schlechten begeistert zugeblinzelt. So vorab belehrt, hebt Papi den sauschweren Holzhammer an, hebt ihn breitbeinig im Stand, stemmt ihn hoch, lässt ihn überm Kopf schweben, gafft, zittert, versucht den Pfropf im Bretterboden, den er treffen muss, zu hypnotisieren, stellt sich jetzt noch auf die Zehen, das Äußerste, was ihm zum Thema Schwung einfällt, schleudert die Zunge aus dem Mundwinkel, kippt ab, saust zusammen mit dem Hammer zu Boden... letzter Einsatz, alles, was recht ist, und was der Ganzen die Krone aufsetzt, er trifft! Es knallt! Knallt für jedes unverdorbene Ohr hörbar oben die Patrone weg. Ka-peng! Der Beweis! Papi schüttelt Hände. Noch mehr Klapse in den Nacken. Nein, danke, danke, nicht nochmal. Getan ist getan! Wenigstens hat er, was es braucht, wenn’s der Lukas fordert.
Sie zu dritt so mit allen! Mitten im Menschengebrodel, im Farbjubel, unter der Dudelmusikdusche. Wie sie sich fühlen, könnten sie sogar auf die Teufelsscheibe.
„Halt doch mal die Jacke!“
Leute werfen sich auf Mami und Papi im Zentrum der wohnzimmergroßen Scheibe. Das Teufelsding setzt sich langsam in Bewegung. Rotiert immer schneller. Gleichzeitig neigt sich die Scheibe, wird zur Rutschbahn für die, die jetzt noch aufspringen wollen. Auch einige in der Mitte verlieren Halt. Lutz lernt, Augen aufgerissen, was über natürliche Auslese. Die mit Krallarmen und Klammerbeinen obenauf liegen, gleiten zuerst ab, reißen aber noch einen Fuß, einen Finger mit, der zu jemand gehört, der mit anderen Körperteilen noch im Geheck der Leiber eingewühlt war. So rutscht ein kompletter Menschenklumpen – Proteste kreischend – von der Scheibe.
Einer versucht sich den Wiederanschluss zu erlisten, schiebt sich zentimeterweise zum Zentrum zurück, ist fast bei der Kerngruppe, da schlittert ihm eine Abgerutschte über Kopf und Kragen. Er schüttelt sich, will‘s nicht fassen, rollt mit, kriegt einen Schuh auf die Schulter, bekommt Schwung, je weiter raus, desto heftiger, bis er gegen den Tribünenrand kracht. Dass er Bescheid weiß.
Am Mittelpunkt kleben fünf zusammen. Bilden eine festgesaugte Warze auf der Nabe. Durch nichts abzuschütteln. Sag Schmack. So. Kleben und kreiseln. Da mag wohl das eine oder andre Gelenk zu Papmami gehören? Plötzlich schwingt, Gipfel der Gemeinheit, ein abrißbirnengroßer Lederball heran und sprengt den Knoten der Tapfersten. Die fliegt auseinander, Personen werden unterscheidbar, die noch nicht genau wissen, was sie von wo traf und von der Scheibe schleudert. Ein einziger glaubt sich auf allen Vieren im Zentrum halten zu können! Er macht ‘nen Katzenbuckel genau auf dem Nabel der Scheibe, steckt den Kopf zwischen die Knie. Der muss daheim geübt haben! Wie ein Wattebausch fegt er, vom zurückschwingenden Lederball getroffen, ins Aus.
Am Ausgang von der Teufelsscheibe wartet eine beklatschte Überraschung. Die Röcke der Frauen werden von einem Gebläse unter dem Laufgitter hochgepeitscht, dass der Rocksaum zu den Ohren flattert. Und da! Da! Eine im weißen Kleid mit buttergelben Punkten gibt das Wunder ihrer Beine frei, eh sie begreift, was los ist. Mit den aufwirbelnden rötlichen Locken um ihr baffes Gesicht, mit der verrutschten Spange am Ausschnitt, mit der Hand, die den um ihren Hals schlagenden Rock einsammeln will, ist sie für den Moment die Wiesn-Göttin... selbst Abgebrühte stehn entwaffnet da, bevor sie ihre Bewunderung ins Knie klopfen.
Nach erstem Schreck muss Mami lachen, von Papi umarmt und geleitet. Es fehlt nicht viel und sie drehen eine Ehrenrunde. Solche festen vollendeten Beine aber auch! Das also Mami! Da oben. Die Lachende. Die Siegerin. Die mit dem rasanten Körper. Dem Sturmhaar. Beklatscht. Sie ist gemeint! Und er, Lutz, zugehörig, irgendwie auch.
„Nicht so stürmisch, Junge!“
„Wir sind ja wieder da.“
„Was hat er denn?“
„Lutz?“
„Bist glücklich?“
Wenn er wüsste, was das ist: Ja.
Die Wiesn überlagert Pützchens Markt, München sticht Bonn-Beuel aus. Was davon ist wirklich passiert, was gut erinnert, was dazu gesponnen? Egal, es bleibt sein erster wacher Eindruck. Art Paradies-Schnupperkurs. Geht nichts drüber.
Die Klicke kommt in voller Rüstung auf Pützchens Markt an. Den Jungs hängt das „Mach nur weiter so!“ und „Noch ein Mal und es knallt!“ zum Hals raus.
Den Mädchen steht das „Nicht solange du das nicht tust!“ und „Nicht solange du das noch tust!“ Oberkante Unterlippe.
Deshalb fühln sie sich draußen von jedem Saubermann angemacht, von jeder Sittentante verlacht, von jedem Weichei angepisst und von jedem harten Stenz zur Rangklärung rausgefordert.
Weil ihnen dauernd jemand auf die Sprünge helfen will, springen sie dauernd jemand an. Weil sie jeden Samstag die Rostkarre des Alten polieren solln, poliern sie am Sonntag Unbekannten die Fresse. Notgedrungen. Die Klicke hängt neben der Kasse am Autoskooter ab: ein auf mehrere Gesichter verteilter Trotzhaufen.
„Hammelherde!“ zischt der Krawattenonkel.
„Saumäßiger Jahrgang!“ faucht die Kostümdame.
„Nur was zum ausspucken und erbrechen!“
Da hängen sie ab, protzen rum, lümmeln, lungern, stemmen Ellenbogen aufs Geländer, strecken der Welt ihre Ärsche hin. Drecksgockel neben Schmutzhenne. Die Klicke, der Abschaum. So‘n schrottiges Klicken und Klimpern, Sausprüche auf Jackenrücken gebügelt, Grabkreuze auf Faustknöchel tätowiert, Medaillons um ungewaschene Hälse, ölige Lederwesten auf nackter Haut beziehungsweise Ölhaare über Schmutzkragen, und überhaupt
und überhaupt
und überhaupt
und überhaupt
all das halbgare Gesocks neben der Kasse, am Engpass, am Aussichtshügel, unter den Lautsprechern, die dir die Bässe in den Bauch rammen. Gesocks als lebender Schlagbaum mit Leibesvisitationsrecht, die Blicke befugt zum Sortierbefehl:
Du zieh Leine,
du zeig Beine...
Am Skooter mit den Schraubensternen. An der Stahlarena unterm Hochspannungshimmel. Eiterpickelromanzen. Auf Pützchens Markt bei Beuel am Rhein, Rummel aller Rummel... Ein muskulöser Schimpanse schaukelt heran, hebt die Braue:
„Hai Lutz.“
„Hai Pittä.“
Handfläche klatscht an Handfläche.
Die Leute fahren an den Schleudermaschinen aus sich raus. Fliegen in den andern Zustand. Entweltlichen. Schließlich gibt’s keine technische Erfindung, deren Urmodell nicht vorher auf dem Rummel gestanden hätte. Kein Roboter. Keine Rakete. Kein mechanisches Klavier. Nichts. Achte auf den Gummihund am Luftdruckball! Auf den silbernen Kunstmenschen. Auf den Spiegelpark. Die Geisterbahn. Den Orientierungslauf zwischen Luftgewehr und Dampfhammermusik. Flipper, Kraftprüfer, Spielomat. Achte auf die Münzenabsauger. Klimpernde Münzen sorgen fürs Grundgefühl. Wechselgeld. Genau. Geld für den fliegenden Wechsel zwischen Wollen und Haben. Hier her und dort hin. Und da hoch. Und du hin und weg.
Die Mädchen machen die Jungs runter. Die Jungs reißen die Mädchen auf. Fickmaschinist trifft auf Gefühlsduselin, Lustmechanikerin auf sentimentalen Knochen. Kolben-Schwanz und Zylinder-Fotze, bloß dass der Motor im Kopf kein Zweitakter ist.
Alle Achtung vor den Groschengräbern, den einarmigen Banditen, den Schlitzmaschinen... Stinkfingererlebnisse und so weiter. Kleingeld. Tast- und Fühlgeld. Gefühlsgeld. Automatengeld eben. Und der vom Kanari aus dem Zettelkasten gezogene Blick in die Zukunft. Die Überlistung der Schwerkraft im Looping. Die Flipperkugel, Legierung aus Chrom und Fingerspitze...
Elli geht nur in Hosen, weil sie meint, sie könne keinem ihre Elefantenwaden zumuten. Dafür spielt sie am Biertisch ihre Oberweite aus. Trotzdem hat sich der Name Bützen-Elli nicht durchgesetzt. Ihr Freund ist für den Moment noch der Jochen. Sprich die Trantüte Jochen an und er kommt aus dem Halbschlaf hoch und ruft erschrocken: „Bin fit! Wo Feind?“
Alle nicken.
Alle sind aufgebaut.
Die drei entscheidenden Klänge:
knall: hart auf hart,
gong: weich auf hart,
klingel: übers Trommelfell gezogene Schrille.
Musik: getakteter Krach. Gesang: ausgefeilter Schrei... Wer’s leugnet lügt. Küsse Schmatzer Sauger Bisse... Die suchenden Finger. Der Triller im Bauch. Treibriemenzunge. Stoßstangenlippen. Elektromagnetisches zwischen Irma und Gerd. Plötzlicher Stromausfall. Kontaktsperre. Irma und Gerd eben doch irgendwie falsch verdrahtet.
Elfie ist heut wieder wie fast immer verstimmt. Genau genommen stinksauer. Schwierig anzusprechen. Nur mal zum Beispiel. Explodiert auf gut gemeinte Blicke. Gut gemeint ist für Elfie in ihren schwierigeren Momenten unverfroren. Hau der gleichen Elfie in ihren besseren Momenten auf die linke Arschbacke und sie lacht anerkennend und hält dir ihre rechte hin. Nur mal zum Beispiel.
Da werd du klug draus!
Pfiffe auf Flaschenhälsen. Annabell trägt Wimpern an der falschen Stelle, als Oberlippenbärtchen. Ist außerdem plem. Aber begehrt wie nur eine. Sanne verteilt Perlonwinke.
Elfie: „Ich bräucht halt wen, der mehr will als ihrwisst-schon-was.“
Wütend wirft ihr Freund Kurti die Jukebox an. Den Teleracer, den Bodytester, den Luckydriver, den Kickomat wirft er an, der Kurti, voll bedient. Im Zahlengerassel abgelenkt. Purpur Lichtblitze fegen in sein Sehfeld, Nervenstränge peitschen sein Lustzentrum. Bomber flirren über Kimme und Korn. Sein Druckfinger hetzt in den Vernichtungsrausch. Noch hell vom Siegen schlendert er zum Fotofix-Automat: Sein Vierphasengesicht auf dem Papierstreifen kann dann doch wieder nicht die Zungenbewegung einfangen, die er seit Tagen für Elfie verewigen will.
Mami: „Du weißt, was ein männliches Glied ist, Elfie? Gut. Dann weißt du auch, wovor ein Mädchen wie du einen großen Bogen macht!“
Kurti haut auf Kraftmaschinen, zerrt an Spannhebeln, lehnt mit der Stirn am Schauglas des Rotomaten, steuert Flug-Simulatoren, brettert durch lackierte Albträume, fühlt die Skeletthand am Herz, wuchtet sich mit Eisengondeln in die Luft, saust auf Vollgummireifen untertage, ballert mit Gewehrkopien in beleuchtete Telesafariherden, lässt Bildschirmpuppen tanzen, darf für einen Silberling durch Blechtrichter Schaumgummititten greifen... weiß Rat: „Schlagt alle Nasen ein, muss die Menschheit keine mehr putzen!“
Günter und Freddy entführen Heike und Elfie vom Rummel auf ihren Mopeds zum Ennert. Hinter den Bäumen wollen sie mit den Mädchenröcken Torero spielen. Aber Heike will nur bis zur Brust und Elfie will nie mehr als Heike. So kommen sie zum Rummel zurück, leicht angefressen. Am Skooter hält Köbes Elfies Hand, Günter verankert sich an Annabells Hüfte, Heike lässt Andy in ihr Portmonee fassen, Udo weiß alles über Sofie, Gabi kennt Kurtis Schliche, Gerd kennt Helgas Grenzen...
Und wieder vom Rummel weg eine Runde zum Ennert, paarweise auf dem Moped die Eifel-Serpentinen hoch, in den Wald rein und vielsagend zurück, ohne dass es was zu erzählen gibt. Das zählt. Einhaken, aushaken, nicken, greifen, loslassen, einhaken, aushaken, ohne dass was passiert, aber so, dass dauernd was los ist. Schick zum Verrecken.
Frage von Lutz an sich selbst: Werd ich auch mal solche Lederjacken tragen und mit einem vergoldeten Schneidezahn Schliff in mein trübes Leben bringen?
Schwierigkeiten beim gelassenen Umgang mit zu kurz Gekommenen: Kuck den buckligen Zwerg unbefangen an: „Jooh, luhr misch nuräns ah, hässte watt zu luhre!“
Kuck über ihn weg: „Jooh, luhren’s bloß fott, luhren’s bloß fott, pass isch de nitt?!“
Ein Greis packt Lotti am Lederkragen und schreit: „Zieh das Ding aus!“ Lotti, gewöhnt, der Rammbock aller möglichen Erregung zu sein, macht erstmal nichts. „Das Ding aus!“ schreit der Opa, „die Zeit der Dinger ist vorbei! Das dulden wir hier nicht mehr!“
„He, Mann“, sagt Lotti, „is ne stinknormale Lederjacke.“
„Du ahnungsloser Flegel!“ kreischt der Alte und zerrt an Lottis Kragen.
Und die Klopperei ist am Gang.
Ja du, die Rentnergereiztheiten, ganz eignes Ding! Unvermeidbares Generationengerangel. Gordon schreit seinen Alten an: „Du bist ja nur sauer, weil du weißt, dass du vor mir stirbst!“
Dreht sich der Alte um und belehrt seinen Sprössling: „Ich? Sauer? Nix gegen deine Panik, weil du weißt, dass ich dir das Beste weggelebt hab!“
Stundenlang hat Kurti geflippert, auf Stoß und Rückstoß reagiert, ist endlich – ständig schüttelnd – selber durchgeschüttelt, extra wach und weggetreten, unterfordert und überfordert, aufgebaut und abgebaut. Und dann ist’s doch kein Wunder, wenn der durch und durch verschleuderte Kurti einem Passanten eine Handkante an den Hals haut, dass der blitzartig zusammensackt.
Am Flipper Gespräch zwischen Mensch und Maschine. Gegenseitiges Treten, Rütteln, Hämmern, Pochen. Auch Flüstern, Beschwören, die Silberkugel duzen, den Zähler beleidigen, der obersten Spirale zublinzeln, das Deckelglas streicheln. Dann wieder dem Hebel eine knallen. Die Automaten entwickeln eine Sinnlichkeit, sagt Kurti, dass du nicht mehr weißt, wer von beiden, Frau oder Flipper, hat die heißere Ritze? Kurti ist eine arme Sau, dank Elfie, doch das hindert Lutz nicht, Kurti knapp Beifall zu nicken.
Dauerndes Schalten, Einwerfen, Abdrücken, Hebeln, Steuern, Starten, Bremsen. Kreisverkehr. Drehorgel. Gitarrenschüsse. Das Transistorradio am Gürtel des Schaustellergehilfen, dem Lärm hoffnungslos unterlegen, trotzdem tapfer vor sich hin plärrend.
Junger Mann zum Mitreisen gesucht!
Dauernd Saft in die Tube drücken, dauernd den Safthahn abgedreht kriegen. Blechen, kassieren. Blechen blechen blechen, nach hundert Mal blechen Trostpreis kassieren. Aussteigen, einsteigen. Anlegen, ablegen. Gewehr an die Wange drücken, Blei gegen Tonröhrchen jagen, Nylonblume um den Finger wickeln. Zunder machen. Zunder bekommen. Auflaufen, abtraben.
„Lutz, pass auf, heut Abend lauern die Filzer an jeder Ecke.“
„Ich werd nicht überfallen, Kurti – ich überfalle.“
Und hin und zurück und hin, neue Spur suchen. In die Sahne haun, abgesahnt werden. Seinen Hammer heben und keinen Nagel finden. Typen reden bei Geld von „Strom“. Genauer geht’s nicht.
Bei Köbes und Elfie springt der Funke über. Elfie wirft ihren Winker raus. Gerd legt den nächsten Gang ein. Kurti, von Elfie aus der Bahn geworfen, lässt sein Fernlicht auf Christine fallen. Helga beobachtet Gerd im Rückspiegel. Freddy steuert Gaby an. Gaby prüft Freddys Kugellager. Anne hat ein riesen Fahrgestell. Sanne hat ein ruhiges Laufwerk. Mit Achims Lenkung fährt Elli gut. Leo fingert an Sofies Anlasser. Jochen pumpt Schmierölgeständnisse in Heikes Ohr. Werner schließt Carla kurz. Kurti rammt seine Pedalen in Jochens Heckflosse. Irene blinkt Lotti an. Achim will Lillis Ventile öffnen. Lilli lässt ihre Warnblinker aufleuchten. Unversehens hängt Elfie ihren Putzlappen in Freddys Frontgrill. Und so sie alle: augenverschweißt, fingerverlötet, umherirrend im Ersatzbefriedigungslager von Steuerknüppeln, Bremsbacken, abgedichteten Gestängen. Zur Dauererregung im Standgas verdammt.
Kein Mensch ohne Knautschzonen.
Ach, ehrlich du, Hanno, sag selbst, die Seufzer-Figuren: Klick-Lilli, Klirr-Doris, Tick-Elfie, Peng-Heike, Gong-Lisa, Schmack-Helga, selbst Sanne mit ihren sweet nothings in der Bluse, oben auf der Parkbank am Ennert zu Achim: „Ich hoffe, du bist nicht wie alle, Achim, oder?“ Und der mit einer Hand in ihrem sway with me Schritt ertappte Achim will da auch nicht widersprechen. Lässt den weißen Ritter raushängen, der nur an seinen Entsagungen wächst. Tapfer staucht er seinen Steifen in den Jeans zurecht und kommt bekehrt vom Ennert zum Rummel zurück, um auf den erstaunten Rolf einzuprügeln, der grade zum Riesenplastikabenteuer einlaufen wollte.
Ich hab einen solchen Druck drauf. Ich darf nicht die Kontrolle verliern. Überall Tornados der Begierden überm Ozean der Verweigerung. Früher oder später weiß ich nicht mehr, was ich mache, weil ich an nichts andres denken kann. Pochen in den Schläfen, Glutreifen im Nacken. Immer auf einer Stelle in Bewegung. Der Unterschied zwischen Schenkeln und Kotflügeln liegt im minderen Material der Schenkel. Ich hab einen solchen Druck drauf. Bei der Achterbahn zahl ich dafür, den Boden unter den Füßen weggerissen zu bekommen. Im virtuellen Kugelregen pfeif ich mir was, schrei den Scharfschützen Spottverse entgegen, renn aus der Deckung, baller auf alles, was sich bewegt, lass mich dann von ihren Geschossen zersieben. So einen Druck hab ich drauf.
Am Pommesstand Muttertagsprosa:
„Heut kannst keinem mehr nix glaubn! Nitt wie früher! Die klaun dir die Socken im Gehn!“
Man erzählt sich, Freddy hätte Heike am Ennert. Das sagt der Freddy selbst. Heike schweigt. Mit Heike? Wann immer du willst! Das gleiche bei Helga. Vor Zeugen. Und Jochen, erzählt man sich, hätte das bei Sofie am Ennert versucht. Ob aus Ungeschicklichkeit oder Panik, plötzlich macht’s knacks und dem Jochen sein Schwanz ist gebrochen. Gebrochen!? Erzähl das wem andern, wie soll ein knochenloses Ding brechen?
Könnst du religiös werden. Natürlich Quatsch. Trotzdem die Angst, wenn du sowas hörst und hoffst, es sei ein Märchen mehr. Und dich lange nicht richtig beruhigen kannst.
„Aber ansonsten die Sofie ein Supermodell, nicht dass wir uns jetzt missverstehn, Jochen!“
Der Köbes soll neuerdings für seinen Zehner Taschengeld die Woche Buch führen, für den späteren Ernstfall, sagt sein Pa. Sagt Willi.
„Hai Lutz!“
Sein Zimmer dämmert selbst in der Nacht mit Graulicht von weiß der Himmel woher. Blick zu Zimmerdecke erspart jeden Horrorfilm. Nur schlimmer, weil die Monster und Untoten, die da oben erscheinen, Bekannte sind. Verwandte sind. Das macht sein Zimmer zu einer Schwitzbude in einem Tollhaus. Wahrscheinlich hängt der steigende Zoff und wachsende Zorn zwischen Margit und Robert mit dem Umzug in dies übelschöne Einzelhaus zusammen, das ein Aufstieg sein sollte und zum Absturz verführt, wie’s schon das Spottlied auf die Spießer trällerte:
Ach, das könnte schön sein,
als friedlicher Bürger
sein ehrbares Leben
zu Haus' zu beschließen!
Ach das könnte schön sein,
ein Häuschen mit Garten,
in dem wir dann abends
unsre Rosen begießen!
Warum? Warum aus der prima Altbauwohnung in der Widenmayerstraße mit Blick über die Isar nach Harlaching in ein Reihenhaus mit Blick auf Reihenhäuser der gleichen Bauart? Warum? Das darf sich ein Knirps von fünf Jahren natürlich nicht zu fragen wagen. Oder wenn, dann nur mit erwachsener Vernunft wie Donnerhall abgespeist.
Von der Lage her mit bester Anbindung zur Innenstadt, wird der Knirps belehrt, „die Tram kein Steinwurf entfernt“, schreibt Mami an ihre Freundin Lore. Sie muss aber auch nicht werfen.
Warum? Erklär ihm das einer. Warum sind sie in das verdammte Haus gezogen?
„Du sollst endlich ein eignes Zimmer haben.“
„Was Grünes muss her!“
„Die Luft ist besser.“
Darum.
In Harlaching hört „Mami“ auf und heißt Margit.
In Harlaching hört „Papi“ auf und heißt Robert.
Ihre Gesichter kriegen Giftstriemen.
Spottfalten um den Mund.
Rasierklingen unter der Zunge.
Margit übernimmt einen Überwachungsblick hinter allen Fenstern. Es gibt die Zeitung, die gemütlich raschelt, die Papi aber auch rollen und zur Schlagwaffe gegen Fliegen und andre Störer einsetzen kann. Es gibt die Kopftätschler, die Backenknieper, den Ruf zur Ordnung und Fragen, die keine Antworten erwarten, sondern befolgt sein wollen. „Hast du die Socke gefunden?“ heißt: „Such die verfluchte Socke!“
Aber nicht immer. Hü kann morgen Hott, Hott morgen Hü sein. Was gilt wann? S‘gibt keine verlässlichen Regeln. Wie die Semmeln, die mal frisch knistern, mal hart krachen. Es gibt Stunden, da darf die Treppe, die Lutz hochläuft, rumpeln, dann wieder nicht. Es gibt Regentage, da darf er raus und Regentage, da darf er nicht. Dann aber doch – wenn Tante Lore kommt und mit Margit ungestört „kanastern“ will – wegen der Geheimniskrämerei bestimmt was Verbrecherisches.
Lutz macht sich das Haus gefügig; es verliert nach und nach die Stolperfallen. Die Klinken werden seine Komplizen. Bald kann er ohne hinzusehn durch die Stockwerke gleitet. Bald hat er die verschiedenen Stufenhöhen der Treppen im Bein, tritt, greift, balanciert so flink, dass er von keinem erwachsenen Lahmarsch mehr gepackt werden kann.
Dies Haus! Ein blitzsauberer Zahn in dem blitzsauberen Gebiss der Einfamilienhäuser, das sich halbkreisförmig in die Natur vorgebissen hat. Wiese, Wald und Feld mussten weichen, und das nur in einer ersten Etappe, denn schon wartet das nächste blitzsaubere Gebiss der im Halbkreis angelegten Häuser, um sich das nächste Landstück abzubeißen.
Im grau gekachelten, weiß getünchten, bis zur Schmerzgrenze grell ausgeleuchteten Keller steht ein unbenutztes Fahrrad. Die Reifen sind platt, die Klingel ist ab, die Kette hängt über dem linken Pedal. Dahinter, eingemauert, der Öltank mit seinem Ölgestank.
Unterm dick isolierten Dachboden steht ein in Plastikplanen gewickelte Lederkoffer neben einem Büffet aus der alten Wohnung, davor eine ausrangierte Fernsehtruhe, gegenüber zwei Weidenkörbe voller Kissen und Decken, angeblich eine Reserve für Besuch. Nie benutzt. Im hinteren Eck ein Turm aus Elektrokrempel, alles überholt, aber zum Wegwerfen zu schaden.
Keller und Dachboden sind für Lutz die beiden Backen der Schraubzange, die der Teufel dreht, um in aller Ruhe die Bewohner von Parterre und Obergeschoss zu zerquetschen. Der Erzböse hat Zeit. Sein Sieg ist sicher. Ab und zu quillt schon Blut aus Lutz‘ Nase. Reißt ein Knie auf...
Parterre und Obergeschoss verbindet eine Wendeltreppe, die – glaubt man Robert – der Architekt „in einem epileptischen Anfall hingeworfen hat.“ Die Treppe besteht aus einer Edelstahlsäule, in die rundum aufsteigende Holzstufen versenkt wurden, was nicht weiter schlimm wäre, würden die Stufen nicht innen so spitz zulaufen, dass sie keiner betreten kann, während sie nach außen zwar ausladend weit sind, bloß mit der Gefahr verbunden, bei deren Nutzung in den Raum zu fallen, da der „gewendelte Wahnsinn“ – so Margit – statt eines Geländers nur durch ein dickes Seil gesichert ist, das beim Anfassen wegpendelt und besser von jedem, dem sein Leben lieb ist, unberührt bleibt.
Im elterlichen Schlafzimmer steht rechts eine verspiegelte Schrankwand, links das Doppelbett, eine zweimeterzehn mal zweimeterzehn Sondergröße für echte Riesen oder kleine Hochstapler gedacht. Durch den engen Gang zwischen Schrankwand und Bett erreicht Lutz den Balkon, vor dessen Betreten gewarnt wird, weil dieser „zusätzliche Schwindel“ – Robert hat in dem Architekten seinen Hausfeind entdeckt – schon knirscht und sich zu senken beginnt, wenn man einen Blumentopf draufstellt. „Welche Bauabnehmer sind hier wie hoch bestochen worden, um sowas durchzuwinken?“
Andrerseits hängt unter dem Balkon die Kinderschaukel, die Lutz tüchtig nutzen soll: er rätselt, welche Vorteile ein über ihm zusammenstürzender Balkon gegenüber einem Balkon hat, mit dem er vom Schlafzimmer aus in die Tiefe kracht. Es bleibt trotz wiederholtem Begrübeln ungelöst.
Dem elterlichen Schlafzimmer gegenüber liegt Lutz Kinderzimmer. Es gibt keinen Schrank. „Die Kleider kannst du zu uns hängen“. Zu ihnen hängen heißt, in den Spiegelschrank auf Stangen, wo noch was frei ist. Was nie vorkommt. Dafür Dank.
Mal wirken die Eltern patent, mal sind’s ausgemachte Trottel. Mal blüht der Himmel, mal kotzt das Wetter.
Die Wände seines Zimmers sind in abwaschbarer Lackfarbe lindgrün gestrichen, der geölte Holztisch ist kindergerecht an den Kanten abgerundet, die beiden Plastikstühle sind bruchsicher, der Laminatboden ist kratzfest, das Gitterbett an jedem Fuß mit dem Betongrund verschraubt, die Spielklötze Bären Hasen Löwen Figuren Bettvorleger sind selbst beim hingebungsvollsten Durchkauen ungiftig, alles scheint geeignet, die Angriffe einer Affenhorde zu überstehen, die Margit und Robert erwarten, wenn Kinder aus der Nachbarschaft einfallen und Lutz zum Anführer wählen.
Der Knüller im Obergeschoß ist das Bad: ein gekachelter Raum, der kaum die Wanne und das Waschbecken rechts, Klo und Dusche links fasst, und trotzdem eine Waschmaschine in der Mitte unterm Fenster ertragen muss. Ein Trumm, durch dessen Luke sie Lutz ungefaltet in die Trommel schieben könnten. In der Spiegelung des Bullauges fliegen Lutz die Ohren nach hinten, während seine Nase als Riesengeschwulst vorbolzt. Sperrt er seinen Mund auf, blickt er auf ein bezahntes Loch in einem bezahnten Loch in einem bezahnten Loch in einem bezahnten und so weiter... aber das ist dann schon mehr gedacht als gesehn.
Im Eingangsflur steht das Telefon unter den Mänteln vergraben. Da ist nun mal das Kabel oder da sind nun mal die Mäntel, je nachdem, auf wen man wütend ist. Vom Hauseingang geht es links in die Küche. Küchen sind immer gleich links oder rechts vom Eingang, um Taschen, die man nicht mehr reintragen kann, wenigstens noch reinzuwerfen.
Sind die beiden kleinen Zimmer im Erdgeschoss genau das, kleine Zimmer, Vorratskammern und Abstellräume, öffnet sich hinter der Wohnzimmertür ein wahrer Prunksaal. Da blühen Textilorchideen in hüfthohen Vasen, breiten sich Wolken aus Kirschblütenimitat über dem Fernseher aus, der seinerseits ein mahagoniholzgerahmter Hinkucker ist. Linker Hand zeigen Regale vom Boden bis zur Decke hochformatige Buchrücken, medizinische Atlanten und Kunstbücher, Lederbände mit Goldprägung am laufenden Meter, aber auch Videohüllen, die Buchrücken vortäuschen, um den Besitzern den Übergang vom Lesen zum Glotzen zu erleichtern und sich peinliche Blicke von Besuchern zu sparen.
Zwei mannshohe Vitrinen stellen handgemalte Teller aus. Was an den Wänden wie Brandlöcher aussieht, entpuppt sich beim zweiten Hinkucken als Kopien alter Meister, von Robert absichtlich im Gegensatz zu dem Blütenzauber angebracht, um, wie er sagt, die ganze Spannweite des Daseins einzufangen. So kann eben nur ein Studierter daherreden, beruhigt Margit den zum Ganzkörper-Fragezeichen erstarrten Lutz.
Ein Feuerzeug liegt auf dem Glastisch wie eine vergoldete Handgranate. „Hier raucht keiner“, klärt Robert Lutz auf, „aber denk an die Gäste!“
Aha.
Lutz hat sich angewöhnt, das Wohnzimmer im Spurt zu nehmen, um den Garten dahinter zu erreichen. Der Garten ist ein Rasenfleck mit einem Pflaumenbaum in der Mitte – aber was für ein Kletterding! In dem Blätterwerk kann er wie unter einer Tarnkappe verschwinden.
Ausgerechnet dieses Prachtstück ist Anlass für ständigen Zank. Margit hasst das „Pflaumentrumm“, hasst es aus einer Menge von Gründen, ein überzeugender ist nach Roberts Ansicht nicht dabei. Ganz davon abgesehen, sagt er, dass es sich um Zwetschgen handelt. Der Klugscheißer. Ihrer Ablehnung fehlt für Robert das Argument, das sticht. Sticht! Der Maulfechter. Robert wartet gespannt, wartet darauf, erstochen zu werden. Dann werde er handeln. Er höre. Lutz wartet mit. Hört zu. Sie sagt:
„Der Baum nimmt zu viel Licht weg. Das ist es!“
Dann fällt Margit, weil’s vielleicht für Robert nicht reicht, ihre Blütenstauballergie ein, die Fliegenplage, die Mückenattacke, die Bakterieninvasion. Eine Denkpause später ist es das Laub, das aufs Dach fällt und die Dachrinnen verstopft. Der zusätzliche Dreck, der ins Wohnzimmer getrampelt wird. Nicht zuletzt die Fallobstmantsche, die riesen Sauerei, die kein Schwein entfernt...
Die Häufung beweist Robert, dass sie nur Vorwände sucht!
„Ja was denn nun?“
„Wenn das nicht reicht“, meint sie, „wenn dir’s egal ist, dass ich im Sommer in der Küche praktisch im Dunkeln hantiere wegen dem Ungetüm und im Wohnzimmer das Licht anknipsen muss.“
„Übertreiben auch noch!“
„Du kannst mich kreuzweise.“
Und so weiter.
Eines Tages greift sie zum Beil. Sie verstümmelt den Baum eine Weile mit rindenritzenden Hieben. Vor allem überlegt sie, wo die entscheidende Kerbe sitzen muss, damit der Baum in die Richtung fällt, in der sie nicht steht. Da kommt Robert, schaut ungläubig, greift ein. Sie am Stiel, er am Blatt des Beils zerrend, streiten sie, wobei der, der gerade einen guten Einfall hat, auch heftiger zieht.
Durch eine überraschende Drehung um Margits Handgelenk erobert Robert das Beil. Er lässt es, augenblicklich von Margit angesprungen, nach hinten sausen, wo die stumpfe Seite des Beils Lutz am Schädel trifft. Lutz klappt zusammen. Was keiner Kinderkrankheit gelang, holt dieser Hieb nach: er liegt mit Kopfschmerzen im Bett, ihm ist übel, er übergibt sich, fiebert und verflucht das Zankpaar, so sehr es ihn jetzt auch betüttelt und umkost.
Der Baum bleibt.
Im Sommer steht Lutz unter dem Blätterhut des Baums, lässt sich von dem gefilterten Licht verschlucken, von dem Geruch auflösen. Noch anziehender wirken auf ihn die Äste im Winter, wenn sie den Himmel in ihrem Geflecht einsperren – wenn alles nach Sommer aussieht, nur verkohlt.
Der Wind hat dann seine rauschende Stimme verloren. Selbst die Vögel greifen sich im Schnee nur noch stumm an. Amseln, die sich jagen, können auf ihre Art galoppieren.
Lutz‘ Heftigkeit macht Margit hilflos. Vor den Nachbarn tut sie stolz mit ihrem starken Jungen, insgeheim hasst sie seine Muskeln. Noch mehr hasst sie die Art, wie er diese Muskeln gebraucht, nämlich gar nicht oder maßlos. Was von beidem ist nie vorhersehbar, kommt ohne Vorwarnung, ohne erkennbaren Grund. Ein Tic – sie nennt‘s seinen „Wutschub“, vermutet „Hormonflut“, dem Ebbe folgt, das heißt Gleichgültigkeit, egal was passiert. Gelassenheit an der Grenze zur Abwesenheit! Dann wieder Explosion. Als gelernte Hebamme spezialisiert auf Geburtenhilfe hat sie versäumt, sich bei der Entwicklung von Kindern ab Brustentwöhnung kundig zu machen. Das rächt sich. Aber braucht es überhaupt Bücher um zu erkennen, dass das, was Lutz hier abliefert, nicht normal ist?
Robert hat einen Schubkarren Sand auf den Gartenvorplatz geladen. Dazu bringt er Eimer Schaufeln Schippen Förmchen Spielzeugbagger Burgfähnchen Glaskugeln Gummibälle Wasserpistole. Jetzt harrt er der Dinge, die nicht kommen. Lutz kümmert sich einen Dreck um das Zeug, latscht über den Sandhaufen zum Baum, trägt auf dem Rückweg den Sand ins Haus, wo Margit mit in Hüften gestemmten Armen wartet, die Sandtapper zählt und von „unzumutbar“ und „Schweinerei“ und „mach nur weiter so“ und „hab ich’s nicht gesagt“ redet.
Da liegt nun der Misthaufen im Garten, meint sie, kein Satan hätt ihn teuflischer hinscheißen können!
Robert schwört Einsicht, sobald er den einen Einwand von ihr hört, der wirklich sticht.
Er höre.
Sie sagt:
„Er spielt ja nicht damit.“
„Er tritt ja alles breit.“
„Der Sand wird beim nächsten Regen Matsch.“
„Der Sand gehört, wenn überhaupt, in die hintere Gartenecke.“
„Dem Sand fehlt ein solider Sandkasten.“
„Dem Sand fehlt eine Abdeckplane.“
„Der Sand lockt Katzen aus der Nachbarschaft an.“
„Der Sand ist im Nu ein unhygienischer Dreckhaufen.“
„Der Sand ist ohne mich zu fragen hingeschüttet.“
„Ich hätte zu dem Sand nein gesagt.“
Und vieles mehr.
Und sagt es umsonst.
Margit gibt es auf, Robert zu überzeugen. Aber sie hat auch ihre Mittel. Der Sand verschwindet – hier ein Tütchen, da ein Schäufelchen – im Müll. Allerletzte Körnchen werden so sorgfältig aus dem Rasen gefegt, als gelte es, Zecken aus dem Pelz der Erde zu entfernen.
Ach, das könnte schön sein,
als friedlicher Bürger
sein ehrbares Leben
so ganz auszukosten!
Ach, das könnte schön sein,
ein friedlicher Bürger
bei dem die Pistolen
und Patronen verrosten!
Im Harlachinger Häuschen mit Garten rosten weder Pistolen noch Patronen, da wird geputzt, geladen, entsichert und griffbereit hingelegt. Und geschossen. Und zurückgeschossen. Mal offener Schlagabtausch, mal Grabenkampf, mal Granaten, dann Giftgas. Dann steht Trennung ins Haus. Lutz macht sich vor die Tür, spielt mit Nachbarkindern, lustlos, schlingt Essen in sich rein, ist wieder weg. Margit denkt: Renn wohin du willst, Satansbraten, im nächsten Moment: Bleib, mein Engel, hab ich doch bald sonst niemand mehr auf der Welt!
Im knieschnürenden Kostüm balanciert Margit die Wendeltreppe hoch. Alle Kleiderschränke sind geöffnet. Ihre Koffer liegen auf dem Doppelbett. Ihre Augen flitzen zwischen den vollen Schränken und den leeren Koffern hin und her. Sie greift in die Bügel, die Hand sinkt unverrichteter Dinge abwärts. Sie atmet schwer, holt ein Wasserglas, stärkt sich mit Steinhäger, schüttelt den Kopf, wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Ihr Mund ist zusammengekniffen, als halte er eine Haarnadel.
Sie zieht das Kostüm aus, zieht einen Kittel an, geht in die Küche. In der Diele steht Robert, zurück von einer Verhandlung, die, weil geflüstert, mit der Trennung zusammenhängen muss. Jeder zischt dem andern spitze Bemerkungen ins Ohr. Schließlich meint sie: „Dann tu ich vorerst also nichts unternehmen.“
Flüche wechseln mit Türenschlagen. Worte wie Wurfmesser. Scharfe Widerreden. In den Mülleimer gemurmelte Klagen. Unterdrückte Bewegungen, die als unterdrückte noch stärker wirken. Kampf ohne Regeln, weil Überrumplung die beste Waffe.
Zeichensprache, wenn sich ein Schuh neben der Eingangstür im Laufe des Tages zu dem Ruf Ich räum hinter keinem mehr her! aufrichtet.
So geschieht etwas, aber „Nicht vor dem Jungen!“ Lutz fantasiert zuende, was an Klarheit fehlt. Abends im Bett Blick zur Zimmerdecke öffnet Margit ihren Leib, langt durch den Bauch an ihr Bein, zieht den Stahlapparat aus ihrem Bein, ein Metallgeflecht mit Seilzügen, bis die Beinhaut, vom Gestell befreit, schlaff von der Hüfte hängt.
„Dein Werk! Genügt das?“
„Nicht vor dem Jungen!“
Sie hüpft durchs Wohnzimmer, schwingt ihre Metallprothese, beidhändig gepackt, als Keule gegen Robert. Robert bringt sich in Sicherheit. Margit schwitzt grünen Schaum aus den Achseln. Bei jedem Hüpfer steht ein Bluttapfer im Boden.
„Dann gib auch zu, dass du dir das Bein selber abgeschnitten hast, um mich zu erpressen!“
„Dich erpressen? Mach Witze!“
„Um mich mit dem Ding zu verfolgen.“
„Ich dich verfolgen? Im Gegenteil: Geh mir aus dem Weg!“
„Was soll ich machen?“
„Du kannst nichts machen. Du hast kein Herz.“
Robert öffnet seine Brust, zeigt sein Herz.
„Dass ich nicht lache!“
Robert wirft ihr sein Herz als Fleischtorte ins Gesicht.
Sie wälzen sich über die Rippen der Zentralheizung.
„Du kriegst meinen Kopf nicht wieder durchs geschlossene Fenster wie neulich!“
„Hier in der Küche wird sich‘s entscheiden!“
„Brotmesser oder Fleischklopfer?“
„Nicht vor dem Jungen!“
„Wir schaffen den Jungen weg, dann wird sich’s zeigen.“
„Solange ich nicht darf wie ich will wegen dem Jungen, wird sich nie was zeigen.“
„Ich nehm nur Rücksicht bis der Junge weg ist.“
„Das muss jetzt sein.“
„Wir haben viel zu lang gewartet.“
„Das stimmt.“
„Der Junge weiß ja nicht, was normal ist.“
Sobald Robert aus dem Haus ist, nimmt Margit ihre Tasche links, Lutz rechts, schleppt beide in die Stadt, schaut, geht in Geschäfte, wählt, verwirft... kauft Lutz einen Karamelllutscher am Stiel. Aus dem anfänglichen Bummeln wird nach und nach hektisches Ziehen und Straßenseitenwechseln. Sie versucht sich bei Tchibo am Stehtisch mit Kaffee und Schokotalern zu beruhigen. Sie redet von der Lust auf Kindergarten, Tagesstätten, nach denen sich Lutz sicher schon sehnt. Das ist ihm neu.
Hat er eine Wahl? Nein. Wieso dann Lust? Nun ja, neue Spielgefährten und so. Außerdem versteht er dann alles besser...
...versteht auch sie besser...
...die Trennung und alles...
…sie und ihre...
…ihre ganze...
...was sie selbst noch nicht...
...ist dann geklärt!
Warum hat er zu nichts eine Meinung? Sie will ihm einen Anzug kaufen. Er zieht, wenn er überhaupt noch was zu sagen hat, einen Quetschbügel vor. Einen was? Einen Quetschbügel. Eine Quetschkommode. Ein Schifferklavier. Das kann er doch nicht anziehen! Das kann er nicht anziehn, aber vor‘n Bauch hängen und Töne rausquetschen, wie der Name schon sagt, und Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise singen. Ein Schiff wird kommen singen. Wo schnappt er nur solche Sachen auf? Solche, wie soll sie mal sagen, Flausen? Quetschkommode! Wenn’s wenigstens Klavier wär. Das versteht sie nicht, meint er trotzig, weil er Matrose, sie eine Landratte ist. Will er etwa Sänger werden?! Nö. Etwa statt Kindergarten zur See, haha? Jaha. Was um Herrgotts Willen fabuliert er sich da zusammen?
Noch Händchen an Hand,
schon getrennte Welten.
Sie verlassen die Innenstadt über den Viktualienmarkt, laufen zum Gärtnerplatz, schweigen sich die Klenzestraße bis zum Isarufer an, wo Margit sich ihm in den Weg stellt, einen zittrigen Blick auf ihn wirft und ihre Stimme auf Flüsterstufe senkt: „Hast du mich eigentlich lieb?“
Er drückt sein Gesicht an ihren Rock. Sie laufen ohne weitere Berührung nach Hause. Abends im Bett die Augen zur Zimmerdecke. Der Hieb sitzt. Was hat Margit mit Liebhaben zu schaffen? Liebt er seine Beine, die ihn tragen? Die sind. Was soll er sich um sie kümmern? Er muss sich gegen ihre Fragerei wappnen. Margit ist. Liebe wirkt dagegen wie Raubüberfall.
Tage später. Margits Blick sucht Halt. Sie möchte den Kaffeetisch zur Aussprache neu herrichten, aber auch so, dass es aussieht wie immer. Das Besondere wie immer. Bloß wie? Ihre Wangen stehn in Flammen. Mit einem ausgebreiteten Leinentuch fällt sie über die Tischplatte her als gelte es, ein Ungeheuer einzufangen. Sie streicht die Falten der Decke glatt. Eine Vase voll Heide in die Mitte.
Sie jagt auf den rechten Türpfosten zu, kommt aber, wie von einer Windbö erfasst, gerade noch knapp links durch den Rahmen in die Küche. Ihre Hand fährt in einen Topfhandschuh, zieht aus dem Backofen einen Apfelstrudel. Der Strudel krönt den Rolltisch, umgeben von Stachelbeertörtchen Schokoküssen Berlinern Amerikanern Rosinenschnecken Ochsenaugen Schlagsahne Zuckerwürfel Kandisklumpen... Zurück am Kaffeetisch verteilt sie die Teller, die dreizinkigen Kuchengabeln.
Sie stellt Lutz‘ Teller so, dass nicht der Eindruck entsteht, sie säßen gegen ihn zu Gericht, andererseits aber auch so, dass nicht die Illusion aufkommt, er gehöre noch zu ihnen wie immer oder gar zu einem von ihnen mehr als zum andern!
Robert nähert sich, oben straff, eine Stirnfalte über der Nasenwurzel wie ein Ausrufezeichen, vom Gürtel abwärts unförmig, außerdem immer ein drolliger Schwupp in seiner Arschspalte, wo sich die Hose einkneift.
Robert prüft die Sitzordnung. Erst mal Kaffee einschenken. Erst mal in den Strudel fahren. Müsst ihr alle so kucken wie ich nicht anders kann?
„Nun?“
„Ja!“
„Was ja?“
„Was denn schon!“
„Nun, ist schon was besprochen, ja oder nein?“
„Was soll denn schon besprochen sein, wo du nicht da warst.“
„Also hat er sich noch nichts überlegt.“
„Das weiß ich doch nicht.“
„Ich sag’s ja. Er hat sich noch nichts überlegt.“
„Lutz, dein Vater fragt, ob du schon was überlegt hast. Bei wem du vorerst bleiben willst.“
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„Was heißt das nun?“
„Er weiß es eben nicht“
„Das soll ja auch erst besprochen werden.“
„Du... ich mein, Lutz... du machst es uns auch nicht grad leicht.“
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„Du kannst jetzt offen deine Meinung sagen.“
„Ohne Angst, einen zu verletzen.“
„Das haben wir schon geklärt, oder?“
„Wir machen dir keine Vorwürfe. Es geht ja auch um die richtige Entscheidung... um gewisse Tragweiten... richtiger Kindergarten und die passende Einschulung und alles.“
„Tragweite versteht er noch nicht.“
„Versteht er noch nicht?“
„Das Wort versteht er noch nicht.“
„Wie denn das?“
„Kein Kind redet von Tragweite.“
„Also was denn jetzt?“
„Folge. Um die Folgen von‘ner Entscheidung.“
„Folge versteht er?“
„Ja.“
„Dank fürs Seminar! Lutz, also: Folge. Folge verstehst du?“
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„Natürlich will er jetzt nichts sagen.“
„Er hat Angst, einem von uns weh zu tun.“
„Ich sag doch grade, da braucht er keine Angst zu haben.“
„Da hilft kein Sagen. Da kann man ihn nicht drängen.“