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Immanuel Kant hat sich am sogenannten Schematismus abgearbeitet, jener Kraft, Handlung oder Handlungsanweisung, die zwischen der Sinnlichkeit (Körper) und dem Verstand (Geist) vermitteln sollte. Wie zu erwarten ist er an diesem psycho-physischen Rätsel gescheitert. Heinrich von Kleist soll die Kritik der reinen Vernunft, in der Kant die prinzipielle Grenze menschlicher Erkenntnis aufzeigt, in eine Krise gestürzt haben. Ihm schien der Boden jeder allgemeingültigen Wahrnehmung entzogen, und damit auch die Sicht auf die wahrhaftige Wahrheit. Nicht nur das Wissen, auch die Moral und die Sprache verloren ihre Sicherheit. Die damit verbundene, seine Dichtung prägende Erschütterung, macht ihn literarisch jenseits von Klassik und Romantik aufwühlend einzigartig. Die beiden Beschreibungen von Kant und Kleist verbindet der nie ganz geklärte Dämon der Täuschung, wie ihn Descartes beschrieb? und nur mit Gottes Hilfe wieder loszuwerden glaubte.
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Seitenzahl: 208
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Incubus! Incubus!
Tritt hervor und mache den Schluss!
(Heinrich Faust zum grinsenden Pudel)
Auf dem Bonner Kaiserplatz gab es Bukinisten, die noch wussten, was in ihren zerfledderten Büchern stand. Diese kaffee- und tabakgetränkten Schmöker zogen mich mehr an als das noch eingeschweißte Zeug in den Buchhandlungen. Ein früher Tic, verbunden mit der Hoffnung, dass die äußere Verdreckung auch in den Inhalt der Werke einsickerte, eine Art Befleckungsmagie.
Entsprechend dieses Tics malte ich mir die Bukinisten verwegener aus als sie unter dem Zwangsjackenhimmel Bonns sein konnten. Ihre Karren weckten in mir Verbindungen zum fahrenden Volk.
Wenn die Bukinisten die Planen ihrer Stände zurückschlugen, verglich ich‘s mit der Eröffnung des Tinkturen-Angebots, das die Quacksalber im wilden Westen den Dorftrotteln anboten, um nach Potzblitz-Verkäufen in den Sonnenuntergang zu galoppieren, Lynchschwüre der Betrogenen im Rücken...
Literatur aus der Giftwarenabteilung also, redete ich mir ein. Buchhandlungen wie Bouvier hätte ich dagegen nur betreten, um Unerschwingliches zu klauen. Bukinisten zu beklauen verbot sich von selbst. Gaunerehre.
Näherten sich Leute, die zielsicher die literarischen Perlen aus dem Schund zogen und damit die Mischkalkulation der Karrenbesitzer gefährdeten, durchfuhr die Männer neben ihrem kaufmännischen Entsetzen ein diskussionslüsternes Entzücken. Die Hüter der Buchkultur aus zweiter Hand schalteten vom finanziellen Auftrag zur spirituellen Agitation! Jugend, die Spinoza las, hatte sowieso kein Geld. Dafür hatte sie möglicherweise ein Ohr für außergewöhnliche Offenbarungen, die sonst niemand hören wollte.
Also zogen sie den Schlüssel von ihrer Geldkassette, schoben die Kassette in eine Schublade, verschlossen die Schublade, steckten beide Schlüssel ein, schnäuzten sich, fixierten ihr jugendliches Opfer und ließen feurige Reden vom Stapel. Wer jetzt was kaufen wollte, musste warten. Bekehrung ging vor Bereicherung!
Der bekannteste Bukinist war ein weithin schallender Prediger in Sachen Weltuntergang. In den Gebrauchtbücherkreisen wurde er als Lokalheiliger verehrt. Spitzname Lasstab, hergeleitet von seiner Lieblingswarnung „Lasst ab von...!“ Schwarz gekleidet. Abgewetzte, glänzende Hosen. Bratenrockjacke. Weste mit silberner Taschenuhr (vom Umfang her zurecht von ihm „Zwiebel“ genannt) in separater Uhrentasche. Dick besohlte schwarze Schnürschuhe. Drei Nummern zu weite weiße Hemdkragen. Schwarze Fliege an Gummischnüren, an denen der Eiferer im Rausch seiner apokalyptischen Visionen ständig zerrte, weil sie ihm die Luft abzuschnüren drohten.
Ein massiver Kugelbauch vollendete die Wucht seiner Auftritte. Lippen wie ineinander verkeilte Nacktschnecken. Funkelnde, graue, dauerfeuchte Augen hinter gelben Brillengläsern, das linke Glas dick wie aus einem Kirchenfenster gefräst, das rechte dünn wie ein Schmetterlingsflügel, beide bis an die Grenze zur totalen Sichtverhinderung zerkratzt, was seine innerseherischen Fähigkeiten nur förderte. Wangen von einem flammenden Rot, als sei er gerade frisch geohrfeigt worden, ein Eindruck, der sich noch verstärkte, wenn man in sein gekränktes Gesicht sah. Der gekränkte Ausdruck löste sich nur, wenn es darum ging, seiner noch tiefer sitzenden Menschenverachtung Platz zu machen.
Seine dürren Beine konnten den schweren Oberkörpers kaum ausbalancieren. Wo er nicht unsicher taumelte, schwankte er rhythmisch, verlagerte ständig die Hüftstellung, um nicht hinzufallen.
Einmal halbwegs stabil postiert, warf er die Arme auseinander und zischte: „Kuckt sie euch doch an, wie sie hinter dem Fleisch her rennen! Wie sie sich putzen und plustern, schminken, einstinken und aufreizen! Na gut. Am 13. Mai hat das alles sowieso ein Ende! Am 13. Mai ist Weltuntergang! Das ist definitiv. Das sage nicht ich. Das sagen nicht die Sterne. Das ist der Endpunkt einer lang zusammengebrauten historischen Schieflage. Und noch was. Ich sag‘ euch noch was. Auch wenn ihr’s nicht hören wollt. Ich wein‘ keinem eine Träne nach. Keinem!“
Er wiederholte unter saftigsten Verwünschungen der Fleischeslust und anderer niederen Begierden das Schicksalsdatum, das den Schlusspunkt dieser wild marodierenden Sittenlosigkeiten markierte, wiederholte das Schicksalsdatum ohne den geringsten Zweifel zu dulden, denn, Ungläubige, aufgepasst: der tödliche Pfeil steckte schon in jedem federlosen Zweibeiner, wie Aristoteles den Menschen so klug und treffend definierte, nur die durch Ausschweifungen vernebelten Hirne hatten noch nichts davon mitbekommen…
Am 14. Mai stand Lasstab immer noch da, genauso energisch schwankend, kugelbauchig donnernd – und niemand in der Runde, der es wagte, ihm vorzuhalten, er hätte sie am 13. Mai in den April geschickt.
Was scherte ihn eine Wahrsagung, die nicht eintraf? Selbst der Weltenlauf gehorchte ihm nicht mehr, so verrottet, wie der komplette Kosmos war! Die Folge? Noch eine Schippe drauflegen auf seine Lasstab-Botschaften: „Kuckt sie euch doch an, die überquellenden Schaufenster! Die Tänze ums goldne Kalb! Lasst ab, lasst ab von den Verirrungen! Wisst ihr, auf was das zusteuert? Das steuert auf den globalen Kollaps zu, den weder euer Gott noch unser Herr Adenauer, der Fuchs von Rhöndorf, ja nicht einmal der Geist von Einstein, ich wiederhole, weder Gottes Allmacht, noch Adenauers List, noch Einsteins Geist aufhalten können!“
In ekstatischen Momenten stand er kurz davor, sich das Hemd aufzureißen.
Ich las mich, die Schule schwänzend, die mich anödete, zunächst durch seine Abteilung stoischer Denker. Trotzig gelassene Sätze, die sich warnend um meine körperliche Aufgewühltheit legten. Lasstab hatte nichts einzuwenden, wenn ich stundenlang in seinen Beständen schmökerte, solange ich mir im Gegenzug seine Beschwörungen, Untergangsszenarien und Endzeitprophezeiungen anhörte. Da reichte ein halbes Ohr, ein periodisches Nicken, um ihn bei Laune zu halten. Solange sein Schnauben und Toben anhielt, war alles in Ordnung. Auf die Weise entging mir nie das nächste Datum des endgültigen Endes alles Irdischen, das er mir in Wochenabständen verriet.
Nach einer Zeit des wachsenden Vertrauens fand ich den Mut, Lasstab zu fragen, was er für den härtesten Stoff im Reich der Gedanken hielt. Etwas ganz ohne Rücksicht auf meine jungfräuliche Seele, an der Grenze des Zumutbaren, am besten noch drüber raus. Es folgte eine väterliche Szene: Er überprüfte den Stapel, den ich mir zusammengeklaubt hatte, Cenon, Seneca, Epiktet, Cicero, Camus, Sartre, Upanishaden… nickte. Ganz nett, soweit. Dann überzog Eisiges sein Gesicht. Im selben Moment wog er ein Buch vor mir auf und nieder, als schaukle er einen Goldbarren vor einem schuldengeplagten Bittsteller. Der Autor, den ich im Mitschaukeln meiner Augen entzifferte: Cioran.
Um ein Haar hätte mir Lasstab noch väterlich eins übergezogen, weil ich es fertig brachte, den Namen seines Idols naiv deutsch „Zieh-Ohr-ran“ auszusprechen.
Emil Michel Cioran stand mit seiner Lehre vom Zerfall in der vorgestreckten Hand von Lasstab vor meinen Augen, und der Bukinist lobte den Autor: Die blanke Illusionslosigkeit! Mit der Rasierklinge auf der Zunge vorgebracht! Lasstab schaukelte bedenklich, als er meinte, er hätte mich lange beobachtet und wäre zu dem Schluss gekommen, dass ich und nur ich geeignet sei, in dieser Stadt der falschen Fröhlichkeiten einen solchen Niederschmetterer zu würdigen.
Für Momente bildete ich mir ein, bei Lasstab eine Andeutung von Umarmung zu bemerken, die aber in einer neuen, energischen Gewichtsverlagerungen endete. Nur ich wäre geeignet, wiederholte er – vielleicht!
Lasstab tippte mit seiner ansonsten nur Unheil anzeigenden Fingerspitze auf den Namen des Übersetzers, den er offenbar nicht weniger verehrte: Paul Celan. Eingeschüchtert von dem grade verübten Patzer versuchte ich eine bessere Aussprache, die Lasstab beweisen sollte, wie lernfähig ich war: „Pooul Seelon?“
Erneut holte der Meister aus, diesmal für eine reale Kopfnuss. „Paul für Paul.“ Kunstpause. Erkenntnis sacken lassen. Zweite Kopfnuss. „Und Celan für Celan.“ Erkenntnis sacken lassen.
Ich fühlte mich auf hohem Niveau missverstanden.
So geriet ich in den Sog der leidenschaftlich verbohrten Weltverächter. Ich machte mir weniger ihre Aussagen als ihre Haltung zu eigen. Allerdings merkte ich mir einige ihrer besonders vernichtenden Sätze, um sie Feinden, die ich auf keine andere Art loswerden konnte, an den Kopf zu werfen. Ich muss sagen, nichts funktioniert zur endgültigen Trennung besser als einem Menschen zu beweisen, dass er ein Fehlgriff der Natur ist.
Mein Favorit: Was bringt Philosophie? Nichts. Das aber gründlich.
Bevor ich überhaupt die ersten Philosophen las!
Nur mal so in vorauseilender Abwehr.
Baruch Spinoza war Glasschleifer, Optiker – ähnlich präzise schliff er an seinen Gedanken. Vor allem beeindruckte seine unbarmherzige Warnung, allem Irdischen abzuschwören, wenn man zur Wahrheit vordringen wollte. Das kam so kompromisslos – entweder flüchtige Genüsse oder bleibende Erkenntnis – dass ich mir seine Moral aus dem Geiste der Geometrie zum Leitstern des Handelns wählte.
Andererseits war ich zu viel Körper. Das kränkte. Da war nichts zu machen. Ich entschloss mich zur Enthaltsamkeit, schraubte mich am Schreibtisch fest, baute Bücher, Stift, Zettel und ein Glas Wasser um mich, um mit genau diesen Mitteln siebzig oder achtzig Jahre zu verbringen, unterbrochen nur von dem Abenteuer, ab und an aus dem Fenster zu sehen, ob die Welt sich noch drehte.
Nach wenigen Tagen in solcher Klausur war ich derart entflammt, dass ich kopflos in den nächsten Jazzkeller stürzte, wo mir die Schlagzeuge und Klarinetten Tränen in die Augen und die Sonjas und Klaras Säfte aus dem Horn trieben.
Rückfall ins Gemeine, Uneigentliche, Unwahre? Lasstab sah es so. Ich fügte mich seinen Beschimpfungen. Verdorben, unrein, unwürdig, schuldig, befleckt: ich.
Ich, von Wollust gebeutelt, immer wieder neben mir. Was immer an Spinoza in mir war, es wurde in regelmäßigen Abständen mit Füßen getreten, verleugnet, verworfen, verschleudert, vertan. Lasstab ließ keine Entschuldigung gelten. Kleinlaut schlich ich nach seinen Strafpredigten vom Kaiserplatz zum Rheinufer, um mich dort − probeweise erst einmal geistig – zu ertränken.
Aber wie’s so ist mit einem ständig strauchelnden Sohn, grad das reizte Lasstab, die Arme zum Himmel zu heben und mich zur Kehre zu bewegen: Entschiedene Verweigerung und höchste Besinnung! Er hielt sein Strafgericht. Ich wurmte von ihm fort, entschlossen zu jeder Form von Selbstgeißelung. Ich brannte, löschte, brannte, löschte… Heimlich hatte ich mir ein anderes Motto zugelegt: Biete den Säften nicht strafend die Stirn, sonst tropft nur Säure aus deinem Hirn!
Bei Lasstab erwähnte ich die fortlaufenden körperlichen Verfehlungen immer seltener. Er wollte mich um der Wahrheit willen zum Asketen bekehren, da brauchte er nichts von meiner Bekehrung zum Schwein zu wissen. Ob er es ahnte, aber nie ansprach − oder es nie ansprach, weil er es ahnte – wer weiß? Ich nicht.
Eines Tages zog mich der Nachbar von Lasstab, der Bukinist, den sie Maulwurf nannten, beiseite. Maulwurf war kein weithin tönender Untergangsprophet wie sein Konkurrent Lasstab, vielmehr ein schmaler, hintergründig grinsender Zwerg, bekennender Säufer und spottsprühender Lokalpatriot, der in seinem hellsten Augenblick – inzwischen dreißig Jahre her − mit einer Glosse zur Kritik der rheinischen Vernunft im Bonner Generalanzeiger für einiges Aufsehen gesorgt hatte, der Leserschaft danach aber Sachen vorsetzte, die ihn in den Augen der christlich-demokratischen Mehrheit zum Kandidaten für die Bonner Heil- und Pflegeanstalt machten.
Maulwurf köderte mich in einem Moment, in dem Lasstab sich gegen einen Mann vom Ordnungsamt zur Wehr setzen musste, also existenziell gefordert war. Maulwurf trat aus dem Schatten seines Karrens, zog mich, den er schon lange aufmerksam (eifersüchtig?) beobachtet hatte, sanft am Ärmel und offenbarte mir seine von Lasstab dramatisch abweichende Botschaft mit Feuer in den Augen und Speichel auf den Lippen, als handle es sich um einen Religionskrieg: Ob ich wirklich auf der Suche nach dem härtesten Schwarzbrot im Reich der Gedanken sei? Nicht die geistigen Spucknäpfe, in die Lasstab vernarrt wäre, oh nein, sondern bereit für den Brocken, den ich nie würde verdauen können: Kant! Immanuel Kant!
Das schien mir nun wirklich der lahmste aller Abwerbungsversuche; ich schüttelte meinen Kopf spöttisch und gab mich von oben herab:
„Wie denn? Ausgerechnet der knarztrockene Kategorienbastler, den Nietzsche abwechselnd als Chinese, hinterlistigen Christ, Widernatur, Vogelscheuche, Stubenhocker oder verwachsenen Begriffs-Krüppel anredete? Ausgerechnet der fade Königsberger Klops, den Henry Miller als pussyfoot Kant, als Mister Samtpfötchen und Schleichbein lächerlich gemacht hat – und sollte für mich Herausforderung sein?“
„Genau“, meinte Maulwurf, „du weißt ja sooo viel, nicht? Und hoffentlich auch, warum man mich Maulwurf nennt?“
„Weil du dich blind gesoffen hast?“
“Das auch, aber nur nebenbei: Ich bin nach Günter Eichs Maulwurf-Zyklus benannt, Junge! Nach einer Sammlung von Untertunnelungswörtern − jaha! Und das nicht von ungefähr. Ich les‘ nicht nur zwischen den Zeilen, Junge, iwo, ich kuck hinter jedes einzelne Wort und schaufle dessen zweiten und dritten Sinn ans Tageslicht! Nenn mich Spinner, ha! nenn mich Nestbeschmutzer, ha! Altaranpisser, ha! Dreckaufwühler, der durch seine unterirdischen Grabungen die oben errichteten Denkmäler zum Einsturz bringt, ist mir recht – aber das Maulwurfstalent, Junge, das fehlt dir, da haben dich gewisse Lasstabler verblödet.“
„Oh, dann entblöde mich doch“, spöttelte ich zurück, „Kostprobe her oder Klappe halten.“
Er schielte mich verschwörerisch an: „Du lieferst mir selbst die Steilvorlage, Junge. Nietzsche zitieren? Geschenkt. Henry Miller im Original gelesen? Gut. Aber maulwurfig gelesen? Nein! Dafür reicht’s nicht! Der Herr Achsoooklug überhört den eigentlichen Witz der Samtpfötchen-Anspielung. Pussy, verstehst du? Möse. Und foot. Fut. Fotze. Dämmert’s? Nicht umsonst hatte dein Henry Miller alias Heinrich Müller deutsche Vorfahren. Der dachte zweigleisig. Soweit mitgekommen? Und dein sexomanischer Henry sollte nicht die englische Aussprache des Philosophen genießen: Cunt. Muschi! Klar, dass spicy Miller so heftig auf dem Königsberger rumritt – er kriegte die beiden Seiten der Medaille, hier die Lichtgestalt der reinen Vernunft, da die weiche Vulva im Untergeschoss der apriorischen Kategorien ums Verrecken nicht zusammen. Glaub mir, das nagte an dem Amerikaner, diese intellektuelle Demütigung. Schlussendlich prahlte er nur noch mit seinem Schwanz, weil ihm hier (Maulwurf klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn) die letzte Potenz fehlte.“
„Aha.“
„Aber jetzt kommt’s“, fuhr Lasstabs Nebenbuhler fort, um mich vollends auf seine Seite zu ziehen, „dein hormonüberfrachteter Autor hat in seiner Anspielung den Nagel auf den Kopf getroffen! Kant ist reinste Pussy. Allerdings nur für den, der durchs geschliffene Begriffsgitter des Königsbergers den Kampf mit seinen Dämonen sehen kann. Bist du dazu bereit?“
Ich nickte automatisch, sagte aber nein.
Nein zu den Dämonen.
Weil Kant, wie jeder weiß, das undämonischste Trockenobst in Menschengestalt war, das je die Erde mit seinen Ansichten belästigte.
Maulwurf konterte mit einer Attacke: „Ja näää, näää, Maulwurfsaugen, Junge, Maulwurfsnase und Maulwurfssinn, die fehlen dir! Fehlen komplett! Dein ausgedörrter ‚Königsberger Klops’ ist in Wahrheit das Sinnlichste, Gefährlichste, Anstößigste, was du dir wünschen kannst. Es sei denn, du liest ihn wie ein Esel. Dann entdeckst du natürlich nur Stroh.“
Ich verabschiedete mich vom Sittenstrolch Maulwurf, aufrichtig verunsichert, drückte mich am Sittenstrolch-Verdammer Lasstab vorbei, der immer noch mit dem Ordnungsamt um seine Existenz kämpfte, dem aber nicht mein Gespräch mit dem Konkurrenten entgangen sein konnte, was einem unverzeihlichen Verrat gleichkam. Nicht nur einem Verrat an Lasstab, schlimmer: einem Verrat am reinen Geist, den er mir zur Anbetung ans Herz gelegt hatte.
Kant mit Sex im System? Gezwickt vom Dämon zwischen den Beinen? Ausgeschlossen. Ich wagte die Hochstapler-Nummer, nur um Maulwurf fachkundig zu widerlegen, gab mich (immer noch Unterprimaner auf dem Beethoven-Gymnasium) als Student aus und ging in die Vorlesungen einer auf Kant spezialisierten Dozentin, Ingeborg Heidemann, die sich auch äußerlich dem großen Vorbild angenähert hatte. Kant soll eins fünfzig klein gewesen sein, schmal, links hängende Schulter (beziehungsweise rechts zu hoch gewachsener Knochen), volle Lippen, eine Art wandelnde Pergamentrolle, was auch daran liegen mochte, dass er sich gegen jedes Säfteverströmen wehrte, sei es Schweiß, Spucke oder Samen, mit dem Argument, der Körper schwäche sich dabei jedes Mal und altere vor der Zeit, er aber, Kant, hebe sich all diese Säfte auf, um seine – besonders geistige − Spannkraft zu erhalten.
„Einerseits“, so ein Zeitgenosse, „ein bemerkenswerter Kopf, hohe, heitre Stirn, feine Nase und helle, klare Augen, andererseits sein Körper der vollkommenste Ausdruck grober Sinnlichkeit. die sich an ihm besonders beim Essen und Trinken übermäßig zeigte.“
Frau Heidemann, die Kants um zwei Jahrhunderte versetzte Zwillingsschwester hätte sein können, war auch inhaltlich in alle Winkel und Windungen seiner Werke eingefuchst. Ist es Magie, ist es profane Mimikry, wenn sich eine Person derart in die Werke eines Vorgängers hineinwühlt, dass sie auch körperliche mehr und mehr als Wiedergeburt ihres Studienobjekt gelten kann? Mag sein. Jedenfalls erzeugte sie in ihren profunden, ehrfurchtsgebietenden und vor allem nicht nachvollziehbaren Äußerungen eine derart einschüchternde Hochachtung unter den Studenten, dass keiner sich bei ihren Vorlesungen auch nur zu räuspern wagte, als sei man nicht in einem Hör-, sondern in einem Konzertsaal.
Um sie für mich überhaupt wieder ins Menschliche zurückzubringen, nannte ich sie heimlich Heidi. Auf geht’s zu Heidi! spornte ich mich an, das klang wenigstens noch unbeschwert, bis ich in der Vorlesung von ihrer leisen Stimme ins Granitgebirge des größten aller preußischen Philosophen gedrückt wurde, um spätestens nach zehn Minuten an der nächsten scharfen Kante seines Systems geistig zu verbluten.
Frau Heidemann brauchte ein Semester für die Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, wobei sie andeutete, die aufregenden Sachen kämen erst bei Kants eigentlichem Steckenpferd, der Kritik der praktischen Vernunft auf uns zu – „das bis heute stabilste Fundament der Ethik“ – aber dieser Genuss bitte erst in sagen wir mal zehn Jahren, davor sei noch die erkenntnistheoretisch anspruchsvollste Klippe, die Kritik der Urteilskraft zu nehmen, die wiederum ohne genaues Studium der Vorläufertexte nicht zu würdigen wäre…
Ein Semester also für die erste und zweite Fassung der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft, nicht zu verwechseln mit der Einleitung, danach Krümel für Krümel das Schwarzbrot des eigentlichen Textes... Ich rechnete die Seiten der ‚Vorrede’ (=ein Semesterpensum) auf die gesamte Seitenzahl der drei Kritiken hoch und kam auf dreißig Jahre Vorlesung − begleitendes Eigenstudium, vertiefende Seminare, Tutorien, Diskussionsrunden, privat organisierter Symposien nicht eingerechnet… Ich fragte mich, wie viele Jahre die Dame über ihre Emeritierung hinaus durchzuhalten gedachte und wo wir uns dann zu treffen hätten, um vielleicht doch noch von ihr zu erfahren, was Kant meinte, als er bemerkte, er habe vom Eigentlichen noch gar nicht gesprochen.
Ich sah mich schon ähnlich verhärmt und verledert wie die weibliche Kopie des Königsbergers, wenn ich endlich über tausend Umständlichkeiten zum Fleisch der wahren Wahrheit vordringen durfte, was im Übrigen, wie unsere Dozentin mahnend vorausschickte, in einer höheren Form der Unwissenheit gipfelte.
Prima Perspektiven.
Maulwurf, autodidaktischer Dreckschaufler und damit Gegenstück zur Akademikerin, stimmte ihr, was die zentrale Bedeutung des Schematismus-Kapitels fürs gesamte kritische Geschäft anging, überraschend zu, bestand aber darauf, hinter dem ‚transzendentalen Schema’ Urschlüpfriges zu entdecken: hier verberge sich der „Sudelfleck, den der Königsberger ein Leben lang vergeblich von seiner Hose zu wischen versuchte.“
Kant selbst hatte das Schematismus-Kapitel „für eines der wichtigsten“ gehalten, Heidegger es zum „Kernstück des ganzen umfangreichen Werkes“ erklärt – aber wieso Fleck auf der Hose?
Zwischen Lasstab und Maulwurf hin und her wandernd, verstärkte sich mein Eindruck, zum Spielball zweier Übel zu werden. Lasstab peinigte mich mit Schuldgefühlen wegen meiner Lustsucht, die mich von jeder Wahrheitssuche ablenkte, Maulwurf witterte im Gegenteil hinter jeder Wahrheitssuche abgelenkte Sexualgelüste.
Während ich die Vorwürfe von Lasstab noch als überholten Unfug in der Tradition der schwarzen Pädagogik abschütteln konnte, irritierten mich Maulwurfs Unterstellung ernsthaft: War selbst im höchsten geistigen Schalten sexuelle Gier am Werk?
Zunächst schien es amüsant, einem untadeligen Geistesriesen paar Spritzer in der Unterwäsche nachzuweisen, hinter der „Maske aus poliertem Marmor“ den geilen Kobold aufzuspüren, aber war das wirklich eine – in Maulwurfs Worten − „überfällige Dekonstruktion des Erzkonstruktivisten“ oder doch eher eine maulwurfig-versoffene Marotte?
Biografen des bahnbrechenden Denkers schlitterten schnell vom liebenswerten, humorvollen Kant zum pathologischen Fall eines „bezwungenen Lebens“, vermuteten einen „Wahnsinn der Vernunft“, unterstellten „Abwehr, Verdrängung, Lustfeindlichkeit, Triebkontrolle, Zwang, Panzerung, narzisstische Einpuppung“, um schließlich „hinter den manifesten Äußerungen des Philosophen eine grauenhafte latente Bedeutung“ zu entziffern.
Was offenbarte mir Maulwurf denn, wenn er „Stellen“ aus den Schriften des Meisters zitierte, die spätestens in Maulwurfs „Tiefenanalyse“ anrüchig wurden?
Kant fand durchaus derbe Bilder, wenn er zum Beispiel philosophischen Gegnern unterstellte, ihnen seien wohl Darmdämpfe, die eigentlich als Furz aus dem Leib gehörten, zu Kopf gestiegen und aus dem Hirn gefahren. Doch reichte das, den Mann zur Sau zu machen? „Solche Sprüche im Wissen“, zischte Maulwurf giftig, „dass Kant unter ständigen Verstopfungen litt, weil sich bei ihm Säfte, die nicht aus seinem Körper durften, im Hirn stauten, wo er sie bis zur Unkenntlichkeit zerkochte, um sie uns als apriori-Menü zu servieren.“
Es gäbe die Fülle versteckter Wortschnitzer, die dem großen Mann unbewusst entglitten, wenn er etwa die Wissenschaft als die „enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt“ beschrieb. Ich wüsste ja, was mit dieser Pforte gemeint sei!
Pussy. Fut. Cunt. Geburtsöffnung. Zeugungsloch. Erkenntnistor. Wahrheitsvulva. Wunde. Wunder. Todesangstvertreiberin. „Und jeder Satz, Junge, schon rein grammatikalisch eine Kopulation, egal wie harmlos der Inhalt − brenn dir das ein! Subjekt, Objekt, fickendes Verb dazwischen, damit durch die Verbindung überhaupt ein Sinn-Kind gezeugt werden kann! Das sag nicht ich. Das sagt der heilige Augustinus. Und Kant? Ja, Junge, der hat nicht umsonst von der Metaphysik als seiner Geliebten gesprochen. Und was glaubst du, hat er mit diesem Wort gemeint? Und mit jenem Bild…?“
Und ob ich nicht wüsste, dass Kant wusste, dass cant in Londons Gaunersprache, Gewäsch bedeutete.
Und so weiter.
Das musste ermüden. Maulwurf hätte seine Freude an Jean-Baptiste Botul gehabt, einem Franzosen, der 1945 starb, nachdem er acht Vorträge zum sexuellen Leben Kants vor einer deutschen Kolonie in Paraguay gehalten hatte. Botul hinterließ nichts Schriftliches. Erst über fünfzig Jahre später veröffentlichte ein Anhänger die Mitschrift jener erschreckenden Reden. Zu spät für Maulwurf, es sei denn, das nach Kant unbeweisbare, aber mögliche Dasein als Engel hätte sich bei ihm verwirklicht und er könnte mit seinen Astralleib vom Jenseits Botul genießen.
Paraguay. Die Situation war delikat. Gut hundert deutsche Emigrantenfamilien, die meisten aus Königsberg, waren im Mai 1945 vor dem Bombenhagel der Alliierten nach Paraguay geflohen, um dort in einer entlegenen Gegend Neu-Königsberg zu gründen. Als glühende Verehrer Kants hatten sie sich vorgenommen, ganz im Sinne des kategorischen Imperativs zu leben und alles in allem eine „transzendentale Gemeinschaft“ auf Erden zu verwirklichen: „Nach Aussagen der seltenen Besucher Neu-Königsbergs kleideten sich diese Deutschen wie Kant, aßen und schliefen wie er und unternahmen jeden Nachmittag den gleichen legendären Spaziergang in einer rekonstruierten Umgebung, welche ihnen auf eine perfekte Weise die Illusion gab, auf den Straßen des alten Königsbergs zu wandeln.“
Die Sache hatte einen Haken: Trieben sie ihre Kantkopie bis zum zölibatären Lebenswandel des Meisters, wären sie zwar untadelig, aber aufgrund fehlender Nachkommen auch in absehbarer Zeit ausgelöscht. Was tun? Sie hörten von Botul, dem letzten „mündlichen Philosophen“, der 1914 aus Paris nach Argentinien floh, um seiner Einberufung zu entgehen. Seither war Botul auf beiden Kontinenten durch gehaltvolle Tischreden und scharfsinnige Vorträge aufgefallen, seine Liebesaffären mit Prinzessin Marie Bonaparte und Lou Andreas Salomé nicht zu vergessen. Von ihm wollten die emigrierten Deutschen nur eines wissen: Musste einer, der nach Kant lebte, auf die körperliche Liebe verzichten?
Einerseits erhoffte sich die deutsche Kolonie von Botul, er möge ihnen eröffnen, dass Kant durchaus Sex hatte, was sie wortwörtlich erleichtert hätte, andererseits mussten solche Entdeckungen das Bild eines Menschen beflecken, dessen keuscher Lebenswandel schon die Zeitgenossen anrührte, amüsierte, ärgerte oder – im Fall einer von Zeitgenossen verbürgten Verehrerin – zu eindeutigen Verführungsversuchen reizte.
Botul bediente sowohl die Erwartungen als auch die Befürchtungen. Nachdem er der Kant-Gemeinde zugestanden hatte, dass ihr Idol unbestreitbar zur Reihe der großen Männer gehörte, „die wie Marmor waren“, unverheiratet, nie eine Geliebte, bestätigte er ihnen ebenfalls, was hinreichend bekannt war, nämlich dass sich der Marmorne durchaus mondän, galant, gesellig geben konnte, „ein Liebhaber des guten Lebens, aber kein Liebhaber des Fleisches.“
Die private Enthaltsamkeit des Philosophen zum allgemeinen Moralprinzip zu erklären, widerspräche dagegen den vom Meister selber hoch gehaltenen Naturgesetzen, denn so verblendet und weltfremd wäre er nie gewesen, dass er das Ende der Menschheit hätte herbeipredigen wollen. Er hatte die Ehe befürwortet, als arterhaltende Pflichterfüllung, im Übrigen mit bedenklichen Äußerungen gegen die Frauen, die er nur scheinbar schmeichelhaft das schöne Geschlecht nannte, wobei er sie durch diese Zuweisung in Wahrheit von der männlichen Fähigkeit, das Erhabene zu fühlen, ausschloss.
Nach diesen Ausführungen hätten die Neu-Königsberger einigermaßen beruhigt aufatmen können, wären sie nicht in der Fremde angetreten, das Vorbild bis zur letzten Konsequenz zu leben, und das hieß: Philosophen zu sein. An dem Punkt zog Kant jedoch mit Seneca an einem Strang: „Denk nicht daran, philosophieren zu können, wenn du nicht alles Andere zurückstellst.“
Was nun? Zwar bewegten sie sich innerhalb des kategorischen Imperativs, wenn sie sich – Ehe vorausgesetzt – vermehrten, blieben aber außerhalb der reinen Transzendenz, die sich nur dem von keinen Wollüsten oder häuslichen Zänkereien abgelenkten Philosophen erschloss.
Botul hatte den braven Leuten behutsam gesteckt, dass Kants Werk zur Übertragung ins Leben nicht taugte. Jetzt wurde er deutlicher: Es taugte nicht, weil Kant zwei Grundlagen des Lebens daraus verbannt hatte, die Dämonen und die Orgasmen, beides für ihn unreine Komponenten, die er in jahrzehntelanger Putzarbeit aus seinem geistigen Palast vertrieb, aber nie wirklich los wurde!
Wohin hatten sie sich verzogen? Zuallererst in die Gefäße, Kanäle und Ausfuhrleitungen seines eigenen Körpers. Dort rumorten sie, krallten, kniffen und zwackten ihn, ließen ihn hypochondrisch, suizidgefährdet, depressiv werden, verschlossen ihm die unteren Körperöffnungen, verstopften ihn, dass er selber das „zurückbleibende und sich anhäufende Exkrement als Ursache eines benebelten Kopfes“ empfand. Samenergüssen beugte er durch festes Einwickeln in Decken vor. Masturbation stieß ihn noch heftiger ab als Selbstmord. In seiner Abscheu vor allen ausfließenden Säften schloss er sich der Meinung François-Mercure van Helmont, einem Arzt des 17. Jahrhunderts, an: „Wenn der Samen nicht ausgeschüttet wird, verwandelt er sich in eine geistige Kraft.“
Solch wundersame Säfteverwandlung gehörten zum Glaubensbekenntnis der damals bei Gipfel-Denkern und Hochton-Dichtern beliebten „Verausgabungstheorie“, die sich in der Warnung zusammenfassen lässt, dass die im männlichen Sperma enthaltene Lebens- und Schaffenskraft nicht verschwendet werden dürfe, im Klartext: nicht als Ejakulat zu verschleudern war. Dass Sex beim Mann zur Schrumpfung des Gehirns führt, wie es einige antike Vertreter der Säftelehre annahmen, wollte der berühmte Arzt Christoph Wilhelm Hufeland nicht bestätigen, wohl aber den Grundgedanken der „Verausgabungstheorie“ an sich.