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Ida ist Kosmetikerin, Ende zwanzig, als sie eine Ampelphobie überfällt. Sie rätselt über die Gründe, unternimmt die üblichen Arztgänge, prüft Psychotherapieangebote, vergeblich. Ihre Kindheit in einer Kleinstadt Ende des 2. Weltkriegs war unerfreulich, aber nicht ungewöhnlich. Ihre einzige Besonderheit: Sie will höher hinaus, ins Kreative, Künstlerische. Sie hängt sich an Künstler in der - irrigen - Hoffnung, von ihnen gefördert zu werden. Von der Kosmetik zum Malen scheint es nicht weit. Bei dem Versuch, durchs Malen das Gewöhnliche hinter sich zu lassen, erlebt sie mehr Zweifel und Rückschläge als Befreiung. Das (zer)stört nicht zuletzt ihr Liebesleben. Es gibt eben nicht nur das Drama des begabten Kindes (Alice Miller), es gibt das weitaus häufigere Drama des halbbegabten Kindes. Ida erfährt es mit allen Wirren, Hochgefühlen und Demütigungen. Ihr Dran ist echt, doch ihr Talent reicht einfach nicht... Die Ampelphobie, von ihr als Weckruf zu kreativen Aktionen verstanden, verschwindet so grundlos wie sie kam. Ihr Liebhaber, ein Kunstkenner, mit dem sie in der Hoffnung auf Förderung und Ermutigung zusammenlebt, entpuppt sich als ihr Vernichter. Die romanhafte Studie einer so verbreiteten wie ungern angesprochenen Selbstverwirklichungsgrenze beschreibt, was schwer einzugestehen ist, weil der Versuch, andere von den eigenen Talenten zu überzeugen, voller Peinlichkeiten, Kränkungen und Schmerzen steckt. Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen? Schön wär's! Ida durchlebt, was dem Goethe-Spruch widerspricht. Sie schickt dem Illusionisten der Klassik einen glaubhafteren Gruß aus der Jetzt-Zeit.
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Seitenzahl: 197
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Gelb ist eine schwierige Farbe
(Derek Jarman, Chroma)
Nachts erwach Ida zehn Zentimeter über dem Bett, Schweiß an Füßen und Händen, Gliederzittern, Pulsjagen. In die Luft gehebelt erwacht sie, hochgerüttelt von einem Schrei, zu dick, um durch den aufgerissenen Mund zu fahren. Eine Hitzewelle schießt in ihren Kopf, ihr Nachthemd pappt kalt am fiebernden Körper. Sie fällt auf die Matratze zurück. Ihre Augen stoßen Hilfe suchend durch die Dunkelheit. Dann wirft sie sich zur Seite, löst sich in einem Weinkrampf… hält den Alb für überwunden.
Beim Frühstückmachen gleitet ihr das Besteck aus der Hand. Ihr Morgenrock ist aus Metall.
Der nächste Anfall kommt gegen zwölf. Sie sitzt im Sessel und schlottert. Nichts weiter. Sie betrachtet ihre unkontrollierbar zuckenden Hände, wagt sich keine Gedanken zu machen. In ihrem Leib steht jemand, der, die Füße gegen ihren Bauch gestemmt, beidhändig an ihrer Wirbelsäule rüttelt.
Sie sagt sich: Nach dem Essen sieht alles anders aus. Nach dem Essen sieht es nicht besser aus. Bloß keine voreiligen Schlüsse! Vielleicht nur etwas Falsches gegessen? Abwarten. Beobachten. Sie versucht den Vorfall ins Alltägliche einzuwickeln. Der beste Test für die Echtheit eines Anfalls ist, ihn den gewohnten Handgriffe und bewährten Gedanken auszusetzen, um zu sehen, was übrig bleibt.
Sie klappert energisch mit dem Geschirr. Sie kocht und putzt in den nächsten Wochen mit der Angst um die Wette. Die Unruhe bleibt; ein leises Flackern unter der Haut, das zum groben Zittern wird, sobald sie stillhält. Die nächtlichen Schweißausbrüche bleiben. Das Bedürfnis nach Aussprache bleibt. Das Anlehnungsbedürfnis. Da ist keiner. Den besten Freund hat sie letzten Monat vor die Tür gesetzt, nachdem er sich als schlechtester Lügner herausstellte. Der Überfall wirft sie aus ihrem vertrauten Leben. Blitze tanzen in ihren Augen. Ihre Fingerspitzen zucken wie unter elektrischen Kurzschlüssen. Sie hat eine Messerklinge im Mund, die durch den Gaumen stößt, sobald sie sich hinlegt.
Eines Abends findet Idas Angst statt eines handfesten Grunds ein passendes Bild: Das pulsierende Licht einer auf Gelb geschalteten Ampel.
Das rhythmisch aufblinkende Licht ändert ihren Herzschlag.
Es passiert auf der nächtlichen Heimfahrt nach einem Versuch, mögliche Ursachen für ihren zittrigen Zustand von einer Fachkraft erklärt zu bekommen. Diesmal war es der Leiter einer gynäkologischen Praxis außerhalb der Stadt. Sie liefert sich den Fragen und den Instrumenten des Professors aus und tippt – um überhaupt etwas Bedenkenswertes beizutragen − auf hormonelle Störung. Genau das, was dem Professor, der nebenbei Betten in der Uniklinik belegt, noch gefehlt hat: eine Patientin, die Diagnosevoreschläge macht! Wortlos quietscht er nach der Untersuchung auf Tennisschuhen aus dem Raum.
Eingeschüchtert verlässt Ida die Praxis, dankbar, dass er sie nicht noch geohrfeigt hat. Sie fährt in der Dämmerung heim, nimmt eine Landstraße Richtung Innenstadt, um den Blechkolonnen auf der Autobahn auszuweichen. Bald darauf bereut sie die Entscheidung, denn im Vergleich zu der schwarzen Umgebung, durch die sich das Fernlicht bohrt, wäre die Autobahn das kleinere Übel gewesen, zwar verstopft, aber von der Kolonne beleuchtet.
Die Landstraße schneidet durch ein Waldstück. Sie fühlt sich wie ein Finger, der im Handschuh verschwindet. Am Ende einer geraden Strecke blinkt ihr ein Licht entgegen... im Näherfahren erkennt sie eine Warnampel vor einem Bauabschnitt:
an - - aus - - an - - aus - - an - - aus…
Sie wagt nicht weiterzufahren. Starrt auf die Ampel. Das Blinken dringt in ihren Kopf. Ein pulsierendes Licht. Knappe gelbe Hiebe. Sie lässt sich einen Moment von dem Blinken hypnotisieren, schrickt hoch, fährt vorsichtig an der Baustelle vorbei.
Das Blinken verfolgt sie. Die Ampel liegt hinter ihr. Das rhythmisches Licht erscheint immer noch wie ein optisches Echo, das erst nach und nach schwächer wird. Unterwegs glaubt sie mehrmals, etwas gelb Blinkendes zu entdecken, das sich beim zweiten Hinsehen auflöst. Sie ruft sich zur Ordnung. Da blinkt ihr plötzlich zu viel, zum Beispiel aus der Mitte eines Ortsschildes heraus… Jetzt bloß nichts Unheimliches zulassen!
In der Stadt tanzen ihr gelbe Lichter vor die Augen, als fahre sie hinter den Warnleuchten eines Abschleppwagens her. Dieses pumpende Signal zwischen den gewohnten Häuserzeilen beginnt an ihren Nerven zu rütteln. Das pochende an… aus... an… aus… Sie flüchtet unter die Bettdecke. Schläft ein. Wacht auf. Ihr Körper ist taub. Das Licht blinkt weiter. Sie ist wach. Es blinkt weiter.
Die Lichtattacken verfolgen sie besonders, wenn sie ruhig dasitzt. Wenn sie sich entspannen möchte. Einfach so dasitzen gehört sich nicht. Untätigkeit ist Sünde! Sie folgt einem Pflichtprogramm, einem zur Gewohnheit gewordenen Tatendrang, der es ihr zum Beispiel verbietet, im Liegestuhl auf dem Balkon einen Fleck auf den Fliesen zu entdecken und nicht gleich wegzuschrubben.
Verwahrlosung lauert überall? Wehret den Anfängen! Eine Marotte, ihr nach und nach eingewachsen aus dem Mutterhaushalt. Mutters Ordnungssinn und Reinlichkeitswahn bis in die tiefsten Reflexzonen ihrer Tochter gesunken! Ida kämpft dagegen an. Gelegenheit zur Übung gibt es überall. Sie lässt ein durchs offene Fenster hereingewehtes Laubblatt auf dem Teppich liegen. Es weht vor ihre Füße, während sie in einem Bildroman schmökert. Nein, belehrt sie das Laubblatt, du bleibst da liegen, ich lese! Du kannst jetzt noch so aufdringlich tun.
Sie liest weiter. Kurze Siegesgefühle. Das Blatt im Augenwinkel. Es nagt sich in ihr Gewissen. Es schafft eine Unruhe, die sich steigert, bis sie nachgibt, aufspringt, das Blatt aufhebt und aus dem Fenster wirft, wo es hingehört − um sich anschließend über ihren Rückfall ins Rastlose aufzuregen.
Eine Reise zu ihrer Kusine nach Essen sagt sie ab, weil ihr die Ampeln einfallen, die bei der Fahrt auf sie warten. Am Besuch bei einer befreundeten Familie will sie festhalten, obwohl sie weiß, dort steht eine Ampel vor dem Haus. So weit darf es nicht gehen, dass sie sich wie eine Behinderte aufführt! Als sie ankommt – es ist Sonntag – ist die Ampel ausgeschaltet. Erleichterung für den ganzen Nachmittag.
Der Straßenverkehr tagsüber beunruhigt sie weniger. Das Blinklicht in ihren Augen verblasst bei äußerem Trubel. Die Ampel meldet sich dagegen heftig, sobald der Alltag bewältigt ist. Sobald sie in ihrem Apartment die Füße hochlegt und Gott einen guten Mann sein läddt, wie man sagt, worüber sie bei Gelegenheit gesondert nachdenke will.
Schlägt die Ampel Alarm? Ida brütet. Sie quält sich. Der gelbe Rhythmus pocht in eine Leere hinein. Ruhe scheint der auslösende Reiz. Das Geisterlicht lauert auf die Zeit, in der sie sich auf ihre Hände setzt und vor sich hinträumt. Ruhe ist Sünde. Wer rastet, der rostet und so weiter. Die Mutter: Hast du nichts zu tun? Ida: Nein. Die Mutter: Gut, dann hilf mir wenigstens beim Kirschenentkernen…
Dass sich in die Wahrnehmung ein Leuchtfleck hineinbohren und eine zweite Wirklichkeit erzwingen kann, hat sie nicht für möglich gehalten. Niemand sonst sieht die Blinkampel. Ein Irrlicht grenzt sie aus. Ein Ampelfieber. Es ist nicht ansteckend. Nicht übertragbar. Mit niemandem zu teilen. Nicht einmal mitzuteilen.
Dinge, die Ida kaum beachtet hat, scheinen nur auf ihren geschwächten Zustand gewartet zu haben, um sie mit ihren eigenen Blinkzeichen zu verfolgen und in den Wahnsinn zu treiben. Nein, Quatsch, Wahnsinn, bloß nicht so daherreden, sich in falsche Dramen hineinreden. Es ist schlimm genug... Aber da ist der blinkende Doppelpunkt an der Digitaluhr im Bad, bisher kein Aufreger. Da ist die blinkende Anzeige am Anrufbeantworter. Jedes leuchtende Zählwerk an den Musikanlagen, Rekordern, Fernsehgeräten und sonstigem elektrischen Kram… alles tippt, tickt, stichelt. Selbst das Tuten beim Abhören einer belegten Telefonleitung bringt sie aus der Fassung.
Es ist, als wollten ihr all diese pulsierenden Anlagen zurufen: Jetzt rechnen wir mit dir ab! Was hat sie ihnen getan? Welches Vergehen treibt die Blinker zur Rache?
Die Ampel ist in dieser Serie von Unruhestiftern nur die, der es gelang, sich dauerhaft in ihre Augen einzunisten und sie selbst bei realer Abwesenheit zu plagen.
Das störende Pochen weitet sich aus. Ein Wasserhahn darf nicht ständig tropfen. Da beschäftigt sie neben dem ständigen blip blip blip die Endlosigkeit der Wasserzufuhr selbst: von welchen nie versiegenden Quellen gespeist? In welche nie überlaufende Mündung fließend?
Ja, natürlich, der Kreislauf des Wassers, Grundschulwissen − geschenkt. Als Kind malte sie sich eine Katastrophe aus, als sie am Rand einer vollen Regentonne stand und die Wassertropfen beobachtete, die gleichmäßig in die Tonne fielen. Irgendwann musste die Tonne überlaufen, dachte sie, danach der Hof, der Keller, ihr Haus, die Straße... Als der zwei Jahre ältere Bruder ihre Ängste bemerkte, nutzte er die Gelegenheit: Nun ja, meinte er, bei anhaltendem Regen könnte es durchaus zu einer Überflutung kommen, die alles mit sich fort risse, sie als Kleinste vorneweg! Da wäre nichts zu machen.
Noch Jahre später überwachte Ida den Überlauf der Tonne. Das ewige blip blip blip der Tropfen war der erste Rhythmus, der sie so verängstigte, dass sie sich einzuschlafen verbot, um nicht unbemerkt fortgeschwemmt zu werden. Schlief sie ein, schreckte sie in der Nacht hoch, überzeugt, ins Unauffindbare abgetrieben zu sein.
Elektrische Geräte, aus den Steckdosen versorgt, verbrauchen eine Energie, von der keiner weiß, was sie wirklich ist. Keiner. Strom eben. Elektrischer Strom. Was gibt es da noch zu sagen? Er soll aus Spannung entstehen. Vom Minuspol zum Pluspol wie die Sonne, die das Wasser aus der Erde zieht, oder vom Pluspol zum Minuspol, wie der Bach, der vom Berg fällt? Und dann angeblich auch im Wechsel?
Strom kann man messen, nicht erklären, das ist alles. Wie bei ihrem Zustand, den sie beschreiben, nicht begründen kann.
Rennt sie mit falschen Erwartungen zu den Experten? Der Körper besteht hauptsächlich aus Wasser, meinte Rick, eine ihrer Wochenendaffären, Wasser, verunreinigt durch allerlei Gewebe. Entsprechend fischen die Ärzte im Trüben. Wer dir von denen sagt, dass er Bescheid weiß, lügt.
Wenn Staubsauger, Mixer, Geschirrspüler, Eisschrank, Monitore, Musikanlagen, Rekorder, Radio, Fernseher angehen, spürt Ida Spannung in sich hochsteigen. Sie sieht sich umzingelt von Objekten, deren Innenleben unheimlich bleibt. Sie stöpselt dies und das an den Stromkreis, schon arbeitet es, hackt, quirlt, kühlt, wärmt, wäscht, kocht, erzeugt Bilder, redet sie an…
Strom ist noch unheimlicher als Wasser: Woher kommt er? Wieso erzeugt er keinen Überdruck, wenn er ungenutzt in der Leitung steht? Wieso wird er nicht schwächer, wenn ihn fünf Geräte auf einmal anzapfen? Was genau passiert bei Stromausfall? (Der Schreck, dass bei Stromausfall das Telefon weiter funktioniert! Von welchem gesonderten teuflischen Saft gespeist?)
In einem Elektroladen entdeckt Ida eine Leuchtschlange. Es ist ein durchsichtiger Schlauch, gefüllt mit winzigen Lämpchen, die nacheinander aufleuchten und so eine zirkulierende Fließbewegung vortäuschen. Die Schlange ist um Fernseher und Stereotürme gerankt. Ida fährt einige Male um den Block, sieht immer wieder zu dem Laden hinüber, nimmt sich ein Herz, parkt in der nächsten Seitenstraße, läuft in den Laden und bittet den Besitzer unter tausend Entschuldigungen, ihr zu erklären, wie die Leuchtschlange funktioniert. Der Mann ist gut gelaunt, erklärt ihr den Mechanismus; es erreicht sie nicht.
Doktor Ross, der Leiter der autogenen Trainingsgruppe, an der Ida teilnimmt, rät ihr, Träume aufzuschreiben. Träume? erwidert sie, ich träume nie! Und ob, meint Doktor Ross, jede Nacht im Schlaf. Mehrfach. Nur unbemerkt. Und nicht erinnert. Wenn man sofort nach dem Wachwerden alles notiert, was man an Traumfetzen behalten hat, wird man mit der Zeit staunen, wie viel man träumt.
Träume erinnern ist eine Frage des Trainings. Und der Nutzen? Er lächelt. Es sei die Sicht auf die zweite Hälfte der Wirklichkeit, die überhaupt erst zeigt, was uns insgesamt ausmacht!
Ida besorgt sich Bücher und liest nach, was von Träumen zu halten ist. Für einige ergänzen Träume tatsächlich, was sich eine wache Ida zu denken verbietet oder zu wünschen nicht wagt, für andere sind Träume Ausfluss eines sinnfreien Nervengewitters. Wer dennoch etwas in diese flirren Bilder hineingeheimnisst, hält sich selbst zum Narren.
Aha! Lieber keine weiteren Bilder aus der Dunkelkammer des Bewusstseins zur Bearbeitung hochkommen lassen − die vorhandenen Narrheiten reichen! Das Letzte, was sie will, ist, sich noch tiefer zu zergrübeln. Also Träume weiter im Nichterinnern belassen! Doch dieser Doktor Ross hat den Stachel gesetzt. Sie beginnt Traumfetzen zu erinner, aufzuschreiben und mit der Zeit immer längere Träume zu behalten. Gegen die eigene Überzeugung. Typisch Ida! Nein wollen und Ja machen!
Erst nur einzelne Bilder. Ungenaue Eindrücke. Unbrauchbares Zeug. Wochen später zusammenhängende Episoden. Bedrückende Szenen. Auch Kitsch. Schlenker ins Komische. War es möglich, dass sie schon während des Träumens − um Doktor Ross zu bedienen − ins Erzählbare ordnete, was nur wirr durchs Gehirn feuerte? Ein Potpourri von Tagesresten, die noch einmal die benutzten Nervenbahnen abfuhren, einfach so, fürs Reinemachen der Übertragungswege, jetzt aber unbedingt etwas Deutungswürdiges transpotieren sollten?
Sie wird den Verdacht einer antrainierten Fälschung nicht los. Die Traumsequenzen werden immer länger, die Bilder immer eindrücklicher... Ida sagte sich: Jetzt hab‘ ich wegen dem Kerl auch noch den Traumdorn im Fleisch!
Doktor Ross, dem sie das Ampelblinken gestanden hat, redet von einer separaten Verarbeitung, sobald die Gruppe beim katathymen Bilderleben angekommen sei. Es geht halt immer tiefer hinunter statt hinauf und heraus. Der Doktor ist einfühlsam, angenehm im Ton, unaufdringlich, was die Entspannungsübungen angeht überzeugend, bei allem darüber hinaus hakt sie ihn als freundlichen Blindfisch ab. Ohne seine autogene Trainings-Gruppe zu verlassen. Typisch Ida! Nein meinen und Ja machen. Und sich darüber ärgern. Und weitermachen.
Sich innerlich ohrfeigen und weitermachen.
Schon die ersten vollständig notierten Träume saugen Ida in Kriegs- und Trümmerzeiten zurück. Sie ist ein Kriegskind − das müssen ihr die Träume nicht noch einmal erzählen! Geboren 1939, in dem Jahr, in dem Deutschland Polen überfiel, aber wie zum Hohn als Christkind am 24. Dezember elf Uhr abends auf die Welt gekommen.
Der Vater starb zu Hause, in der Küche. Der Krieg war seit fünf Tagen vorbei. Als Frontsoldat hatte der Vater seine Einsätze in Polen, Frankreich und Russland überlebt, nun war er zurück, saß am Küchentisch, einer der wenigen, die heil davongekommen waren. Ein Wunder. Der Vater musste es immer wieder erzählen, um es selber zu glauben.
Es war um die Mittagszeit. Draußen vermuteten die Alliierten ein feindliches Geschütz auf dem Hausdach des Nachbarn. Ein letztes Widerstandsnest. Sie feuerten mit einem Granatwerfer gegen das Nachbarhaus. Ein abgeprallter Granatsplitter fegte durch das offene Küchenfenster und tötet den Vater, während die Mutter zwei Armlängen entfernt die Kartoffeln vom Herd hob.
Glaubt man der Mutter, hat Ida im Nebenzimmer gespielt, während Idas Bruder Verwandte besuchte und so dem Drama − womöglich dem Tod, denn er suchte ständig die Nähe zum Vater − entging.
Fachbücher, die Ida widerwillig, aber pflichtbewusst ausleiht, warten bei psychischen Störungen schnell mit der Zauberformel Verdrängung auf. Verdrängung ist grundsätzlich ungesund! Das komt wie ein Vorwurf auf die sowieso schon Angeschlagenen zurück. Du bist neben dir? Du entwickelst Zwangshandlungen, neurotische Tics? Da ist Verdrängung im Spiel!
Aber was denn verdrängt? Baut sie wirklich Schutzwälle gegen unangenehme Wahrheiten auf? Kehrt inneren Schmutz unter den sprichwörtlichen Teppich? Zum Beispiel in die Dunkelkammer des Bewusstseins verbannte Sexualsüchte? Fürs Sexuelle spricht die Rhythmik der blinkenden Ampel. Was noch? Verdrängte Angst, nichts zu taugen? Tagsüber aus dem Fenster ins Leere zu fantasieren heißt nichts taugen! Was noch verdrängt? Das Alter? Das Aufbegehren gegen nachlassende Kräfte, gegen einen zusammensackenden Körper? Ausrangiert? Da könnte sie sich noch hundert Sachen aufzählen… Was man selbst findet, heißt es, ist es ohnehin nicht, weil es ja verdrängt ist. Es braucht die Fachkraft, um den Bann zu lösen und das nie Eingestandene ans Tageslicht zu fördern.
Für Ida beginnt ein inneres Wundreißen im Gestrüpp unterschiedlicher Deutungen. Sie verliert sich im Meinungsfilz der Experten. Jeder weiß etwas anderes. Alles scheint für sich genommen schlüssig, bis die nächste Person mit einer abweichenden Ansicht auftaucht, die sich nicht weniger überzeugend anhört…
Eine Untugend auf zwei Beinen, das ist die heranwachsende Ida in den Augen der Mutter: ein Krummholz, falsch, durchtrieben, gemein, bockig. Eine schlechte Esserin. Die Mutter arbeitete als hauptamtliche Einkäuferin und Köchin in dem größten Maschinenwerk der Stadt. Noch in den magersten Nachkriegszeiten fiel reichlich für den Eigenbedarf ab. Nur in Abstimmung mit den Eigentümern, versteht sich! Sie war eine Vorzeigekraft. Eine Musterangestellte. Die Inhaber des Maschinenwerks nahmen sie als Köchin mit in den Urlaub. Sie durfte nehmen, was sie wollte, weil jeder wusste, dass sie bei sich selbst gar nicht anders als geizen konnte.
Wie voll der Teller auch auf den Tisch kam, Ida musste aufessen: Was gekocht ist, muss weg. Oft schon beim Anblick zum Kotzen. An manchen Tagen wurde Ida zwangsernährt. Alles mit Blick auf die Nachbarn: Sollen die Leute denken, ich ließe dich verhungernen!?
Idas Aussehen, ihre Kleider, das sonntägliche Herausputzen, das Ohren säubern, Nägel Schneiden, Haare Flechten gehörte zur Dressur für die Umgebung. Die Mutter ging nicht mit Ida spazieren, um mit ihr spazieren zu gehen, sondern um den Leuten eine adrette Tochter vorzuführen.
Das Schlimmste an den Schauläufen war die Erwartung der Mutter, Ida nicht nur perfekt zurechtgemacht, sondern für die Nachbarn freudig strahlend zu sehen. Ein Kind, dem es in solchen entbehrungsreichen Zeiten an nichts fehlt, sollte dieses Glück auch zeigen.
Für Ida der Beginn ihrer Schauspielausbildung, um wenigstens Applaus zu ernten, wo Liebe nicht zu haben war.
Schlechte Esserin, schimpfte die Mutter, aber dafür dauernd am Daumen lutschen! Der Zahnarzt warnt schon vor Überbiss. Schiefe Zähne! Das fehlte noch! Ida erinnert sich an Pfefferstreuen und Einwickeln des Daumens gegen ihr Daumenlutschen... einige Wochen sogar das Festbinden ihrer Hände am Bettgestell… Dann die schmerzhafte Kieferregulierung, die als unmittelbare Sühne fürs Daumenlutschen angeprangert wurde: Das hast du dir mit dem ewigen Genuckel eingebrockt!
Durchs ewige Genuckel hatte Ida auch das Recht verloren, beim Zahnarzt zu heulen.
Idas erster, feurig durch den Körper schießender Gedanke: Raus aus der Zuchtanstalt! Fort von Mutter und Bruder, von der Drei-Zimmer-Küche-Bad-Zumutung, von der Hunderttausend-Seelen-Stadt, die besser Hunderttausend-Seelentöter-Stadt hieße!
Flügel ausfahren.
Abschwirren.
Leben! Leben!
Ohne Bodenhaftung.
Nase über den Wolken...
Die Mutter: ein stämmiger Kraftbolzen. O-Beine. Muskelbepackte Stampfer. Breiter Hintern. Kurzer Rumpf. Melonenbrüste. Die Oberarme dicker als Idas Schenkel. Der Kopf ansatzlos auf den Schultern... Für Ida als Kind eine Urgewalt. Wulstige Lippen, volle Wangen, kleine braune Augen. In drei tiefe, waagrechte Falten geteilte Stirn, mehr Furchen als Falten. Rechts und links an der Stirn Höcker − in Idas Fantasie ausfahrbare Hörner, wenn es galt, sich gegen die rebellische Tochter durchzusetzen.
Ordentlich, aber schmucklos, das machte die Mutter vor. Ordentlich, aber schmucklos, das verlangte sie von Ida. Einzige Ausnahme die Haare, die bei Ida nicht geschnitten werden durften, weil sie Zöpfe tragen sollte, während die Mutter ihr Haar in einem Topfdeckelschnitt kurz hielt. Ansonsten kein Lippenstift, keine Lidertusche, kein Makeup... für sie die Kriegsbemalung der Straßendirnen.
Die Mutter hatte Hummeln im Hintern. Sie hielt entweder Putzzeug oder Kochgeräte in den Händen, als wären leere Hände des Teufels. Keine Zeit für Gefühle. Ein Bollwerk auf zwei Beinen, von Ida am heftigsten umworben. Das Zentrum ihrer Sehnsüchte. Ein täglich frisch aufgeladenes Verlangen, dieser Gewaltfigur Zuneigung, zumindest Aufmerksamkeit abzuringen. Einen bewundernden Blick zu erhaschen. Eine Anerkennung in ihr Gesicht zu zaubern...
Es war schwierig, zermürbend, aber möglich: Wenn Ida der Mutter zur Hand ging, war Friede. Wenn sie mit anpackte. Wenn sie den Eintopf umrührte. Wenn sie den extra für sie gekauften kleinen Kinderbesen schwang. Wenn sie sich herrichten ließ. Wenn sie bei den Nachbarn Eindruck machte. Wenn sie bei den Arbeitgebern, die die Mutter zu Festausrichtungen einluden, die Bescheidene spielte. Wenn sie nicht zur Apfelsine auf dem Obstteller in der Eingangsdiele der herrschaftlichen Villa griff. Wenn sie ausschließlich im heimischen Dialekt schwatzte. Wenn sie auf jede Frage der Besucher artig antwortete. Wenn... Wenn.. Wenn...
Nicht anders beim Bruder, dem Schreckensverbreiter, den sie bewunderte und dem sie gefallen wollte, obwohl auch er nur Bedingungen stellte. Er betrachtete es als sein natürliches Recht, ihre für schlimme Tage gehorteten Süßigkeiten zu mopsen. Er zwang sie, sich zu Weihnachten etwas zu wünschen, das er gut gebrauchen konnte (und noch am Weihnachtsabend an sich nahm).
Der heimlich Angehimmelte, der sie immer grausamer behandelte, je mehr sie sich an ihn hing, sich aufdrängte, zur Klette wurde. Er war zwei Jahre älter, schwamm täglich dreißg Bahnen im Hallenbad, hatte eine austrainierte Figur, eine sonnengebräunte Haut, schwarze Haare, Rehaugen, lange Wimpern und ein Auftreten, das vor Eigenverliebtheit strotzte... Muttis Einziger, Größter im Haus, unangefochtener Führer der Kinderclique auf der Straße. Ein Mensch mit Zukunft.
Sein Schönstes war es, vor der versammelten Jugendbande zu fragen, was für magnetische Anziehungskraft er haben müsse, dass sich diese ihm unbekannte Gans ständig an ihn herandränge und mitmachen wolle. Je energischer er sie abweise, desto enger klebe sie an seinen Fersen! Wisse irgendwer, woher dieses Klammeräffchen komme? Zu wem dieses Winselpaket gehöre?
Die Bande wusste natürlich, dass es sich um seine kleine Schwester handelte, feixte verschwörerisch, verneinte artig, schwor, die Rotznase müsse eine Dahergelaufene auf ihrem Weg von Hintertupfingen nach Oberdeppendorf im Gehen verloren haben, wo sich eine Kuh der wimmernden Sturzgeburt erbarmt habe, ihr Milch gab und sie das Muhen lehrte. Denn mehr als Muh war vom Jammerlieschen nie zu hören.
Die Bande lachte und bastelte an passenden Ida-knienieda-und-heul-ma-wieda-heul-ma-wieda… Spottversen. Womit der Haufen sich selbst widersprach, wenn er plötzlich ihren Namen herausposaunte, den angeblich keiner kannte.
Bis heute wettert die Mutter gegen Ida los, wenn sie vom vernünftigen Weg abweicht: Bild dir bloß nicht ein, du seist was Besseres! Was fasziniert Ida am Ballett, das sie als Jugendliche gegen die Mutter durchsetzt? Das Angestrahltsein. Die im Scheinwerferlicht glitzernden Stoffe. Die spitzen Bewegungen, gleichzeitig grazil und raubtierhaft. Die Lust austrainierter Muskeln. Der vorgetäuschte Triumph über die Schwerkraft. Die durch ihren Körper jagende Musik... sie wird Instrument. Sie kommt zu sich.
Ihr zwischen Bühnenboden und Theaterhimmel gezirkelter Leib singt… Überhaupt die Künstler! Sie stehen Ida näher, sind freier. Die von ihr am meisten Bewunderten pfeifen auf Regeln, sprengen Grenzen, spreizen sich, geben sich selbstberauscht, unverschämt, hinreißend, interessant, arrogant, größenwahnsinnig. Sie lügen, schmarotzen. Sie belächeln Treue, benutzen Zuneigung, missbrauchen Anhänglichkeit. Tanzen mit Ida am Abend und setzen sie am Morgen vor die Tür.
Künstler loben ihre Anhänger, bewerfen Konkurrenten mit Dreck. Sie treiben jede Verwerflichkeit auf die Spitze und schielen dabei vor Glück. Ein Glück, das Ida mit ihnen teilen möchte.
Das eigenmächtig vorgestülpte Ich! Die Schauspieler, Tänzer, Maler, Musiker, belächelte Gefallsüchtige, sie werden für Ida Götter, weil sie für ihre Mutter Satansbraten sind.
Auch Fotografen, Zeichner, Geschichtenerzähler, all die Ausnahmefiguren, die sich nach Idas Überzeugung einen Dreck um Sitte und Anstand oder die Erwartungen der Familie scheren – die leben! Alle anderen dümpeln vor sich hin. Irgend so ein Künstler-Feuer brennt in ihr. Deren Sprüche − Mein Wert besteht darin, dass ich nicht verwertbar bin − wirken auf sie wie Offenbarung. Vorausgesetzt, sie denkt nicht länger darüber nach.
Ida hängt an den Künstlern. Spürt in sich die Künstlerin. Die Ausnahme. Die kreative Flugkraft im Gegensatz zu den Kriechgestalten um sie her. Sich ausdrücken! Das Außergewöhnliche, das in ihr fiebert, so rauslassen, dass es andere mitreißt. Von Gleichheit mag sie in dem Zusammenhang nichts hören. Ihr Verstand setzt aus, wenn sie echte Könner trifft. Vieles an ihnen ist rätselhaft, einiges abstoßend, das Meiste amüsant, die Begegnung unterm Strich immer anregend.
Das sind meine Träume, ein Häuschen mit Garten? Stilles Heim, Glück allein? Erstickt dran!
Ein Video-Artist, der sich selbst Vidiot und seine Werke Vidiotien nennt, will nach eingehender Betrachtung aus Ida ein Monster machen. Um nur ein Beispiel zu nennen. Ein Monster? Wie das?
Was sei denn, fragt er, ihrer Ansicht nach das schlimmste Ungeheuer für die profitfixierte Gesellschaft? Ihr fällt der Ladendieb, der Einbrecher, der Raubmörder, der Autokratzer, der Schaufenstereinschmeißer, der Brandstifter ein. Gute Versuche, meint er, bloß zweite Wahl. Alles Fälle für die Versicherung. Hält die Geldwalze am Laufen. Nein, das bedrohlichste Ungeheuer für einen wirtschaftswachstumsfixierten Staat ist ein rundum befriedigter Mensch! Ein Wesen ohne Gier nach mehr! Das ist der wahre Albtraum des Marktes! Das Ich-hab-genug-Monster!
Ich bin dabei!, ruft Ida, wo beginnen? Start und Ende sei das Gesamtlustwerk, meint der Monstermacher, das rundum befriedigte Wesen. Selbst der beste Orgasmus reiche da nicht, der will immer wieder, das bleibe an den klassischen Geschlechtsorganen hängen. Nein, zur Versinnbildlichung des Gesamtlustwerks solle sie einen Körperteil wählen, der möglichst weit außerhalb der üblichen erogenen Zonen liegt.