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Ist er nun einer der ganz Großen oder nicht? An der Bedeutung Helmut Kohls scheiden sich die Geister. Warum eigentlich? Für seine Kritiker war Helmut Kohl der Kanzler des Aussitzens. Im entscheidenden Moment aber hat er Geschichte gemacht. Als die Wiedervereinigung möglich schien, hat er die Chance erkannt und entschlossen gehandelt. Das Deutschland, in dem wir heute leben, unser Europa, hat er ganz wesentlich geprägt. Später geriet er wegen der Spendenaffäre in Misskredit. Wer also war dieser Mann? Detailliert und kenntnisreich zeichnet Henning Köhler Helmut Kohls Leben für die Politik nach - eine umfassende politische Biografie.
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Seitenzahl: 1339
Über dieses Buch
Bekannt und geachtet ist Helmut Kohl als Kanzler der deutschen Einheit. Doch sie ist nicht Kohls einziges Verdienst. Henning Köhler zeigt, dass die Deutschen mit ihm gleich in mehrfacher Hinsicht eine Wende erlebten. Die erste, bereits 1982 von Medien und Opposition verspottet, half, die Wirtschaftskrise zu überwinden und die Nachrüstung durchzusetzen. Fest davon überzeugt, das historisch Richtige zu tun, hielt er an der Einheit der Nation auch dann fest, als dies nicht dem Zeitgeist entsprach. Seine Überzeugung und der von ihm souverän genutzte weltpolitische Umbruch ermöglichten »die Wende« – die deutsche Einheit, die über einen schwierigen, aber zäh durchgehaltenen Weg auch zur wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands führte.
Eine Wende brachte Kohl schließlich auch Europa – indem er maßgeblich an der Einführung von Binnenmarkt und Währungsunion mitwirkte.
Früh schlug Helmut Kohl aus Medien und Opposition Kritik entgegen. Sie und die Spendenaffäre am Ende seiner Amtszeit prägen noch heute das Bild des Altkanzlers in der Öffentlichkeit. Zeit für eine Gesamtbewertung dieses Lebenswerks. Detailliert und kenntnisreich zeichnet Henning Köhler Helmut Kohls Leben für die Politik nach – eine umfassende politische Biografie.
Über den Autor
HENNING KÖHLER war bis 2003 Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und wurde u. a. durch seine Arbeiten ADENAUER. EINE POLITISCHE BIOGRAFIE (1994) und DEUTSCHLAND AUF DEM WEG ZU SICH SELBST. EINE JAHRHUNDERTGESCHICHTE (2002) einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Gastprofessuren führten ihn 1981/82 an die Stanford University und 1987/88 sowie 1996/97 an das Institute for Advanced Study in Princeton. Köhler ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er lebt in Berlin-Lichterfelde.
HENNING KÖHLER
Helmut Kohl
Ein Leben für die Politik
DIE BIOGRAFIE
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur von Dirk Rumberg, Ultreya GmbH.
Die Orthografie der Zitate wurde angepasst an die Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung.
Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagmotiv: © Konrad R. Müller/Agentur Focus
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-7325-0107-6
Sie finden uns im Internet unter
www.luebbe.de
Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
Vorwort
I. Die Anfänge 1945–1958
»Ohne geistige Enge« – das Elternhaus
Eine politische Schuljugend 1945–1950
Eintritt in die Junge Union
Der »junge Kohl« – die Fünfzigerjahre
Aufstieg im Landesverband
Geschichte statt Politik
Abgeordneter im Mainzer Landtag
Familiengründung
II. Die Modernisierung von Rheinland-Pfalz 1959–1969
Blitzstart in verkrustetem Gelände
Networking nach allen Seiten
Der Fraktionsvorsitz als Machtbasis
Das Team entsteht
Dauerbrenner Bekenntnisschule
Die Wachablösung
Ein Kraftakt – die Verwaltungsreform
Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz
Die Achtundsechziger und das Hochschulgesetz
Regierungsalltag und Glanzlichter
Lebensmittelpunkt Rheinland-Pfalz
III. Politik auf Bundesebene 1962–1972
Der Reformer im Bundesvorstand
Gegen Große Koalition und Mehrheitswahlrecht
Nach dem Machtverlust: Wer wird Parteivorsitzender?
Kohl und die sozialliberale Ostpolitik
IV. Zehn harte Jahre: Parteivorsitzender – Kanzlerkandidat – Oppositionsführer 1973–1982
Der neue Parteivorsitzende und sein Generalsekretär
Die Reaktion auf den Rücktritt Willy Brandts
Das Ringen um die Kanzlerkandidatur
Das Wahljahr 1976
Der Warschauer Vertrag
Der Wahlkampf kommt in die heiße Phase
Getrennte Schwestern? – Der CSU-Beschluss in Wildbad Kreuth
Die Kärrnerarbeit als Oppositionsführer 1976–1979
Der Terror der RAF
Geißler und der CDU-Bundesparteitag in Ludwigshafen
Die bitterste Niederlage
Das Memorandum des Kurt Biedenkopf
Der Verzicht auf die Kanzlerkandidatur 1979
Wahlkampf für Franz Josef Strauß
Die sozialliberale Koalition wankt – Genschers »Wende-Brief« und die Folgen
Auf ein Neues: Die Frage der Kanzlerkandidatur
Die Wende – Kohl wird Kanzler
Kabinett und Kanzleramt
Die erste Regierungserklärung
Bestätigung – die Bundestagswahl 1983
V. Die Ära Kohl (I) 1982–1990
Die großen Herausforderungen: Wirtschaftliche Konsolidierung und Nachrüstung
Der Kampf gegen die Rezession
Die Nachrüstung wird durchgesetzt
Turbulenzen
Der Milliardenkredit an die DDR
Der Israel-Besuch im Januar 1984
Die Wörner-Kießling-Affäre
Ein Gegner im höchsten Staatsamt – Richard von Weizsäcker wird Bundespräsident
Die Flick-Spendenaffäre
Stühlerücken – die personalpolitischen Konsequenzen
Das außenpolitische Szenario
Die USA und Ronald Reagan
Der französische Nachbar – François Mitterrand
Versöhnung über Gräbern: Von der Normandie nach Bitburg
Deutschland von innen
40 Jahre Kriegsende – der 8. Mai 1985
Das erste Kanzlertief 1985
Geschichtspolitik und Geschichtsmuseen – Politik für die deutsche Einheit
Die Bundestagswahl 1987 – ein unerwartetes Ergebnis
Der schwierige Neustart der Koalition
Der Streit um die Abrüstung
Deutschlandpolitik auf verschiedenen Bühnen
Die 750-Jahr-Feier Berlins 1987
Erich Honecker auf Deutschland-Besuch
Die Spannungen nehmen zu – Ärger mit Reformen und andere Stolpersteine
Die Steuerreform
Der Kampf gegen Heiner Geißler
Ein Kanzler im Sinkflug
Die Wiedervereinigung
Die Mauer fällt
Das Zehn-Punkte-Programm
Weichenstellungen im Januar 1990
Der Kanzler im Kreml
Von der »Allianz für Deutschland« zum Sieg bei der Volkskammerwahl
Kohl in Camp David und die polnische Westgrenze
Finale im Kaukasus
Der Einheit entgegen
VI. Die Ära Kohl (II) 1990–1998
Die Mühen der Ebene
Zum Auftakt noch einmal Erfolg: die Bundestagswahl 1990
Die Hauptstadtfrage
Absturz – mit einem Hoffnungszeichen
Erfolgreiche Integration der Nationalen Volksarmee
Personalpolitische Probleme
Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik
Stühlerücken – Veränderungen in Kabinett und Kanzleramt
Deutsche Befindlichkeiten
Im Vorfeld der Bundestagswahl 1994
Gestärkt in den Wahlkampf – der Hamburger Parteitag
Stimmungsbarometer Landes- und Europawahlen
Der Vertrag von Maastricht
Erfüllung in der Außenpolitik: Der ehrliche Makler
»Hilfreich, aber nicht federführend«
Ein knapper Sieg
Der Weg in die Niederlage
Die Ächtung durch die Spendenaffäre
Die persönliche Katastrophe
Ein Leben für die Politik
Anhang
Helmut Kohls Lebensweg ist von Gradlinigkeit bestimmt. An einmal für richtig erkannten Zielen hielt er unerschütterlich fest, auch wenn der Zeitgeist inzwischen neue Prioritäten gesetzt hatte. Die Einheit der Nation stellte er nie infrage, mochten die Medien auch immer nachdrücklicher ihre Aufgabe empfehlen. Aber er hatte nicht nur dieses eine, im Grunde nationale Ziel. Für ihn stellte Europa zugleich die zweite große Herausforderung dar, die für ihn untrennbar mit der Wiedervereinigung verbunden war. Das waren, wie er immer wieder betonte, die zweiten Seiten einer Medaille. Nur diese doppelte Zielsetzung machte es möglich, mit dem Fall der Mauer die einmalige Chance in Deutschland und Europa erfolgreich zu nutzen.
Die vielleicht größte Leistung Helmut Kohls ist im Grunde gar nicht darstellbar. Sie besteht in dem unablässigen Bemühen um den deutschen Einigungsprozess. Der Kanzler wusste, dass das Zeitfenster knapp bemessen war und schnelle Lösungen notwendig machte. Als Regierungschef musste er dabei die internationale wie die nationale Seite stets im Auge haben und dafür Sorge tragen, dass die komplizierten innerdeutschen Entscheidungen rechtzeitig erfolgten. Das ist ihm in einzigartiger Weise gelungen.
Helmut Kohls Ringen um Lösungen auf der europäischen Ebene waren wichtige Schritte auf dem Weg zur politischen Union Europas, die alle Mühen und Zugeständnisse aufwogen. Er wollte unbedingt diese Union erreichen, ja, er musste sie aus seiner Sicht erreichen, sollte in Europa der Frieden erhalten bleiben.
Helmut Kohl ist lange unterschätzt worden. Schon am 16. Mai 1967 schrieb die »Frankfurter Rundschau«: »Helmut Kohls Stern beginnt zu verblassen.« Und richtig – ist man versucht zu sagen –, kaum waren drei Jahrzehnte vergangen, sollte er seine erste Wahl verlieren und wegen einer Spendenaffäre der Verdammung anheimfallen. An Fehlurteilen über diesen Kanzler ist kein Mangel. Was die Medien in mehr als dreißig Jahren an Bildern und Zerrbildern vermittelt haben, ist kaum zu überblicken. Dennoch wird hier der Versuch unternommen, das Leben des Staatsmannes Helmut Kohl aus historischer Sicht und nicht aus der Zeitgenossenperspektive darzustellen.
Die Aktenpublikation des Kanzleramts zur deutschen Einheit gibt wertvolle Einblicke in die Politik des Kanzlers während des »deutschen Jahres«, auch wenn manche Stücke vermisst werden. Mitunter ist auch die bewährte, mittlerweile etwas vernachlässigte Methode der Quellenkritik heranzuziehen, um die Überlieferungen richtig einordnen zu können, da die Bekundungen der Akteure mit anderen Zeugnissen nicht immer übereinstimmen. Das zeigt zum Beispiel die Entstehungsgeschichte des Zehn-Punkte-Programms. Der Historiker pflegt gemeinhin auf schriftliche Quellen zu vertrauen. Im Zeitalter von Telefon und Computer werden Entscheidungen aber oft nicht mehr auf eine Weise dokumentiert, dass sie schließlich im Archiv landen können. Zudem gibt es dort feste Sperrfristen. Deshalb gestaltete sich die Quellensuche für dieses Buch nicht ganz einfach. Die Auswertung der Presse und das Befragen von Zeitzeugen waren wichtige Bestandteile der Arbeit.
Auf zentrale Aktenbestände oder wichtige Nachlässe in staatlichen Archiven konnte nicht zurückgegriffen werden. Die Protokolle der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die erstmals systematisch ausgewertet wurden, bilden eine rühmliche, außerordentlich wichtige Ausnahme. So ist umfangreiches Material erschlossen worden, das vermuten lässt, dass neue, später zugängliche Quellen kaum wesentliche Veränderungen des hier gezeichneten Bildes herbeiführen werden.
Helmut Kohls Leben für die Politik fand – mit der Spendenaffäre als in Erinnerung bleibendem Schlusspunkt – ein Ende, das er nicht verdient hat. Eine kritische, aber um Objektivität bemühte Geschichtsschreibung sollte bestrebt sein, die Politik dieses Kanzlers zu erforschen und das allgegenwärtige, von den zeitgenössischen Medien gezeichnete Bild zu hinterfragen. Um nichts anderes habe ich mich in den vergangenen Jahren beim Schreiben dieses Buches bemüht.
Berlin, im Sommer 2014
Henning Köhler
Als die Besatzungsmächte 1945 durch eine Neugliederung die Grenzen des Landes Rheinland-Pfalz festlegten, wurden Gebiete zusammengebracht, die nie zueinander gehört hatten. Das Ergebnis wurde denn auch abschätzig als »Kunstgebilde«, als »Land aus der Retorte« bezeichnet. Das neue Land Rheinland-Pfalz brauchte Jahrzehnte, bis seine Bürger sich endgültig mit ihm identifiziert hatten. Den Westmächten war es bei der Aufteilung in erster Linie darum gegangen, dem französischen Partner eine Besatzungszone abzutreten, die möglichst nur Gebiete umfassen sollte, die wie Eifel, Hunsrück und Westerwald wirtschaftlich nicht besonders ertragreich waren. Das neue Rheinland-Pfalz war ein armes Land mit wenig Industrie, zudem schlecht erschlossen.
Nach der Festlegung der Besatzungszonen hatte der Norden des heutigen Rheinland-Pfalz – die Regierungsbezirke Koblenz und Trier–, der zu der ehemaligen preußischen Rheinprovinz gehört hatte, mit dem wirtschaftlich starken Nordrhein-Westfalen geliebäugelt. In Rheinhessen hätte man sich eine Vereinigung mit dem von den Amerikanern geschaffenen Land Hessen gut vorstellen können, und in der ehemals bayerischen Pfalz, vor allem in deren Süden, gab es Tendenzen, sich über den Rhein nach Baden zu orientieren – schließlich waren Heidelberg und später Mannheim für Jahrhunderte die Residenz der Kurfürsten von der Pfalz gewesen.
Bereits im Jahre 1815 war auf dem Wiener Kongress eine Neugliederung im Westen beschlossen worden, die auf historisch gewachsene Strukturen keine Rücksicht genommen hatte. Unter dem frischen Eindruck der napoleonischen Kriege galt es, eine Abwehr gegen künftige französische Angriffe zu organisieren. Preußen musste widerwillig – es hätte lieber Sachsen annektiert – weite Teile des Rheinlandes als Eckpfeiler der Verteidigung übernehmen. Mainz, das älteste deutsche Erzbistum, verlor den Rang als Erzdiözese und wurde zur Festung des Deutschen Bundes degradiert. Der größte Teil der Pfalz wurde Bayern zugeschlagen, um auch diesen Staat am Rhein zu engagieren. Die hier geschaffene Ordnung hatte weit über hundert Jahre Bestand gehabt. Die Bewohner hatten sich an die bestehende Verwaltungsgliederung gewöhnt. Zudem hatte die Industrialisierung Veränderungen bewirkt, auf die man nicht leichtfertig verzichten wollte. Kein Wunder, dass viele Bewohner im Jahr 1945 im neuen Land Rheinland-Pfalz mehr Nachteile als Vorteile erkennen konnten. Damals war nicht abzusehen, dass die Pfalz einmal zum Kraftzentrum des Landes würde und seine Bürger sich gar nicht mehr vorstellen könnten, dass ihr Land einmal als »Kunstgebilde« gering geschätzt worden war.
Helmut Kohl ist in die Geschichte dieses Landes seit seiner Gründung, seit dem politischen Neuanfang nach 1945 einbezogen. Die Schwäche des Landes, das so viele Gegner in den eigenen Reihen hatte, kam ihm zugute. Für ihn war Rheinland-Pfalz der gegebene Rahmen für den ersten Abschnitt seines politischen Wirkens, nie aber Selbstzweck. Als Pfälzer besaß er ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein, das bestimmt war von der Erinnerung an die Pfalz als dem Kernland des Reiches, das durch die Kaiserdome und den Trifels machtvoll in die Gegenwart hineinragte, aber auch an die Gefährdung als Grenzland, an die Burg- und Schlossruinen überall erinnern.
Als drittes Kind des Ludwigshafener Finanzbeamten Hans Kohl wurde Helmut Kohl am 3. April 1930 in Friesenheim geboren,1 einem einstigen Dorf auf dem westlichen Rheinufer, das schon vor der Jahrhundertwende von der rasant wachsenden Chemiemetropole Ludwigshafen eingemeindet worden war. Hans Kohl war kein Pfälzer; er stammte aus Franken, aus einer kinderreichen Bauernfamilie in Greußenheim in der Nähe von Würzburg. In seiner Jugend hatte der für Bauern schlimmste Schicksalsschlag seine Familie getroffen: Der Bauernhof brannte ab, und sie stürzte ins Elend. Der Junge wurde bei einem Müller untergebracht und entschloss sich später, zum Militär zu gehen. Das bedeutete damals den Eintritt in die bayerische Armee, denn nach der Verfassung von 1871 gehörte das Heerwesen in Friedenszeiten zu den Belangen der Einzelstaaten. Hans Kohls Regiment lag in Landau in der bayerischen Pfalz.
Der Militärdienst stellte im Kaiserreich eine oft genutzte Chance zum sozialen Aufstieg dar und half zugleich, die trostlose Existenz des Fabrikarbeiters zu vermeiden. Nicht die Liebe zum Kriegshandwerk war für Leute wie Hans Kohl ausschlaggebend, wenn sie Soldat wurden. Der Dienst im bunten Rock eröffnete einem armen Bauernsohn wie ihm eine durchaus attraktive Möglichkeit. Nach Beendigung der aktiven Dienstzeit und bei entsprechender Eignung war nämlich die Übernahme als Beamter möglich. Angesichts des hohen Sozialprestiges als Staatsdiener war dies eine interessante Perspektive. Für Hans Kohl sollte sie sich auch bewahrheiten: Er bewährte sich im Ersten Weltkrieg, wurde zum Leutnant befördert und am Ende als Oberleutnant verabschiedet.
Hier zeigt sich eine überraschende Parallele zu Konrad Adenauer. Auch dessen Vater war Berufssoldat und wurde nach dem Krieg gegen Österreich 1867 zum Leutnant befördert. Nach seiner Entlassung wurde er in die mittlere Beamtenlaufbahn übernommen. Es gibt nur einen kleinen, aber bezeichnenden Unterschied: Adenauers Vater konnte damals noch zum Offizier ernannt werden, nachdem er sich bis zum Feldwebel hochgedient hatte. Im Ersten Weltkrieg, zu Hans Kohls Zeiten, wäre eine solche Beförderung in Preußen nicht mehr möglich gewesen – es kam nur noch die Ernennung zum Feldwebelleutnant infrage. Und dies war eine Zwitterstelle, denn ein solcher übte zwar die Funktion eines Leutnants aus, blieb aber im Unteroffiziersstand mit der entsprechenden Uniform, war also kein »richtiger« Offizier. Dagegen betrieb die bayerische Armee keine solch verkrustete konservative Personalpolitik wie die preußische, mit der man vermeiden wollte, dass es nach dem Krieg zu viele Offiziere gab, die nicht als »standesgemäß« galten. In Bayern wurde militärische Führungsqualität mit der Beförderung zum Offizier belohnt.
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