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Mit Kindern neue Wege gehen Der bekannte Kinder- und Jugendtherapeut Henning Köhler entwirft in seinen philosophisch fundierten, gesellschaftspolitisch engagierten Ausführungen eine Pädagogik, die sich nicht an gesellschaftlichen Normen und Zwängen, sondern an den Bedürfnissen des Individuums ausrichtet. Jedes Kind bringt Grundorientierungen mit, die von den Erwachsenen, mit denen es zusammen ist, gewürdigt und gepflegt werden sollten. Für Eltern, Erzieherinnen und Lehrkräfte erfordert dies grundsätzliche pädagogische Haltungen, mit denen sie Kindern Freiräume zur Gestaltung ihrer eigenen Zukunft eröffnen können. Die letzte Schrift Henning Köhlers vor seinem Tod ist Höhepunkt und Zusammenfassung seines pädagogischen Denkens. Diese sehr verständliche, brillant geschriebene Darstellung bietet allen pädagogisch Interessierten grundsätzliche Leitlinien und zahlreiche konkrete Anregungen für die Praxis.
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Seitenzahl: 418
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Henning Köhler
Henning Köhler
Für eine Pädagogik der Zukunft
Verlag Freies Geistesleben
Ich widme dieses Buch meiner geliebten Frau, besten Freundinund wichtigsten Mitarbeiterin Dorothee.
1. Auflage 2024
ⓔ auch als eBook erhältlich
Verlag Freies Geistesleben
Landhausstraße 82, 70190 Stuttgart
geistesleben.com
ISBN 978-3-7725-4396-8(epub)
© 2024 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart
Umschlaggestaltung: Bianca Bonfert unter Verwendung eines Fotos von Unschuldslamm / Photocase
Satz: Bianca Bonfert
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Vorwort von Martin Lintz
Vorab. Einige philosophische Überlegungen zur Thematik
I. Gedanken zur pädagogischen Philosophie. Der postmoderne Kreuzzug gegen das Ich
Zum Selbstverständnis der Pädagogik
Mängelwesen Kind?
Ist das pädagogische Verhältnis ein Herrschaftsverhältnis?
Kurzer Exkurs in die Geschichte der Pädagogik
Die Freiheit des Kindes
Ist Erziehung ein unmoralisches Angebot? Der antipädagogische Impuls
Eine Pädagogik der Freiheit und der Liebe
Feindbild Individualismus
«Constance à soi» oder «Raus aus dem Getümmel»?
Die Diskreditierung sozialer Utopien
Der Egoismus und das «Gute»
Die Bedrohung der Individualität durch den Egoismus
Getrenntheit und Liebe
Individuation und freies Handeln
Post- und Präexistenz des Menschen
Die Unhintergehbarkeit des Ich
Böses Ego?
Verantwortung für den anderen
Führung oder Formung des Kindes?
Wenn dich ein Neugeborenes ansieht …
Lob der Disziplin?
Das «Jahrhundert des Kindes» – was ist daraus geworden?
Seltsame Rückbesinnungen
Erziehung in Freiheit
Pädagogische Grundhaltungen
Die pädagogische Misere der Gegenwart
Systematische Desorientierung
Die große Elternbeschuldigungslitanei
Ratlose Erzieher und Lehrer
Gesellschaftliche Missstände und systematische Denkfehler
Die Unmöglichkeit des Eingliederungsprinzips
Der therapeutische Auftrag der Pädagogik
Heilpädagogische Räume
Einstellungen – Haltungen – Verhalten
Des Pudels Kern
Die tragische Unterschätzung der Liebe
Der dritte Faktor – die Individualität
Das geistige Selbst: Spurensuche
1. Die religiöse Grundorientierung
2. Die kommunikative Grundorientierung
3. Die fragende Grundorientierung
4. Die selbstreferenzielle Grundorientierung
5. Die gestalterische oder plastisch-bildnerische Grundorientierung
6. Die sinnsucherische Grundorientierung
Übersicht
II. Die geistig-seelischen Grundorientierungen des Menschen und die pädagogischen Grundhaltungen. Erläuterungen, Beispiele, Übungsanregungen
Vorbemerkungen
Die Grundorientierungen des Kindes
1. Die religiöse Grundorientierung
2. Die kommunikative Grundorientierung
3. Die fragende Grundorientierung
4. Die selbstwahrnehmende Grundorientierung
5. Die gestalterische Grundorientierung
6. Die sinnsucherische Grundorientierung
7. Selbstfindung
Die Konkretheit der pädagogischen Grundhaltungen
1. Akzeptanz (akzeptierende Gelassenheit)
2. Gegenwärtigkeit (aufmerksames, achtsames Zugegensein)
3. Bescheidenheit (die Position der Stärke/ Überlegenheit verlassen)
4. Dankbarkeit
Wie kann eine pädagogisch- seelsorgerische Haltung gewonnen werden? Denkanstöße, Besinnungs- und Übungsanregungen
Das Denken (I)
Das Denken (II)
Vom Denken zu den Emotionen
Die vier Grundbeziehungen
Beziehungsarbeit
Anmerkungen
Vorab. Einige philosophische Überlegungen zur Thematik
I. Gedanken zur pädagogischen Philosophie. Der postmoderne Kreuzzug gegen das Ich
II. Die geistig-seelischen Grundorientierungen des Menschen und die pädagogischen Grundhaltungen
Über den Autor von Michaela Köhler
Als der Kinder- und Jugendtherapeut, Pädagoge und Autor Henning Köhler am 8. April 2021, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag, unerwartet verstarb, war er gerade mit der Überarbeitung eines Manuskripts beschäftigt, das er bereits einige Jahre zuvor geschrieben, dann aber für eine gewisse Zeit doch wieder liegen gelassen hatte. Nun hatte er es sich in den letzten Wochen noch einmal vorgenommen – ein «Versuch zur Philosophie der Kindheit», wie er seinen Text zunächst bezeichnet und damit in bescheidener Form auf die grundsätzliche Bedeutung des Themas hingewiesen hatte. In diesem Werk entwickelte er seine Leitgedanken einer konsequent am Kind und dessen Bedürfnissen orientierten Pädagogik.
Es war sein Lebensthema, das er auch schon in vielen seiner vorangegangenen Publikationen – mit jeweils anderem Schwerpunkt – verfolgt hatte. In der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Tendenzen und gängigen philosophischen oder erziehungswissenschaftlichen Anschauungen entwarf er in diesem letzten Manuskript eine Freiheitspädagogik, die von der unantastbaren Würde und Integrität des Kindes ausgeht und dessen Individualität achtet. Scharfsinnig und leidenschaftlich trat er für eine pädagogische Einstellung und Haltung ein, die sich nicht nach allgemeinen sozialen Normen und Vorstellungen oder politischen Zwängen richtet, sondern das Individuum in den Mittelpunkt stellt – eine Sichtweise, die sich der Besonderheit jedes Kindes und seiner Entwicklungsbedürfnisse bewusst ist. Eine solche Haltung verlangt auch die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Erziehenden dem Kind gegenüber.
Jedes Kind, so stellt es Henning Köhler im zweiten Teil seines Buches dar, bringt bestimmte geistig-seelische Grundorientierungen mit, die von den Erwachsenen, mit denen es zusammen ist, wahrgenommen, gewürdigt und gepflegt werden sollten. Das erfordert, dass Eltern, Erzieherinnen, Therapeuten, Lehrkräfte auch entsprechende grundlegende Haltungen entwickeln, mit denen sie dem Kind die Freiräume zur Gestaltung seiner eigenen Zukunft eröffnen können. Worin diese fundamentalen kindlichen Orientierungen bestehen und welche Grundhaltungen der Erwachsenen notwendig sind, beschreibt Köhler im Einzelnen. Mit solchen Gedanken und Anregungen entwickelt er Leitlinien für ein pädagogisch zeitgemäßes Denken und Handeln, und in seiner Darstellung sind zahlreiche konkrete Anregungen für den täglichen Umgang mit Kindern enthalten. Doch in diesem Zusammenhang betont er auch: «Pädagogen sind keine Ingenieure. Kinder stellen uns ständig vor unvorhersehbare Probleme, und die Lösungen müssen sich aus dem Beziehungsgeschehen ergeben. Pädagogische Kunst ist eine Form der situativen Meisterschaft. Diese kann sich umso besser entfalten, je weniger das Leben und Lernen mit Kindern starren Regeln unterworfen ist. Was ich anzubieten habe, sind Richtungshinweise für Pädagogen, die mit Kindern neue Wege gehen wollen.»
Henning Köhler war es wichtig, diese pädagogischen Leitgedanken und Hinweise auf einem sicheren philosophischen Fundament und in der Auseinandersetzung mit den heute weit verbreiteten Anschauungen über den Menschen zu entwickeln. Daher nimmt im ersten Teil des Buches die kritische Beschäftigung mit aktuellen naturalistischen, materialistischen und reduktionistischen Vorstellungen und dem herrschenden Wissenschaftsverständnis einen breiten Raum ein. Seine philosophischen Überlegungen zum Individualismus und zum Ich des Menschen stehen konträr zu den gegenwärtig vielfach üblichen Lehrmeinungen, sind aber konsequent zu Ende gedacht und die Voraussetzung für eine entschiedene Freiheitspädagogik, wie sie dann im weiteren Verlauf des Buches vorgestellt wird. Nur scheinbar führen also manche Abschnitte weiter weg von konkreten pädagogischen Themen, tatsächlich gehören sie jedoch zum grundsätzlichen Anliegen des Buches unmittelbar dazu. So betont Köhler an einer Stelle des Buches auch selbst: «Ich habe dem Thema Ich / Individualität so viel Raum gegeben, weil es in direktem Zusammenhang mit der pädagogischen Frage steht.»
Vorwegnehmend sei allerdings darauf hingewiesen, dass sich vermutlich nicht alle Leserinnen und Leser in diese philosophisch-pädagogischen Erörterungen des ersten Teils vertiefen mögen und lieber gleich in die Lektüre des zweiten Teils einsteigen. Auch das ist möglich, wie Köhler am Ende seines ausführlichen Vorwortes, auf S. 28, anmerkt.
Wenn also die eigentliche Ausarbeitung des Buches auch bereits einige Jahre zurückliegt, so hat doch der Inhalt kaum etwas von seiner Aktualität eingebüßt. Henning Köhler hat das Geschriebene, wie anfangs erwähnt, bis unmittelbar vor seinem Tod noch einmal gründlich durchgesehen. Am Tag vor seinem Tod erzählte er freudig, bereits den Hauptteil der Arbeit geschafft zu haben. «Ich kann vieles so stehen lassen!», war seine Auskunft.
Wir sind daher in der glücklichen Lage, dass er seine letzte Schrift in einer gut durchgearbeiteten Form hinterlassen und sie fast ganz beendet hat. Nur der Schluss ist unvollständig; von den vier Grundbeziehungen des Erwachsenen zum Kind (und generell zu einem anderen Menschen), die auf S. 234-236 vorgestellt werden, gibt es nur über die ersten beiden Grundbeziehungen konkretere Ausführungen und praktische Anregungen; danach bricht das Manuskript ab. Zu den zwei weiteren Grundbeziehungen sind leider keine schriftlichen Aufzeichnungen vorhanden, es waren auch an anderer Stelle keine entsprechenden Notizen zu finden. Wir haben uns dazu entschlossen, das unvollständige Ende des Manuskripts hier in der Form zu übernehmen, wie Henning Köhler es uns hinterlassen hat – zumal für die ersten beiden Grundbeziehungen einige wesentliche Aspekte und Anregungen gegeben wurden.
In den drei Jahren seit Henning Köhlers Tod hat sich die Situation der Kinder in unserer Gesellschaft gewiss nicht verbessert; die normativen bildungspolitischen Vorstellungen, die wirtschaftlich-sozialen Zwänge und die Herausforderungen in unserer medialen und elektronischen Welt sind eher noch gewachsen. Insofern haben auch die vorliegenden Ausführungen nichts von ihrer Aktualität verloren. Das Ziel einer Pädagogik, die sich an der Freiheit und der Würde des Kindes ausrichtet, steht nach wie vor als große Aufgabe vor uns – vor jedem Einzelnen und vor unserer Gesellschaft insgesamt. Insofern sind wir dankbar, dass uns Henning Köhler mit seinem letzten Buch für diese Aufgabe, die immer wieder neu zu ergreifen ist, seine grundsätzlichen Überlegungen und wertvolle pädagogische Anregungen hinterlassen hat.
Stuttgart, im Februar 2024
Martin Lintz
«Ebenso wenig, wie ich an den gefallenen Menschen und die gefallene Welt glaube, glaube ich daran, dass das Göttliche sich geirrt hat, als es mich als Ich geschaffen hat.»
Erich Neumann1
«Das Ich bleibt Einheit, die nicht aufhört, sich zu einigen, d. h. sich widerspruchslos gültig zu halten.»
Alfred Petzelt2
«Der wahre Fortschritt besteht nicht im illusorischen Ideal der Überwindung von Geist und Mensch. (…) Es ist eine zentrale Aufgabe der Philosophie, an einem Selbstporträt des menschlichen Geistes zu arbeiten, das im Sinn einer Ideologiekritik gegen die leeren Verheißungen eines posthumanen Zeitalters ins Feld geführt werden kann.»
Markus Gabriel3
«Denn das ‹Ich› ist das größte und verschleiertste Geheimnis der Welt.»
Max Beckmann4
Es gibt eine Strömung der pädagogischen Philosophie, die von allen Seiten angefeindet wird, weil ihre Vertreter rundweg bestreiten, dass Pädagogik etwas Positives bewirken könne. Alternativ- bzw. reformpädagogische Konzepte seien vielleicht weniger schädlich als herkömmliche Erziehungspraktiken. Doch der Versuch, ein grundlegend falsches Prinzip zu reformieren, bringe letztlich nur neue Formen des Falschen hervor. Die Annahme, Kinder bräuchten Pädagogik, wäre demnach eine Art kollektive Zwangsvorstellung, stärker als alle ihr widersprechenden historischen und persönlichen Erfahrungen. Der Kern des Übels liege nicht in unzulänglichen pädagogischen Theorien oder in einer verbreiteten pädagogischen Inkompetenz, sondern darin, dass sich Erwachsene über Kinder hermachen, um deren Entwicklung zu steuern.
In den bewegten Siebzigerjahren erregte diese Strömung unter der Bezeichnung Antipädagogik einiges Aufsehen, heute ist sie nahezu bedeutungslos. Aus antipädagogischem Blickwinkel haben alle Erziehungstheorien einen gemeinsamen Nenner: die Annahme, Kinder seien noch keine vollwertigen Menschen, sondern müssten erst zu solchen gemacht werden. Tatsächlich verleiht das tief in unser Gewohnheitsdenken eingewurzelte Bild vom Mängelwesen Kind der offenen oder maskierten Gewalt gegen Kinder seit Jahrhunderten eine Scheinrechtfertigung. Die Argumente der Antipädagogen unvoreingenommen zu prüfen kann also nicht schaden.5
Schon Janusz Korczak6 war sich des bezeichneten Problems bewusst. In seinem Buch Von Kindern und anderen Vorbildern findet sich der lapidare Satz: «Kinder werden nicht erst zu Menschen, sie sind bereits welche.» An anderer Stelle wandte er sich gegen die verbreitete «Meinung, das Kind sei noch nichts, sondern es werde erst etwas, es wisse noch nichts, sondern es werde erst etwas wissen». Hier liege ein Missverständnis vor, das die Beziehung zu den Kindern vergifte. «Geringschätzig, spöttisch oder gönnerhaft wirst du dich ihren Sorgen, Wünschen und Fragen gegenüber verhalten und (sie) damit (…) empfindlich verletzen.»7 Offenbar legte Korczak großen Wert darauf, Eltern und Lehrer für das Problem des herablassenden Umgangs mit Kindern zu sensibilisieren. Dies sei völlig unangebracht und erfülle in seinen konkreten Auswirkungen sogar den Tatbestand einer seelischen Misshandlung.