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Henning Köhler macht deutlich: Stärkung der Seele gegenüber der Angst bedeutet nicht, die Angst zu beseitigen, sondern vielmehr, sich ihr auszusetzen, sie als einen Bestandteil in das Seelenleben integrieren zu können. Dafür bietet dieses Buch wertvolle Verständnishilfen, die einen anderen Umgang mit der Angst ermöglichen.
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Seitenzahl: 185
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Henning Köhler
Vom Rätsel der Angst
Wo die Angst begründet liegt und wie wir mit ihr umgehen können
Verlag Freies Geistesleben
Vorwort zur Neuausgabe (5. Auflage)
Vorwort
I. Vom Wesen der Angst. Umriss der Fragestellung
1. Ist Angst etwas ‹Schlechtes›?
2. Angst vor der Angst
3. Wie erleben wir uns in der Angst?
4. Zusammenfassung
II. Die Un-heimlichkeit des Seins. Der Mut zur Niederlage
1. Ist ‹Leidensfreiheit› ein lohnendes Ziel?
2. Vom wahren Wohlstand oder: Jeder ist mal ein Feigling gewesen
3. Vom ‹inneren Gewissen›
4. Zusammenfassung
III. Angst – Schlaf – Kindheit
1. Ein Exkurs zur Frage nach Ursache und Schuld
2. Schiffbrüchige
3. Frau H. – ein Fallbeispiel
4. Angst und Schlaf
5. Die Belehrung des Wachbewusstseins durch das Schlafbewusstsein – ein Schlüssel
6. Angst und Sinne – ein kurzer Ausflug in die Sinneslehre
7. Überblick und pädagogisch-therapeutische Konsequenzen
Nachtrag
Anmerkungen
Fußnoten
Impressum
Leseprobe
Diese Schrift erschien zuerst 1992. Ich war 41 Jahre alt und hegte den Plan, eine neuartige, der veränderten Zeitlage angemessene, heilpädagogisch orientierte Psychotherapie für Kinder und Jugendliche zu begründen. Ob mir dies wenigstens in Ansätzen gelungen ist, sollen andere entscheiden. Beurteilen kann es nur, wer sich mit meiner Denkweise wirklich vertraut gemacht hat.*
Ob der von mir und meinen MitarbeiterInnen entwickelte Ansatz samt dem Janusz-Korczak-Institut, wo er praktiziert und ständig weiterentwickelt wird, von der Bildfläche verschwindet, wenn ich mich eines Tages aus Altersgründen zurückziehe (als 64-Jähriger fängt man an, darüber nachzudenken), oder ob jüngere Menschen an unsere Arbeitsergebnisse anknüpfen, wird sich zeigen. Vom Rätsel der Angst ist ein Baustein aus der Zeit, als die Fundamente gelegt wurden. Nicht mehr und nicht weniger.
Das Thema Angst lässt mich nicht los. Ich hatte in Jugendjahren selbst damit zu tun, weiß aus eigener Erfahrung, was Panikattacken sind, was Paranoia ist, und als die Sache überstanden war, fiel irgendwo da oben der Beschluss, es sei fortan meine Aufgabe, anderen zu helfen, denen Ähnliches widerfährt. Man nennt so etwas einen «inneren Imperativ». Es gab kein Entkommen (obwohl mein Plan gewesen war, als Dichter Karriere zu machen). Ich wurde Heilpädagoge und als solcher eine Art «Spezialist» (ein schreckliches Wort!) für quälende Angstzustände im Kindes- und Jugendalter. Aber auch Erwachsene vertrauten sich mir an, baten mich, sie durch das Zwielicht ihrer unbewältigten, oft aus der Kindheit herrührenden Ängste zu begleiten. Und ich versuchte, ihnen zu erklären, dass auch Ängste ein Recht auf Achtung haben; dass Ängste keine Missgeschicke sind, sondern unerlöste Seelenanteile; Wesen gewissermaßen, die uns anflehen, nicht länger in den Keller gesperrt zu werden, ans Licht zu dürfen; die sich mit Hass aufladen, wenn wir sie ächten, statt uns ihrer anzunehmen.
Manfred Kyber hat das wundervolle Angst-Märchen Der Drache mit dem Kaffeekrug geschrieben. Dort heißt es: «Manche Wege im Leben führen an einem Drachen vorbei, und sehr oft sind es die Wege, die am allergeradesten nach Hause führen.» Sollten Sie das Märchen noch nicht kennen, liebe Leserin, lieber Leser – es sei Ihnen wärmstens empfohlen. Für angstgeplagte Kinder ist es ein großer Trost. Eine Ermutigung.
Natürlich habe ich mit den Jahren dazugelernt. Ein Autor, der Lernender bleibt, wird jedes seiner Bücher nach einiger Zeit als unzureichend betrachten, damit muss er leben. Seltsam: Je länger man sich mit der menschlichen Seele beschäftigt, desto unbefriedigender erscheint einem das ganze Sprachspiel akademischer Psychologie. Jedenfalls geht es mir so. Über Angst müsste gedichtet werden. Oder musiziert. Oder gemalt. Die Psychologie hat ihre eigene Sprache noch nicht gefunden.
Ich habe seither nichts mehr zum Thema Angst geschrieben, es jedoch beständig vertieft und in zahlreichen Vorträgen und Fortbildungen gründlich behandelt. Gesprochene Sprache erlaubt mehr Musikalität, mehr Ober-, Zwischen- und Untertöne als gedruckte. Ein mehrstündiges Seminar erschien beim Hörbuch-Verlag Auditorium Netzwerk, ebenfalls unter dem Titel Vom Rätsel der Angst.
Gleichwohl kann ich die fünfte Auflage des vorliegenden Buches guten Gewissens unverändert durchwinken. Das hier Gesagte ist, wenn man so will, ein Proseminar zur Entwicklungspsychologie der Angst: grundlegend, aber bei Weitem nicht erschöpfend, gut geeignet als Einstieg in die Thematik. Wobei ich schon im Vorwort zur ersten Auflage warnte: Allgemeinverständlich heißt nicht unbedingt einfach.
Nürtingen im Sommer 2015
Henning Köhler
Die vorliegende kleine Schrift über das ‹Rätsel der Angst› ist nicht aus der Absicht entstanden, die Notlage einer offenbar stetig wachsenden Anzahl von betroffenen Menschen publizistisch auszunützen. Dieser Absicht wäre am besten entsprochen durch ein mühelos lesbares und schnelle Lösungen anbietendes Buch, denn mit Glücksverheißungen fängt man Verzweifelte, und der Verzweifelten gibt es viele.
Ich schicke diese Sätze voraus, um das Anliegen, das mit dieser Studie verbunden ist, gleich deutlich abzugrenzen gegen das, was auf dem gegenwärtig ‹boomenden›, populären Psycho-Ratgeber-Markt geschieht. Zwar ist es erstrebenswert, seelenkundliche Probleme in einer für jedermann verständlichen Form darzustellen, aber allgemein verständlich heißt eben nicht unbedingt leicht verständlich. Es gibt einen Grad von populärwissenschaftlicher Vereinfachung schwieriger Zusammenhänge, der im Ergebnis zu falschen Aussagen führt. Da gilt dann das Bonmot, dass halbe Wahrheiten manchmal schlimmer sind als ganze Lügen. Davor müssen wir uns hüten – nicht obwohl, sondern gerade weil es uns um eine spirituelle Seelenwissenschaft und damit um die Überwindung des materialistischen Menschenbildes geht, das heute in der Psychologie unangefochtener herrscht als zum Beispiel in der Physik oder Biologie. Allzu viel Triviales wird mit dem Etikett ‹esoterisch› angeboten. Die Anthroposophie würde ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie sich daran beteiligte.
Was heißt in diesem Zusammenhang ‹trivial›? Es heißt vor allem: durch die Aneinanderreihung appetitlicher, aber anspruchsloser Sätze den Eindruck erwecken, man habe einfache Antworten auf komplizierte Fragen gefunden, auf Fragen, die man in Wahrheit noch nicht einmal präzise zu stellen gelernt hat. Das vorliegende Bändchen will dagegen als ein fragendes, über voreilige Antwortschablonen hinausfragendes, aber noch lange nicht belehrendes verstanden sein. Der Titel ‹Vom Rätsel der Angst› ist nicht rhetorisch gemeint. Sie bleibt auch mir ein Rätsel. Ich will aber – und das wird nicht ganz ohne Anstrengung für den Leser abgehen – von Spuren berichten, die meine Kollegen und ich bei unseren Bemühungen gefunden haben und die weiterzuverfolgen uns aussichtsreich erscheint. Möglicherweise ergeben sich daraus für den Leser einige Gesichtspunkte, die ihm helfen, sich und andere besser zu verstehen und gerechter zu beurteilen.
Gerechtigkeit des Urteils aus seelenkundlichem Verstehensbemühen ist die erste Voraussetzung, um im sozialen Miteinander hilfreiche, vielleicht ‹heilende› Haltungen zu entwickeln. Wenn ich dazu einen Beitrag leisten kann, ist der Zweck dieser Schrift erfüllt. Sie ist im Übrigen kein abstraktes Schreibtischerzeugnis, sondern ein Praxisbericht, der in mancher Hinsicht an meine bisherigen Bücher anknüpft.**Ständig standen der therapeutische Umgang mit angstgeplagten Kindern und Erwachsenen, die Besprechungen im Mitarbeiterkreis des Janusz-Korczak-Instituts und das entstehende Manuskript in einer wechselseitig befruchtenden Beziehung.
Rudolf Steiner hat einmal für die Heilpädagogik eine Art Grundregel formuliert, die man vielleicht als Binsenweisheit bezeichnen würde, wenn man nicht wüsste, wie oft sie missachtet wird. Die rechte Beurteilung von Entwicklungsstörungen bei Kindern, heißt es da, setze eine gründliche Kenntnis der regulären Entwicklung in ihren körperlichen, seelischen und geistigen Aspekten voraus. Zweifellos ist diese Grundregel auf alle Formen der Seelenpflege-Bedürftigkeit nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen übertragbar. Man muss die menschlichen Gefühlsäußerungen, um sie in ihren pathologischen Zuspitzungen verstehen zu lernen, zunächst dort beobachten, wo sie gesund, entwicklungsgerecht, das heißt auch: sinnvoll in die ‹Ökologie› der Seelenlandschaft integriert, auftreten. Insofern ist aller Anfang einer Grundlagenforschung über krankheitswertige Ängste die wenigstens annähernd sichere Beobachtbarkeit dessen, was Angst als seelisches Urphänomen und unvermeidlicher Bestandteil unserer Erlebniswelt überhaupt bedeutet, wie sie entsteht, wozu wir sie benötigen. Um einige Annäherungsversuche an die Beantwortung dieser Frage wird es im Folgenden unter anderem gehen. Ich wende mich dabei an alle direkt oder indirekt Betroffenen, aber auch an psychologisch interessierte, der anthroposophischen Menschenkunde unvoreingenommen gegenüberstehende Leser, die ihre eigenen Ideen und Beobachtungen im Gespräch mit anderen, in ähnlicher Richtung Suchenden vertiefen wollen. Dabei werden durch den gedanklichen Aussichtsort und praktischen Erfahrungshintergrund des Kinder therapeuten Schwerpunkte gesetzt, die sich von den bisherigen Veröffentlichungen anthroposophischer Autoren zum Thema Angst naturgemäß unterscheiden, ohne mit ihnen in Widerspruch zu geraten.
Unter keinen Umständen kann diese Studie für die leidvoll Betroffenen eine sachgerechte, von Mensch zu Mensch durchzuführende Hilfe ersetzen, die sie, je nach Schweregrad und Alter, in einem anthroposophischen Therapeutikum, bei einem Facharzt, Lebensberater, Heilpädagogen oder in einer Spezialklinik finden werden. Aber wir können einige Ideen zeigen, an denen sich anthroposophische Hilfsangebote orientieren, und vielleicht – das ist meine große Hoffnung – deutlich machen, dass Angst kein Makel, sondern Ausdruck einer kostbaren Seelenfähigkeit ist, die in der Krankheit nur gleichsam sich verirrt. Es ist eine alte, zeitlos gültige Erkenntnis, dass gerade sehr feinfühlige, tief empfindende Menschen auch besonderen Gefahren ausgesetzt sind. Darauf wird in den kommenden Jahrzehnten mehr und mehr zu achten sein, wenn verhindert werden soll, dass mit ansteigender Rate gerade solche Persönlichkeiten, die wesentliche Impulse für den Kulturfortschritt in sich tragen, als ‹Neurotiker› ins Abseits geraten. Hier klingt ein (heil-) pädagogisches Problem von höchster Dringlichkeit an. Wir müssen lernen, die Angst, die sich als Zivilisationskrankheit immer mehr verselbstständigt, schon in statu nascendi, in den Kindheitsjahren, zu durchschauen und ihr durch eine Pädagogik der Ermutigung die Spitze zu nehmen.
Wolfschlugen, Herbst 1991
Henning Köhler
Wer die Angst einfach beseitigen, ignorieren, betäuben oder von vermeintlich höherer Warte als ‹unreif› abtun will, gerät zwangsläufig auf Abwege.
Angst ist uns allen bekannt. Sie «gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode», stellt Fritz Riemann mit Recht fest.1 Als seelisches Ereignis ist Angst zunächst etwas ebenso Selbstverständliches, wie als äußere Ereignisse Regen, Wind, Nebel oder Gewitter selbstverständlich sind. Und es wäre in Hinsicht auf unsere innere Natur ebenso absurd, die Angst ‹abschaffen› zu wollen, wie es in Hinsicht auf die äußere Natur absurd wäre, widrige Witterungsverhältnisse abschaffen zu wollen.
Was daraus wird, wenn Mittel gesucht werden, die Angst zu beseitigen, statt ihr standhalten und sie verwandeln zu lernen, sehen wir zum Beispiel an der Tragödie des immer mehr um sich greifenden Drogen-, Alkohol- und Medikamentenmissbrauchs, aber auch am wachsenden Einfluss von Sekten, Satanskulten und kultähnlichen Bühnen- oder Leinwandspektakeln, die alle, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln, die Sehnsucht nach Angstüberwindung ausbeuten.2
Wer die Angst einfach beseitigen, ignorieren, betäuben oder von vermeintlich höherer Warte als ‹unreif› abtun will, gerät zwangsläufig auf Abwege. Wer Entsprechendes propagiert, lockt andere, die mit ihrer Angst umgehen lernen wollen, in fatale Sackgassen. Ebenso wenig wie beispielsweise gegenüber der Scham, dem Zorn oder der Sexualität dürfen uns die Schwierigkeiten, die wir mit der Angst haben, zu der falschen Schlussfolgerung verleiten, wir müssten uns ihrer entledigen; denn dies wäre, wie wir sehen werden, erstens unmöglich und zweitens, selbst wenn wir es könnten, ein großer Fehler. Angst ist ein existenzielles Problem, ein Problem also, das durch die Konditionen unseres In-der-Welt-Seins naturgemäß auftritt und in die Lebensbewältigungsschritte, die wir auf diesem oder jenem Gebiet tun, positiv einbezogen werden muss. Anderenfalls, wenn wir die Rolle der Angst leugnen, verdrängen oder geringschätzen, ihr einfach keinen Platz in unserer Seelenwelt und Kultur zubilligen wollen – was alles von einer zwar verständlichen, aber voreiligen, negativen Bewertung dieser Rolle herrührt –, geraten wir, um mit Erich Fromm zu sprechen, in die Gefahr, «das Existenzproblem dadurch lösen (zu wollen), dass man vorgibt, nicht menschlich zu sein» – ein Versuch, der, wie Fromm fortfährt, «die Tendenz zeigt, im Laufe des Lebens des Betroffenen immer schlimmer zu werden».3 Diese Verschlimmerung kann darin bestehen, dass die nicht einbezogene Angst sich gleichsam ansammelt, bis sie irgendwann katastrophenartig hervorbricht und alle Befestigungswälle, die sich der Mensch innerlich und äußerlich aufgebaut hat, hinwegspült; oft vollzieht sich die Verschlimmerung oder Chronifizierung des unbewältigten Angstproblems aber auch ‹maskiert›: als krampfhaftes Streben nach Macht, Einfluss, Ansehen, materieller Sicherheit; als Neigung, sich stets auf die Seite der Stärkeren zu schlagen; als herrisches Auftreten und Beanspruchung einer Führungsrolle; und nicht zuletzt als intellektuelle Verachtung der Angst beziehungsweise derer, die ihr nicht ausweichen wollen oder können. «Unsere Angst vor dem Leben ist an der Art zu erkennen, wie wir ständig etwas tun müssen, um nicht zu fühlen, wie wir ständig weglaufen», schreibt Alexander Lowen.4 Man trifft diesen angstbetäubenden Aktionismus bisweilen auch als argumentativen Aktionismus an – als auffällig engagierte Bemühtheit, zu beweisen, dass Angst unangebracht, unnötig, schädlich, kulturzersetzend, unreif und so weiter sei.
Aber auf solche Beweisführungen kommt es gar nicht an. Sie zielen am Wesentlichen vorbei. Denn die Angst ist natürlich als solche weder unangebracht noch unnötig, weder schädlich noch kulturzersetzend, und auch als Unreife kann sie nur mit vielen Einschränkungen bezeichnet werden. Es ist immer unproduktiv, einen Tatbestand zu denunzieren, der schlechterdings zur Grundausstattung des Menschen und der Welt gehört. Die genannten negativen Attribute können allenfalls für diese oder jene Art des falschen Umgangs mit der Angst gelten, nicht aber für die Angst an sich.
Dies kann durch einfache Beispiele deutlich werden: Es wäre ohne die Grundkraft der Angst nicht möglich, dasjenige zu entwickeln, was wir Vorsicht nennen, die Fähigkeit also, die den überstürzt-unbedachten vom maßvollmutigen Tatendrang unterscheidet, aber andererseits doch auch, wenn sie zu stark in den Vordergrund tritt, entmutigend wirken kann. Oder nehmen wir die kostbare soziale Errungenschaft des zartfühlend-behutsamen Umgangs mit anderen Wesen, die wir ebenfalls in nicht geringem Maße der Angst verdanken, denn auch die Angst, jemanden zu verletzen, zählt zu den ‹echten› Ängsten. Sie kann, wie jede Angst, in Handlungsunfähigkeit umschlagen, ihre positive Seite jedoch verhilft zu einer der reifsten Ausprägungen von Handlungskompetenz.
Was folgt daraus? Wir sehen an diesen Beispielen zunächst, dass es uns im Bemühen um ein Verständnis des Angstphänomens keinen Schritt weiterbringt, wenn wir das Vorurteil in die Untersuchung hineintragen, Angst sei grundsätzlich etwas Schlechtes. Sie ist, wie so vieles andere, zunächst eine Seelenkraft, die wir als Teil der conditio humana ‹mitbringen›.5 Wir sollten ihr nicht mit der Frage gegenübertreten, ob sie gut oder schlecht ist, sondern wie wir sie in unsere Persönlichkeitsentwicklung so einbeziehen können, dass sie uns vorwärtsbringt. «Leider wagen wir es zu wenig, das Problem der Angst, das … hinter vielen Zwängen, hinter Überfürsorge wie hinter Misstrauen und Vermeidung steckt, beim Namen zu nennen», schreibt Margrit Erni und fährt fort: «Aus Angst vor der Angst verpassen wir manche Auseinandersetzung, die unser Leben im Endeffekt reicher und ehrlicher werden ließe.»6
Für mich war es eine eindrucksvolle Erfahrung, wie nach dem Kernkraftwerksunglück in Tschernobyl ausgerechnet in den Kreisen, wo man sich zugute hält, mit esoterischer Ehrlichkeit an die Probleme heranzutreten, ein merkwürdiger Verdrängungsmechanismus auftrat. Allenthalben war zu lesen und zu hören, die Angst sei eine unproduktive und egoistische Reaktion, die auf mangelnder erkenntnismäßiger Durchdringung der Ereignisse beruhe. Ähnliches hatte man schon während der Auseinandersetzungen der Siebzigerjahre um die sogenannte friedliche Nutzung der Kernenergie gehört und hörte man wieder im Zusammenhang mit dem Golfkrieg. Die Verdrängung besteht darin, dass man die Angst, weil sie eben ein unangenehmes Gefühl ist, reflexartig negativ bewertet und diese Bewertung, die eine reine Gefühlsangelegenheit ist wie die Angst selbst, anschließend rational absichert. Die Angst wird, mit anderen Worten, hinwegargumentiert, man könnte auch sagen: denunziert, bevor man sich wirklich auf sie eingelassen hat. Da spricht für mein Dafürhalten aus dem Titel und den Beiträgen des kurz nach dem ersten Golfkrieg erschienenen Sammelbandes ‹Ich will reden von der Angst meines Herzens›7 eine größere geistige Reife und wohl auch ein größerer esoterischer Mut, obwohl sich die Autoren allesamt gegen das Etikett ‹esoterisch› verwahren würden.
Ich will es einmal religiös ausdrücken: Gott hat den Menschen wohl kaum mit einer Seelenkraft von solch daseinsprägendem Gewicht, wie es der Angst zweifellos zukommt, ausgestattet, um ihm damit auf der ganzen Linie Schaden zuzufügen. Der Versuch, dieses Problem dadurch zu lösen, dass man sagt, Angst sei zwar etwas prinzipiell Schlechtes, aber in ihrer Überwindung liege eine große Entwicklungschance, ist nur mit Vorbehalt einleuchtend. Was ist unter ‹Überwindung› zu verstehen? Wenn ich, dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, einen grippalen Infekt überwunden habe, meine ich damit, dass die Symptome verschwunden sind. Etwas ist über mich gekommen, was mich beeinträchtigt hat, und jetzt bin ich davon erlöst. Darin, die Angst gewissermaßen wie eine Infektionskrankheit zu behandeln, von der ich, um im Bild zu bleiben, aufgrund meines schwachen Abwehrsystems bei allen möglichen Gelegenheiten befallen werde und deren Überwindung bedeuten würde, nicht mehr anfällig für sie zu sein, sehe ich gerade den entscheidenden Irrtum. Diese Sichtweise schließt aus, dass in der Angst selbst positive Entwicklungskräfte liegen könnten. Wir deklarieren die Angst zum Erzfeind und verhalten uns ihr gegenüber entsprechend. Alois Hicklin sagt in diesem Zusammenhang mit Recht, dass jede psychologische, philosophische, (volks-)pädagogische oder anderweitige «Zielvorgabe, (die) inner- oder außerhalb eines therapeutischen Rahmens mit der allgemeinen Tendenz des Menschen ‹mitagiert›, … Angst zu umgehen, abzulehnen, aus dem Bewusstsein auszuschalten», falsch ist.8
Die Hindernisse, vor denen wir als Menschen von Kindesbeinen an stehen, sind, sehr allgemein gesprochen, die physisch-materiellen, natur- und milieuhaften, dann auch gesamtgesellschaftlich-kulturellen Bedingungen, insoweit sie unserer geistig-seelischen Entwicklung – oder genauer gesagt: unserem Anspruch, diese Entwicklung in größtmöglicher Freiheit zu gestalten – entgegenwirken. Was wir als seelische Grundausstattung mitbringen, setzt sich, bildhaft gesprochen, aus ‹Rohstoffen› zusammen, die uns gegeben sind im Sinne einer «dem Menschen immanenten Zugehörigkeit» (Hicklin), um in der genannten Auseinandersetzung bestehen zu können. Mit anderen Worten: Genau genommen geht es gar nicht darum, ‹die Angst zu überwinden›, jedenfalls nicht im Sinne von ‹austilgen› oder ‹hinter uns lassen›. Wenn wir einmal von allen Reminiszenzen an den gewohnten Sprachgebrauch absehen und die Sache redlich betrachten wollen, müssen wir anders fragen: Welchen Sinn hat die Angst?
Wie kann sie uns dienen – oder dient sie uns längst schon – bei der Auseinandersetzung mit den eigentlichen, objektiven Lebenshindernissen? Zu diesen, das sagt uns der gesunde Menschenverstand, kann nichts gehören, was den ‹Grundriss› unserer Befindlichkeit so entscheidend mitkonfiguriert, wie es die Angst in ihren zahlreichen Varianten und Legierungen mit anderen, positiven, oftmals erst durch die Verbindung mit der Angst positiven Eigenschaften und Ausdrucksformen der Menschlichkeit tut.
Ist am Ende die Angst selbst, wenn wir sie richtig verstehen und einbeziehen, der Möglichkeit nach eine positive menschliche Eigenschaft – also durchaus nicht nur eine Unpässlichkeit, aus deren ‹Überwindung› wir die Kraft des Kriegers schöpfen, der einen Feind zur Strecke gebracht hat?
Kann ein Versuch, vorurteilslos nach den Ursprüngen beziehungsweise Entstehungshintergründen der Angst zu forschen, dazu beitragen, ihr den Sinn wiederzuverleihen, den sie verloren hat, weil wir ihn ihr nicht zubilligen; weil wir ständig bemüht sind, sie zum Schweigen zu bringen, bevor wir sie überhaupt ‹angehört› haben?
Kann es bis in die Lebenspraxis beziehungsweise persönliche Lebenshygiene hinein fruchtbar werden, solchen Fragen nachzugehen?
Wo die Angst einen Menschen trifft, «welcher in ihrer Bewältigung überfordert ist, weil er weder (ihren) Sinn versteht, noch (ihrem) Aufforderungscharakter nachzukommen vermag», schreibt Hicklin, geraten wir «in einen Bereich, den wir aufgrund dieser Unlösbarkeit als pathologisch bezeichnen können». Ich plädiere, um der größtmöglichen Genauigkeit willen, dafür, dass wir mit Hicklin9 als Zielvorgabe den Begriff ‹Bewältigung› demjenigen der ‹Überwindung› vorziehen und nicht die Angst als solche a priori negativ bewerten, sondern uns darauf beschränken, dass ihr Auftreten als unlösbares, das heißt auch: aufgrund der Unauffindbarkeit ihres Sinns nicht positiv einbeziehbares Problem dem betroffenen Menschen zum Schaden gereicht. Bewältigung heißt im seelischen Bereich niemals ‹Ausmerzung›, sondern immer ‹Einfügung›, in gewisser Hinsicht auch ‹Befreundung›. Wenn ich von tiefer Trauer ergriffen bin und die Trauer bewältige, habe ich sie nicht beseitigt oder hinter mir gelassen, sondern mein Verhältnis zu ihr positiv verändert, ihr einen Platz zugewiesen und nicht sie, sondern meine Verfeindung mit ihr ‹überwunden›. Liegt es nicht nahe, Ähnliches auch im Umgang mit der Angst anzustreben?
Wenn Victor-Emil von Gebsattel die Vermutung aussprach, «dass die Fähigkeit zu Angsterlebnissen im westlichen Menschen dauernd zugenommen hat während der letzten … Generationen»,10 drängt sich die Frage auf, welche Entwicklungsdissonanz sich darin ausspricht, dass eine bestimmte Seelenverfassung immer stärker, immer fordernder hervortritt, während wir offenbar noch nicht oder nur selten die Fähigkeit besitzen, produktiv darauf zu antworten. Alexander Lowen11 gibt in seinem Buch Angst vor dem Leben einen schlichten Hinweis, der uns vielleicht auf eine wichtige Spur führen kann: «Wenn man sein Herz der Liebe öffnet, wird man verletzlich. Mehr Leben oder Gefühl als das Gewohnte ist erschreckend. Wir möchten lebendiger sein und mehr spüren, aber wir haben Angst davor» (Hervorhebung H. K.). Ist die wachsende Angst in unserer Zivilisation nicht nur eine Folge der kränkenden Lebensverhältnisse und als solche schädlich, sondern auch Vorzeichen einer neuen sozialen und spirituellen Sensibilität und in dieser Hinsicht eine positive Herausforderung? Wir werden, nachdem wir uns mit dem Wesen der Angst auseinandergesetzt haben, auf diese bewusstseinsgeschichtliche Frage zurückkommen.
Kürzlich wurde ein Vortrag mit dem Titel angekündigt: ‹Angst und Furcht – Feinde der Seele›. (Unterzeile: ‹Wege zu ihrer Überwindung›). Die Frage, ob man es sich so nicht zu einfach macht, muss erlaubt sein. Eine angemessenere Wortwahl wäre etwa: ‹Angst und Furcht – Kräfte der Seele, die zu Feinden werden können. Wege zu ihrer Bewältigung›. Michaela Glöckler erwähnt in ihrem Aufsatz ‹Vom Umgang mit der Angst› einen entscheidenden förderlichen Aspekt der Angst, der uns noch beschäftigen wird: «Das Erleben und Aushalten der Angst stärkt das Selbstbewusstsein und die Selbsterfahrung am Andersartigen. Daher ist auch die Entwicklung des … Selbstbewusstseins nicht zu trennen von dem Erleben und dem Umgehen mit der Angst» (Hervorhebung H. K.).12
Wir haben eingangs den Vergleich zwischen Angst als einem ‹inneren Naturereignis› und äußeren Naturereignissen wie Regen, Wind, Nebel oder Gewitter gebraucht und damit auf die Vorfindlichkeit der Angst hinweisen wollen: Sie gehört zu den seelischen Lebensverhältnissen, in die wir hineingeboren werden, sie «liegt im Blute», wie sich Helmut Hessenbruch ausdrückte,13 und das ist die Feststellung, die uns einen zunächst wertungsfreien Umgang mit ihr abverlangt.
Bleiben wir noch einen Augenblick in diesem Bild. Sturm und Gewitter sind, für sich genommen, weder ‹gut› noch ‹schlecht›, auch keine ‹Naturkrankheiten› – die Angst wurde in einer anthroposophischen Publikation, allerdings mit Fragezeichen, als ‹Kulturkrankheit› bezeichnet –, sondern einfach naturgegeben und – wie alles Naturgegebene – notwendig. Wenn aber die Häuser, in denen wir wohnen, nicht fest genug gebaut sind und keinen ausreichenden Schutz vor den Naturgewalten bieten, werden diese uns zu Feinden. Andererseits ermöglicht uns erst der sichere Zufluchtsort, das Heim (ein Begriff, der uns noch gründlich beschäftigen wird), dass wir die naturgegebene Notwendigkeit der – wie man so treffend sagt – ‹unwirtlichen› Witterungsverhältnisse als ihr wichtigstes Charakteristikum anerkennen und auf dieser Grundlageein immer besseres Gespür auch für ihre schönen Seiten entwickeln können. Denn anderenfalls würde uns das feindselig-angstbestimmte Verhältnis den Blick für das Wesentliche versperren.
Ich sage mit Bedacht: Der sichere Zufluchtsort ermöglicht