Henkerstropfen - Carsten S Henn - E-Book

Henkerstropfen E-Book

Carsten S Henn

4,6

Beschreibung

Zu einem guten Essen gehören der richtige Wein, stimmungsvolle Musik – und Mord: Denn Verbrechen und Genuss gehen bestens zusammen und treffen in dieser Kurzkrimi-Sammlung in den kuriosesten Momenten aufeinander. Ein Giftmordanschlag in Heinos Café per schwarzbrauner Haselnusstorte, ein dramatisches Wettduell um eine Flasche Wein des amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson, eine Tote im Champagnerbad - in Carsten Sebastian Henns Kurzkrimis fließen Blut und Wein gleichermaßen, werden Leichen wie feinste Speisen kredenzt. Mörderische Häppchen – für den kleinen Krimihunger zwischendurch! Mit Weintipps zu jedem Krimi

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Carsten Sebastian Henn, Jahrgang 1973, ist Autor und Weinjournalist. Im Emons Verlag erschienen seine kulinarischen Kriminalromane »In Vino Veritas«, »Nomen est Omen«, »In Dubio pro Vino«, »Vinum Mysterium« und »Vino Diavolo« sowie die Kurzkrimis »Henkerstropfen« und »Henkersmahlzeit«. Alle Julius-Eichendorff-Romane sind auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Jürgen von der Lippe.www.carstensebastianhenn.de

Handlungen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2015 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-830-4 Originalausgabe

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Jetzt aber richtig:

Für Charlotte

Dieter Müller ist einer der renommiertesten Köche der Welt. Er erhielt 1988 als erster deutscher Koch vom »Gault Millau« die Höchstwertung von 19,5Punkten. Sein Restaurant hat seit 1997 drei Michelinsterne, damit ist er einer von nur rund dreißig

Liebe Leserinnen und Leser,

meine erste Begegnung mit großer Küche hatte ich im Elsass bei den Brüdern Haeberlin, eine Geschmackssensation war unter anderem die Gänseleber in Brioche. Das prägte mich. Ebenso unvergessen ist für mich der Besuch im Restaurant von Paul Bocuse 1976 in Lyon.

Auch Carsten Sebastian Henn erinnert sich an zwei kulinarische Initiationserlebnisse besonders: das Essen zum fünfzigsten Geburtstag seines Vaters bei Hans-Stefan Steinheuer in Heppingen, der ihn schließlich zur Figur des Julius Eichendorff inspirierte, und das Amuse-Bouche-Menü in meinem Restaurant, das er zur Feier seines Studienabschlusses genoss. Bei diesen beiden Begebenheiten wurde ihm, wie er sagt, eine neue Sinnenwelt eröffnet. Die Leidenschaft für diese Welt spürt man in all seinen Geschichten. Carsten Sebastian Henn ist durch und durch ein Genussmensch– und damit ein seltenes Exemplar in Deutschland.

Erst in den letzten Jahren hat sich bei uns die Erkenntnis durchgesetzt, dass Kochen zu den Künsten gezählt werden muss. Die Grundlage aller Kunst – egal ob beispielsweise Kochen oder Schreiben– ist ein solides Handwerk. Beim Kochen heißt dies: die richtigen Zulieferer zu finden, die frische und aromatische Produkte höchster Qualität bieten. Eine Küche mit allen nötigen Gerätschaften, Messern, Öfen und Pfannen zur Verfügung zu haben. Und die Fertigkeiten und Ideen zu besitzen, mit und aus all diesem köstliche Speisen zu kreieren.

Für einen Autor stellt sich das Handwerk sehr ähnlich dar.

Er braucht authentische, lebendige Figuren. Er braucht eine Umgebung, sei es Stadt oder Land, die der Leser mit allen Sinnen erfassen kann. Ein Autor braucht zudem eine Geschichte, die fesselt und berührt. Und wenn er all dies hat, braucht er noch seine Sprache, seinen Stil, um es zu einem Großen und Ganzen zusammenzufügen.

Carsten Sebastian Henn beherrscht genau das, und er würzt seine Geschichten mehr als jeder andere deutsche Kriminalschriftsteller mit Kulinarischem. Mord und gutes Essen ergänzen sich bei ihm aufs Beste. Schließlich haben beide ganz direkt mit dem Leben zu tun– wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Morde beenden es, ein gutes Essen, ein edler Wein feiern es. So ist in allen kulinarischen Kriminalgeschichten auch immer etwas Lebensbejahendes enthalten. Wie Salz ans Essen gehört eine Prise Genuss deshalb eigentlich an jede mörderische Erzählung.

Für viele seiner Geschichten wählt Carsten Sebastian Henn einen leichten Ansatz, oftmals spielt Humor eine große Rolle. Sein Schreibstil ist spielerisch und unangestrengt. Wer wie ich viele Jahre in der Küche gestanden hat, weiß, dass es nichts Schwereres gibt, als alles leicht wirken zu lassen, so als habe es überhaupt keine Mühe gemacht, das Kunstwerk herzustellen. Mein Ziel waren immer leichte, aromenreiche und schmackhafte Kreationen. Den gleichen Ansatz scheint Carsten Sebastian Henn häufig zu verfolgen. In der Literatur werden das Leichte und der Humor leider – und völlig zu Unrecht– allzu oft weniger geschätzt als das Ernste. Dabei ist es in beidem gleichermaßen schwer, Meisterschaft zu erlangen, wie Carsten Sebastian Henn das gelungen ist.

Es gibt eine weitere Parallele zwischen Carsten Sebastian Henn und mir. Ich koche zuerst im Kopf. Was auf die Teller kommt, entspringt meiner Fantasie, und das, was ich mir vorstelle, schmecke ich beinahe auf der Zunge. Auch Carsten Sebastian Henn schreibt nicht einfach drauflos, seine Geschichten sind im Kopf herangereift wie guter Wein, ehe er sie aufs Papier fließen lässt.

Seine Romane um den Sternekoch und Meisterdetektiv Julius Eichendorff kann man mit einem reichhaltigen Menü vergleichen. Viele Gerichte folgen aufeinander, die Spannung steigt, um in einem wohlinszenierten Finale zu enden. Die vorliegende Anthologie krimineller Kurzgeschichten ähnelt dagegen einem Büfett oder besser noch meinem Amuse-Bouche-Menü, besteht sie doch aus vielen kleinen Kunstwerken. Bei meinem Menü erhält der Gast neunzehn kleine Gerichte – serviert in fünf Gängen– und unternimmt so eine lukullische Weltreise. In diesem Band sind es dreiundzwanzigGeschichten in vier Kapiteln, und die Reise ist krimineller Natur. Manche »Gänge« sind süß und luftig, andere herb und mit langem Nachhall, manche spielerisch, zu einem Lächeln herausfordernd, andere schlicht und auf ihre Eigenwirkung konzentriert. Doch alles ist mit handwerklicher Präzision und künstlerischem Esprit geschaffen, alles ein Genuss auf seine Art.

An »Henkerstropfen« gefallen mir nicht nur die Geschichten, sondern auch der lustvolle Aufbau des Buches: Die Geschichten sind entsprechend ihrer Eignung zum Weingenuss angeordnet. Manche passen besser zu prickelndem Wein, andere zu gerbstoffbetontem Rotem oder zu frischem Weißem, einige gar zu edelsüßen Preziosen. In einer Küche geht es stets darum, Aromen und Konsistenzen kongenial zu kombinieren, am Tisch kommt dann der ideale Wein dazu, all dies in perfektem Ambiente. Carsten Sebastian Henns Ansatz, den passenden Wein zu jeder Geschichte zu empfehlen, überträgt dies auf den literarischen Bereich.

Genuss steht nie allein, Genuss ist stets ein Gesamterlebnis. Ich möchte Ihnen raten: Suchen Sie sich einen schönen Flecken aus, wenn Sie dieses Buch lesen. Machen Sie es sich behaglich. Wenn es Sie nicht ablenkt, legen Sie die passende Musik auf– vielleicht etwas Heiteres zu »Liebfrauenmilch«, Jazz zu »Blue Train« oder dramatische Klassik zu »Der alte Wingert«? Vor allem aber möchte ich Ihnen eines ans Herz legen: Sie sollten vor der Lektüre unbedingt ausreichend und gut gegessen haben– sonst schaffen Sie es bestimmt nicht bis zum letzten Satz dieser vor kulinarischen Köstlichkeiten strotzenden Geschichten!

Viel Genuss wünscht Ihnen

»Gourmet-Restaurant Dieter Müller« im Schloss Lerbach

SÜSSWEIN

Wenn ich wirklich etwas zu feiern habe, eine Geburt, ein neues Buch oder ein gutes Fußballspiel des 1.FC Köln, dann muss ein großer, edelsüßer Wein auf den Tisch. In diesen Momenten hole ich eine der kleinen Flaschen aus dem Keller, spüle die Weingläser noch mal durch, damit auch ja kein Schrankgeruch darin hängen bleibt, und gieße das Elixier ehrfürchtig ein. Wie viele überraschte Gesichter habe ich schon gesehen, wenn plötzlich klar wurde, dass ein großer Süßwein eben nicht klebrig ist wie Limonade, sondern genau die richtige Mischung aus Frucht und Frische bietet. Er ist in all seiner Komplexität und Dichte (manche gleiten träge wie Öl über die Zunge) in sich elegant und harmonisch. Die feine Süße kitzelt dabei den Gaumen– nicht umsonst muss ich häufig unwillkürlich lächeln beim Genuss eines solchen Weins.

Die nun folgenden Geschichten sollen auch »kitzeln«, steht bei ihnen doch das Humoristische beim mörderischen Treiben im Vordergrund. Für Frucht und Frische ist hoffentlich ebenfalls ausreichend gesorgt

Die Blutente des Julius E.

»Des is ja roh!« Franz-Xaver Pichler, genannt FX und seines Zeichens Maître d’Hôtel im Heppinger Sterne-Restaurant »Zur Alten Eiche«, ließ den Teller demonstrativ an der Ausgabe stehen. »Die Gäste an Tisch vier kommen aus Koblenz und net aus Transsilvanien!«

Der Mann, dem diese schnippische Bemerkung galt, drückte FX den Teller grantig wieder in die Hand. »Das kocht man heute so, und das isst man gleich auch so.«

Julius Eichendorff, dem kugelförmigen Besitzer und Koch des Restaurants, war am Morgen eine Laus über die Leber gelaufen– in Form seiner beiden Kater Herr Bimmel und Felix. Ersterer glich dank eines ausgewogenen Ernährungsplans, in dem alle wichtigen Fettgruppen enthalten waren, mehr einem Fußball mit Beinen als einer europäischen Kurzhaarkatze.

»Ich servier des net. Du musst dich draußen ja net vor den Gästen verantworten! Mich schauen’s dann an, als würden wir blutrünstigen Wiener unsere Rindviecher noch mit den Zähnen reißen.«

Normalerweise wäre dieses Wortgefecht so lange weitergegangen, bis der Tellerinhalt nur noch Zimmertemperatur gehabt hätte. Aber Julius Eichendorff drehte sich auf dem Absatz um und verließ sein Restaurant.

Das machte er sonst nie.

Aber heute war ihm danach.

Sollte FX doch schauen, wie er ohne ihn klarkam! Sollte diese österreichische Verkörperung von kulinarischer Unfähigkeit doch der Küchenbrigade erklären, warum diese nun die Arbeit für ihren Chef mitmachen musste!

Auf dem Heimweg zeterte Julius so lange vor sich hin, zählte alle Schwächen und Fehler seines Maître d’Hôtel auf, beleuchtete grimmig dessen schlimmste Verfehlungen und haderte mit Untergebenen allgemein, bis es ihm ein bisschen besser ging.

Seine Laune steigerte sich noch mehr, als er den Mann mit dem hochgeschlagenen Kragen an der Straßenecke sah. Sein Gesicht lag im Dunkeln, nur eine aufglühende Zigarette erhellte die kantigen Züge. Julius drückte sich an die nächstbeste Hauswand. Wenn ihn sein Gespür nicht trog, führte dieser Mann etwas im Schilde.

Drei aufglühende Zigaretten – eine gute Viertelstunde– wartete Julius.

Dann huschte eine junge Frau über die Straße, der hochgeschlagene Kragen trat seine Zigarette aus, die Frau warf sich ihm in die Arme, und sie gingen, wohin auch immer es sie trieb.

Julius Eichendorff aber ging frustriert nach Haus. Doch kein neuer Kriminalfall, der seine Kombinationsgabe herausforderte. Seine Laune erreichte einen neuen Tiefpunkt.

Sie besserte sich kein bisschen, als er drei Stockentenfedern auf seiner Fußmatte fand. Exakt drei. Sie besserte sich auch nicht, während er für seine beiden geliebten Kater das vorgekochte Abendessen aufwärmte– und selbst Fremdtrinken half nicht. Der famose Frühburgunder vom Elfthof aus Franken balsamierte seinen Gaumen zwar aufs Samtigste ein, aber das Glückszentrum verfehlte er um Längen.

Erst als er den Fernseher anstellte und die Tagesthemen sah, wurde es aufs Wunderbarste stimuliert.

»…als Warnung hinterlässt der Mörder drei Stockentenfedern auf der Fußmatte seines nächsten Opfers. Der Mordanschlag findet stets innerhalb einer Woche danach statt, wobei der Mörder seine Opfer wie Geflügel erdrosselt.«

Anna von Reuschenberg war nicht nur in der Mordkommission der Koblenzer Polizei tätig, sondern zu Julius’ augenblicklichem Unglück auch seine Lebensgefährtin.

»Warum sollte jemand dich umbringen wollen?«, fragte sie und strich Julius beruhigend durch den Haarkranz. »Da hat sich irgendwer einen dummen Scherz erlaubt.«

»Wie kannst du so was nur nicht ernst nehmen!«

Mit einem Glas des Weins in der Hand, der Julius seit den Tagesthemen viel besser schmeckte, ließ sich Anna in den monströsen Ohrensessel fallen. »Ich würde ehrlich gesagt noch nicht mal ausschließen, dass du selbst irgendeinem armen Vieh die Federn rausgerupft hast, nur um mal wieder kriminalistisch tätig zu werden. Bevor du jetzt vor lauter Wut zerplatzt: Der Entenmörder hat bisher nur in Großstädten zugeschlagen, und seine Opfer waren ausschließlich Frauen. Wenn ich mich nicht völlig täusche, fällst du in keine der Risikogruppen. Und wenn es ein Nachahmer ist, dann würde er wissen, in welcher Gruppe er seine Opfer suchen müsste. Knuddelige Landköche würden sicher nicht dazugehören.«

Anna meinte es sicherlich gut. Julius, von der Presse gegen seinen Willen immer wieder als kulinarischer Detektiv bezeichnet, hatte bereits vier Mordserien aufgeklärt. Jetzt litt er eindeutig unter der nicht weitverbreiteten Krankheit namens Mordentzug. Und die konnte gewiss gefährlich werden, wenn man sie nicht rechtzeitig mit knallharten Argumenten kurierte. Der Nervenkitzel hatte sich vor Jahren ungefragt in sein Leben gestohlen und Julius nun ebenso ungefragt in den kalten Entzug geschickt.

Er konnte deshalb nicht anders.

Obwohl Anna sofort aufsprang, ihm nachhechtete, ihre Arme auf maximale Länge ausfuhr, schaffte sie es nicht, ihn davon abzuhalten. Er hielt das Telefon fest, als hinge sein Überleben davon ab.

Der SWR war mehr als begeistert über seinen Anruf.

Nur einen Tag später war Julius auf allen Kanälen.

Die Beweisstücke waren von der Spurensicherung abgeholt und untersucht worden. Aber Federn und Fingerabdrücke vertrugen sich schlechter als Volksmusik und Klatschen auf den zweitenTakt. Die angeordnete Polizeibewachung war imposant– doch sie hinderte Julius auch daran, irgendetwas auf eigene Faust zu unternehmen.

Wodurch sich seine Laune gebessert hätte.

Ihm blieb nur das Kochen, und er entschied sich – vollkommen unbewusst, wie er gegenüber allen behauptete– für eine klassische Blutente. Bei diesem Rezept wird das Tier erdrosselt, so bleibt das Blut im Körper. Julius verwendete die für das Gericht typische normannische Rasse Rouen. »Canard Rouennaise«, die gebratene Blutente, wird von Schlegeln und Brüsten befreit, die Karkasse in der Entenpresse ausgedrückt und der gewonnene Saft zur Sauce weiterverarbeitet.

Es war ein martialisches Kochvergnügen, doch Julius’ ungewohnter Blutdurst wurde so endlich gestillt.

Und die Blutente landete auf der Karte der »Alten Eiche«.

Die Gäste kamen, der Mörder nicht.

Nach zehn Tagen zog die Polizei ihre Kräfte wieder ab. Nichts war aufgeklärt worden. Und in Hamburg fand man die nächste Frau erdrosselt vor. Julius’ Ängsten war das schnurzegal. Deshalb griff er zum Telefon. Er rief Anna an– mit der er seit exakt zehn Tagen nicht mehr gesprochen hatte.

»Du willst was?«, fragte sie überrascht.

»Na ja, wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen.«

»Ich hab doch richtig gehört: Du willst, dass ich bei dir für die nächsten Tage einziehe?«

»Das Bett ist gemacht, und du wirst selbstverständlich vorzüglich beko–«

»Lass mich ausreden! Ich soll bei dir einziehen, um dich nachts vor dem – von dir halluzinierten– Entenmörder zu beschützen? Dich, den kulinarischen Detektiv? Dafür bin ich dir gut genug?«

»Ich hab dich einfach gerne um mich!«

Das folgende Klacken in der Leitung erschien Julius sehr laut. Und die Nacht erschien ihm sehr lang. Doch die folgende sollte Julius noch länger erscheinen.

Denn nach dem Frühstück fand er wieder etwas vor der Tür.

Entenfedern.

Diesmal zwei.

Blutbeschmiert.

Nur die Zeitung mit den großen Bildern interessierte sich dafür. Die Polizei nahm die Sache nicht mehr ernst. Dabei war der Entenmörder immer noch nicht gefasst und hatte mittlerweile in Frankfurt einer jungen Frau im wahrsten Sinne des Wortes den Hals umgedreht.

Julius war allein mit seinen Gedanken über den Hinterleger der Entenfedern vor seiner Tür. Wenn es nicht der eigentliche Serienkiller war, dann zumindest ein mehr als cleverer Nachahmer. Der wartete, bis die Polizei abgezogen war, um wieder einen Hinweis zu deponieren. Der Julius in den Augen aller zum Mordkomplott-Hypochonder machte. Und so später freie Bahn hatte. Mit diesen Gedanken war Julius in der Nacht allein. Selbst die Katzen schlummerten lieber in sicherer Entfernung. Julius konnte nicht schlafen. Er knabberte deshalb von Stunde zu Stunde immer wieder an einer übrig gebliebenen Blutente in der Küche.

Bis das Telefon klingelte.

Es war vier Uhr früh.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung war die eines freundlichen älteren Herrn, die Worte waren sanft und weich. Er war einem direkt sympathisch.

Obwohl er Menschen mordete.

»Mein lieber Herr Eichendorff, bitte beenden Sie dieses Spiel mit den Federn. Sie und ich wissen, dass damit nur die Aufmerksamkeit auf Ihr Restaurant mit seiner Blutente gelenkt werden soll. Sie stehen nicht auf meiner Liste, seien Sie dessen versichert. Aber wenn Sie weitermachen, wird sich das rasch ändern. Nach ganz oben werden Sie dann gesetzt. Doch Sie sind ein kluger Mann, das entnehme ich den Artikeln über Sie. Deshalb können Sie nun auch beruhigt weiterschlafen. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Eine halbe Stunde später stand Julius vor dem Hochhaus, in dem sich Annas Wohnung befand, und klingelte.

Sturm.

Das Türschloss öffnete sich mit einem Summen, nachdem er seinen Namen genannt hatte.

Anna stand drei Minuten später und vier Etagen höher im viel zu großen Schlafanzug vor ihm, die Ärmel hingen über ihre Hände, der Hosenbund hielt sich nur mühsam an der schlanken Hüfte. Trotzdem sah sie enorm gefährlich aus.

»Willst du einen Kaffee?«, fragte sie. »Oder bist du nur mal so vorbeigekommen, weil du gerade in der Nähe warst?«

Ihre Augen funkeln viel wacher, als es um diese Uhrzeit möglich sein dürfte, dachte Julius. Nach dem ersten Kaffee fragte er, ob sie noch einen zweiten hätte, und nach dem zweiten fragte er wegen eines starken Schlummertrunks, der die Wirkung der beiden Kaffees wieder aufhob. Nach dessen Genuss wurde er sehr schnell sehr müde. »Ich erklär dir alles morgen, ja?«

Anna ließ es ihm durchgehen.

Nachdem er am nächsten Morgen sein plötzliches Erscheinen erklärt hatte, befand er sich ganz schnell wieder auf der Straße. All dies hatte zumindest ein Gutes: Julius war definitiv vom Mordentzug geheilt. Er wollte jetzt wieder nur kochen.

Die Blutente würde sofort von der Karte gestrichen.

Es ist doch so ein schöner sonniger Tag, dachte Julius. Vielleicht der sonnigste des ganzen Sommers. Genau richtig, um im Garten die Beine hochzulegen und sich mit einem schönen Eiswein von den Strapazen zu erholen, sich ein hübsches Entschuldigungsgeschenk für die Liebste zu überlegen und für den Abend im Restaurant Kraft zu sammeln. Kein Tag, um darüber nachzudenken, wer ihm die Blutfedern vor die Haustür gelegt hatte.

Und warum.

Ob es nur ein saudummer Scherz oder die Tat eines Nachahmers war.

Der einen Mord folgen lassen wollte.

Er würde diese Gedanken mit Riesling aus seinem Hirn spülen. Egal, wie viel nötig wäre.

All dies ging Julius Eichendorff im Kopf herum, als er den alten VW-Brezelkäfer in der Garage abstellte, seinen Körper aus dem Wagen schälte und sich dem heimatlichen Haus näherte.

Vor dem eine Entenfeder lag.

Nur eine.

Julius schwor sich, niemandem etwas davon zu sagen. Er hob sie auf und versteckte sie, ohne zu zögern, in seiner Jackentasche. Das metallische Klicken der Kamera hörte er nicht, das aus dem gegenüberliegenden Fenster drang. Auch nicht, dass der Hobbyfotograf und Nachbar kurz danach den Telefonhörer abhob und die Bild-Zeitung anrief.

Dieser Tag mit verdrängter Angst, einer kniebelastenden Entschuldigung, dem eine zweisame Nacht gefolgt war, mündete dadurch in einem panischen Schrei beim Zeitunglesen, einer langen Erklärung und einer abrupten Abreise Annas.

Und der Abkommandierung eines österreichisches Maître d’Hôtel zum persönlichen Leibwächter.

»Was mach ich eigentlich, wenn er kommt?«, fragte dieser nun. »Soll ich den Mörder vielleicht totservieren? So lange neue Gänge auftragen, bis er drunter erstickt? Ich könnt ihm aber auch eine so gesalzene Rechnung präsentieren, dass ihn der Schlag trifft. Auf der Stelle! Wär des vielleicht genehm?«

»Nimm dir ruhig eins meiner Jagdgewehre– wenn’s dir damit besser geht«, sagte Julius. »Hab ich dir eigentlich schon gesagt, wie froh ich bin, einen Freund wie dich zu haben?«

»Nach dem ersten Glaserl Wein und nach dem zweiten. Nach dem dritten hast gesagt, ich sei der beste Freund, den man sich überhaupt nur wünschen könnt, und nach dem vierten hast überraschend einen Aussetzer gehabt.– Und mir würd’s besser gehen, wenn du des Gewehr weglegen tätst.«

Es folgten weitere Gläser, und irgendwann wusste keiner der beiden mehr, wie viele es waren. Es war ihnen aber auch egal, denn die Welt war so wunderbar bunt geworden.

Plötzlich schrien Julius’ Kater vor der Haustür.

Dabei war keine der umliegend wohnhaften Katzendamen rollig.

Dazu war eine Männerstimme zu hören. Eine sanfte, nette Männerstimme– in diesem Moment leicht erhoben.

Julius stand auf. Schwankend. Hob sein Gewehr. Schwenkend. FXerhob sich ebenfalls und griff sich die leere Flasche als Waffe, nur unwesentlich weniger von dem kühlen und ausgezeichnet nach tropischen Gelbfrüchten und Vanillekipferl schmeckenden Wein gezeichnet. Das Fauchen und Kreischen an der Tür wurde lauter, die Männerstimme immer unfreundlicher. Doch nun war nur noch eine Katze zu hören.

»Geh du hintenrum und nimm die andere Flanke«, lallte Julius FX zu.

»Wir sind doch hier net beim Fußball! Zusammen gehn wir raus und knallen ab, was immer da draußen ist.«

»Außer meinen beiden Katern!«

»Außer den Viechern. Na, logo!« FX griente den angeschickerten Julius an, der jetzt mit einem Ruck die Tür aufriss.

Davor stand ein Mann, dem seine Pelzkappe nach vorn gerutscht war und der unentwegt nieste.

Als Julius genauer hinsah, erkannte er seinen Fehler.

Der Mann hatte in Wirklichkeit eine Katze im Gesicht. Da die Katze Form und Größe eines Fußballs hatte, war vom Gesicht wenig zu erkennen. Und da die Katze sich mit ihren Krallen richtig gut festhielt, bekam der Mann sie auch nicht runter. Obwohl er an ihr zerrte. Obwohl er fluchte. Obwohl er nun sogar mit der Katze im Gesicht auf den Boden donnerte.

Herr Bimmel war famos gepolstert. Hätte er reden können, die Worte »Genau dafür hab ich immer gefuttert!« wären ihm bestimmt durch die Raubtierzähnchen gekommen.

Doch mit Kitzeln hatte die pelzige Kugel nicht gerechnet.

Der Griff an seinen Bauch war nicht als Kitzeln gemeint, aber was scherte das den Bauch? Der Kater fuhr die Krallen ein, landete auf dem Boden und spurtete ins Haus.

Dabei Julius und FX, die sich eh kaum noch auf den Beinen halten konnten, umwerfend.

Die Waffen fielen ihnen in hohem Bogen aus den Händen.

Das tat ihrer Stimmung allerdings überhaupt keinen Abbruch.

In der Hand des Mannes mit der ehemals netten Stimme tauchte dagegen eine Pistole auf.

Auch das beeindruckte Julius und FX kein bisschen.

»Schusswaffen sind zwar normalerweise nicht meine Art, aber ich will nicht, dass der Doppelmord an zwei Männern meine diffizil zusammengestellte Mordserie verhunzt.« Der Mann musste mehrmals niesen und rieb sich dabei ständig die Augen. »Nur meine richtigen Opfer werden erwürgt.«

»Sie sollten Hühnersuppe essen«, sagte FX hilfsbereit mit einem breiten Lächeln.

Das Gesicht des Mannes zeigte, dass er mit diesem Satz nicht gerechnet hatte.

»Ich sollte was?«

»Na, Hühnersuppe! Sie haben sich doch ordentlich verkühlt.«

»Nein, ich bin allergisch auf Katzenhaare.«

»Ich würd’s trotzdem mal mit einer köstlichen Hühnersuppe probieren. Schaden kann’s net. Wärmt so schön von innen.« FXlächelte jetzt so selig, als hätte er selbst gerade einen großen Teller gegessen.

»Ich bin wahrlich nicht wegen Ernährungstipps hier. Möchten Sie mir noch beichten, warum Sie diese Entenfederfarce inszeniert haben?«

Julius’ Kochgen schmerzte bei dieser Benutzung des schönen Küchenbegriffs Farce– einer Masse aus im Fleischwolf gemahlenem Fleisch, Fisch oder Gemüse, die kräftig gewürzt und mit Ei oder Sahne gebunden wurde. Entenfederfarce war definitiv eklig. Auch wenn Julius bewusst war, dass sein Gegenüber den Begriff unkulinarisch benutzte. Und er sich eher zu Tode fürchten als über Doppeldeutigkeiten nachdenken sollte.

»Ich habe damit doch gar nichts zu tun! Sie sollten sich den dreisten Nachahmer vornehmen und nicht zwei unschuldige Opfer, die ein gutes Glas Wein jederzeit zu schätzen wissen. Oder auch zwei. Manchmal auch mehr.«

FX nickte ob dieser so wahren Worte.

Der Mann nieste wieder. Er sah sehr adrett aus, in teuren, altmodischen Zwirn gekleidet, und erinnerte Julius spontan an Armin Mueller-Stahl. Der konnte sowohl Lieblingsopas wie Nazi-Schergen spielen. Beides schien sich auch im Gesicht des Killers zu finden.

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie reden. Aber glauben Sie mir: Zwei Opfer mehr machen den Kohl auch nicht fett«, sagte er nun und wirkte dabei wie ein Nazi-Opa. »Außerdem glaube ich Ihnen nicht, dass Sie unschuldig sind.«

FX beeindruckte das überhaupt nicht. »Glauben ’S doch, was Sie wollen! Wir sind nämlich bewaffnet!«

»Und womit, wenn ich fragen darf?«

»Mit dem Gewehr!« FX zeigte auf Julius’ leere Hände. Zuerst schauten sie sich verblüfft an, und dann zurück ins Haus, wo die Waffe hingefallen war. »Mit dem Gewehr dahinten!«, sagte FX deshalb zur Erklärung.

»Und Sie glauben, ich gebe Ihnen die Zeit, es zu holen?«

Mist, dachte Julius. Ihr Plan hatte eine Schwachstelle. Zu kurze Arme.

Der Mörder schüttelte den Kopf. Sein Finger begann sich am Auslöser zu krümmen, als aus dem Dunkel der Nacht Julius’ dreifarbiger Kater Felix stolz angetatzt kam. Mit einem Tier im Maul, das unschwer als Ente zu erkennen war. Als Ente, die bereits seit einiger Zeit tot war und der etliche Federn ausgerissen worden waren. Was dank eindeutiger Krallenspuren in Pfotenform den Katzen zugeschrieben werden konnte. Seelenruhig ließ Felix das Tier aus seinem Maul fallen, rupfte eine Feder heraus, legte sie vor Julius auf den Boden und ließ der Aktion ein zutrauliches Maunzen folgen.

Das nun folgende kratzige Lachen machte den Entenfedermörder nicht sympathischer. »Gelten dreifarbige Katzen nicht als Glücksbringer? Dann müssen Sie ein Montagsmodell erwischt haben.« Er musste abermals niesen. Danach krümmte sein Finger sich wieder, doch der mit einem imposanten Schalldämpfer ausgestattete Lauf senkte sich nun und zielte auf Felix.

»Zuerst den Übeltäter, das ist nur angemessen«, sagte der Mann, und seine Stimme war nun wieder angenehm und freundlich, als würde er allen gleich selbst gebackene Kekse reichen. »Auf Nimmerwiedersehen, Kamerad.«

Felix schaute interessiert zu dem Mann empor, entschied sich dann dafür, schnell um dessen Bein zu streichen und den Schwanz zu heben.

Dafür erntete er ein Niesen, ein »Ich hasse Katzen« und einen Schuss. Das heißt, der Schuss galt ihm, schlug aber woanders ein. Im Fuß des Schützen, der die Geschwindigkeit einer schmusenden Katze und die Position seines Fußes verdammt falsch eingeschätzt hatte.

Nach dem Schuss passierten drei Dinge gleichzeitig: Felix verschwand aufgeschreckt im Garten, der Entenfederkiller schrie, Julius und FX lachten sich kaputt.

Sie griffen nicht nach ihren Waffen.

Sie überwältigten nicht den verwundeten Serienkiller.

Sie lachten.

Der Alkohol war zu diesem Zeitpunkt komplett in ihrer Blutbahn angekommen. Sie lachten und begaben sich noch nicht einmal wieder zurück auf die Füße.

Erst als die Pistole wieder auf sie gerichtet war, endete dieser schöne Moment hemmungslosen Vergnügens.

»Sie sind krank, alle beide!«, rief der Mann, was zuerst Prusten und dann erneutes lautes Loslachen zur Folge hatte.

Julius schaffte es mit Tränen in den Augen auf die Beine und tätschelte dem Mann die Schulter. »Der Kater hat Sie total vollgehaart, gucken Sie sich doch mal Ihr Bein an! Andere werden geteert und gefedert, Sie werden gekratzt und behaart!« Julius schüttete sich aus, und FX kreischte vor Lachen, sich am Boden hin und her wälzend, als stünde seine Jacke in Flammen.

»Und jetzt geben Sie doch mal die blöde Knarre her und machen Sie sich sauber.« Julius nahm dem Mann die Pistole aus der Hand. »Felix hat sein halbes Winterfell an Ihrem Bein gelassen!«

Als der Killer an sich herunterschaute, begann er zu schreien. Wie ein dreifarbiger Pelz lagen die Katzenhaare um sein Hosenbein. Der Mann schrie noch mehr, als ihm FX zuerst mit der toten Ente und, als das nicht den gewünschten Effekt zeigte, mit einem neben der Tür stehenden Keramikblumentopf eins überzog. Das zeigte Wirkung. Der Topf zerbrach, der Killer sank auf den Boden.

»Der war von Tante Traudchen. Den wollte ich schon immer mal aus Versehen fallen lassen. Herzlichsten Dank, mein Bester!«

»Also dieser Abend– leiwand!«, sagte FX, während Julius versuchte, Annas Nummer ohne Zahlendreher einzutippen. Eine Viertelstunde später rasteten ihre Handschellen angenehm satt um die Gelenke des Mannes ein, der nun keine Entenfedern mehr vor Türen deponieren konnte.

»Ich weiß nicht, was ihr zwei getrunken habt«, sagte Anna, »aber ich will auch was davon, und zwar einen Doppelten.«

An diesem Abend gab es erstmals Ente für Herrn Bimmel und Felix. Und für Julius eine höchst willkommene Entschuldigung einer Koblenzer Kommissarin. Und die galt– obwohl Anna am nächsten Morgen wegen Strunzbeduseltsein auf Unzurechnungsfähigkeit plädierte.

Il Branzino Siciliano

Don Bruschetto, genannt Schäng, steckte die Finger tief in die Kiemen des leblosen Fisches. Der Wolfsbarsch befand sich in der Kühlbox des alten tschechischen Händlers, der kein Wort mehr herausbrachte. Er stand nur da und nahm langsam die Farbe des Fischbauchs an. Kalkweiß. Don Bruschettos Finger erschienen wieder, ein milchiger Schleim an den Spitzen. »Verklebt«, spuckte der kleine Sizilianer mit starkem Akzent aus. Da der Don fast nur aus Bauch bestand und sich stets in Schwarz kleidete, erinnerte er stark an eine Bowlingkugel. Sein Zeigefinger bohrte sich in ein mattes Auge des Barsches. »Eingesunken und trüb.« Er hob den Fisch hoch und sah sich die Schuppen an. »Stumpf. Und er stinkt nach Fisch!«

Don Bruschetto war eigentlich ein ausgeglichener Mensch. Seine Position im Kölner Zweig der Cosa Nostra war unbestritten. Er hatte wichtige Dienste getan, aber war zu unwichtig gewesen, um Neid heraufzubeschwören. Und nun war er im Ruhestand. Das hatte ihn, sagte seine geliebte Frau Maria, zu einer Sanftheit geführt, die ihm früher immer gefehlt hatte.

Don Bruschetto schlug dem tschechischen Händler den Fisch ins Gesicht. Von jeder Seite. Mehrmals. Jeden Schlag begleitete er mit einem Wort: »Das. Ist. Kein. Frischer. Wolfsbarsch.« Für Wolfsbarsch nahm er sich zwei Schläge Zeit. »Heute Abend eröffnen wir mein ›Il Branzino Siciliano‹. So ein verschissener Kommunist wie du scheint nicht zu wissen, was das übersetzt heißt. Der sizilianische Wolfsbarsch! Für Menschen wie dich haben wir ihn sogar extra aufs Schild gemalt. Wolfsbarsch soll die Spezialität des Hauses sein.« Er hielt den Fisch vor das Gesicht des Tschechen. »Würdest du diesen Fisch essen wollen? Eh?« Er schob ihm den Kopf des Wolfsbarschs in den Mund. »Diesen Fisch, den du mir geliefert hast? Ich habe dir vertraut, als gehörtest du zur Famiglia! Ich habe dich mit dem wichtigsten Auftrag für mein Ristorante betraut. Und dann finde ich in der Lieferung nur solchen Fisch. Das betrübt mich. Das betrübt mich sehr.« Er riss den Wolfsbarsch aus dem Mund des Tschechen. »Dieser Fisch ist Müll. Weißt du, was ich von Müll halte? Sag es ihm, Tünn.«

Antonio »Tünn« de Luca war nicht nur der Koch des »Il Branzino Siciliano«, sondern auch der Bruder des Don und in einem früheren Leben, das vor siebenundzwanzigStunden offiziell geendet hatte, Killer der Famiglia. Antonio liebte nur eines mehr, als andere sterben zu sehen. Seine Haare. Und seine Fingernägel. Seine Kleidung natürlich. Vor allem die Schuhe. Und seinen Wagen. Auch langen Schlaf. Schönheitsschlaf. Er machte nichts lieber als schlafen. Meist mit offenen Augen.

»Mein Bruder hasst Müll«, sagte er nun mit seiner langsamen, geschmeidigen Stimme. »Deshalb hat er auch mit dem Business aufgehört. Er ist raus aus dem Müll, mein Bruder. Das Kölner Müllgeschäft sollen jetzt die Russen machen. Wir machen jetzt in Fisch.«

Der Don nickte und ging zum Messerblock. Alle Klingen waren neu und scharf. »Bin ich nicht ein freundlicher Mensch? Bin ich nicht gutherzig? Alle sagen das. Aber hat ein freundlicher, gutherziger Mensch einen solchen Fisch verdient? Nein. Das macht mich sehr traurig. Und wenn ich traurig bin, mache ich unüberlegte Dinge. Wie dieses Hackbeil nehmen, zum Beispiel. Es ist ein scharfes Hackbeil. In den Händen eines gutherzigen Menschen ein harmloses Messerchen. Den Händen eines traurigen, eines enttäuschten Mannes wie mir kann es dagegen leicht entgleiten.«

Der Don demonstrierte es. »Im Kühlhaus«, sagte er zu Antonio, »hinter den Schweinehälften müsste noch ein wenig Platz sein. Und mach Plastik über den Tschechen, bevor du mir neuen Wolfsbarsch besorgst. Pronto!«

Betrübt blickte der Don den Wolfsbarsch an. Wie hatte er es als Kind geliebt, mit dem strengen Vater Wolfsbarsche zu fangen. In diesen Momenten waren sie Freunde gewesen. Er hatte die Angel seines Vaters halten dürfen, hatte ein stolzes Nicken geerntet, wenn er einen dicken Brocken einholte. Beim Angeln war er nie angeschrien worden.

Der Don wanderte kopfschüttelnd durch das Restaurant, strich mit der Hand über die gestärkten weißen Tischdecken, rückte hier eine Gabel zurecht, dort eine Vase mit frischen Nelken in die Tischmitte. Er würde heute Abend hier Wolfsbarsch servieren. Den besten Wolfsbarsch. Die Bosse würden kommen. Der Don durfte sein Gesicht nicht verlieren. Es würde alles gut gehen. Es würde alles gut gehen müssen.

An der gläsernen Eingangstür klopfte es, und ein hochgewachsener Mann im Trenchcoat klappte einen Ausweis auf. »Nekens, Gewerbeaufsicht. Aufmachen!«, hörte der Don ihn sagen. Und er spürte diese Unruhe aufkommen, die er doch eigentlich mit der Pensionierung abgelegt hatte. Seitdem brachten nur noch junge Mädchen und schnelle Pferde seinen Puls in die Höhe.

Er öffnete die Tür. »Kommen Sie bitte morgen wieder. Wir eröffnen heute.«

»Nicht ohne mein Einverständnis, Bruschetto. Ich bin über Sie informiert«, sagte der Beamte und drängte sich ruppig am Don vorbei.

Das passte dem Don gar nicht. Man drängte sich nicht so einfach an ihm vorbei. In sein Ristorante. Man zeigte Respekt. Der Mann von der Gewerbeaufsicht stürmte zuerst in die Toiletten, dann in die Küche. Es gab keine Spur mehr, die auf den Fischhändler hindeutete.

»Womit habe ich kleiner Ristorantebesitzer das verdient?«, fragte der Don. »Warum hat sich der Himmel gegen mich verschworen? Bin ich nicht immer ein fleißiger Mann gewesen? War ich nicht jeden Sonntag in der Kirche? Oh ja. Das war ich. Heilige Rosalia steh mir bei! Heilige Madonna mia!«

Nekens brauchte lange, bis er alles kontrolliert hatte. Den Kühlraum Gott sei Dank nicht in voller Tiefe. Der Don hatte sich ganz automatisch einen Entbeiner gegriffen und versteckte ihn hinter dem Rücken.

»Kein Wunder, dass es mit diesem Land bergab geht. Wenn schon unbescholtene Ristorantegründer so schikaniert werden! Ich schaffe hier Arbeitsplätze, ich zahle Steuern, ich sollte belobigt werden! Einen Orden sollte ich erhalten für Verdienste um die deutsch-italienische Freundschaft.« Der Don glaubte, was er sagte. Und sein Ärger steigerte sich. Er wollte jetzt endlich Wolfsbarsch in Olivenöl braten sehen, mit Knoblauch, Rosmarin und Chili.

Der schlaksige Beamte rückte dem Don nach erfolgloser Suchaktion auf die Pelle. »Ich werde mich hier sehr regelmäßig blicken lassen, Bruschetto. Und wenn Sie glauben, Ihr dreckiges Geld durch Pizzen waschen zu können, haben Sie sich geschnitten.«

»Muss ich mir so etwas gefallen lassen? Bin ich auch nur einmal verurteilt worden? Nein, bin ich nicht. Weil ich nie etwas getan habe. Und hier wird keine Pizza serviert, sondern Fisch. Branzino! Wolfsbarsch!«

»Fisch?«, fragte Nekens. »Wie den hier?« Er griff sich den alten Wolfsbarsch. »Der sieht aber nicht mehr gut aus, die Augen sind ja ganz tief drin. Scheint mir ein Fall für das Gesundheitsamt zu sein.« Er drückte Kurzwahl vier an seinem Handy. »Hallo, Kollege. Du solltest ganz schnell in Don Bruschettos Etablissement kommen. Der scheint hier alten Fisch zu servieren.«

Der Don war froh, dass er den Entbeiner noch hinter dem Rücken hielt. Er fühlte sich deutlich besser, nachdem er mehrmals auf den Beamten eingestochen hatte. Das Kühlhaus war nach der Entsorgung proppevoll. Den vermaledeiten Wolfsbarsch warf er in den Mülleimer.

»Heute sollte doch so ein glücklicher Tag werden, die Belohnung für all die harten Jahre«, jammerte der Don. »Und bis jetzt nur Ärger. Aber ab jetzt wird alles gut.«

Der Don hatte beschlossen, sich die Laune nicht vollends verderben zu lassen. Heute Abend würde es Wolfsbarsch geben. In seinem Ristorante. Vor den Bossen. Und sie würden ihn loben. Er würde nun extra noch einmal den roten Teppich am Eingang saugen.

Es klingelte an der Seitentür. Das Gesundheitsamt. Wie schnell Beamte doch sein konnten, dachte der Don. Nicht einmal durch Bestechungsgelder hatte er früher solche Resultate erzielt. »Bernardo Provenzano, Capo di tutti Capi, steh du mir bei«, sagte er statt einer Begrüßung zu dem mit Halbglatze, glasbausteindicker Brille und einem miserablen Farbgefühl gestraften Beamten. »Die Heilige Rosalia und die Madonna haben mich verlassen…«

»Wo ist die Küche?«, fragte der Mann, ohne seinen Namen zu nennen, und schob sich wie ein Musterbuch der Pastellfarben ins Restaurant. »Wo ist der alte Fisch?«

»Was ist das für eine Frage? Sehe ich etwa aus, als würde ich alten Fisch verkaufen?«

Der Pastellunfall hob die Nase. »Ich rieche Ammoniak, ich rieche etwas Saures, ich rieche Fisch. Frischer Fisch riecht aber nicht nach Fisch.« Die Nüstern des Mannes waren riesig und führten ihn ohne Umweg zum Mülleimer, in dem der alte Wolfsbarsch entsorgt worden war. Als er »Aha– da isser versteckt. Ich mach Ihnen den Laden dicht!« rief, hatte der Don entdeckt, dass sich in direkter Griffnähe das schöne große Wiegemesser befand. Eigentlich wollte er den Mann gar nicht umbringen, denn das Kühlhaus war voll. Doch er schaffte lieber etwas Platz, als heute Abend das Gesicht zu verlieren. Die Prioritäten mussten richtig gesetzt werden.

Nach und nach traf die Restaurantbrigade ein, darunter Mario »Knagges« Andresi, der ihm jahrelang als Bodyguard gedient hatte und nun zum Kellner umfunktioniert worden war. Mario grunzte zur Begrüßung. Sein Anzug wirkte, als habe man eine Stoffbahn auf einen Gorilla getackert.

Nur Antonio kam nicht. Und kein Wolfsbarsch.

Vielleicht würde es keinem auffallen! Viele wussten doch gar nicht, was Branzino hieß. Sie würden die übrigen Speisen der Karte essen. Die waren alle gut! Die Antipasti, die Primi Piatti und die Secondi Piatti. Auch Fischgerichte gab es genug, denn alle anderen Flossentiere hatten die lustigen Russen geliefert.

Es würde schon gut gehen.

Der Don atmete durch. Endlich konnte er wieder lächeln.

Kurze Zeit später standen die ersten Gäste im Restaurant.

Sie kamen von der Polizei.