Henriette - Ärztin gegen alle Widerstände - Sabine Trinkaus - E-Book

Henriette - Ärztin gegen alle Widerstände E-Book

Sabine Trinkaus

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Beschreibung

Als Henriette 1834 auf Sylt das Licht der Welt erblickt, scheint ihr ein Dasein im Schatten eines Mannes vorbestimmt. Allerdings steckt sie ihre Nase in Romane und lernt heimlich Latein, statt sich auf ihre hausfraulichen Pflichten vorzubereiten. Weil ihre Familie in Not gerät, fügt sie sich in die Ehe mit einem reichen Gutserben, der sich als gewalttätiger Trinker entpuppt. Mittellos flieht sie nach Berlin. In der pulsierenden Metropole nimmt die beharrliche Henriette ihr Schicksal selbst in die Hand: Sie will nach Amerika, um Zahnärztin zu werden!

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Sabine Trinkaus

Henriette – Ärztin gegen alle Widerstände

Roman

Zum Buch

In Zeiten der Ungleichheit Als Henriette 1834 auf Sylt geboren wird, scheint ihr Lebensweg vorgezeichnet. Als Hausfrau soll sie einen Mann umsorgen, Kinder bekommen und das Haus verwalten. Schon in jungen Jahren stellt sie die strengen Vorgaben ihrer Eltern infrage. Als ihre Familie in finanzielle Not gerät, fügt sich die Pastorentochter dennoch in die arrangierte Ehe mit einem reichen Gutserben. Dessen Trunksucht und Gewalttätigkeit zwingen sie schließlich zur Flucht.

Sie landet in Berlin – mittellos und ohne Perspektive. Aber in der pulsierenden Metropole stehen die Zeichen auf Umbruch. Auch die willensstarke Henriette ist nicht länger bereit, sich mit ihrem Los abzufinden. Sie will Zahnärztin werden! Trotz zahlreicher Enttäuschungen und Rückschläge verfolgt sie beharrlich ihr Ziel und findet Trost bei Militärarzt Karl Tiburtius, der sie in ihrem Vorhaben bestärkt, das Unmögliche zu wagen: Sie besteigt ein Schiff nach Amerika, um ihren Traum zu verwirklichen. Doch wie sich herausstellt, ist das auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht so einfach wie erhofft …

Sabine Trinkaus wuchs im hohen Norden hinter einem Deich auf. Zum Studium verschlug es sie ins Rheinland, wo sie nach internationalen Lehr- und Wanderjahren sesshaft und heimisch wurde. Seit 2007 schreibt sie Kurzgeschichten, Kriminalromane und Thriller, außerdem erschienen Hörspiele und Theaterstücke aus ihrer Feder. Die beeindruckende Lebensgeschichte von Henriette Hirschfeld-Tiburtius inspirierte sie zu ihrem ersten historischen Roman.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Valeria Marino

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © Valery Sidelnykov / shutterstock.com; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin_Opernplatz_um_1900.jpg

ISBN 978-3-7349-3018-8

Widmung und Dank

Für Cécile – Danke.

Und für Karla, Luna, Paula und Laura, die sich gerade auf den Weg machen – bleibt mutig, stolz und wunderbar!

Marienfelde, 25. August 1911

Karls Lächeln war warm.

Henriettes Herz wollte überlaufen beim Blick in diese gütigen Augen, umringt von freundlichen Lachfalten, die sie voller Liebe ansahen. »Mien Leev«, flüsterte er, »min Leven.« Er hob die Hand und näherte sie Henriettes Wange. Sie öffnete den Mund, mein Lieb, mein Leben, wollte sie erwidern, aber sie bekam schlecht Luft und schaffte es nicht, die Worte zu formen. Auch mit ihren Augen stimmte etwas nicht, denn Karls Gesicht verschwamm im Nebel, schon war es kaum noch zu erkennen, sein Licht erlosch, bis nur Dunkelheit blieb.

Ein trockenes, bellendes Husten entrang sich Henriettes Brust. Wie von selbst tastete ihre Hand, doch bevor ihre Finger das kühle, leere Laken neben ihr erreichten, war der gnädige Moment zwischen Traum und Wachen vorbei. Sie wusste wieder, dass er nicht da war.

Henriette setzte sich auf, sog gierig Luft in ihre brennende Lunge.

Wie oft hatte sein Schnaufen sie geweckt? Wie viele Nächte hatte er sie mit seinem sonoren Schnarchen geärgert und um den Schlaf gebracht? Wie sehr sehnte sie sich jetzt danach. Sogar das klägliche Wimmern hätte sie gern wieder gehört, geboren aus den Albträumen, die ihn am Ende fast jede Nacht gequält hatten, weil sein brüchiger Geist die schmerzliche Realität nicht länger zu ertragen vermochte. Aus diesen Träumen hatte sie ihn zumindest wecken können, ihn beschwichtigen und trösten.

Sie ließ die Hand auf dem gestärkten Laken liegen, atmete bewusst und gleichmäßig, um ihre Bronchien zu beruhigen, und wartete, bis die Sekunden der erstickenden Sehnsucht verstrichen waren. Karl hatte jetzt Frieden, war an einem besseren Ort. Und er war nicht allein. Er war bei Franz. In schwachen und müden Momenten sehnte sie sich heimlich danach, ihm dorthin zu folgen. Aber das lag in Gottes Hand, nicht in ihrer. Außerdem gab es für sie noch Dinge zu tun in dieser Welt, die doch alles andere als ein Jammertal war – auch wenn es sich zuweilen so anfühlte.

Sie griff nach dem Glas, das auf dem Nachttisch bereitstand, und trank einen großen Schluck Wasser, um die trockene Kehle zu befeuchten. Hinter dem Fenster zeichnete sich das erste Licht der Morgendämmerung ab, leises Zwitschern drang an ihr Ohr. Auf einmal kam ihr die Luft im Schlafzimmer entsetzlich stickig vor. Henriette stellte das Glas ab, stand auf und hüllte sich in den Morgenmantel, der auf dem Schemel vor der Frisierkommode aus glänzendem Kirschholz lag. Sie ging zum Fenster und öffnete beide Flügel weit. Frische Morgenluft strömte in den Raum.

Wieder ertönte das Zwitschern, dieses Mal lauter. Ein Rotkehlchen saß in der Krone der Linde, deren Äste dicht ans Schlafzimmerfenster heranreichten. Ganz nah war der kleine Vogel, der sie nun aus dunklen Augen musterte, bevor er erneut selbstbewusst die rote Brust reckte, das Köpfchen in den Nacken legte und damit begann, die nächste Strophe seines Morgenlieds zu trillern.

Henriette war eine durch und durch rationale Person – eine Naturwissenschaftlerin, eine Ärztin – und als solche war ihr jede Form von Spökenkiekerei fremd. Ihr war klar, dass nicht Karl dieses Piepvögelke geschickt hatte. Trotzdem lächelte sie angesichts des tröstlichen Gedankens versonnen. Auch, weil der kleine gefiederte Kerl sie daran erinnerte, dass sie ihre Trauer nur litt, weil das Leben ihr zuvor so viel geschenkt hatte. Sie dachte an all die Nachmittage, an denen sie mit Karl dort unten im Schatten der Linde gesessen hatte. Sein Kopf hatte sich zu der Zeit schon nicht mehr gut zurechtgefunden, er hatte die Welt oft nicht mehr verstanden. Aber über die Vögel, die im Garten nisteten und die Luft mit ihrem Gesang erfüllten, hatte er sich immer wieder gefreut.

Als ihre Söhne noch klein gewesen waren, damals in Berlin, waren sie oft hinaus ins Grüne gefahren, um zusammen durch Wald und Wiesen zu wandern. Karl war es nie müde geworden, seine Jungs auf den Gesang der Amseln und Singdrosseln hinzuweisen. Gemeinsam hatten sie die flinken Kohlmeisen und Rotkehlchen beobachtet, die prächtigen Spechte bestaunt und über die frechen Sperlinge gelacht, die sich immer allzu nah an den Picknickkorb heranwagten. Karl konnte Stieglitz, Grün- und Buchfink mühelos am Gesang unterscheiden. Ein wandelndes ornithologisches Lexikon, so hatte sie ihn gern geneckt – damals, bevor die Arterien in seinem Gehirn zu verkalken begannen und die Sklerosierung ihm täglich mehr von seinem Wissen, seinem scharfen Verstand und seinem köstlichen Witz genommen hatte.

Erneut verkrampften sich Henriettes Bronchien, wieder hustete sie.

Ausgerechnet in diesem heißen August hatte sie es offenbar geschafft, sich ernstlich zu verkühlen. Sie konnte das Alter nicht länger verleugnen. Henriette zog den Morgenmantel ein wenig enger um sich. Sie war furchtbar müde, wusste aber, dass es keinen Sinn hatte, sich zurück ins Bett zu legen. Schlaf würde sie nicht mehr finden.

Sie ließ sich in den Sessel sinken, der vor dem Fenster stand. Hier konnte sie noch ein wenig ruhen, die frische Morgenluft genießen und darauf warten, dass die Sonne aufging. Hinausschauen in die Welt, die Gott so schön geschaffen hatte, auch wenn der Mensch sich allzu oft in seinem kleinen Unglück verrannte und vergaß, dass es so vieles gab, das größer war. Sie dachte an die Reise, die sie bald unternehmen würde. Trotz des traurigen Anlasses verspürte sie einen Hauch freudiger Aufregung, weil es ihr vergönnt sein würde, in ihrem Alter noch einmal ein Land zu sehen, das so weit weg war, so fremd, so exotisch. Ja, sie freute sich darauf, obwohl sie sich gleichzeitig fürchtete, diente die Reise nach Deutsch-Südwestafrika doch in erster Linie dazu, sich dem schlimmsten Schmerz zu stellen. So sehr ihr davor graute, so sicher war sie, dass dies der einzige Weg war, Frieden zu finden. Von dem Moment an, als die schreckliche Nachricht sie erreicht hatte, hatte sie gewusst: Sie würde es erst fassen können, wenn sie dorthin fuhr, wenn sie an seinem Grab stand. Sie musste an den Ort, wo Franz diese Welt verlassen hatte. Anders würde sie nicht abschließen können. Nie wirklich begreifen, dass er fort war und nie wiederkommen würde. Genau wie Karl, den sie dort so gern an ihrer Seite gehabt hätte. Um seine Hand zu halten, sich gemeinsam mit ihm von ihrem geliebten Sohn zu verabschieden. Aber Karl war zu krank für eine derartige Reise gewesen. Der Verlust schien ihm die letzte Kraft und den Rest seines Lebensmutes geraubt zu haben. Er war auch zu krank gewesen, als dass sie ihn hätte allein lassen können. Doch nun, da er gegangen war, stand der Reise nichts mehr im Wege – sah man von ihrem leidigen Alter und diesem enervierenden Husten ab, den sie dringend loswerden musste.

Sie schloss die Augen, lauschte dem Zwitschern der Vögel und meinte, einen Hauch von Salz auf der Zunge zu schmecken.

Sylt, 1838

Immer wieder fauchten zornige Böen vom Meer über die Insel – letzte Ausläufer des Sturms, der in der Nacht über Sylt gewütet und unheimlich um das Strohdach des Pastorats der St. Niels­kirche geheult hatte. Henriette hatte sich trotzdem nicht gefürchtet, fast nicht jedenfalls. Sie war immerhin schon vier und – obwohl klein und zart geraten – ziemlich mutig und stark.

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Himmel, an dem der Wind die grauen Wolken in immer kleinere Fetzen riss. Tastete gedankenverloren nach den dunklen Strähnen, die sich aus ihrem langen, dicken Zopf gelöst hatten. Auch das war das Werk des Windes, keine Frage, denn es war ein tadelloser Zopf gewesen. Sie hatte ihn ganz allein geflochten. Normalerweise half ihr Mutter dabei. Aber als diese gerade dabei gewesen war, Henriettes Haar mit kräftigen Strichen zu bürsten, war Emilie in ihrem Bettchen aufgewacht und hatte geplärrt.

Darum hatte Mutter sich kümmern müssen, denn Emilie war noch sehr klein, gerade mal zwei Jahre alt. Anders als Henriette konnte sie noch gar nichts allein. Während Mutter für Emilie Milch aufgewärmt hatte, hatte Henriette einfach allein weitergemacht und sich einen sehr guten Zopf geflochten. Mutter hatte ein bisschen skeptisch geschaut, als sie ihr stolz das Ergebnis präsentierte. Aber dann hatte sie Henriette mit einem Lächeln dafür gelobt, dass sie ein so braves Mädchen war, und ihr erlaubt rauszugehen, um im Garten des Pastorats auf Paul zu warten.

Paul war ihr Freund. Sie spielten jeden Tag zusammen, meistens holte er sie direkt nach dem Frühstück ab. Heute allerdings ließ er auf sich warten. Während Henriette die lästigen Strähnen zurück in den Zopf zu stopfen versuchte, wanderte ihr suchender Blick über den schmalen Sandweg. Wo blieb er denn nur? So langsam wurde ihr die Warterei zu bunt! Sie erhob sich von dem kleinen Gartenmäuerchen, machte ein paar unschlüssige Schritte. Vielleicht sollte sie zum Hof von Pauls Vater gehen, um nachzuschauen, wo er steckte. Aber dort würde sie bestimmt Harm in die Arme laufen. Der war Knecht bei Pauls Vater. Und ein Riese – bestimmt zwei Meter groß und breit wie ein Schrank. Er war immer grummelig, konnte Kinder nicht leiden. Henriette hatte keine Lust, sich anraunzen zu lassen.

Sie drehte sich um, ging wieder ein paar Schritte, nun in die andere Richtung, und dachte daran, dass es ihr streng verboten war, allein über die Insel zu stromern. Das durfte sie nur mit ihren großen Brüdern oder eben mit Paul. Aber Carl und Otto hockten drin in Vaters Arbeitszimmer, weil sie Unterricht hatten. Und Paul ließ sich ja wirklich bitten heute, es war zum Auswachsen. Es war wohl eigentlich nichts dagegen einzuwenden, wenn sie ein kleines Stückchen vorging – nur bis zum Haus vom alten Brodersen vielleicht, das war ja nicht weit. Dort konnte sie beim Warten wenigstens das Tor anschauen, das kein gewöhnliches Tor war. Es bestand nämlich nicht aus Holz, sondern aus weißen, sonnengebleichten Knochen. Walknochen waren das, der Kiefer eines Wals, riesengroß – das Tor war so hoch, dass sogar Harm mühelos aufrecht darunter hindurchspazieren konnte.

Der alte Brodersen hatte es gebaut, weil er früher Walfänger gewesen war. Genau wie Henriettes Großvater Teunis Hansen Teunis. Der Vater ihrer Mutter war gestorben, bevor sie auf die Welt gekommen war. Aber Mutter hatte ihr erzählt, dass er auf großen Schiffen übers Meer gesegelt war, bis ganz nach Grönland, um dort im eisigen Wasser nach riesigen Walen zu jagen. Henriette hatte noch nie einen echten Wal gesehen. Vater hatte ihr Bilder gezeigt, auf denen man erahnen konnte, wie gigantisch sie waren. Hier am Tor sah man es allerdings besser – und wann immer Henriette davorstand, war sie sehr stolz auf ihren Opa, ihren Uropa und auch auf ihren Ururopa, denn der war ebenfalls ein Walfänger gewesen. Sehr stark und mutig, genau wie Mutter, die bestimmt genauso einen hervorragenden Walfänger abgegeben hätte. Henriette hatte sie einmal gefragt, warum sie lieber die Frau von Pastor Pagelsen geworden war, statt nach Grönland zu den Walen zu segeln, obwohl es Tradition in ihrer Familie war. Daraufhin hatte Mutter allerdings nur gelacht und gesagt, dass Frauen keine Walfänger sein könnten und dass es doch gut war, dass sie hier auf der Insel geblieben sei. Denn wenn sie mit einem großen Schiff nach Grönland gesegelt und nicht Frau Pastor Pagelsen geworden wäre, dann gäbe es keinen Carl, keinen Otto, keine Emilie und auch keine Henriette, und das wäre jammerschade. Da musste Henriette ihr recht geben, denn sie fand es ziemlich gut, dass es sie gab – und auch Carl und Otto und sogar Emilie, obwohl man mit der noch nicht viel anfangen konnte. Trotzdem hatte sie beschlossen, dass sie, wenn sie groß war, lieber Walfänger sein wollte als irgendjemandes Frau.

»Na, min Deern!« Der alte Brodersen war aus seiner Tür getreten und schwenkte zum Gruß seine Pfeife. »Ganz allein unterwegs? Wo ist denn dein lütter Freund?«

»Moin, Kapitän Brodersen!« Henriette winkte zurück. »Er ist …« Sie zögerte. »Er kommt schon«, nuschelte sie eilig. Eine schlaue Antwort, denn das war ja keine Lüge. Paul würde kommen, jeden Moment sogar. Ganz wohl war ihr trotzdem nicht dabei. Was, wenn Brodersen am Sonntag nach dem Gottesdienst Vater oder Mutter erzählte, dass er sie ganz allein getroffen hatte? Das würde ein schlimmes Donnerwetter geben, das stand fest. Allerdings war Brodersen keiner, der viele Worte machte. Auch jetzt schien es ihm zu reichen mit der Unterhaltung, denn er ließ sich auf der Bank neben seiner Haustür nieder, steckte die Pfeife in den Mund und begann so eifrig zu schmauchen, dass sein bärtiges Gesicht hinter dichten Rauchschwaden verschwand. Er schien ihre Anwesenheit schon vergessen zu haben. Trotzdem kam es Henriette klüger vor, sich schnell aus seinem Blickfeld zu bewegen. Aus den Augen, aus dem Sinn, dachte sie, während sie eilig weiterlief, immer weiter, bis sie die Dünen erreichte. Damit hatte sie die Grenze der wohlwollenden Deutung überschritten – ab hier konnte es keinen Zweifel an ihrem Ungehorsam geben.

Eben darum war es jetzt wohl sinnlos, weiter auf Paul zu warten. Eigentlich konnte sie weiterlaufen bis zum Strand und nachsehen, was für Schätze der nächtliche Sturm angespült hatte. Schon war sie am Friedhof angelangt, den ihr Vater in den Dünen hatte anlegen lassen. Der Friedhof der Heimatlosen, die hier begraben wurden, weil sie keinen Namen mehr hatten. Weil sie dort draußen über Bord gegangen waren, jämmerlich ertrunken in der kalten Nordsee, die sie dann an den Strand von Sylt getragen und dort abgelegt hatte. Arme Seelen, denen Pastor Pagelsen und die Gemeinde der Nielskirche ein christliches Begräbnis schenkten, nachdem irgendwer sie am Strand gefunden hatte, nach einer stürmischen Nacht …

Henriette schluckte. Sie war mutig, keine Frage, aber Otto, der im letzten Jahr tatsächlich einmal einen Toten in der Brandung gefunden hatte, hatte ihr allerhand grausige Geschichten erzählt – von aufgedunsenen Körpern, grüner Haut und schlimmem Gestank. Womöglich war es keine gute Idee, einen solchen Fund zu riskieren, wenn man ganz allein unterwegs war. Womöglich war es nicht einmal eine gute Idee, an so etwas zu denken, wenn man hier am Friedhof stand und der Wind um die schlichten Grabkreuze fauchte. Blöder Paul! Wo war er denn, wenn man ihn brauchte?

»Henni!« Als hätten ihre ungeduldigen Gedanken ihn angelockt, drang nun sein Rufen an ihr Ohr. Ihr Ärger löste sich auf, genau wie die vage Furcht. Sie lief ihm entgegen und stockte dann, blieb stehen – und starrte ihn an.

»Henni!« Sein schweres Atmen verriet, dass er den ganzen Weg gerannt sein musste. »Warum hast du denn nicht auf mich gewartet?«

Das habe ich, wollte sie sagen. »Was hast du da?«, fragte sie stattdessen entgeistert und deutete auf seine Beine. Eine überflüssige Frage, denn sie hatte ja Augen im Kopf.

»Da staunst du, was?« Paul warf sich in die Brust. »Die Großmutter hat sie mir genäht. Eine echte Hose – und auch ein Hemd, es ist aus Leinen, schau!« Er trat einen Schritt näher, um Henriette einen besseren Blick auf die Pracht zu gönnen. »Ich kann ja nicht mehr in einem Kittel herumlaufen wie ein kleines Kind«, erklärte er. »Ich bin ja nun ein Junge!« Mit jedem Wort schien er ein paar Zentimeter zu wachsen. Wenn er sich noch ein bisschen mehr aufplusterte, würde er wohl platzen, dachte Henriette verstimmt. Sie sah an sich hinunter und betrachtete ihren Kittel. Noch nie hatte sie darüber nachgedacht, was sie Morgen für Morgen anzog. Natürlich hatte sie bemerkt, dass Carl und Otto keine Kittel trugen, sondern Hosen, so wie Paul jetzt. Aber sie hatte sich nie groß Gedanken darüber gemacht. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihre Brüder je in einem Kittel gesehen zu haben. Anders als Paul, der nur drei Tage vor ihr Geburtstag hatte und darum nur unwesentlich größer war als sie. Der nun trotzdem vor ihr stand und grinste, als ob seine dämliche Hose aus purem Gold wäre.

»Ja, nun …«, sagte sie. Etwas Besseres fiel ihr in diesem Moment nicht ein. Sie war zu beschäftigt mit dieser Ungerechtigkeit, die ihr mit jeder Sekunde empörender schien. Wie war es nur möglich, dass Paul eine Hose bekam und sie nicht? Hatte Mutter vielleicht so viel mit Emilie zu tun, dass sie vergessen hatte, sich darum zu kümmern? Das konnte sein, immerhin sagte sie oft, dass sie gar nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand. Andererseits vergaß Mutter zwar manchmal Kleinigkeiten, aber nie die wirklich wichtigen Dinge. Regte sich Henriette womöglich voreilig auf? Tat sie Mutter unrecht, die vielleicht in diesem Moment eifrig an einer Hose nähte, mit der sie sie in drei Tagen überraschen würde?

»Sie ist phänomenal praktisch!« Paul schien sich nicht an ihrer Einsilbigkeit zu stören. »Ich habe es gleich gemerkt, als ich rausgekommen bin. Ich kann jetzt rennen wie der Wind«, erläuterte er hochzufrieden und warf ihr einen herausfordernden Blick zu.

»Pfft«, machte Henriette. Paul war schon immer neidisch gewesen, weil sie viel schneller rennen konnte als er. Obwohl Neid eine Sünde war. Genau wie Stolz. Henriette wusste, dass sie sich nicht zu sehr darüber freuen durfte, dass sie schneller lief als die meisten anderen Kinder auf der Insel. Aber sie war sich trotzdem sicher, dass Pauls oder irgendeine andere dumme Hose nichts daran ändern würde.

»Die Zeiten, in denen du mir einfach davonlaufen konntest, sind jetzt wohl vorbei!« Paul schätzte die Lage eindeutig anders ein. Und er schien – genau wie Henriette eben – gar nicht auf die Idee zu kommen, dass es ja eine Frage der Zeit war, bis sie ihre eigene Hose bekam, mindestens so schick wie Pauls, und auch so ein Hemd. Seine Ignoranz verunsicherte Henriette erneut. Sie beschloss, die Diskussion an dieser Stelle abzubrechen und die Sache lieber ein für alle Mal zu klären. Es konnte auf keinen Fall schaden, Mutter an bestimmte Dinge zu erinnern – auch wenn das womöglich nicht nötig war. Darum rannte sie so schnell sie konnte durch den Sand und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass Pauls Keuchen hinter ihr immer leiser wurde. Schon war sie aus den Dünen, sauste am Tor vom alten Brodersen vorbei, rannte weiter, schnell wie der Wind, durch den Garten, durch die Tür in die Küche des Pastorats, wo Mutter gerade damit begonnen hatte, das Mittagessen vorzubereiten.

»Mutter, Mutter, Paul ist ein Junge geworden!«, rief sie und schnappte nach Luft. »Ich möchte auch ein Junge werden!«

Marienfelde, 25. August 1911

Ein Sonnenstrahl drang durch die Blätter der Linde, fiel hell auf Henriettes Gesicht und weckte sie aus ihrem Schlummer. Sie blinzelte ins Licht, das hier so klar war. Ganz anders als in Berlin, wo die Luft immer ein wenig milchig gewirkt hatte vom Rauch, der aus den unzähligen Schornsteinen der Fa­­briken und Mietskasernen emporstieg.

Zwölf Jahre war es nun her, dass sie die Stadt verlassen, sich in die ländliche Idylle von Marienfelde zurückgezogen hatten. Wo war die Zeit geblieben?

Es schien Henriette, als habe sie erst vor Kurzem ihre Praxis an Elisabeth übergeben. Nicht ohne Wehmut hatte sie ihrer Nichte, der begeisterten und begabten Zahnärztin, ihre Nachfolge übertragen. Aber es erfüllte sie dennoch mit stolzer Zufriedenheit, diese neue Generation zu sehen, die so viel mehr Möglichkeiten hatte und bereit war, sie zu nutzen. Elisabeth gehörte zu den Frauen, die ihr vor Augen führten, dass der Kampf nicht vergeblich war. Noch stand ihnen die Welt nicht gänzlich offen, sie waren lange nicht am Ziel, und doch ein gutes Stück weiter auf dem Weg, der für Henriette so steinig gewesen war. Es war alle Mühe wert gewesen, und auch darum war ihr der Abschied von der Praxis nicht leichtgefallen. Obwohl das Alter sie Schritt für Schritt eingeholt hatte, hätte sie die Arbeit, die sie so sehr liebte, gut und gerne noch ein paar Jahre fortsetzen können. Bereut hatte sie den Schritt trotzdem nie, denn Karls Gesundheitszustand hatte sich damals zunehmend verschlechtert. Aus der Ahnung, dass etwas nicht stimmte, war bald Gewissheit geworden. Deshalb war es richtig gewesen, dem hektischen Großstadtleben den Rücken zu kehren. Das Leben, das hier in der kleinen Villa seinen ruhigen und stetigen Gang ging, war für ihren geliebten Mann um vieles leichter gewesen.

Abgesehen davon hatte sie sich nicht gänzlich zur Ruhe gesetzt, sondern einen Teil ihrer Zeit und Energie weiterhin der Sache gewidmet – dem »Verein zur Erziehung schulentlassener Mädchen für die Hauswirtschaft« zum Beispiel, den sie mit ihrer guten Freundin Lina Morgenstern gegründet hatte und der hier in Marienfelde eine Lehranstalt betrieb, um die sie sich kümmerte. Außerdem war sie ja nicht aus der Welt, bis nach Berlin war es nicht weit. Trotzdem war im Lauf der Jahre die Distanz zu ihren Freundinnen und Mitstreiterinnen gewachsen. Ob es an Karls Krankheit lag, an ihrem eigenen Alter oder an der räumlichen Entfernung, vermochte sie nicht zu sagen. Seit sie Witwe war, fehlte ihr die Stadt mit ihren Salons, den Vereinen, den Vorträgen und den umstandslosen Treffen mit Gleichgesinnten. In Berlin wäre es leichter gewesen, sich von der Trauer und dem Gefühl von Einsamkeit abzulenken, das sie zuweilen beschlich. Dort wäre ihr die Welt womöglich nicht so klein geworden.

Unten ging die Haustür, feste Schritte waren im Flur zu hören, bald ein Rumoren aus der Küche, das Henriette von den trüben Gedanken ablenkte. Sie war nicht einsam, nicht allein, nicht wirklich. Sie war nur in einer weinerlichen Stimmung, die ihr eigentlich gar nicht ähnlichsah.

Es war dieser lästige und hartnäckige Katarrh, der ihr so tief in den Leib gedrungen war, dass er sogar auf ihre Seele drückte. Aber das würde bald ausgestanden sein, ohne Zweifel, sie war immer robust gewesen, körperlich wie geistig. Das verdankte sie dem Friesenblut, das durch ihre Adern floss.

»Oh Meerstern, ich dich grüße …« Gedämpft drang Lottes kräftige Altstimme ins Schlafzimmer. Henriette rollte die Augen, ehe sich ein Lächeln auf ihr Gesicht stahl. Denn so befremdlich sie Lottes Vorliebe für diese papistischen Marienlieder auch fand – sie hatte eine schöne Stimme und darum gefiel es Henriette, wenn sie von frommer Inbrunst erfüllt in der Küche sang, während sie das Frühstück richtete. So wie an jedem Tag in den letzten zwölf Jahren, in denen sie Henriette in vielerlei Hinsicht eine große Stütze gewesen war. Einmal mehr war sie froh, die hochgezogenen Augenbrauen ignoriert zu haben und die Münder, die sich damals so abfällig verzogen hatten, als sie Lotte als Haushälterin eingestellt hatte. Wie hatte sie sich geärgert über die engstirnige Missbilligung, die ausgerechnet von den Frauen kam, die doch denselben Kampf kämpften.

Aber auch unter ihnen gab es solche, die ihre bigotten und giftigen Vorurteile nicht überwinden konnten. Für sie blieb ein gefallenes Mädchen ein gefallenes Mädchen. Als ginge es um eine angeborene Unmoral, um einen Makel, der sich niemals ausmerzen ließ.

Als würde irgendein armes Mädchen freiwillig – zum Vergnügen oder auch nur aus Gleichgültigkeit – das tun, was Lotte getan hatte.

Sie war noch so jung gewesen, als Henriette ihr zum ersten Mal begegnet war. Mit gerade einmal siebzehn Jahren hatte sie vor der Tür der »Heimstätte für Mädchen« gestanden. Auf den ersten Blick hätte man sie trotzdem für eine alte Frau halten können. Ihre Wangen waren eingefallen, die Züge verhärmt. Völlig ausgemergelt war sie, genau wie der kleine, weinende Wurm, den sie an ihre schmale Brust gepresst hielt.

Ein Kind war sie noch gewesen, als sie drei Jahre zuvor nach Berlin gekommen war, ganz allein und weit weg von ihrer Heimat in Thüringen – voller Hoffnung und glücklich, eine Anstellung als Hausmädchen gefunden zu haben. Gerne hatte sie sich mit ihrem Hungerlohn zufriedengegeben und mit dem winzigen Schlafboden über dem Herd als einzigem Raum, den man ihr zubilligte. Sie hatte sich klaglos von der Hausherrin gängeln, beschimpfen und sogar schlagen lassen. Und war umso dankbarer gewesen, dass wenigstens der Hausherr sie freundlich behandelte. Allzu freundlich, sobald seine Gattin außer Sicht- und Hörweite war. Er hatte leichtes Spiel gehabt mit dem naiven Mädchen, das nie in seinem Leben echte Liebe erfahren hatte. Er hatte ihr keine Gewalt angetan. Das war nicht nötig, wäre aber womöglich gnädiger gewesen, denn dann hätte Lotte wenigstens gewusst, wie er es mit ihr meinte. So war das böse Erwachen erst gekommen, als sie mit rundem Bauch vor der Hausherrin stand, die nicht nur vor Eifersucht schäumte, sondern sie auch umgehend auf die Straße setzte – mit einem Eintrag im Gesindebuch, der garantierte, dass sie sich keinerlei Hoffnung auf eine andere Stellung zu machen brauchte. Und das mit einem Kind, das sie allein zur Welt brachte. Das sie trotz allem liebte und das sie – wie auch sich selbst – ernähren musste. Nein, Lotte hatte nicht allzu viele Möglichkeiten gehabt.

Henriette war es ein Rätsel, dass irgendeine Frau jemanden wie Lotte dafür verdammen konnte, das Einzige zu verkaufen, was sie noch zur Verfügung hatte. Es war verwerflich, kein Zweifel. Aber trugen letztlich nicht die Männer eine viel größere Schuld, die sich die Not dieser Mädchen zunutze machten? Die Väter, die Brüder, die Ehemänner und Söhne eben jener Frauen, die sich so leicht und kaltherzig über die armen Mädchen erhoben?

»Rose ohne Dornen! Du von Gott Erkor’ne …« Der Gesang wurde vom Klappern des Geschirrs begleitet. Henriette erhob sich. Sie streckte die müden Glieder und schüttelte den Kopf über sich selbst. Es hatte keinen Sinn, sich über Dinge aufzuregen, die nicht nur lange zurücklagen, sondern nun einmal waren, wie sie waren. Natürlich gab es in den Reihen der Frauenbewegung diejenigen, die nicht über den Tellerrand der eigenen Existenz blicken konnten. Aber es gab viele andere, die größer dachten. Helene Lange zum Beispiel, die vortreffliche Gertrud Guillaume-Schack und natürlich ihre liebe Lina – Frauen, die nicht davor zurückschreckten anzuecken, die unermüdlich für die gute und richtige Sache einstanden und die Henriette über die Jahre zu Schwestern geworden waren. Allen voran natürlich Franziska, Karls Schwester und so viel mehr als eine Schwägerin. Lange Jahre hatten sie Haushalt und Leben geteilt. Franziska, die, wie ihr nun einfiel, ihren Besuch für den Nachmittag angekündigt hatte. Ein Grund mehr, sich endlich zusammenzunehmen.

»Lilie ohnegleichen! Dir die Engel weichen …«, sang Lotte, die es geschafft hatte zu überleben, dem Elend zu entkommen. Die eine wundervolle Tochter ganz alleine aufzog und sich nicht darum scherte, was hinter ihrem Rücken getuschelt wurde.

Henriette trat zum Waschtisch, griff nach dem Krug. Sie wusch sich, putzte ihre Zähne, kleidete sich an und ging nach unten in die Küche.

»Oh, guten Morgen, habe ich Sie geweckt mit meinem Gesinge?« Lotte sah sie schuldbewusst an. »Das Frühstück ist noch gar nicht fertig …«

»Ich war schon wach, keine Sorge«, beruhigte Henriette sie. »Ich setze mich einfach ein bisschen zu dir, lass dir ruhig Zeit. Ich bin nicht sonderlich hungrig.«

Der Blick, den Lotte ihr zuwarf, glich dem, mit dem Franziska sie bei ihrem letzten Besuch bedacht hatte, nachdem sie Henriette hatte husten hören. Danach hatte sie keinerlei Zweifel daran gelassen, dass sie ihr auf keinen Fall gestatten würde, die Reise anzutreten, bevor sie nicht vollständig genesen war und sich gründlich erholt hatte. Von dem, was doch ganz sicher nicht mehr war als ein alberner, wenn auch ärgerlich hartnäckiger Schnupfen – wie Henriette versichert hatte, wohlwissend, dass es sinnlos war. So freundlich und sanft Franziska als Mensch und Freundin war – so unerbittlich und streng war sie als Ärztin, obschon sie sich bereits vor Jahren zur Ruhe gesetzt hatte.

»Sie sehen müde aus«, bemerkte Lotte. »Haben Sie nicht gut geschlafen?«

»Doch, doch, alles bestens«, log Henriette und unterdrückte den neuerlichen Hustenreiz.

»Kaffee habe ich schon fertig, nun setzen Sie sich, ich bringe Ihnen eine Tasse«, erklärte Lotte bestimmt. »Und dann mache ich Ihnen ein paar Eier, die habe ich nach der Frühmesse bei der Meier’schen gekauft, ganz frisch sind die …«

Henriette ließ sich am großen Küchentisch nieder. Seit Karls Tod benutzte sie das Esszimmer nur, wenn sie Besuch bekam. Es deprimierte sie, ganz allein an dem großen, glänzenden Tisch aus Kirschholz zu sitzen. Hier in der Küche fühlte sie sich wohler, nah am leise bullernden Herd, von dem Lotte nun die Kaffeekanne zog und eine Tasse einschenkte. Wie proper sie war mit ihren rosigen, runden Wangen, den üppigen Hüften. Sie schien vor Energie und Kraft zu strotzen. Nichts erinnerte mehr an das ausgemergelte Geschöpf von damals. Lotte hatte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele geheilt. Als fromme Katholikin besuchte sie täglich die Frühmesse, bevor sie ihren Dienst antrat. Dank der Beichte hatte sie sich von Schuld und Sünde befreit. Obwohl Henriette, nüchterne Protestantin und Pfarrerstochter aus dem kühlen Norden, derlei etwas suspekt war, neidete sie Lotte manchmal den simplen und umfassenden Trost und den Schutz, den sie in ihrem Glauben fand.

»Frau Hirschfeld-Tiburtius?«

Henriette schrak zusammen. Sie blickte in Lottes fragendes Gesicht. »Entschuldigung … Was hast du gesagt? Ich war in Gedanken.«

»Ob Sie die Eier gebraten haben möchten, habe ich gefragt.«

»Ja, gerne, Lotte.« Eine glatte Lüge war das. Allein bei dem Gedanken an gebratene Eier schnürte sich Henriettes Magen zusammen. Sie hatte keinerlei Appetit. Aber Lotte würde ihr so oder so ein reichhaltiges Frühstück servieren. Es hatte keinen Sinn, darüber zu diskutieren. Sie würde einfach versuchen, so viel zu essen, wie sie eben herunterbekam.

Sie hustete.

»Das klingt aber überhaupt nicht gut«, bemerkte Lotte prompt. »Wollen Sie sich nicht noch ein bisschen hinlegen? Ich kann Ihnen das Frühstück auch ans Bett bringen.«

»Schnickschnack.« Henriette winkte ab. »Es geht mir gut.«

»Wie Sie meinen.« Lotte klang nicht überzeugt. Sie nahm die gusseiserne Pfanne vom Haken, stellte sie auf den Herd und warf ein Stück Butter hinein. »Der Kominski hat es ja auch so auf der Brust.« Sie griff nach einem Ei und warf Henriette einen kurzen Blick über die Schulter zu. »Liegt wohl daran, dass seine Olle ihn neulich Nacht rausgeworfen hat. Er musste im Stall schlafen, da hat er sich ordentlich verkühlt.«

»Ach ja?« Henriette unterdrückte ein dankbares Grinsen. Lotte liebte es, den neusten Klatsch aus dem Ort zu erzählen. Und Henriette liebte es, ihn zu hören, auch wenn sie das nie zugegeben hätte. »Was hat er denn angestellt?«

»Er hat sich Geld geliehen von seinem Schwager, weil er eine neue Kuh kaufen wollte«, erklärte Lotte gut gelaunt. »Obwohl seine Frau ihm das verboten hat. Weil die ja genau weiß, dass ihr Bruder ein Halsabschneider vor dem Herrn ist, der sich nicht schämt, Wucherzinsen von seiner eigenen Familie zu nehmen.« Sie schüttelte genüsslich missbilligend den Kopf. »Aber böse Zungen behaupten, dass er das gute Geld gar nicht ganz für die Kuh ausgegeben hat, sondern auch für einen schicken Schal, den er dummerweise nicht seiner Frau geschenkt hat, sondern der Tochter vom Ringel, mit der er, wie man hört, allzu gern herumpoussiert. Als verheirateter Mann, wohlgemerkt. Aber das Mädel lässt sich das offenbar trotzdem gern gefallen, obwohl sie selbst seit Monaten verlobt ist mit dem Jüngsten vom Werstenborg. Sie ist kein Kind von Traurigkeit, nach allem, was man hört, von ihrer Schwester zum Beispiel, der Elisabeth, die mit meiner Tilli in die Klasse geht.«

Henriette drohte den Faden zu verlieren. Zuweilen waren ihr die verwandtschaftlichen und sozialen Verquickungen der alteingesessenen Marienfelder ein wenig zu kompliziert. »Wie geht es denn Tilli?«, erkundigte sie sich darum rasch nach Lottes Tochter.

»Gut genug.« Lotte klang auf einmal deutlich kürzer angebunden. »Sie kommt nachher und hilft mir bei der Wäsche.« Henriette holte Luft, wollte protestieren, doch Lotte ließ sie nicht zu Wort kommen. »Nein, keine Sorge, das müssen Sie nicht extra bezahlen. Ich käme mit der Wäsche auch gut allein parat. Aber ich muss sie ein bisschen unter meine Fittiche nehmen, die Tilli. Sie hat zu viel Zeit, fürchte ich. Sitzt ständig da und steckt ihre Nase in Bücher, lässt ihre arme Mutter in dem Glauben, dass sie in der Heiligen Schrift liest oder zumindest in einem der Bücher, die der Pfarrer den jungen Leuten empfiehlt. Aber was soll ich sagen – wie ich genauer hingeschaut habe, war es dann tatsächlich wieder so ein furchtbarer Roman. Eine Geschichte von vornehmen Fräuleins und Liebe, von der sie nur Rosinen in den Kopf bekommt!« Lotte stemmte die Arme in die Hüften, ihre runden Schultern bebten vor Empörung. »Können Sie das glauben?«

»Nein, das ist wirklich kaum zu fassen!« Henriette bemühte sich um einen leidlich entrüsteten Ton, obwohl sie das Lachen nur mit Mühe unterdrückte. Manche Dinge änderten sich offenbar nie.

Hörnerkirchen, 1844

»Sie wird es schon sehen!« Friederike warf wütend ihren Beutel auf den Boden. »Maman wird schon sehen, was sie davon hat! Ich werde nämlich sterben ohne Romane, hier in dieser Einöde, einfach sterben werde ich!« In einer theatralischen Geste legte sie den Handrücken an die Stirn, um ihr drohendes Hinscheiden zu illustrieren, und ließ sich mit einem zornigen Schnaufen ins warme Gras am Ufer des Weihers sinken.

Henriette grinste. Womöglich war die Sorge, die Friederikes Maman mit ihrer eigenen Mutter teilte, nicht so abwegig – tatsächlich schien sich Friederike in letzter Zeit häufiger mit den zartbesaiteten Heldinnen der Romane zu verwechseln und wirkte etwas überspannt. Ein Gedanke, für den sie sich umgehend schämte, denn so etwas dachte man nicht über seine beste Freundin. Es lag an ihren Zähnen. Die Schmerzen machten Henriette unleidlich.

Sie setzte sich neben Friederike, blickte hinaus auf das Wasser, auf dem ein paar fette Enten gelangweilt herumpaddelten, und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wie wunderbar warm die Sonne vom blauen Himmel strahlte, während ein leichter Wind durch die hohen Weiden ging.

»Es war aber auch zu dumm …«, murmelte Friederike und zupfte missmutig an den Grashalmen. »Ich war so müde, darum bin ich eingenickt über dem Buch. Sonst hätte ich sie kommen hören und es rechtzeitig versteckt. Aber das passiert mir nicht noch mal. Ich finde schon ein Eckchen, irgendwo im Haus, wo sie mich nie und nimmer findet!«

»Gute Idee!« Henriette nickte zustimmend. Ein machbarer Plan, dachte sie, nicht ohne Neid. Friederikes Vater bewirtschaftete das größte Gut in der Umgebung, das Haus war riesig, und es gab jede Menge Zimmer, in die sich nie jemand verirrte. Anders als im Pfarrhaus, in dem Henriette mit ihrer Familie lebte. Dort war es schwierig, ein Plätzchen zu finden, an dem man länger als fünf Minuten ungestört war. Wenn Henriette allein sein wollte, um heimlich zu lesen oder einfach vor sich hin zu denken, musste sie raus. Im Sommer war das kein Problem, aber ihr graute schon jetzt vor dem Winter, der einem in der Propstei Rantzau, inmitten von Schweinemast und Kartoffeläckern, unglaublich lang werden konnte.

Henriette seufzte. Ihre Zunge tastete nach dem Backenzahn, dem blöden, schlimmen Backenzahn, der sich schon beim Aufwachen bemerkbar gemacht hatte. Noch war das dumpfe Pochen erträglich, aber sie wusste aus leidvoller Erfahrung, dass sich das schnell ändern konnte. Immer wieder piesackten sie die Zähne. Schlimmer allerdings piesackte sie der schreckliche Barbier und Zahnreißer, zu dem Mutter sie schleppte, wenn es allzu arg wurde und alle kühlen Umschläge nicht mehr halfen. Ein roher Kerl war das, der nach Schnaps stank und ihr grob im Mund herumstocherte, um Mutter für teures Geld ekelhafte Tinkturen zu verkaufen. Mit denen musste Henriette den Mund spülen, um den elenden Zahnwürmern den Garaus zu machen. Die Vorstellung, dort hinzumüssen, war weit schlimmer als das Ziepen und Zwacken in ihrem Mund – darum würde sie die Sache erst einmal für sich behalten. Womöglich würde es von allein besser. Mutter hatte im Moment genug andere Sorgen.

»Geht es dir nicht gut?« Friederike sah sie prüfend an. »Der olle Zahn wieder? Tut es sehr weh?«

»Nicht so schlimm, keine Sorge.« Henriette lächelte tapfer.

»Nun, vielleicht hilft es, wenn du dich ein bisschen ablenken kannst.« Friederike blinzelte verschwörerisch, griff in ihren Beutel, zog ein Buch heraus und hielt es triumphierend in die Höhe.

»Friederike! Hast du nicht gerade erzählt, dass deine Maman dir strengstens verboten hat, dich an Romanen zu vergreifen? Und dass du dein blaues Wunder erleben wirst, wenn sie dich noch einmal beim Lesen erwischt?«

»Pfft!« Friederike winkte mit großspuriger Geste ab. »Erstens erwischt sie mich nicht, denn sie ist ja nicht hier. Und außerdem lese ich gar nicht, ich borge lediglich meiner Freundin ein Buch. Eines, das so spannend war, dass ich es natürlich zu Ende lesen musste. Wenn sie sich wirklich einbildet, ich wüsste nicht, wo sie den Schlüssel für den Schrank versteckt, irrt sie sich gewaltig. Abgesehen davon merkt sie nie, wenn ich mir ein Buch zurückhole. Und selbst wenn – vielleicht wäre es ganz interessant, wirklich mal dieses ›blaue Wunder‹ zu erleben, das sie mir ständig androht. Ausgerechnet Maman, die doch selbst immerzu heimlich ihre Nase in Romane steckt!«

»Ja, aber sie ist deine Mutter. Sie ist erwachsen, und du bist ihr Kind …« Henriettes Einwand kam ein bisschen mechanisch, denn Friederike hatte recht. Jeder wusste, dass ihre Mutter dem Laster des Romanlesens allzu gern frönte. In der Gemeinde munkelte man über die großen Pakete, die regelmäßig von einem Buchhändler aus Hamburg geliefert wurden und im Boudoir verschwanden. Darum fiel es in der Regel nicht auf, wenn Friederike hier und da einen Roman abzweigte – und Henriette profitierte von diesem Revolutionsgeist.

»Ach, ist ja auch egal«, befand Friederike und reichte Henriette das Buch. »Tagebuch eines armen Fräuleins«, erklärte sie. »Von einer gewissen Marie Nathusius. Es handelt von einem Mädchen, das Gouvernante werden muss, um seine Familie finanziell zu unterhalten. Eine sehr bewegende Geschichte!«

»Danke!« Henriette griff nach dem Buch. »Was täte ich nur ohne dich, meine liebe Friederike?« Abermals tastete ihre Zunge vorsichtig in Richtung Zahn, der angesichts der bevorstehenden Lesefreude tatsächlich etwas weniger zu schmerzen schien.

Friederike ging nicht weiter auf Henriette ein, sondern erläuterte stattdessen: »Das arme Ding hat nämlich niemanden gefunden, der es heiratet.« Ihr herzförmiges Gesicht verzog sich mitfühlend und sie seufzte. Henriette tat es ihr gleich, allerdings aus anderen Gründen. Dabei war es keine Überraschung, dass Friederike wieder einmal bei ihrem Lieblingsthema gelandet war.

»Tragisch, nicht wahr?« Friederike warf Henriette einen Blick zu, schien allerdings keine Antwort zu erwarten, denn rasch fuhr sie fort: »Stell dir nur vor, wie es sein muss, wenn man in so eine Lage gerät! Ich meine, bei mir ist es unwahrscheinlich, denn Papa wird sich schon kümmern, er braucht immerhin einen Erben für den Hof und Geld ist reichlich da. Aber man weiß ja, wie leicht einem das Schicksal dazwischenkommen kann. Erinnerst du dich an die schlimme Geschichte von diesem armen Mädchen, das die Pocken bekommen hat und danach ganz entstellt war? Das arme Ding! Dann hat auch noch ihr Vater Bankrott gemacht und da war natürlich an eine gute Partie nicht mehr zu denken. Schrecklich, so schrecklich!«

»Hm«, brummte Henriette pflichtschuldig. Sie ließ sich zurücksinken, bis sie im Gras zum Liegen kam, und schloss kurz die Augen. Sie wusste, was nun kam, darum konnte sie sich erlauben, ihre Gedanken kurz wandern zu lassen – weit weg, bis nach Sylt, zu Strand und Dünen, um einmal mehr den Hauch von Heimweh zu spüren, der selbst nach vier Jahren nicht ganz verschwunden war.

Sie vermisste den salzigen Wind, das rauschende Meer und das Waltor – und Paul, mit dem das Leben viel einfacher und aufregender gewesen war als mit Friederike.

Wieder so ein ungerechter Gedanke! Henriette wusste genau, dass sich ihr Leben ohnehin verändert hätte. Sie war sechs gewesen, als man Vater aufs Festland versetzt hatte – in dem Alter, in dem der Ernst des Lebens begann. Auch auf der Insel hätte sie sich nützlich machen müssen und wäre immer häufiger im Haus eingesperrt gewesen, um Mutter beim Kochen, Backen und Einkochen zu helfen, beim Waschen und Scheuern, damit sie all die Dinge lernte, die ein Mädchen eben lernen musste. Auch dort hätte sie ihre Zeit wohl mit elender Weißstickerei vergeuden müssen, statt durch die Dünen zu streifen und davon zu träumen, Walfänger zu werden. Oder wenigstens ein Junge.

Ihr Vater gab diese Anekdote noch immer gern in Gesellschaft zum Besten. Die Geschichte von der dummen, kleinen Henni, die tatsächlich geglaubt hatte, dass sie ein Junge werden konnte. Wann immer er sie erzählte, lachten alle herzlich – auch Henriette, obwohl es ihr ein bisschen peinlich war. Ein Teil von ihr wollte aus ganz anderen Gründen nicht da­­rüber lachen – der Teil, der sich bis heute nicht damit abfinden mochte, dass sie als Mädchen auf diese Welt gekommen war. Dass sie darum kein Walfänger werden konnte, weil es für Frauen nur einen einzigen Lebensberuf gab, während Männer die freie Wahl zwischen unzähligen aufregenden Möglichkeiten hatten. Dafür konnte Friederike nichts – allerdings verstand Henriette beim besten Willen nicht, dass sie gar nicht auf die Idee zu kommen schien, sich über diese hanebüchene Ungerechtigkeit aufzuregen.

»Henni? Henriette? Hörst du mir überhaupt zu?«

Henriette setzte sich eilig auf, rieb sich die Augen. »Natürlich. Entschuldige. Ich war nur … ich war in Gedanken.«

»Du bist wohl eher eingenickt«, bemerkte Friederike ein bisschen spitz, lächelte jedoch versöhnlich. Sie war wirklich eine gute Freundin, dachte Henriette, und es war nicht gerecht, ihr einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie es schaffte, sich glücklich und klaglos in das zu fügen, was unvermeidlich war. Friederike konnte es kaum erwarten zu heiraten – sie wusste sogar schon genau, wen.

»Ich bin sicher, dass Papa einverstanden ist, wenn Carl sich erklärt!« Ihre Wangen hatten sich gerötet und sie nickte begeistert. »Natürlich hat euer Vater nicht viel Geld und auch kein Land, aber Papa schätzt ihn hoch. Ganz bestimmt wäre er mit dieser Verbindung einverstanden. Er schlägt mir ja ungern einen Wunsch ab, mein liebster Papa. Stell dir nur vor, dann wären wir Schwägerinnen – fast wie Schwestern – und würden so nah beieinander wohnen, dass wir uns auch als Erwachsene jeden Tag besuchen könnten. Wäre das nicht wundervoll?«

»Ja, natürlich, das wäre es.« Henriette zwang sich zu einem Lächeln. Denn das war das nächste Problem, ein Problem, das von Tag zu Tag akuter zu werden schien und dazu führte, dass ihr unbehaglich zumute wurde. Sie wusste schließlich, dass ihr Bruder keinesfalls die Absicht hatte, hier in Hörnerkirchen auf einem Schweinehof zu versauern, mochte er noch so groß und prächtig sein. Carl war mit seinen vierzehn Jahren entschlossen, Kapitän zu werden. Er wollte über die Weltmeere segeln bis nach Amerika und Afrika. Und außerdem fand er, dass Friederike eine alberne Pute war. Das hatte er neulich zu Otto gesagt, und Henriette hatte es zufällig gehört. Seitdem zermarterte sie sich regelmäßig den Kopf. War es ihre Freundespflicht, Friederike zu eröffnen, dass es wohl klüger wäre, sich rechtzeitig nach einem anderen Bräutigam umzusehen? Oder hielt man sich grundsätzlich besser aus diesen allzu komplizierten Heiratshändeln heraus?

»Henni, Henni, Henni …« Eine schrille, etwas atemlose Stimme erlöste sie aus dem moralischen Dilemma. Emilie kam über die Wiese gerannt. Schon war sie da, umkreiste die beiden älteren Mädchen wie ein kleiner Derwisch und juchzte dabei.

Henriette stopfte eilig das Buch in ihren Beutel.

»Nun bleib doch endlich stehen, Emilie!«, schimpfte Friederike derweil. »Mir wird ganz schwindelig von deiner Hampelei!« Anders als Henriette schien ihr die Störung überhaupt nicht in den Kram zu passen.

Emilie hielt tatsächlich an und schnappte nach Luft. »Ich bin gelaufen wie der Wind, habt ihr das gesehen?«

»Ja, in der Tat!« Friederike machte keine Anstalten, ihren Ärger zu verstecken. »Und nun würde ich zu gerne sehen, ob du genauso schnell wieder davonlaufen kannst. Nun mach schon, husch, verschwinde!« Sie wedelte gereizt mit den Händen, als wolle sie ein lästiges Insekt verscheuchen.

»Das geht leider nicht«, erklärte Emilie unbeeindruckt, war sie doch von drei älteren Geschwistern einiges an Grobheit gewohnt. »Erst muss ich Henni was von Otto sagen.«

»Ach ja?« Henriette sah ihre kleine Schwester erwartungsvoll an.

»Sonor …«, hob die nun in wichtigem Ton an, zögerte dann allerdings. »Nein, warte …« Sie biss sich auf die Unterlippe, schien angestrengt nachzudenken. »Soror, das war es, soror soll ich sagen, soror hora venit!«

Henriette konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dabei war es ganz sicher keine gute Idee von Otto, ausgerechnet die vorlaute und naseweise Emilie mit dem Überbringen derartig geheimer Botschaften zu beauftragen. Aber Otto schätzte eine gute Inszenierung, und Emilie strahlte so stolz, dass Henriette ganz warm ums Herz wurde.

»Was ist denn das für ein Unfug?« Friederike schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Es tut mir leid, aber das ist … es ist wichtig, ich muss wohl gehen«, murmelte Henriette schuldbewusst.

»Wie bitte? Ich bin doch gerade erst gekommen! Und wir wollten noch einen Spaziergang machen!«

»Ich weiß.« Henriette wich dem vorwurfsvollen Blick ihrer Freundin aus. »Aber leider muss ich trotzdem … nach Hause, ganz dringend.«

Friederike krauste die Stirn, dann erhellte sich ihr Gesicht. »Dann komme ich einfach mit!«, erklärte sie. Hoffnungsvoll. Natürlich – wenn Otto Henriette einbestellte, war es durchaus möglich, dass Carl nicht weit war.

»Das geht leider nicht, es tut mir ehrlich leid«, stammelte Henriette und verfluchte kurz Otto, der sich hartnäckig weigerte, feste Verabredungen mit ihr zu treffen. Lieber gab er Bescheid, wenn er Zeit hatte, mit seinen Aufgaben fertig war, wenn er es einrichten konnte, wie er sagte. Wenn es ihm gerade passte, wenn er nichts Besseres zu tun hatte – das meinte er natürlich, und es gefiel Henriette nicht sonderlich. Trotzdem hatte sie sich darauf eingelassen. Sie hatte keine Wahl, immerhin tat er ihr einen Gefallen – also bestimmte er die Regeln.

»Na gut, na schön!« Friederike klang nicht, als sei irgendetwas gut oder schön. Sie stand auf, wischte sich angelegentlich das Gras vom Rock. Sie war beleidigt. Henriette konnte verstehen, dass sie keine Lust hatte, nach Hause zu gehen, wo ihre verärgerte Mutter wartete, die womöglich das fehlende Buch bemerkt hatte.

»Bitte, Friederike, nun sei nicht böse …« Henriette erhob sich ebenfalls.

»Ich bin nicht böse«, behauptete ihre Freundin. »Allerdings verstehe ich beim besten Willen nicht, was dieser Unsinn bedeuten soll – soror hora venit!«

»Aber ich!«, mischte sich Emilie eifrig ein.

»Ach ja?« Friederike sah sie überrascht an – genau wie Henriette.

»Es bedeutet, dass ich am Sonntag dreimal Kompott zum Nachtisch bekomme!« Emilie grinste zufrieden. »Meinen eigenen und den von Otto und den von Henni!«

»Und warum das? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, empörte sich Friederike.

»Damit ich Vater und Mutter nicht verrate, dass Otto und Henni heimlich im Schuppen Latein üben«, erklärte Emilie strahlend.

»Oh, Emilie, was bist du für ein hinterhältiges, kleines Biest!« Henriette, die ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah, versuchte, so böse wie möglich zu klingen. Das war allerdings nicht leicht, denn Emilies triumphierende Pose war eher niedlich als entrüstend. Und Henriettes Kompott hätte sie vermutlich ohnehin bekommen. Allein der Gedanke, das süße Zeug in der Nähe des schmerzenden Zahns zu wissen, war unangenehm. Es hätte der Erpressung nicht bedurft, weder bei ihr noch bei Otto, und auch nicht bei Carl. Sie alle ließen sich in letzter Zeit leicht von Emilie um den Finger wickeln. Es fühlte sich richtig an, sie ein bisschen zu verwöhnen, denn seit der Geburt ihrer jüngsten Schwester Juliane, die von Anfang an schwächlich und kränklich gewesen war, hatte Mutter alle Hände voll zu tun. Bei Sorgenkind und Sorge kam Emilie ein bisschen zu kurz, obwohl sie sich tapfer bemühte, die Eifersucht auf die Kleine zu verstecken.

»Latein?«, riss sie Friederikes fassungslose Stimme aus dem traurigen Gedanken. »Was soll denn das? Warum um alles in der Welt lernst du heimlich Latein?«

»Weil Vater es eben nicht erlauben will«, erklärte Henriette. »Dabei ist es doch nicht gerecht, dass Carl und Otto all die interessanten Dinge lernen dürfen, während ich mit ein bisschen Lesen, Schreiben und Rechnen abgespeist werde. Mehr bekomme ich ja nicht!«

»Natürlich nicht!« Friederike schüttelte verständnislos den Kopf. »Du willst doch einen Ehemann finden, oder? Wer will schon eine, die Latein kann?«

Henriette schnaubte unzufrieden. Genau das war es, was Vater sagte. Dabei lobte er oft ihren scharfen Verstand. Wenn sie abends zusammensaßen, wenn er mit Carl und Otto über die Dinge redete, die angeblich nichts für Frauen waren, schien es ihm trotzdem zu gefallen, wenn sie eine Frage hatte oder etwas dazu bemerkte. Obwohl er sie manchmal so besorgt anschaute, dass sie lieber den Mund hielt.

Henriette seufzte. Sie wusste, dass Vater es gut meinte, genau wie Mutter mit ihren ewigen Handarbeiten und dem Haushaltskram. Aber sie konnte es eben nicht ändern, dass sie keinen Spaß daran hatte.

Otto hingegen hatte viel Spaß daran, den Lehrer zu spielen. Deshalb gab er ihr heimlich Lateinunterricht, was wirklich niemanden stören konnte – weder jetzt noch in einer Zukunft, die weit entfernt schien. Sie würde gewiss auch so einen Mann finden, denn man würde es ihr ja kaum ansehen können, dass sie Latein gelernt hatte. Niemand würde je etwas davon bemerken, versuchte sie zu denken, obwohl das nicht so einfach war in diesem Moment, in dem sie sich auf einmal zwei unverhofften Mitwissern gegenübersah.

»Verrat mich nicht, Friederike, bitte verrate mich nicht!«

»Natürlich verrate ich dich nicht. Ich bin deine Freundin! Und du kannst tun, was du willst. Wenn du deine Zeit lieber mit Latein verschwenden möchtest, als sie mit mir zu verbringen, dann steht dir das natürlich frei!« Sie griff beleidigt nach ihrem Beutel.

»Nun schmoll nicht, Friederike.«

Emilie zupfte ihr am Rock. »Ich habe Zeit. Du kannst mit mir einen Spaziergang machen!« Sie legte den kleinen Kopf schräg und lächelte erwartungsvoll. Friederike holte aufgebracht Luft, aber bevor sie ihr eine Abfuhr erteilen konnte, fuhr Emilie fort: »Wir könnten zusammen zum Garten von Gretchen Sieversen spazieren, um Carl guten Tag zu sagen – der pflückt für sie nämlich gerade die Birnen.«

Friederike riss die Augen auf. »Tatsächlich?«

»Ja, tatsächlich! Also, was ist? Kommst du mit?« Emilie streckte ihre kleine Hand aus, nach der Friederike nun viel zu schnell griff.

»Na gut.« Sie sah Henriette an, bemühte sich dabei angestrengt um eine missmutige Miene. »Dann kümmere ich mich eben ein bisschen um deine kleine Schwester, während du Besseres zu tun hast.«

»Danke, Friederike!« Henriette verbarg ihr Grinsen in einer kurzen Umarmung. Sie sah dem ungleichen Paar einen Moment nach und schüttelte den Kopf über Emilie, die fröhlich an Friederikes Hand hüpfte und dabei auf sie einplapperte. Ihre kleine Schwester, die womöglich zu plietsch für ihr Alter war, hatte es eindeutig faustdick hinter den Ohren.

Otto wartete in dem kleinen Schuppen, der zum Pfarrhaus gehörte und direkt an den Hühnerstall grenzte. Hier lagerten Werkzeuge und Brennholz, hierher verirrte sich im Sommer so gut wie nie jemand – sah man von den riesigen Spinnen ab, von denen es hier nur so wimmelte und vor denen Henriette graute, auch wenn sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen.

»Ave soror!«, begrüßte Otto sie in oberlehrerhaftem Ton, den er im Schuppen gerne anschlug. Er erhob seinen schlaksigen Körper von dem Holzklotz, auf dem er gehockt hatte. »Das hat ja gedauert. Hat die kleine Kröte herumgetrödelt, statt gleich zum Weiher zu laufen?«

»Nein, nein. Sie hat sich sogar den Satz gemerkt.« Henriette grinste. »Und sie war sehr stolz. Womöglich lernt sie auch gleich Latein, ganz aus Versehen. Außerdem hat sie mir geholfen, Friederike loszuwerden.«

»Ah, die anser stulta.« Otto forderte Henriette mit einer Geste auf, sich auf den Holzklotz zu setzen, während er weiter dozierte: »Anser – die Gans, Maskulinum und Femininum – stultus – dumm, in diesem Fall stulta, weil Femininum, Friederike, ein Mädchen – die dumme Gans.«

»Sie ist keine dumme Gans«, widersprach Henriette. »Sie ist meine Freundin. Sei nicht gemein!«

»›Varium et mutabile semper femina‹«, erwiderte er ungerührt. »Vergil – ›Das Weib ist stets ein wankendes und veränderliches Wesen.‹ Aber sei’s drum. Fangen wir doch am besten noch einmal mit der Deklination an – mal schauen, was du behalten hast. Silva?«

»Silva … der Wald!« Henriette setzte sich etwas aufrechter. »A-Deklination. Silva, silvae, silvae, silvam, silva.«

»Sehr gut«, lobte Otto. »Und Plural?«

Henriette konzentrierte sich. »Silvae, silvarum, silvis, silvas, silvis.«

Während sie sprach, ging Otto im Rhythmus ihrer Worte vor ihr auf und ab und nickte dabei gewichtig mit dem blonden Knabenhaupt.

»Weißt du noch, was ›pulcher‹ heißt?«, fragte er, als sie geendet hatte.

»Schön?«

»Genau. Und wie würde man ›schöner Wald‹ sagen?«

»Pulchrus silva?«

»Nein, du Dummerchen. Der Wald ist auf Latein doch ein Mädchen. Femininum. Wie muss es also heißen?«

»Pulchra silva?«

»Richtig!« Otto nickte zufrieden. »Dann versuchen wir jetzt, ein paar einfache Sätze zu übersetzen. Los, rutsch mal.« Er quetschte sich neben sie auf den Hauklotz, legte das Buch auf seine Beine und schlug es auf. »Das ist vermutlich noch ein bisschen zu schwer, aber wir können es zusammen versuchen …« Folgsam starrte Henriette auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte. Sie versuchte, die Vokabeln zu entdecken, die sie bereits gelernt hatte, und sich die zu merken, die Otto ihr erklärte. Schnell waren sie so vertieft, dass sie zusammenzuckten, als plötzlich eine Stimme ertönte.

»Was um alles in der Welt macht ihr hier drinnen?« Vater stand in der Tür, sein Schatten fiel wie ein böses Omen in den Raum.

Otto schlug hastig das Lateinbuch zu und schob es unter seine Beine. »Nichts, wir … wir haben uns nur ein bisschen … unterhalten …«, stammelte er.

»Otto Heinrich! Mach es nicht schlimmer mit frechen Lügen!«, warnte der Vater.

Henriette zog den Kopf zwischen die Schultern und versuchte, sich auf das vorzubereiten, was nun kommen musste. Ihr Vater war ein gütiger Mensch. Er ließ seinen Kindern viele Freiheiten. Allerdings duldete er keinen Ungehorsam. Er schlug seine Töchter nie und auch die Jungen bezogen selten Prügel, doch die Standpauken, die er hielt, und die Strafen, mit denen er Unverschämtheiten belegte, waren fast genauso schmerzlich.

»Kommt ins Haus«, sagte er. Er klang komisch, da war keine Wut in seiner Stimme, sondern etwas Fremdes, Dunkles und Trauriges. Etwas, das in Henriette fast die Sehnsucht nach einem fürchterlichen Donnerwetter weckte. »Mit diesem Ungehorsam werde ich mich später befassen«, fuhr er fort. »Aber du, Henriette, solltest dich schämen, deiner armen und guten Mutter noch mehr Kummer zu machen, als sie ohnehin ertragen muss.« Er hielt inne. Gab einen erstickten Laut von sich.

»Vater!« Henriette sprang auf. Etwas stimmte nicht, etwas stimmte hier ganz und gar nicht, denn das hatte geklungen wie ein Schluchzer. Als würde er weinen, was natürlich unmöglich war, denn er war ihr Vater. »Vater, was … was ist denn los?«

»Kommt jetzt!« Seine Stimme klang heiser. »Eure Mutter braucht euch, sie braucht uns jetzt alle. Und ihr müsst euch verabschieden von eurer Schwester, von unserer geliebten kleinen Juliane, denn gerade hat es dem Herrn gefallen, sie zu sich zu rufen.«

Als Henriette kurz darauf vor dem winzigen toten Körper stand und ihre Mutter weinen hörte – so haltlos, so verzweifelt –, schwor sie sich, nie wieder auch nur an Latein zu denken. Von jetzt an würde sie eine gute Tochter sein, nie mehr ungehorsam, nie mehr würde sie etwas wollen, das sie nicht bekommen konnte. Alles, alles, alles wollte sie tun, damit dieser schreckliche Schmerz aus Mutters Herz verschwand.

Hörnerkirchen, 1849

»Das kommt überhaupt nicht infrage!« Mutter ließ ihr Strickzeug in den Schoß sinken. Ihr Ton war ungewohnt scharf, genau wie der Blick, den sie Henriette zuwarf. Sie meinte es ernst, kein Zweifel.

»Aber warum nicht?«, begehrte Henriette auf. Auch ihr war es ernst, sehr ernst sogar. »Wir müssen doch alle unseren Teil beitragen! Es geht um unsere Heimat, um die Freiheit, verstehst du das denn nicht?«

»Ich verstehe durchaus«, versetzte Mutter spitz. »Aber ein Lazarett ist kein Ort für Mädchen!«

Henriette schaffte es im letzten Moment, ein Stöhnen zu unterdrücken. Natürlich. Da war es wieder. Mutters ewiges Argument, das gegen alles ins Feld geführt wurde, was sie sich wünschte und erträumte. Eines, das allerdings in diesem Fall nicht gelten konnte.

»Es sind nun einmal die Frauen, die im Lazarett arbeiten«, gab sie zurück. »Damit können wir die Männer unterstützen, die für uns in den Kampf ziehen und ihr Leben riskieren für die Einigkeit unseres Landes!«

»Frauen – du sagst es! Du bist gerade mal ein Backfisch! Und nun konzentriere dich auf deine Arbeit und erspar mir deine politischen Vorträge!« Mutter hob das Strickzeug wieder, um zu demonstrieren, dass das Thema für sie abgeschlossen war.

Henriette starrte in das Kaminfeuer, vor dem sich die Familie wie an jedem Abend versammelt hatte. Vater saß in seinem Lehnsessel und las ein Buch, während Mutter mit ihrem Strickstrumpf beschäftigt war und Henriette sich mit einer unseligen Serviette plagen musste, auf die sie ein vollkommen überflüssiges Monogramm zu sticken hatte. Emilie fehlte in der Runde, denn Vater hatte sie zur alten, blinden Stine geschickt, der sie aus der Heiligen Schrift vorlesen sollte. Kein sonderlich vergnüglicher Zeitvertreib, denn Stine war nicht nur blind, sondern auch so gut wie taub. Henriette hätte in diesem Moment trotzdem gerne mit ihrer Schwester getauscht. Nicht nur wegen der nervtötenden Weißstickerei, dieser elenden Zeitverschwendung, die sie aus tiefstem Herzen hasste, sondern auch, weil sie einmal mehr diese Wut fühlte, die sich immer schlechter zügeln ließ.

»Ich bin fünfzehn!« Bevor sie es verhindern konnte, waren die Widerworte aus ihrem Mund, die nicht gut gelitten waren bei ihren Eltern – aber ihr blieb keine Wahl. Die Sache war zu wichtig, um sich einfach abspeisen zu lassen. Auch wenn sie ahnte, dass der Einwand nichts nutzen würde. Sie hätte genauso gut zwanzig, vierzig oder sechzig sein können – es änderte nichts daran, dass es für ihre Mutter außerhalb der Küche keinen passenden Ort für eine Frau zu geben schien. Darum war es keine Überraschung, dass sie so tat, als habe sie ihre Tochter nicht gehört.

Wütend stach Henriette mit der feinen Nadel auf das steife Leinen ein. Warum war Mutter nur so engstirnig? Warum war ihre Welt so klein, warum weigerte sie sich zu sehen, dass da draußen etwas Großes passierte, etwas Wichtiges? Etwas, zu dem Henriette beitragen wollte, ja musste! Und warum tat Vater so, als bekäme er nichts von dem mit, was um ihn herum vorging? Warum stellte er sich auf Mutters Seite, er, der doch genau wusste, worum es ging? Ihm bedeutete dieser Kampf um die Freiheit der Heimat ebenso viel wie Henriette. Sie saß ja oft genug dabei, wenn er am Abend Besucher empfing und mit ihnen über den Ripener Vertrag sprach, über Lornsen und Paulsen und die Unabhängigkeit, die der dänische König Schleswig-Holstein verweigerte. Über den Krieg, der darum – unterbrochen von Waffenstillständen – schon seit einem Jahr herrschte. Er musste doch begreifen, dass sie nicht länger untätig bleiben wollte, während andere in die Schlacht zogen. Oder auf andere Weise kämpften – wie Carl und Otto, ihre glücklichen Brüder, die der erstickenden Enge und Langeweile von Hörnerkirchen längst entkommen waren und studierten. Beide hatten sich einer Studentenverbindung angeschlossen, und wann immer sie zu Besuch kamen, konnte Henriette sich nicht satthören an ihren aufregenden Geschichten von Versammlungen und Aktionen, von der neuen Zeit, die trotz der verlorenen Märzrevolution nicht aufzuhalten war. Oh, wie sie ihre Brüder beneidete! Was musste es für ein wunderbares Gefühl sein, über diese Freiheit zu verfügen.