Herbst der Amateure - Jürgen Petschull - E-Book

Herbst der Amateure E-Book

Jürgen Petschull

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Beschreibung

Herbst 1989. In Berlin fällt die Mauer, und die deutsche Wiedervereinigung rückt in Greifweite. Dieser "Herbst der Amateure" bildet den Hintergrund für die Begegnung zweier geheimnisvoller Gestalten aus Ost und West, deren Vergangenheit beide Male stark mit der Geschichte Deutschlands verwoben ist. Peter Rosenblatt ist ein deutschstämmiger US-Jude und genialer Physiker, der mit seinem militärischen Wissen in die Sowjetunion überlaufen will; der KGB-Major Oleg Tasarow, der ihm dabei helfen soll, will wiederum den Nazi-Mord an seinem kriegsgefangenen Vater rächen. Ein Mann verschwindet, ein anderer stirbt, und der deutsche Kommisar Lohmer sowie der US-Agent Henrik Dillon sehen sich mit einer rätselhaften Kette von Geschehen konfrontiert, die sie unerbittlich in eine dunkle deutsche Vergangenheit hineinzieht, die auch im Herbst 1989 noch lange nicht Geschichte ist. Auf packende Weise verbindet Petschulls Herbst der Amateure die Gegenwart der Wiedervereinigung mit der ihr zugrundeliegenden Geschichte von Weltkrieg, Schuld und Teilung.-

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Der Herbst der Amateure

Jürgen Petschull

Roman

Saga

Für Anne, Eva und Peter

»Ich möchte etwas darum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich die Taten getan wurden, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland getan worden.«

Georg Christoph Lichtenberg

Die Handlung dieses Romans ist nicht frei erfunden. Sie ist der Wirklichkeit nachempfunden. Die Hauptpersonen existieren tatsächlich. Sie heißen anders. Ihre Schicksale habe ich zum Teil verändert und aus dramaturgischen Gründen Lebenswege miteinander verbunden, die sich nicht gekreuzt haben.

Mit den Männern, die mir als Vorbild für Tasarow, Dillon und Lohmer dienten, habe ich gesprochen, und die Geschichte von Rosenblatt ist in den USA recherchiert – denn der Mann, der Rosenblatt ist, darf wegen Gefährdung nationaler Sicherheitsinteressen noch immer nicht reden.

Die historischen Hintergründe und die politischen Ereignisse im Herbst 1989 in Deutschland entsprechen der Realität.

JP

1.

Was geschah mit Rosenblatt?

1

Donnerstag, 28. September 1989

Es war die Zeit zwischen Ebbe und Flut. Der Strom stand still zwischen den Deichen, hielt den Atem an und konnte sich eine Weile nicht entscheiden, ob er weiter zum Meer oder wieder zurück ins Land fließen sollte.

Lohmer saß auf seinem Lieblingsplatz, auf dem Stamm einer vom Sturm gefällten Stockweide, die mitten ins mannshohe Reet gestürzt war. Er saß vornübergebeugt, das unrasierte Kinn in die Hände, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Seine Stiefel standen auf der Abbruchkante über dem Schlick, der silbrigblaurot schimmerte. Die Gläser seiner Brille blinkten in der tiefstehenden Sonne. Im glatten Wasser sah er das Spiegelbild des anderen Ufers: den Schattenriß von Kühen und Schafen auf der Deichkrone, den Turm der Dorfkirche, die Masten eines alten Schoners, der auf der kleinen Werft instandgesetzt wurde. Seine Augen folgten einer Düsenmaschine, die zur Landung auf dem 80 Kilometer entfernten Hamburger Flughafen ansetzte; der orangeleuchtende Kondensstreifen durchschnitt gleichzeitig Himmel und Wasser, bis ein paar Fische nach Mücken sprangen und der untere Strich in kreisenden kleinen Wellen zu einer zittrigen Zickzacklinie verschwamm.

Von seinem Platz aus konnte Lohmer, wenn er den Kopf nach rechts wandte, gleich hinter dem Deich und vor einer Kastanie, das Strohdach seines Hauses sehen. Aus dem Schornstein stieg dünner Rauch. Seine Frau hatte Feuer im Kamin gemacht. Bald würde seine kleine Tochter nach ihm rufen, damit er ihr vor dem Einschlafen noch eine Geschichte erzählte.

Es war die Stunde des Tages, in der er ein glücklicher Mann war. Es war ihm gelungen, den Anblick des toten Jungen zu verdrängen, der sich ausgerechnet in der Friedhofskapelle den »Goldenen Schuß« gesetzt hatte; und die Auseinandersetzung mit seinem Chef, der eine Dienstreise nach Berlin nicht genehmigen wollte; und auch seinen Ärger über die Tennisniederlage gegen den arroganten, jungen Zahnarzt, die ihn auf der Rangliste des Clubs zurückgeworfen hatte.

»Papa! Du sollst kommen, mir eine Geschichte erzählen ...«

Die sechs Jahre alte Eva stand, bereits im Schlafanzug und Hausschuhen, auf dem Deich, winkte und versuchte ein Schaf zu streicheln, das erst neugierig näher kam, dann aber davonlief, weil Bonnie, der Zwergdackel, wütend dazwischenkläffte.

Als Lohmer aufstand, sah er das Boot.

»Geh schon vor, Spatz«, rief er. »Ich komme gleich!«

Die kleine Motorjacht tauchte in der Biegung des Flusses vor einer Pappelreihe auf. Sie kam mit dem nun gurgelnd und strudelnd ablaufenden Wasser näher, langsam und leise.

Lohmer interessierte sich für Boote. Er wollte im nächsten Frühjahr einen Anleger bauen und, wenn die Ersparnisse reichten, eine kleine, gebrauchte Motorjacht kaufen. Die da wäre genau die richtige: sechs bis sieben Meter lang, der Rumpf aus beigefarbenem Kunststoff, eine kleine Kajüte für etwa vier Leute, ein blaues Faltverdeck über dem Ruderplatz. Das Boot legte sich quer zur Strömung, als ob es wenden wollte, schwenkte jedoch wieder mit nickendem Bug in die Stromrichtung zurück. Es hatte vermutlich einen Dieselmotor, vierzig oder sechzig PS stark, genug für Törns den Fluß hinunter, über die Elbe und an der Küste entlang zu den nordfriesischen Inseln oder nach Dänemark. Lohmer fiel auf, daß kein Motorengeräusch zu hören war.

Eine handtuchgroße schwarzrotgoldene Fahne hing schlaff am Heck. Darunter stand Dörte III, Otterndorf, Kreis Cuxhaven. Trotz der einsetzenden Dämmerung waren keine Positionslampen gesetzt. Als das Boot auf seiner Höhe war, hörte Lohmer eine Stimme. »... sind in Leipzig etwa sechstausend Menschen auf die Straße gegangen, um erneut gegen die Manipulationen bei den Kommunalwahlen und gegen die Feierlichkeiten zum bevorstehenden 40. Jahrestag der DDR zu protestieren ... in die Botschaft der Bundesrepublik in Prag und Warschau haben sich in den vergangenen 24 Stunden insgesamt mehr als eintausend DDR-Bürger geflüchtet ... Das waren die Nachrichten von Radio FFN aktuell.«

An Deck war niemand zu sehen. Nachdem die kleine Jacht schon mehr als fünfzig Meter vorbei war, drehte sie sich plötzlich in einem großen Strudel um die eigene Achse, trieb schlingernd auf das Ufer zu, rammte ein an einem Baumstumpf vertäutes Ruderboot und verfing sich schließlich im Schilf und Schlick der flach ausgespülten kleinen Bucht vor der Wettern-Schleuse. Aus dem Radio wehte eine Swingmelodie herüber.

Lohmer bahnte sich mit vorgestreckten Armen einen Weg durch das dichte Schilf, scheuchte dabei ein paar Enten auf und lief am Fuß des Deiches über trockenes, knackendes Treibholz zur Schleusenbucht.

»Hallo!« rief er zu dem Boot hinüber. »Ist da jemand?!«

Niemand antwortete. Aus dem Bootsradio kam ein Verkehrshinweis.

»Der Stau auf der Autobahn A7, Richtung Flensburg, vor dem Hamburger Elbtunnel, hat sich aufgelöst ...«

Lohmer angelte mit einem langen Stock nach dem Tau, das über die Bugreling hing, packte es und zog daran. Er stand breitbeinig, den Oberkörper weit über das Geländer vorgebeugt. Seine alte Lederjacke rutschte ihm fast unter die Achseln.

»Schönes Boot. Ich dachte, du wolltest dir erst im nächsten Jahr eines kaufen.«

Lohmer drehte den Kopf. Im Zwielicht erkannte er Alfred Broders, der ein paar Häuser weiter hinter dem Deich wohnte.

Der beinahe zwei Meter große Mann sah mit Anfang Fünfzig aus, wie man es bei seinem Beruf und seinem Hobby erwarten konnte – wie ein malender Seemann oder ein seefahrender Maler: mit dunklem Vollbart und aquarellblauen Augen im abgewetterten Gesicht. Professor Alfred Broders, von der Hamburger Hochschule für Bildende Künste, war mit seinem großen schwarzen Hund vom Abendspaziergang zurückgekommen und blickte vom Deich zu ihm herunter. Broders hatte sich vor vielen Jahren eine Kate am Fluß als Wochenendsitz umgebaut, in einer Scheune ein Atelier eingerichtet und eine seetüchtige Segeljacht gekauft. Nun lebte und arbeitete er fast das ganze Jahr über hier draußen und fuhr nur noch zweimal in der Woche in die Stadt, um Vorlesungen über Kunst und Architektur zu halten.

»Faß mal mit an, Professor!« rief Lohmer.

Gemeinsam zogen sie das Boot ein Stück den Schlick herauf. Dann vertäute es Broders fachmännisch mit dem Bugtau am Schleusengeländer und mit dem Hecktau an einem Baumstumpf. Er ließ genug Leine, damit es bei Ebbe nicht auf Grund fiel.

»Wo hast du das denn her?« fragte er.

Lohmer erzählte, wie er das Boot gefunden hatte, und sagte, offenbar sei niemand an Bord.

»Wird sich irgendwo losgerissen haben«, sagte Broders.

Sein Hund rannte in den Schlick, machte den Hals ganz lang und schnupperte am Bug, bellte, sprang im Matsch und Wasser aufgeregt hin und her, sprang sogar mit den Vorderpfoten die Bordwand hoch.

»Was hat der bloß?« wunderte sich Broders.

Die beiden Männer zogen ihre Schuhe aus, krempelten die Hosenbeine hoch und glitschten barfuß ein paar Schritte durch den Schlick. Sie kletterten über die seitlich eingehängte Badeleiter an Bord. Broders leuchtete mit der Taschenlampe, die er um diese Jahreszeit auf seinen Abendspaziergängen mitnahm.

Es war fast dunkel geworden. Ein halber Mond schien auf eine Nebelschicht, die über das Wasser waberte. Ein Fischreiher kehrte von einem späten Beuteflug heim. Laut schnatternd folgte ein Entenpaar dem großen Bogen des Flusses nach Norden. Noch immer kam Musik aus einem Radio. In einer Halterung vor der überdachten Außenwand der Kajüte entdeckte Lohmer einen Weltempfänger und schaltete ihn aus.

»Ist hier jemand?« rief er noch einmal.

Es blieb still. Broders richtete seine Taschenlampe auf den kleinen Steuerstand mit Ruder, Echolot und Kompaß und entdeckte daneben ein gehämmertes Messingschild. »Boots- und Jachtvermietung Heinz-Hennig Paulsen, Otterndorf, Jachthafenstraße 88.«

»Da haben wir ja den Besitzer. Das Boot hat wohl jemand gechartert«, sagte er.

Lohmer fand den Hauptschalter für die batteriegespeiste Bordbeleuchtung. Er legte den kleinen Hebel um. Die messingverkleideten Schiffslampen über dem Steuerplatz, in der Kajüte und am kurzen Mast gingen an. Backbord- und Steuerbordlampe warfen rote und grüne Reflexe auf das Wasser. Die halbhohe Tür zum Kajütenabgang stand offen. Lohmer kletterte mit eingezogenem Kopf fünf Stufen hinunter. In dem kleinen Spülbecken neben dem einflammigen Gaskocher stand benutztes Plastikgeschirr. Ein paar Bücher lagen am Boden, zwei angebrochene Zigarettenschachteln und ein aufgeplatztes Salzpaket. Auf einer der beiden herausklappbaren Sitzbänke neben dem maßgeschnittenen Tisch standen zwei Einkaufstüten und ein grauer Samsonite-Koffer mit allerlei abgeschabten Aufklebern von Fluggesellschaften und Hotels. »Four Seasons-Hotel, Washington, Georgetown«, entzifferte Lohmer. Dann entdeckte er die dunklen Flecken. Auf der Tischplatte, auf den hellen Sitzkissen, auf dem Holzfußboden. Einige waren verwischt und trocken, andere tropfenförmig klein und noch feucht. Lohmer bückte sich, leckte seinen Zeigefinger an und tupfte vorsichtig darüber. Seine Fingerkuppe färbte sich braunrot. Er schnupperte wie ein Spürhund. Er fand weitere Flecken: auf der Treppe, auf dem verwitterten Teakholzboden an Deck, vor der Badeleiter.

»Verdammter Mist«, sagte er, schüttelte den Kopf und betrachtete wieder seinen Zeigefinger.

»Was ist denn los?« fragte Broders, der sich inzwischen interessiert den Dieselmotor angesehen hatte.

»Faß nichts an!« sagte Lohmer. »Ich fürchte, es gibt Arbeit.«

Er nahm Broders die Taschenlampe aus der Hand und beleuchtete die Flecken. Dann richtete er den Lichtstrahl auf die Sohlen seiner nackten Füße. Sie waren braunrot beschmiert.

»Was ist denn das?« fragte Broders, der ihn erstaunt beobachtete.

»Was hast du denn?«

»Einen Scheißberuf habe ich«, sagte Hauptkommissar Manfred Lohmer, griff nach einem Lappen und wischte sich das Blut von den Füßen.

»Es reicht nicht, daß ich tagsüber von einem Tatort zum anderen renne – jetzt kommen die Tatorte schon zu mir! Und das auch noch nach Feierabend ...!«

2

Donnerstag, 28. September 1989

Die beiden Männer gingen von Bord, wie sie gekommen waren. Broders tätschelte seinen Hund, der noch immer jaulte und an der Leine zerrte und sich erst allmählich unter der Hand seines Herrn beruhigte.

»Kannst du eine Weile hierbleiben und auf das Boot aufpassen?« fragte Lohmer.

»Selbstverständlich, Herr Kommissar! Stehe stets zu Ihrer Verfügung!«

Broders bemühte sich angestrengt um einen lockeren Ton.

»Vielleicht hat sich jemand beim Rasieren geschnitten?«

»Kann sein«, sagte Lohmer. »Kann auch sein, daß sich jemand sonst irgendwie verletzt hat und von Bord gegangen ist, um einen Arzt zu suchen und in der Aufregung das Boot nicht richtig festgemacht hat ... Vielleicht hat’s an Bord einen Streit mit Schlägerei gegeben. Oder einer hat sich selbst umgebracht. Kann aber auch sein, daß jemand überfallen, ausgeraubt und über Bord geworfen worden ist – dann sind dies hier die Spuren eines Mordes! Alles möglich, Professor. Jedenfalls sind seltsame Blutspuren an Bord einer herrenlosen Jacht das, was wir in meinem Job einen ›Anfangsverdacht‹ nennen. Und da muß ich leider dienstlich werden. Erstmal telefonieren jedenfalls.«

Lohmer ließ Broders und seinen Hund am Ufer zurück und ging über den Deich und über den schmalen Weg zu seinem Haus, an dem seine Frau längst die Außenbeleuchtung eingeschaltet hatte.

»Wo bleibst du denn bloß? Ich hab ein paarmal gerufen. Deine Tochter ist schon ohne dich eingeschlafen! Du hättest mir auch ausnahmsweise ein bißchen helfen können. Oder hast du vergessen, daß meine Eltern gleich zum Essen kommen?«

Natürlich hatte er das vergessen. Seine Frau war wütend. Sie stand in der Küchentür, aus der es nach Braten roch. Der Tisch in der Diele war mit dem guten Service und mit den neuen Weingläsern gedeckt. Im Kamin knackten brennende Holzscheite. Ingrid Lohmer hatte sich feingemacht, den neuen Hosenanzug angezogen, die Haare hochgesteckt und Schmuck angelegt.

Sie waren jetzt bald acht Jahre verheiratet, und Lohmer fand, daß sie sich unnötig Sorgen wegen einiger Fältchen machte. Er liebte seine Frau noch immer, ihr Äußeres ebenso wie die meisten ihrer Eigenschaften. Aber es gab auch Dinge, die trafen seine Nerven wie ein Zahnarztbohrer: zum Beispiel ihr schriller, fast schon hysterischer Tonfall, wenn sie sich stritten.

»Und wie du aussiehst! Deine Hose ist ja von oben bis unten mit Dreck bekleckert ...! Wo hast du dich bloß herumgetrieben? So kannst du doch nicht bleiben!«

»Ich kann überhaupt nicht bleiben!« sagte Lohmer kurz angebunden. »Ich muß gleich weg. Dienstlich.«

»Jetzt noch ...? Das hab ich mir doch gedacht! Immer, wenn meine Eltern kommen, kommt dir ganz plötzlich was dazwischen ... aber wenn mein Vater bei der Bank was für uns tun soll – dann spielst du den lieben Schwiegersohn ...«

Lohmer hatte keine Lust mehr, seiner Frau zu erklären, was draußen am Deich geschehen war. Er warf die Tür seines Arbeitszimmers zu und nahm sich vor, bei der nächsten Zinsfestlegung für die Haushypothek nicht mehr die Dienste seines Schwiegervaters in Anspruch zu nehmen, auch wenn die Kreissparkasse ein halbes Prozent teurer sein würde.

Er drückte die Selbstwähltaste mit der Nummer seiner Dienststelle. Es war halb acht Uhr abends. Im Kriminalkommissariat Cuxhaven war nur noch die K-Wache im Erdgeschoß des vierstöckigen Polizeigebäudes an der Kammannstraße besetzt. Hilbert hatte Dienst, ein neuer, junger Kollege, frisch von der Polizeischule. Als Lohmer den Fundort des Bootes am Ostedeich genau erklärte und sagte, er solle sofort einen Wagen der Schutzpolizei mit zwei Mann zur Bewachung des Bootes schikken und Jens Feldhusen von der Spurensicherung auftreiben, da knallte der Neue beinahe hörbar die Hacken zusammen, sagte »Jawohl, Herr Hauptkommissar!« und »Wird gemacht, Herr Hauptkommissar!« und »Einen schönen Abend noch, Herr Hauptkommissar!«

Den müssen wir noch ein bißchen lockerer machen, dachte Lohmer.

Erst als er den Hörer auflegte, merkte er, daß Bonnie, der Dackel, den Zeigefinger seiner linken Hand ableckte, mit dem er auf dem Boot über das Blut gestrichen war. Lohmer wusch sich sorgfältig die Hände. Dann ging er über den schmalen Flur in den ausgebauten Tennenteil des Bauernhauses, ins Zimmer seiner Tochter. Wie immer brannte nachts eine kleine Lampe, weil Eva Angst vor völliger Dunkelheit hatte. Sie seufzte tief und hielt ihr Lieblingstier, einen Plüsch-Pinguin, fest in der Hand. Lohmer strich ihr das Haar aus dem Gesicht.

»Ich muß nach Otterndorf zu einer dringenden Vernehmung«, sagte er eine Spur zu eilig zu seiner Frau. Sie wandte den Kopf ab und sagte nichts.

Im Garten roch es nach feuchtem Herbstlaub und nach späten Heckenrosen. Lohmer ging noch einmal zu Broders, der sich auf einen Baumstumpf gesetzt hatte und rauchte.

»Hast du noch ein bißchen Zeit? Du wirst gleich von zwei richtigen Polizisten abgelöst«, sagte er. »Ich fahre noch mal schnell nach Otterndorf, zu diesem Bootsverleiher.«

Broders sagte, er könne warten, er habe sowieso nichts vor, und seine Frau sei bei einer Freundin in Hamburg.

Lohmer fuhr mit seinem alten BMW den schmalen Weg am Deich entlang. Auf der asphaltierten Kreisstraße kamen ihm kurz nacheinander zwei Fahrzeuge entgegen, ein grünweißer VW-Passat mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Sirene und ein älterer beigefarbener Mercedes. Er hoffte, daß ihn seine Schwiegereltern nicht gesehen hatten.

Nach einer Viertelstunde erreichte er Otterndorf, eine kleine idyllische Stadt mit einer Hauptstraße, übergroßer Backsteinkirche und liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern. Lohmer mußte halten, als ein paar Kinder mit bunten Laternen die Straße überquerten und »Laterne, Laterne ... Sonne, Mond und Sterne« sangen. Er fuhr aus der Stadt hinaus zum Jachthafen. Im Elbterrassenrestaurant, einem flachen, bungalowartigen Bau mit großen Fenstern zur Elbe hin, roch es wie immer nach Scholle mit Speck. Lohmer fragte nach dem Bootsverleiher Paulsen. »Vielleicht ist der noch unten am Anleger«, sagte jemand.

Der flaschenförmige Jachthafen, dessen schmaler Hals zur Elbe führt, war um diese Jahreszeit nur noch zur Hälfte belegt. Große Motor- und Segeljachten für eine halbe Million und kleine Boote mit Außenbordmotor lagen nebeneinander. Aus einigen Kajüten fiel mattes Licht. Lohmer ging über die auf dem dunklen Wasser schwankenden Holzplanken. Er mußte nicht lange suchen, dann entdeckte er eine kleine Motorjacht mit beigefarbenem Kunststoffrumpf und blauer Persenning. Derselbe Typ wie das Boot auf der Oste. Dörte I, Otterndorf Kreis Cuxhaven, stand am Heck. An Bord brannte Licht.

Durch das Kajütenfenster sah Lohmer einen schweren Mann mit grauem Haarkranz auf einem sonnenroten Schädel. Der Mann saß am Tisch, über allerlei Papiere gebeugt, griff zu einer Flasche Korn, schraubte umständlich den Verschluß ab, schenkte ein Wasserglas viertelvoll und kippte es sich in den Hals. Er trug einen blauen Seemannspullover mit geöffnetem Reißverschluß am Rollkragen. Trotz seines massigen Kopfes hatte er einen spitzen Adamsapfel, der beim Schlucken auf- und abtanzte.

Lohmer klopfte an die Bordwand. Der Mann hustete, setzte das Glas ab und zwängte sich umständlich hinter dem Tisch vor, machte die Kajütentür auf und blickte mißtrauisch zu Lohmer auf.

»Was is’n los?«

Lohmer fragte, ob er der Bootsverleiher Heinz-Hennig Paulsen sei, und als der Mann nickte, nannte er seinen Namen und Dienstrang.

»Was is’n los?«

Er brauche nur ein paar Auskünfte, sagte Lohmer.

»Wofür? Was is’n los, um diese Zeit noch?«

Paulsen hatte plötzlich eine Taschenlampe in der Hand. »Sind Se irgendwo reingefallen?«

Der Lichtkegel fiel auf Lohmers mit getrocknetem Schlickwasser bekleckerte Hose. Zu blöd. Er hatte vergessen, sich umzuziehen. Als er fragte, ob er reinkommen könne, weil man sich drinnen wohl besser unterhalten könne, schüttelte Paulsen den Kopf, sagte »mit der Dreckshose sowieso nicht«, er habe nämlich gerade erst die Sitzpolster gereinigt.

Lohmer klopfte an seiner Hose herum und unterdrückte seinen Ärger. Dann fragte er Paulsen, ob er der Eigner der Motorjacht Dörte III sei und an wen er die zur Zeit vermietet habe. Der Bootsverleiher streckte den Kopf vor und sah ihn noch mißtrauischer an.

»Ham Se mal nen Ausweis, ne Marke oder sowas?«

Umständlich erklärte er, vor einem Jahr sei schon mal »so’n Schnüffler« bei ihm gewesen, er habe sich auch als Kripomann ausgegeben und nach einem Pärchen gefragt, das ein Boot gemietet hatte – und ein paar Monate später sei er als Zeuge zu einem Scheidungsprozeß geladen worden. »Der Kerl war nämlich Privatdetektiv, wissen Se, und hinter nem Liebespaar her, und mit sowas will ich nix mehr zu tun haben.«

Lohmer kam sich immer alberner vor. Natürlich hatte er weder Dienstmarke noch Dienstausweis in seiner Freizeitkleidung. Er versuchte, das zu erklären, gab’s aber auf.

»Also gut, Herr Paulsen, wenn Sie wissen wollen, was mit der Dörte III passiert ist, dann kommen Sie morgen früh um acht zur Polizeidienststelle Cuxhafen, Kriminalkommissariat, zweiter Stock, Zimmer 220. Lohmer ist mein Name, Hauptkommissar Manfred Lohmer.« Er drehte sich um und rief noch im Gehen: »Wenn Sie nicht pünktlich da sind, laß ich Sie mit einem Streifenwagen zur Vernehmung abholen!«

Paulsen kam an Deck.

»Also, was ist mit meinem Schiff los?«

Lohmer kam zurück.

»Können wir uns jetzt unterhalten oder nicht?«

»Kommen Se rein, aber Vorsicht mit der Hose ...«

Lohmer quetschte sich auf eine der beiden Sitzbänke. Paulsen schenkte sich einen Korn ein, bot Lohmer auch einen an und deutete, als der ablehnte, mit seinem Glas in der Hand auf die Papiere. »Alles für die Steuer, alles korrekt hier.«

»Seit wann haben Sie die Dörte III vermietet, Herr Paulsen, und an wen?«

»Vor drei Tagen, an nen Ami. Warten Se. Den Vertrag hatt ich eben noch inne Finger ...« Paulsen wühlte beidhändig in seinen Papieren und hielt nach einer Weile triumphierend einen ausgefüllten Vordruck hoch. »Sehn Se, Herr Kommissar, bei mir herrscht Ordnung.«

Lohmer streckte seine Hand aus. »Kann ich mal sehen?«

»Erst sagen Se mal, wat nu eigentlich los ist.«

Lohmer erzählte, wie er die Motorjacht gefunden hatte, daß niemand an Bord sei und sie nun sicher festgemacht war. Die Blutflecken erwähnte er nicht.

»Da bin ich Sie aber sehr dankbar, Herr Kommissar«, sagte Paulsen und klemmte sich einen kalten Zigarrenstummel zwischen die Lippen.

Lohmer griff nach dem Vertragsformular, las es durch und machte sich Notizen. Die Motorjacht war laut Vertrag vor drei Tagen für eine Woche an einen gewissen »William J. Berrigan, geboren 3. 5. 1954 in Boston, wohnhaft ebenfalls in Boston, amerikanischer Staatsbürger«, verchartert worden.

»Der Mann hat als Sicherheit 3000 Mark in bar hinterlegt«, sagte Paulsen.

»Haben Sie irgendwelche Papiere mit einem Foto von ihm?«

»Klar. Seinen Paß. Laß ich mir von Ausländern immer geben.«

Der Bootsverleiher schichtete wieder seine Papiere um, fischte schließlich einen US-Paß hervor. Lohmer klappte den Ausweis auf und starrte auf die Stelle, wo das Foto gewesen sein mußte – es war herausgerissen, offenbar so heftig, daß auch die obere Seitenecke des Dokumentenpapiers fehlte.

»Hier ist kein Foto mehr, Herr Paulsen!«

Lohmer knallte den Paß auf die Tischplatte. Der Bootsverleiher zuckte zusammen, nahm das Dokument und betrachtete es ungläubig von allen Seiten.

»Ich schwöre, Herr Kommissar! Als mir der Ami den Paß gegeben hat, war da ein Bild drin ...« Paulsen beschrieb seinen Kunden. »Der hat nich wie ein Ami ausgesehen, mehr wien Student, älteres Semester. Mitte Dreißig. Mittelgroß. Mit Brille. Eine mit Goldrand, nee, ohne Rand. Der hat perfekt Deutsch gesprochen, Herr Kommissar. Der wollte mit der Dörte III ne Woche Urlaub machen, hat er gesagt, auf der Elbe und auf den Nebenflüssen rumpütschern. Nach der Ostemündung hat er noch gefragt, da wollt er wohl rein. Vorher hat er sich nach nem Lebensmittelladen erkundigt.«

Paulsen schüttete wieder Schnaps nach.

»Ach ja, Herr Kommissar, fast hätt ich dat vergessen: ich hab dann nachher zufällig gesehen, wie die Dörte III bei Hochwasser aus dem Hafen ausgelaufen ist – da war plötzlich ne Frau an Deck. Lange rote Haare hatte die und ne weiße Windjacke, sah toll aus von weitem, kam mir irgendwie bekannt vor, wien Filmstar oder so, aber ich komm nich drauf.«

Lohmer schrieb ein kleines Kalenderblatt voll, das der Bootsverleiher ihm gegeben hatte, dann verabschiedete er sich und sagte, die Dörte III werde erst einmal sichergestellt. Paulsen protestierte. Lohmer meinte, es werde nur ein paar Tage dauern.

Im Elbterrassenrestaurant ging gerade das Licht aus, als er vorüberging. Die Herbstnacht war kühl und klar geworden. Vom Außendeich aus konnte er kilometerweit über die Elbmündung blicken. Der große Schatten eines hochbeladenen Containerschiffs zog vorüber. Am anderen Ufer waren die Lichter des Industriegebietes Brunsbüttel zu sehen, weiter südlich der Atomreaktor Brokdorf. Hauptkommissar Lohmer stieg in seinen Wagen, an dessen Heckscheibe der Aufkleber Atomkraft – Nein danke! klebte. Im Autoradio sagte der Nachrichtensprecher, in Leipzig und Ostberlin seien nach Protest-Versammlungen in mehreren Kirchen und nach gewaltfreien Demonstrationen mehrere Dutzend DDR-Bürger vom Staatssicherheitsdienst und von der Volkspolizei festgenommen worden.

Schon von weitem konnte Lohmer einen hellen Widerschein hinter dem Ostedeich sehen. Kurz vor seinem Haus parkte ein Streifenwagen halb in einem Gebüsch. Ein paar Leute standen auf der Deichkrone. Er erkannte einige Nachbarn. Auch seine Frau und seine Schwiegereltern waren dabei. Sie gaben ihm frostig die Hand. »Tut mir leid, daß ich weg mußte. Ich war deswegen unterwegs«, sagte er und zeigte zum Boot hinüber.

Im weißblauen Licht von zwei Halogenscheinwerfern war an Deck der Motorjacht ein einzelner Mann bei der Arbeit zu beobachten: Jan Feldhusen von der Spurensicherung. Er schabte sorgfältig mehrere der braunroten Flecken ab und strich das getrocknete Blut in verschiedene Reagenzgläser. Er bestäubte das Ruder und andere Stellen mit grauem Graphitpuder, entdeckte einige Fingerabdrücke und machte von ihnen Abzüge auf einem Spezial-Plastikklebestreifen. Er kennzeichnete einige Kratzer mit Zahlenschildchen, machte eine Übersichtsaufnahme und fotografierte sie dann ganz aus der Nähe mit einer Pentax mit Makroobjektiv. Er fuhrwerkte mit einer Art Autostaubsauger auf dem Boden, auf Sitzen und Tischen, sogar in den Kojen herum und sammelte auf diese Weise Textilfussel, Haare, Kippen, Knöpfe und allerlei Partikelchen vor dem Spezialfilter des Staubbeutels. Schließlich trug er die Beute in seinen Dienstwagen. Es war kurz vor Mitternacht, als die Scheinwerfer erloschen.

Lohmer konnte in dieser Nacht schlecht schlafen. Sein Instinkt sagte ihm, daß die Sache mit dem Boot ein ungewöhnlicher Fall werden könnte: Wenn der Bootsverleiher nicht das Bild aus dem Paß des Amerikaners gerissen hatte, dann blieb nur eine Erklärung: dieser Mister Berrigan aus Boston hatte seinen Ausweis abgegeben und das Foto nachher bei günstiger Gelegenheit selber herausgerissen.

Warum?

Lohmer beschloß, gleich morgen früh den Polizeizeichner zu dem Bootsverleiher zu schicken. Der sollte nach dessen Personenbeschreibung ein genaues Portrait des Amerikaners malen. Vielleicht würde man es bald für ein Fahndungsplakat brauchen ...

Am nächsten Morgen, kurz vor acht, schloß Lohmer sein Büro in der zweiten Etage des vierstöckigen Polizeigebäudes in der Cuxhavener Kammannstraße auf. »Hauptkommissar Manfred Lohmer, Tötung und Brand« stand an der Tür, hinter der sich deutsches Behördenzimmer-Design verbarg: Schreibtisch, Schreibmaschinentisch, Aktenregale, abschließbarer Schrank, alles aus Kiefernholznachbildung. Ein Drehstuhl, zwei Besucherstühle aus Vierkantstahlrohr mit grünen Sitzpolstern. Blaugrauer Linoleumboden, nach Reinigungsmittel riechend. Der gerahmte Druck an der Wand »Abend im Teufelsmoor« von Otto Modersohn war Privateigentum, und natürlich auch das gerahmte Farbfoto auf der Fensterbank: Lohmer mit Frau und Tochter an einem Sommertag vorm Reetdachhaus am Ostedeich.

»Moiijn Kollege Lohmer!«

Kriminalrat Kohlschmidt, sein Chef, grüßte durch die halboffene Tür und schlurfte mit pensionsreifen Schritten in das Zimmer nebenan.

Kohlschmidt machte die Verwaltungsarbeit im Kriminalkommissariat Cuxhaven, in dem 26 unterbezahlte Kriminalbeamte in der Stadt und im nördlichen Landkreis etwa »120 000 Leute in Schach halten« mußten, wie Kohlschmidt zu sagen pflegte. Manfred Lohmer, stellvertretender Leiter des KK und Chef der Abteilung »Tötung und Brand«, war der eigentliche Kriminalist in diesem Außenposten der deutschen Gesetzeshüter an der Nordseeküste. Er leitete von Fall zu Fall die MoKo und die SoKo – die »Mordkommission« und die »Sonderkommission« –, wenn kapitale Verbrechen aufzuklären waren. »Der Kojak von der Küste« hatte ihn die Lokalzeitung genannt, als er sich vor ein paar Monaten seinen hufeisenförmigen Haarkranz abrasiert hatte. Lohmer hatte den Bildreporter des Blattes zum Teufel gejagt, der ihm für ein Foto auch noch einen Lolli in die Hand drücken wollte. Seither ließ er sich auf dem Kopf und im Gesicht durchschnittlich drei Tage altes Stoppelhaar stehen und einen gepflegten Schnauzbart wachsen. Das gab ihm, zusammen mit seiner legeren Kleidung, Jeans, Sporthemd, Sakko oder Wildlederjacke, ein asphalt-cowboyartiges Aussehen. Jedenfalls wirkte Lohmer einige Jahre jünger, als er war. Er war 43.

Lohmer hatte sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß Cuxhaven die letzte Sprosse seiner Karriereleiter sein würde. Anders als noch vor ein paar Jahren beunruhigte ihn dieser Gedanke keineswegs. Seiner Karriere in der Landeshauptstadt Hannover trauerte er nicht mehr nach. Da war er beim 14. K gewesen, beim Staatsschutz. Der größte Fall, den er aufgedeckt hatte, war eine versuchte Gefangenenbefreiung aus der Strafanstalt Celle: Bombenleger hatten ein Loch in die meterdicke Außenmauer gesprengt – ein verurteilter Terrorist, Mitglied der RAF, sollte durch das später sogenannte »Celler Loch« nach draußen klettern. Die Ladung ging hoch, aber der Häftling kam nicht rechtzeitig raus. Statt dessen schlugen die Ermittlungsergebnisse von Lohmer und seinen Kollegen wie eine Bombe ein: der Sprengsatz an der Knastmauer war nämlich vom Verfassungsschutz gelegt worden. Der wollte den Gefangenen, der dem Terrorismus längst abgeschworen hatte, auf diese Weise aus dem Knast bringen und als Informanten in die RAF einschleusen. Der Fall wurde zum politischen Skandal, und Lohmer wurde verdächtigt, einem befreundeten Journalisten ein paar Tips für eine Enthüllungsstory darüber gegeben zu haben. Das konnte ihm zwar nicht nachgewiesen werden, dennoch wurde er ein paar Monate später zum Hauptkommissar und so weit von Hannover weg befördert, wie es im Lande Niedersachsen nur geht: an die Nordseeküste nach Cuxhaven.

Inzwischen fühlte sich Lohmer längst wohl in dieser vom Wind saubergefegten Stadt, zu der auch ein paar vorgelagerte Seebäder gehören. Und beruflich hatte er wieder Erfolg. Seit Beginn seiner Dienstzeit waren alle Morde und Brandstiftungen aufgeklärt worden. Bis auf einen. Ein Urlauber hatte eines Morgens erstochen vor einem der großen Fischkühlhäuser am Hafen gelegen. Ein dubioses Verbrechen ohne erkennbares Motiv. Und eine peinliche, um nicht zu sagen geschäftsschädigende Angelegenheit, wie damals der Vorsitzende der »Vereinigung fischverarbeitender Betriebe« und der Leiter des Fremdenverkehrsvereins übereinstimmend bemerkten. Wobei letzterer noch hinzufügte, das Robbensterben an der Küste mache ihm schon genug Sorgen.

Kurz vor zehn kam Feldhusen.

»Hast du auf dem Boot was Besonderes entdeckt?« fragte Lohmer.

Der Mann von der Spurensicherung schob ein DIN-A4-Blatt über den Tisch. Darauf waren drei handbeschriebene Zettel zu einem Satzteil aneinandergeklebt. »... anderen Ausweg ... sehe ich ... nicht ...«

»Sieht nach einem Abschiedsbrief und nach Selbstmord aus Liebeskummer aus«, sagte Feldhusen.

»Wie kommst du denn darauf, Sherlock Holmes?« fragte Lohmer.

Feldhusen hielt einen durchsichtigen Plastikbeutel gegen das Fenster. »Da sind drei kupferrot gefärbte Frauenhaare drin, bis zu 58 Zentimeter lang, die reichen fast bis auf den Hintern.« Feldhusen verdrehte die Augen, als sehe er eine nur mit langen roten Haaren bekleidete Frau vor sich.

»Hier ist die vollständige Spurenliste.«

Lohmer las: »Herrenlose Jacht; Verzeichnisnummer 434/89.« Unter dieser Überschrift waren 53 einzelne Positionen aufgeführt, von »Zigarettenkippe, Lord extra mit Lippenstiftspuren« bis zu »Mittelgroßer Reisekoffer, grau, Hartschale, Marke Samsonite, zahlreiche Aufkleber«. Auch »Eine Packung Kondome, Marke Libido, nicht angebrochen«.

Feldhusen grinste, als er mit dem Finger auf diese Position deutete: »Hab ich doch gesagt: Liebeskummer ...«

Er werde diese und die anderen Fundsachen und natürlich die Fingerabdrücke und die Reagenzgläser mit den Blutproben per Kurier zum Labor des Landeskriminalamtes Hannover schicken. Bevor er ging, stellte Feldhusen die Einkaufstüte auf den Schreibtisch, die Lohmer am Abend auf der kleinen Jacht gesehen hatte. »Da sind ein paar Bücher, Schriftstücke und Tonbandkassetten drin, die solltest du dir näher angucken.«

Lohmer holte ein deutsches und zwei englische Bücher und eine Broschüre aus der Tüte. Eines hieß S.I.O.P – The Secret U.S.Plan for nuclear war. Ein anderes Nuclear Battlefields. »Das eine bedeutet Die geheimen Atomkriegs-Pläne der USA und das andere Atomare Schlachtfelder«, sagte Feldhusen wichtig, »hab ich mit einem Wörterbuch selbst übersetzt ...«

Lohmer las langsam den Aufdruck einer grünen Broschüre: Institutional Plan 1988–1993, Lawrence Livermore National Laboratory.«

Lohmer atmete hörbar aus. »Das ist allerdings eine etwas ausgefallene Lektüre für eine friedliche Bootstour auf der Oste.«

»Kommt irgendwas von Atomsprengköpfen und Laserstrahlen drin vor«, sagte Feldhusen. »Wir haben hier doch die US-Army in Bremerhaven und Radarstationen in Basdahl und Wanna ...«

»... und vermutlich ein paar Atomsprengkopflager, die es offiziell natürlich nicht gibt ...«

»Auf dem Gebiet sollst du ja Experte sein«, sagte Feldhusen.

Lohmer ging auf die Anspielung nicht ein: er hatte vor ein paar Monaten Ärger mit Kohlschmidt bekommen, weil er sich den Aufkleber Atomkraft – Nein Danke! ans Auto geklebt hatte. Ob das denn sein müsse? Das mache bei einem leitenden Kriminalbeamten keinen guten Eindruck auf die Bevölkerung, hatte der Kriminalrat gesagt. Er sei nicht nur Beamter, sondern auch freier Bürger und dürfe seine Meinung wohl noch äußern, hatte er geantwortet. Man lebe schließlich in einer Demokratie. Und er hatte auch noch erwähnt, daß er neuerdings Mitglied der Bürgerinitiative »Notaktion Fluglärm« geworden sei, weil seine kleine Tochter von den Tieffliegern der Bundeswehr und der NATO-Verbündeten zu Tode erschreckt werde. Ob Polizeibeamte etwa keine Pazifisten sein dürften? Lohmer hatte die Tür so laut hinter sich zugeknallt, daß die Kollegen ihre Köpfe auf den Flur hinausstreckten.

Er blätterte interessiert in dem dritten Buch aus der Plastiktüte, einem Bildband mit dem Titel Worpswede-Moskau / Das Werk von Heinrich Vogeler. Katalog zur Ausstellung 1989. Dann las er, was mit grünem Filzstift auf den drei Tonbandkassetten stand: Brandenburgische Konzerte von Johann Sebastian Bach, Leningrad vom US-Rocksänger Billy Idol, Regina Regenbogen, eine bei Kindern sehr beliebte Märchenkassette, wie er als Vater wußte. Da waren Leute mit vielseitigen Interessen an Bord der Dörte III, dachte Lohmer und nahm sich vor, Bücher und Kassetten mit nach Hause zu nehmen, da er tagsüber nicht dazu kommen würde, sich näher damit zu befassen.

Lohmer schrieb mit der Hand eine »Kriminaltaktische Anfrage«. Dann setzte er sich im Geschäftszimmer an den Computer, auf dessen Bildschirm die Großbuchstaben POLAS für Polizeiliches Auskunftssystem standen und tippte mit beiden Zeigefingern seinen kurzen Text ein:

»Kriminalkommissariat Cuxhaven bittet dringend um Auskunft über den amerikanischen Staatsbürger William J. Berrigan, geboren 3. 5. 1954 in Boston, US-Paß Nr. Z6175235, angeblich zuletzt wohnhaft in Boston, Kennedy Ave 1012. Berrigan wird vermißt. Ein Verbrechen ist nicht ausgeschlossen.«

Lohmer adressierte die Anfrage an das LKA, das Landeskriminalamt Hannover, an das BKA, das Bundeskriminalamt Wiesbaden und an das AZR, das Ausländer-Zentralregister in Köln.

Am frühen Nachmittag kam der Polizeizeichner aus Otterndorf zurück. Eine Stunde später hatte er aus einer ersten Skizze mit Pinsel und Spritzpistole ein Portrait des verschwundenen Amerikaners angefertigt – er arbeitete immer noch nach der alten Technik, nicht mit dem Fahndungsbild-Fotopuzzle, bei dem viele Dutzend verschiedener Gesichtsteile so lange miteinander kombiniert werden, bis das Bild den Zeugenangaben entspricht. Auf der Rückseite des Bildes stand: »Der verschwundene Amerikaner William J. Berrigan, gezeichnet nach Angaben des Bootsverleihers Heinz-Henning Paulsen, Otterndorf. Die Haare sind mittelblond, Augenfarbe grau oder blau, Alter Mitte Dreißig, besondere Kennzeichen: ein etwa fingernagelgroßes Muttermal am Hals, nach Angaben des Zeugen vermutlich links unterhalb des Kinns.«

Lohmer hielt das postkartengroße Schwarz-Weiß-Bild unter seine Schreibtischlampe. Es zeigte einen Mann mit vollem, in der Mitte gescheiteltem Haar, beide Ohren frei, hohe, glatte Stirn, schmale, ausgeprägte Nase, ovale Gesichtsform mit ein wenig hervorgehobenen Backenknochen, ausgeformte, aber schmale Lippen, markantes Kinn mit Grübchen. Brille mit dünnem Rand. Die Augenbrauen hatte der Zeichner stark betont, die Pupillen schienen ein wenig unnatürlich groß. Ein intelligentes, irgendwie ängstliches Gesicht, das dem Zeichner wie meist ein wenig puppenhaft steif geraten war.

»Der malt keine Menschen, sondern Wachsfiguren«, hatte Lohmer schon ein paarmal kritisiert. Am Hals, links, war ein dunkler Fleck eingezeichnet. Wenn der ein so großes Muttermal hatte, müßte der Mann Schwierigkeiten beim Rasieren haben, dachte Lohmer – er sah die danebenliegende Asservatenliste durch: es war an Bord kein Rasierapparat gefunden worden, auch kein Rasiermesser.

Er ließ im Fotolabor Reproduktionen des Portraits machen und schickte die Kopien mit der dazugehörigen Personenbeschreibung und einem Foto der Motorjacht Dörte III an die Lokalzeitungen in Cuxhaven, Bremerhaven und Bremen. Der letzte Satz der beiliegenden Polizeimeldung lautete: »Wer hat diese Person und dieses Boot in den vergangenen Tagen gesehen? Vermutlich wurde dieser Mann von einer Frau mit auffallend langem, rotem Haar begleitet. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«

Kurz nacheinander legte ihm die einzige Sekretärin des Kommissariats die Antworten auf seine Anfragen auf den Tisch. Alle drei Dienststellen meldeten: Keine Erkenntnisse über einen William J. Berrigan! Lohmer holte sich die dritte Dose Cola aus dem Automaten. Er bat das BKA, seine Anfrage über die Datenbank Inpol an Interpol Paris weiterzugeben.

Es war schon kurz vor fünf, als ihm eine Idee kam. Er rief seinen Freund Bernhard Greenberg in Bremerhaven an. Lohmer hatte Glück – Greenberg hatte Spätdienst. »Little Bernie«, ein Zweieinhalb-Zentner-Kerl mit Stiernacken und einem gewöhnlich zutraulich grinsenden Bulldoggengesicht, blickte an diesem Nachmittag traurig wie ein eingesperrter Hund aus dem Fenster der zweistöckigen Backsteinkaserne, gegen das ein steifer Nordwestwind dicke Tropfen trommelte. Die herbstlich trostlose Tiefebene dahinter sah wie eine spärlich bewachsene Unterwasserlandschaft aus. Bernie Greenberg mußte für einen erkrankten Kollegen Dienst machen, und sein geplanter Weekendausflug mit Freunden zum Bowling nach Hamburg mit anschließendem St.-Pauli-Bummel fiel deshalb aus. Der Detektiv des CID, des Criminal Investigation Department, der militärischen Kriminalpolizei der US-Army, war privat erfreut und dienstlich ungehalten über Lohmers Anruf. »Ich hoffe, ihr habt nicht schon wieder einen von unseren Jungs als Kokaindealer erwischt, wir haben hier schon genug Probleme, ausgerechnet zum Wochenende.«

Mit Greenberg hatte Lohmer oft zusammengearbeitet, wenn GI’s in irgendwelche Fälle verwickelt waren, meist in Drogendelikte. Lohmer sagte Greenberg, er brauche zwar dringend seine Hilfe, aber es werde nicht viel Umstände machen. Er solle nur mal schnell über die Spezial-Verbindung der US-Army Bremerhaven beim FBI in Washington und im Pentagon nach einem gewissen William J. Berrigan fragen. Lohmer berichtete von dem Boot und dem verschwundenen Amerikaner, der seltsamerweise sein Foto aus seinem Paß gerissen habe. Und daß ein Verbrechen nicht auszuschließen sei.

»Mehr hat der nicht ausgefressen?« fragte Greenberg gelangweilt.

»Dieser Berrigan hat ein paar Unterlagen über die geheimen Atomkriegspläne der Vereinigten Staaten von Amerika auf diesem Boot zurückgelassen, falls dich das interessiert?«

»Material über waaas ...?«

»Über eure Atomkriegspläne!«

»Aha.« Es war eine Weile still.

»Sag mal Fred, willst du mich verarschen?«

»Nicht während der Dienstzeit, das weißt du doch.«

»Und noch was, Bernie ...« Lohmer griff schnell in die Einkaufstüte, die noch immer auf seinem Tisch lag und zog die grüne Broschüre heraus. »Hast du schon mal was von einem Lawrence Livermore National Laboratory gehört?«

»Kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber im Moment fällt mir dazu nichts ein. Warum? Was ist damit?«

»Darüber waren auch Unterlagen an Bord.«

»Okay, ich hör mich um, was das für ein Laden ist.«

Greenberg ließ sich den Namen durchbuchstabieren und versprach Lohmer, er werde ihn auch spätabends oder nachts und am Wochenende anrufen, wenn er etwas über diesen Berrigan erfahren habe.

CID-Detektiv Greenberg schickte gegen 19.30 Uhr zwei chiffrierte Fernschreiben über Satelliten nach Washington. Eines an das FBI-Hauptquartier, eines an das Pentagon, an das Zentrale Personaldatenregister, in dem alle derzeit diensttuenden Gl’s, sämtliche Reservisten, alle Veteranen, also zig Millionen von lebenden und toten US-Soldaten aller Waffengattungen bis zurück zum Zweiten Weltkrieg registriert sind. Greenberg bat um Auskunft über »William J. Berrigan aus Boston«. Berrigan werde in der Bundesrepublik Deutschland dringend von der Polizei gesucht.

In Washington war es erst 14.30 Uhr, früher Nachmittag, als die Anfrage des CID Bremerhaven/West Germany eintraf. In den Parks der Hauptstadt und in den Vororten, die schon zum US-Bundesstaat Virginia gehören, hatten sich Bäume unter einem wolkenlosen Himmel prächtig gelb und braunrot gefärbt. Und die Wettermänner des beliebten Frühstücksfernsehens hatten für das bevorstehende Wochenende einen anhaltend warmen und sonnigen Indian summer vorausgesagt. Die mehr als hunderttausend Mitarbeiter der amerikanischen Regierung in den Verwaltungspalästen der Ministerien und Behörden an der Pennsylvania, der Constitution und der Independence Avenue freuten sich auf Weekend-Picknicks und Barbecues, aufs Golf- und Tennisspielen oder aufs Segeln an der nur zwei Autostunden entfernten Bay bei Baltimore. Für ein Dutzend Männer und Frauen jedoch fielen ihre Wochenendpläne ebenso ins Wasser wie für Bernie Greenberg in Bremerhaven oder wurden zumindest erheblich beeinträchtigt – weil ein deutscher Provinz-Kriminalbeamter eine Frage hatte.

Betroffen waren Mitarbeiter einer Reihe von Regierungsinstitutionen in der amerikanischen Hauptstadt und in der näheren Umgebung: in dem gewaltigen Komplex des achtstöckigen J. Edgar Hoover Building der amerikanischen Bundespolizei FBI; im Pentagon, dem fünfeckigen dunkelverglasten Gebäude des US-Verteidigungsministeriums in Arlington, auf der anderen Seite des Potomac River; im militärischen Geheimdienst DIA (Defence Intelligence Agency), der abseits, in der hermetisch abgeschlossenen Bolling Air Force Base untergebracht ist; in der Zentrale des größten und geheimnnisvollsten Geheimdienstes der USA, der NSA (National Security Agency) auf halbem Wege zwischen Washington und Baltimore; im Sitz der berühmt-berüchtigten CIA (Central Intelligence Agency) in Langley, zwölf Meilen außerhalb Washingtons, auf halbem Weg zum Dulles International Airport; im Außenministerium an der 23. Straße in Washington; im Energieministerium an der Independence Avenue; im Old Executive Office Building, dem Gebäude der Regierungsadministration, einem gewaltigen, verschachtelten grauen Komplex aus der Jahrhundertwende an der 17. Straße; und schließlich im Weißen Haus selbst. George Bush, der amerikanische Präsident, wurde von den Nachrichten aus Niedersachsen/Bundesrepublik Deutschland allerdings bis zum Montag morgen verschont, bis er von einer Angeltour vor der Küste seines Anwesens in Kennebunkport/Maine nach Washington zurückgekommen war.

Die erste, die an diesem frühen Freitagnachmittag in der US-Hauptstadt mit der Sache zu tun hatte, war Matilda Ronstet, eine dunkelhäutige Sachbearbeiterin an einem der vielen hundert Computer des FBI. Ihr neuer Freund Allan aus Alexandria hatte für den Abend einen Zweier-Tisch im feinen Portners Restaurant in der Altstadt von Alexandria, einem Washingtoner Vorort, reserviert. Matilda bekam die Anfrage »Berrigan« deshalb zu einem unpassenden Zeitpunkt auf den Tisch – und eine merkwürdige Antwort auf ihrem Bildschirm, als sie Namen und Daten so eingegeben hatte, wie sie ihr vom CID übermittelt worden waren. Der Computer gab den verwirrenden Befehl aus: »Bei Anfragen nach William J. Berrigan aus Boston antworten: Eine Person dieses Namens und mit diesen Daten ist nicht existent.« Und »Anfrage und Grund der Anfrage sofort an Außenministerium, Paßabteilung und an Energieministerium, Abteilung besondere Forschungsvorhaben weitergeben.«

An einem der Terminals des Zentralen Personaldatencomputers des Pentagon bekam etwa gleichzeitig Charles Wittlock den Vorgang »Berrigan« auf den Tisch. Auch sein Computer antwortete auf die Frage nach Berrigan mit negativ – und wies ihn ebenfalls an, sofort das Außen- und das Energieministerium zu informieren und den militärischen Geheimdienst DIA. Urgent – dringend stand auf dem Bildschirm seines Computers.

Die Nachricht »Es gibt keinen William J. Berrigan« landete am späten Abend, kurz vor zehn Uhr, auf dem Schreibtisch von Detektiv Greenberg in Bremerhaven.

Kaum zehn Minuten später klingelte sein Telefon. Am Apparat war Samuel Persh vom militärischen Geheimdienst DIA in Fort Bolling/Virginia, von der Abteilung für die in der Bundesrepublik Deutschland stationierten amerikanischen Streitkräfte. Persh wollte zu Greenbergs Erstaunen sehr dringend wissen, was es mit diesem nicht existierenden Mister Berrigan auf sich habe?

Greenberg erklärte, daß bei ihm eine Nachfrage der deutschen Kriminalpolizei vorliege. Danach sei der Mann spurlos verschwunden und habe irgendwelche militärische Unterlagen zurückgelassen und Material über das – Greenberg blickte auf seine Notizen und sprach langsam und deutlich – über das Lawrence Livermore National Laboratory.

»Können Sie mir sagen, was das für ein Betrieb ist, Sir?«

Nach einer kurzen Pause, und nachdem auf der anderen Seite des Atlantiks einige Stimmen zu hören, aber nicht zu verstehen waren, antwortete der Mann vom militärischen Geheimdienst: »Das kann ich, Sergeant Greenberg – das ist das Atomwaffenforschungslabor der USA in Kalifornien.«

Und er befahl Greenberg in einem Ton, der durch die klare Satellitenverbindung noch dringlicher klang, er solle sich unverzüglich um weitere Details dieser Sache bemühen und sobald wie möglich zurückrufen.

»Auf der abhörsicheren Leitung, natürlich!«

»Selbstverständlich, Sir«, sagte Bernhard Greenberg.

Er verkniff sich die Frage, warum dieser Aufwand und diese Eile – bei der Suche nach einem Mann, den es angeblich nicht gab.

3

Freitag, 29. September 1989

Hauptkommissar Manfred Lohmer packte kurz nach 19 Uhr in der Polizeidienststelle Cuxhaven seine Aktenmappe und klemmte sich die Tüte mit den Büchern und Kassetten von der Dörte III unter den Arm, als Kriminalrat Kohlschmidt in sein Zimmer kam und fragte, was mit der »Leichensache Wachsmuth« sei, mit dem Sohn des bekannten Arztes, der sich erhängt hatte? Die habe er an einen Kollegen abgegeben, sagte Lohmer. Er habe seit gestern abend einen anderen Fall übernommen.

»Deswegen frage ich auch, wenn Sie gestatten, Herr Kollege. Ich habe gerade Ihre Fernschreiben in alle Welt gelesen. Da Sie mir ja sonst nichts mitteilen – darf ich erfahren, ob das nicht ein etwas übertriebener Aufwand ist? Wie ich höre, gibt es bisher nichts außer ein paar Blutflecken auf einem Boot?«

Lohmer murmelte etwas von »äußerst merkwürdigen Umständen, die auf ein Verbrechen mit internationalem Hintergrund hindeuten«. Selbstverständlich werde er morgen ausführlich berichten, wenn er mehr wisse. Er verabschiedete sich eilig.

Auf der Heimfahrt fragte er sich, ob ihn dieser Fall auch so beschäftigen würde, wenn das menschenleere Boot nicht durch irgendeinen Zufall praktisch vor seiner Haustür gestrandet wäre? Oder durch eine Fügung? Es gab Fälle, da wollte Hauptkommissar Manfred Lohmer nicht an Zufälle glauben. Er hatte seinen BMW gerade in dem von Efeu überwachsenen Carport vor seinem Haus abgestellt, als seine Frau durch das Fenster seines Arbeitszimmers rief: »Komm schnell, da ist ein Amerikaner am Telefon, ich hab den Namen nicht verstanden!«

Am Apparat war Greenberg.

»Ich hab deine Anfrage nach Washington weitergegeben, Fred. Und ich habe auch schon Antwort bekommen, genauer gesagt: drei Antworten. Die vom Pentagon und vom FBI lauten: es gibt keinen William J. Berrigan. Und unser militärischer Geheimdienst rief eben extra aus Washington an, was schon mal verdammt ungewöhnlich ist und will alles über diesen nicht existierenden Mister Berrigan wissen. Ist doch irgendwie ganz logisch, nicht ...?«

Lohmer wehrte seinen kleinen Hund ab, der auf seinen Schoß springen wollte.

»Es scheint so, als ob Berrigan nicht der richtige Name von dem Mann auf dem Boot ist.«

»... aber da sich die Jungs von der DIA kurz vorm Wochenende so brennend für den Fall interessieren, muß mehr dahinterstecken als eine verdammte Vermißtensache«, sagte Bernie Greenberg. »Ich glaube, Manfred, du bist da an ein ziemlich heißes Ding geraten.«

»Du wolltest dich erkundigen, was es mit diesem Laboratorium auf sich hat, von dem diese Unterlagen auf dem Boot stammen?«

»Allright, das kommt noch dazu: soweit ich bis jetzt gehört habe, liegt das irgendwo in Kalifornien, da werden neue Atomwaffen erfunden – das ist ein modernes Los Alamos, falls dir das was sagt. Alles, was da passiert, ist natürlich strengstens geheim. Jedenfalls werden da von Wissenschaftlern an Computern irgendwelche Höllenmaschinen für den nächsten oder schon für den übernächsten Krieg ausgebrütet. Sogar für den Krieg im Weltraum.«

»Du meinst, die Sache könnte mit Spionage zu tun haben?«

»Ich sehe, du kannst mir folgen. Die Frage ist, ob der Mann aus dem Boot ein Spion oder ein Agent war oder ist? Falls du den Unterschied nicht kennst: ein Spion ist ein Böser, einer von der anderen Seite, ein Agent ist ein Guter, also einer von uns.«

»Danke für den Nachhilfeunterricht, darauf wäre ich nie gekommen.«

»Wenn der Mann auf deinem Boot aber einer von uns ist oder war – dann muß irgend etwas ziemlich schiefgelaufen sein, sonst wären die in Washington nicht so nervös.«

Greenberg fragte Lohmer nach allen Einzelheiten seiner bisherigen Ermittlungen, weil er so schnell wie möglich Washington informieren müsse. Erst nach zwanzig Minuten legte Lohmer den Hörer wieder auf.

Ingrid Lohmer hatte »Gegrilltes Kräuterhähnchen provenzalischer Art« gemacht, sein Lieblingsessen, eine Geste der Versöhnung nach dem Streit gestern. Nun waren die Kräuter auf der Hähnchenhaut schon fast schwarz gebrannt. Trotzdem duftete und schmeckte es köstlich. Lohmer machte eine Flasche Chardonay auf und erzählte, was er sonst selten tat, seiner Frau von seiner Arbeit, von dem Boot und von dem verschwundenen Mann.

»Ist Eva schon im Bett?« fragte er.

»Die hat schon vorher gegessen, weil du so spät gekommen bist. Jetzt hört sie vor dem Einschlafen noch die Kassette, die du ihr mitgebracht hast.«

»Ich habe ihr keine Kassette mitgebracht.«

»Aber sie hat eine Kinderkassette aus dieser Einkaufstüte da genommen ...«

Lohmer stand hastig auf und sagte, daß dies kein Geschenk, sondern ein sichergestelltes Beweisstück sei. Er ging zum Kinderzimmer und drückte vorsichtig die Türklinke herunter. Die Nachtlampe brannte. Eva hatte die Bettdecke bis über die Nasenspitze gezogen und die Augen fest zusammengekniffen. Sie stellte sich schlafend. Als er ihr einen Kuß auf die Stirn gab, schlang sie ihre kleinen Arme um seinen Hals und drückte ihn.

»Ich hab dich reingelegt, ich bin noch wach, Papi!«

»Du hast mir eine Kassette gemopst.«

»Wieso? War Regina Regenbogen nicht für mich?«

»Nein, diesmal nicht. Wo hast du sie denn?«

»Im Kassettenrecorder. Du kannst sie wiederhaben, die ist sowieso nicht ganz richtig. Da reden ein Mann und eine Frau immer dazwischen.«

»Was?«

Lohmer ging schnell zum Regal, in dem der Kassettenrecorder zwischen Dutzenden von Stofftieren stand, spulte die eingelegte Kassette zurück und drückte auf »Play«.

Musik ertönte. Klarinetten- und Gitarrenklänge. Ein Kinderchor sang. Eine Frauenstimme sagte im Märchentantenton: »Das Regenbogenland war grau und düster, bevor Regina Regenbogen kam ...« Und erzählte vor den Hintergrundgeräuschen eines Gewitters von den »bösen Monstern« und »guten Sternwichten« im bunten »Regenbogenland«, dann wurde das Band mit lautem Knacken gestoppt und wieder in Gang gesetzt. Ein Junge sagte: »Deine Geschichte vom Sternenkrieg ist viel spannender, erzähl mir noch eine!«

Dann war eine Männerstimme zu hören. Der Mann war offenbar etwas angetrunken. Seine Stimme war schleppend. Er hatte einen leichten, aber deutlich hörbaren amerikanischen Akzent. Er bemühte sich angestrengt um einen tiefen Tonfall. »Okay. Dann erzähle ich dir die Story, wie die guten Sternenkrieger mit ihren Atomraketen und mit tödlichen Strahlen, die viele tausend Mal heißer sind als die Strahlen der Sonne, die gute alte Erde verteidigen ...«

»Oh, prima«, sagte die Jungenstimme.

»Es war einmal ein Präsident«, fuhr die Männerstimme fort, »der herrschte über das reichste und mächtigste Land der Welt, und der hatte trotzdem so viel Angst, daß er immer neue, immer gewaltigere, immer schrecklichere Waffen zum Schutz seines Landes erfinden ließ, obwohl seine Feinde schon lange keine Lust mehr hatten, einen Krieg zu führen ...«

Die seltsame Geschichte handelte von Raketen und von Todesstrahlen und von Killersatelliten zwischen Sonne, Mond und Sternen. Der Junge verstand nicht, fragte dazwischen, wurde müde und schlief offenbar ein. Der Mann sprach weiter, oft Englisch oder Amerikanisch. Kommissar Lohmer hörte unverständliche Kürzel und Bezeichnungen, ein Ortsname fiel, der wie Livermoor klang. Dann rief im Hintergrund eine Frauenstimme: »Was erzählst du dem Kind denn so lange? Komm endlich!«

Der Junge protestierte noch mit müder Stimme. Der Mann sagte etwas Unverständliches. Ein Stuhl wurde geräuschvoll weggeschoben. Schritte entfernten sich. Es knackte auf dem Band. Danach waren wieder die Musik und der Kinderchor und die Stimmen von Regina Regenbogen und ihren Freunden zu hören.

Lohmer nahm das Band aus dem Kassettenrecorder, gab seiner Tochter einen Gute-Nacht-Kuß und spulte es in der Stereoanlage im Wohnzimmer ein halbes dutzendmal ab.

Seltsame Geschichte, dachte er. Die Gesprächsfetzen sind in derselben Situation aufgenommen worden, in der er sie gerade gehört hatte – vor dem Einschlafen eines Kindes. Ob das der Amerikaner vom Boot war? Vor allem: Die Frauenstimme kam ihm immer bekannter vor, je öfter er den einen Satz hörte, den sie gesprochen hatte. Obwohl sie wie erkältet klang – oder gerade deswegen? Auch seine Frau Ingrid meinte, sie habe die Stimme schon irgendwo gehört.

Kurz nach zehn ging das Telefon. Am Apparat war der Bootsverleiher Paulsen aus Otterndorf.

»Herr Kommissar«, sagt er, »ich seh gerade die Frau von dem Amerikaner, die mit den roten Haaren von der Dörte III.«

»Wo sind Sie?« fragte Lohmer.

»Zu Hause. Bei mir zu Hause.«

»Und die Frau ist bei Ihnen?«

»Nee, Herr Kommissar«, sagte Paulsen und lachte asthmatisch. »Ich seh fern, und die Frau is gerade im Fernsehen ...«

Lohmer schaltete sofort das Fernsehgerät ein. Wie an jedem Freitag abend lief in dem Privatsender RTA, Radio Tele Aktuell, die Sendung »Thema Nr. 1 – Die Talkshow zum brisantesten Thema der Woche«. Die Sendung war in letzter Zeit selber in die Schlagzeilen der Programmzeitschriften und Boulevardblätter gekommen, weil die ebenso attraktive wie politisch engagierte und umstrittene Moderatorin Ines van Holten nach einem Krach mit ihrem konservativen Programmdirektor vom öffentlichrechtlichen Programm zu RTA gewechselt war. »Die rote Ines«, wie sie wegen ihrer Haarfarbe und ihrer politischen Haltung genannt wurde, sei dem Lockruf des großen Geldes gefolgt. Sie habe die Moderation der »Thema-Nr.-1«-Sendung für eine halbe Million im Jahr übernommen. Sie ließ sich nicht von Politikern und anderen Prominenten mit Allgemeinplätzen abwimmeln, stellte aggressive Fragen bis in die Privatsphäre, war schlagfertig-bissig und witzig-charmant. Die bis dahin eher langatmige Sendung hatte innerhalb weniger Wochen ihre Einschaltquote fast verdoppelt. Das Thema diesmal: »Explodiert die DDR? Flüchtlingswelle und Proteste vor dem 40. Jahrestag des zweiten deutschen Staates?«

Ines van Holten stellte gerade ihre Gäste nacheinander vor. Die Moderatorin hatte ihr Haar zu einem langen, wippenden Zopf flechten lassen. Die Maskenbildnerin hatte ihre Wangenknochen mit Rouge betont. Die roten Lippen glänzten feucht im Scheinwerferlicht. Straßsteinchen blitzten auf ihrer pastellgrünen Bluse. Ihr hautenger Rock rutschte bis über die Knie, als sie ihre langen Beine übereinanderschlug. Zur Einleitung der Gespräche verlas sie ein paar aktuelle Nachrichten über die Unruhen in Ostberlin und Leipzig, über den Knüppeleinsatz von Stasileuten und Volkspolizisten vor Kirchentüren. Ihre Stimme klang selbstsicher, metallisch, ein wenig erkältet.

Manfred Lohmer hatte keinen Zweifel: es war die Stimme vom Tonband. Seine Frau erzählte ihm, was sie vor ein paar Tagen in einem Boulevardblatt gelesen hatte: Ines van Holten habe sich von ihrem Mann, einem Fernsehproduzenten, getrennt. Sie erziehe ihren kleinen Sohn nun alleine und habe sich nach dem Vertragsabschluß bei RTA eine Luxuswohnung in Hamburg gekauft.

Lohmer rief den Sender RTA an und bekam einen Redakteur der Nachrichtenredaktion an den Hörer. Der sagte ihm, die gerade laufende Talkshow sei eine Live-Sendung und werde voraussichtlich bis weit nach Mitternacht dauern.

Lohmer gab seiner Frau einen flüchtigen Kuß und fuhr nach Hamburg. Er nahm den Weg durch das Moor und durch das Obstanbaugebiet im Alten Land. Die Straßen waren leer, der Asphalt glänzte feucht und war stellenweise von Laub bedeckt, so daß die Hinterräder des BMW in manchen Kurven gefährlich durchdrehten. Lohmer schaffte die neunzig Kilometer in knapp einer Stunde.

Im Intercontinental-Hotel sagte der Portier, er könne ihn nicht in den abgetrennten Teil der Lobby lassen, in der die Talkshow stattfand. Ein paar Männer mit ausgebeulten Jacketts standen unauffällig herum, die Leibwächter des Außenministers, der für seinen Diskussionsbeitrag gerade Beifall bekam. Diesmal hatte Lohmer seinen grünen Dienstausweis nicht vergessen. Der Portier ließ ihn zögernd durch, als er sagte, er sei nach der Sendung dienstlich mit Frau van Holten verabredet.

Er stellte sich hinter eine raumhohe Palme, die zur Dekoration gehörte, und beobachtete die Kabelschlepper und die Kameraleute, die ihre Kameras auf Stativen mit breiten Gummirändern über Bretterböden leise hin- und herfuhren und die Teilnehmer der Talkshow und die Zuhörer aus wechselnden Perspektiven aufnahmen. Eine Maskenbildnerin tupfte der Moderatorin Schweiß von der Stirn und puderte ihr Make up über, als sie gerade nicht im Bild war. Dann fuhr eine Kamera nah an sie heran. Ihr Gesicht erschien in Großaufnahme auf einem der am Boden stehenden Monitore. »Die Frage ›Explodiert die DDR?‹ liebe Zuschauer, wird noch lange das Thema Nr. 1 bleiben. Wir werden weiterhin darüber berichten. Ich danke meinen Gästen für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und Ihnen für Ihr Interesse. Herzlich – ihre Ines van Holten.« Das Publikum applaudierte auf das Zeichen eines Mannes, der seine Hände hochhob und vorklatschte.

Es war schwülwarm und stickig. Obwohl er im Halbdunkel hinter den Scheinwerfern stand, lief Lohmer der Schweiß in den Kragen seines blaugestreiften Sporthemdes. Er lockerte seine Lederkrawatte und beobachtete, wie Ines van Holten Autogramme schrieb und die Glückwünsche eines offenbar wichtigen Mannes zu der »aufregenden Sendung« entgegennahm. Dann wandte sie sich um und ging schnell in Richtung der Fahrstühle. Sie kam direkt an ihm vorüber. Sie war kleiner, als er gedacht hatte. Im Gehen löste sie das Band ihres Pferdeschwanzes. Kupferrotes Haar fiel bis auf ihre Hüften. Lohmer roch ein herbes, erotisierendes Parfüm. Er folgte ihr in den Fahrstuhl. Sie schien ein wenig irritiert. Als sich die Tür geschlossen hatte, holte sie eine Zigarettenschachtel aus ihrem Täschchen. Lord extra. Die Marke vom Boot. Sie zuckte leicht, als Lohmer ihr hastig Feuer gab und fragte, ob er sie sprechen könne.

Offenbar glaubte sie, er sei ein aufdringlicher Verehrer oder – schlimmer noch – ein prominentensüchtiger Psychopath. Sie habe jetzt leider keine Zeit, sagte sie professionell kühl. Der Fahrstuhl hielt im fünften Stock. Lohmer fingerte seinen grünen Dienstausweis aus der Tasche seiner Wildlederjacke.

»Tut mir leid, aber es läßt sich leider nicht vermeiden.«

Sie erschrak sichtbar, ging aus dem Fahrstuhl bis zu einer Hotelzimmertür, überlegte kurz, schloß auf und bat ihn herein. Das Zimmer diente als Garderobe, ein mit nackten Glühbirnen beleuchteter Schminktisch war aufgebaut, auf dem Doppelbett lagen ein Köfferchen, ein tiefausgeschnittenes Kleid und Kopien von Zeitungsausschnitten über die Gäste ihrer Talkshow. Ines van Holten öffnete die Minibar und holte ein Fläschchen »Fernet Branca« heraus, kippte den Inhalt herunter und schüttelte sich.

»Setzen Sie sich irgendwohin«, sagte sie kurz angebunden, ging ins Badezimmer und ließ die Tür offen. Offenbar wusch sie sich Hände und Gesicht. »Also, schießen Sie los«, sagte sie durch die Tür. »Was kann ich für Sie tun?«

Lohmer ging im Zimmer hin und her. Er hätte ihr bei der Befragung gern ins Gesicht gesehen.

»Sie haben doch einen kleinen Sohn ...«, begann er und bereute im selben Moment diesen Anfang.

Ines van Holten kam mit verwischtem Make up und halb ausgezogener Bluse aus dem Bad und sah ihn ängstlich an.

»Um Gottes Willen! Ist etwas mit Sebastian passiert?!«

»Nein, nein, wirklich nicht, es ist alles in Ordnung mit Ihrem Kind.«

Lohmer stammelte. »Ich wollte nur fragen, ob es möglich ist, daß ich die Stimme Ihres Sohnes und Ihre Stimme auf einer Tonbandkassette gehört habe.«

Lohmer kam sich idiotisch vor, wie ein Schauspieler, der seinen Auftritt total verpatzt. Die Moderatorin verschwand wieder im Bad, sagte eine Zeitlang nichts und kam dann mit ungeschminktem Gesicht ins Zimmer zurück. Lohmer fand, daß sie so viel aparter aussah.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich deutlich ausdrücken würden. Was für ein Tonband? Was für Stimmen? Herr ... wie war doch Ihr Name?« sagte sie in der metallisch-schneidenden Tonlage, mit der sie vor laufenden Kameras schwadronierende Politiker zum Thema zurückbrachte.

Lohmer fühlte, wie er rot wurde und hoffte, daß sie es nicht bemerken würde. »Kennen Sie einen Amerikaner namens William J. Berrigan?« fragte er unvermittelt.

»Nein«, sagte sie ebenso scharf wie zuvor und forderte ihn auf, sich umzudrehen, sie sei noch verabredet und wolle sich, wie er vielleicht bemerkt habe, noch umziehen. Lohmer blickte durch die Gardine auf die Alster hinunter. Auf der anderen Seite hob sich das hell angestrahlte »Hotel Atlantic« von der dunklen Umgebung ab.

»Sie haben auch nicht mit Mister Berrigan vor einigen Tagen in Otterndorf eine Motorjacht gechartert und sind in die Oste gefahren?«

Lohmer hörte hinter sich das Rascheln von Textilien. Sie schleuderte ihre hochhackigen Schuhe von den Füßen.

»Also wir wollen hier doch nicht länger in Rätseln reden, ich bin eine einigermaßen erwachsene Frau und habe nichts zu verbergen – jedenfalls nicht vor der Kriminalpolizei«, sagte sie. »Erstens: Ich kenne, wie gesagt, keinen Mister Berrigan. Zweitens: Ich habe zusammen mit einem amerikanischen Freund eine Bootstour auf der Oste gemacht ... und ich werde diese Bootstour morgen fortsetzen. Ich habe sie wegen der Sendung heute für einen Tag unterbrochen.«

»Darf ich nach dem richtigen Namen Ihres amerikanischen Freundes fragen?«

»Warum? Was heißt ›richtiger‹ Name? Was ist passiert?«

Zum erstenmal hörte Lohmer Unsicherheit in ihrer Stimme. Er hätte gern ihr Gesicht gesehen. »Ihr Freund – wie immer er heißt – ist ziemlich spurlos verschwunden«, sagte Lohmer. »Wenn man von ein paar Blutspuren absieht, die er hinterlassen hat.«

Er drehte sich abrupt um. Er sah gerade noch, wie ihre Brüste in eine Bluse aus lachsfarbener Seide hüpften. Sie knöpfte sie hastig zu.

»Was heißt das: er ist verschwunden?«

Lohmer erzählte ihr kurz und schonungslos von dem herrenlosen Boot, von den Blutspuren an Bord, von der Tonbandkassette und daß der Bootsvermieter sie gesehen und erkannt hätte. Er sagte auch, daß es noch keinerlei konkrete Anhaltspunkte gebe, was geschehen sei. Es könne alles ganz harmlos sein, es könne aber auch ein Verbrechen stattgefunden haben.

»Können Sie sich vorstellen, daß er ... daß er sich etwas angetan hat? Hat er unter Depressionen gelitten ... hat er möglicherweise Liebeskummer gehabt?« Das Lächeln blieb in seinen Mundwinkeln hängen.

»Ich nehme an, daß indiskrete Fragen zu Ihrem Beruf gehören.«

»Zu Ihrem wohl auch, ich nehme deshalb an, Sie haben Verständnis dafür.«

»Also Peter war ... er ist in mich verliebt, aber er mußte deswegen keinen Kummer haben. Ja, daß er ein paar berufliche Probleme hatte, das ist schon möglich. Er war in der vorigen Woche für seine Firma in Bonn zu irgendeiner Tagung. Als er zurückkam, hat er mal was angedeutet. Es sei Wahnsinn, was die da machen oder so ... Aber Depressionen? Oder gar Selbstmordgedanken? Nein.«

»Peter heißt er also, nicht William, und vermutlich auch nicht Berrigan, wie in dem Paß stand, den er beim Bootsverleiher hinterlegt hat.«

»Er hat einen falschen Paß hinterlegt?« Einen Moment schien sie verwirrt. Lohmer nutzte die Gelegenheit.

»Darf ich jetzt vielleicht erfahren, wie er sich Ihnen gegenüber genannt hat?«

»Ich verbitte mir diesen süffisanten Ton, Herr Hauptkommissar!« Ihre Augen wurden eng. Eine helle Röte stieg in ihr Gesicht, an die Partien über den Wangenknochen, die vorher von der Maskenbildnerin geschminkt worden waren. Lohmer fand, daß ihr die Zornesröte noch besser stand.

»Ich kenne ihn seit fast zwanzig Jahren. Sein Name war und ist Peter Rosenblatt. Er kommt aus Kalifornien. Er ist Physiker, wissenschaftlicher Computerspezialist oder so.«

»Genaueres wissen Sie nicht über seine Tätigkeit?«

»Soweit ich das verstanden habe, befaßt er sich mit der Entwicklung von neuartigen medizinischen Operationsgeräten. Ich glaube, es hat etwas mit winzigen Laserstrahlen für die Gehirnchirurgie zu tun. Ich habe natürlich keine Ahnung von diesen Dingen.«

Sie zog sich vor dem hohen Schrankspiegel weiter an, wechselte sogar den Rock, als wäre er gar nicht im Raum. Lohmer glaubte erst, sie sei völlig nackt, bis er sah, daß sie einen fleischfarbenen, bestickten Slip trug.

»Vielleicht ist er von Bord gegangen, um irgend etwas zu erledigen, und das Boot ist ganz einfach abgetrieben.«

»Schon möglich«, sagte Lohmer, »aber er ist seit mehr als 24 Stunden verschwunden.«

»Was sind das für Blutspuren, von denen Sie gesprochen haben?«

»Das wissen wir eben noch nicht genau ...«

Mehr zu sich selbst als zu ihm erzählte sie von ihrem amerikanischen Freund.