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Manchmal braucht man eine Auszeit, um wieder klar zu sehen. Nach dem Tod der Mutter herrscht zwischen den Schwestern Helen und Irene Funkstille. Das Erbe hat sie auseinandergebracht. Helens Mann Daniel hat genug vom Familienzwist und bricht nach Mallorca auf, wo er über seine Zukunft nachdenken möchte. Seine Frau reist gekränkt nach Sylt zu ihrer Freundin Marlene. Kann sie ohne Schwester und Ehemann noch einmal von vorn beginnen? Welches Geheimnis umgibt Marlenes Partner und was passiert, wenn das Schicksal einem dazwischenfunkt? Eine Geschichte über Fehler und den Mut, verzeihen zu können. Nach dem Erfolg von „Konfetti im Winter“ der zweite Sylt-Roman der Autorin.
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Über das Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
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Über die Autorin
Weitere Bücher der Autorin
© 2021 Katharina Mosel
2. Auflage 2024 (Version 1.0)
Alle Rechte vorbehalten.
Katharina Mosel, Hohenstaufenring 63, 50674 Köln
© Cover- und Umschlaggestaltung: Laura Newman –
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Lektorat: Eva Maria Nielsen, www.lektoratderrotefaden.de
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Manchmal braucht man eine Auszeit, um wieder klar zu sehen.
Nach dem Tod der Mutter herrscht zwischen den Schwestern Helen und Irene Funkstille. Das Erbe hat sie auseinandergebracht.
Helens Mann Daniel hat genug vom Familienzwist und bricht nach Mallorca auf, wo er über seine Zukunft nachdenken möchte. Seine Frau reist gekränkt nach Sylt zu ihrer Freundin Marlene. Kann sie ohne Schwester und Ehemann noch einmal von vorn beginnen? Welches Geheimnis umgibt Marlenes Partner und was passiert, wenn das Schicksal einem dazwischenfunkt?
Eine Geschichte über Fehler und den Mut, verzeihen zu können.
Nach dem Erfolg von „Konfetti im Winter“ der zweite Sylt-Roman der Autorin.
Ein Geräusch schreckte Helen auf. Sie zuckte zusammen und hätte fast den Inhalt des Bechers verschüttet, der neben der aufgeschlagenen Tageszeitung stand. Der Kaffee war längst kalt. Hatte Charlie draußen etwas umgerissen? Der Hund liebte es, in Mülltüten zu stöbern.
Sie erhob sich mit einem Seufzen. Ihr Blick streifte die Wanduhr, die über dem Gewürzregal hing. Halb zehn, du lieber Himmel. Sie war doch eben erst aufgestanden.
„Charlie“, rief sie und stützte sich mit einer Hand am Tisch ab. „Wo bist du? Komm sofort her.“
Keine Reaktion. Sie schlurfte zum Eingang und warf einen Blick in den langgestreckten Flur Richtung Haustür. Die beiden Tüten mit Müll, die darauf warteten, nach unten gebracht zu werden, standen an derselben Stelle wie gestern Abend. Warum hatte Daniel den Abfall nicht entsorgt? Vom Yorkshire war nichts zu sehen, vermutlich lag er verbotenerweise im Schlafzimmer auf dem Bett. Müde wischte sie sich mit der Hand über die Augen. Ein paar Minuten ausruhen. Vor heute Nachmittag brauchte sie in der Boutique nicht zu erscheinen. Vormittags kam Nicole allein zurecht. Den Rest des Tages im Grunde auch. In den letzten Monaten war sie wahrlich keine Hilfe gewesen.
„Charlie“, rief sie erneut und ging am Wohnzimmer vorbei bis zum Ende des Gangs. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Merkwürdig. Helen ließ normalerweise alles auf, die Luft sollte zirkulieren. Eine Marotte, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte und die Daniel in den Wahnsinn trieb. Er achtete akribisch darauf, Türen zu schließen. Im Winter mit dem Kommentar, dass sie nicht für den Flur heizten.
Hinter der Tür scharrte es. Ob sich der Hund aus Versehen selbst eingesperrt hatte? Helen drückte die Klinke behutsam nach unten, um Charlie nicht zu verletzen. Wie erwartet, lauerte er dahinter und sprang an ihr hoch, sobald sie in das Zimmer trat.
„Was machst du hier?“, sagte sie und beugte sich zu dem Fellknäuel hinab. Der Hund fiepste und wedelte mit seinem Schwanz. Erleichtert, dass er nicht mehr allein war. Helen kraulte ihn und überlegte, sich doch noch einen Augenblick hinzulegen. Auf keinen Fall länger. Sie näherte sich dem geräumigen Doppelbett, Charlie hüpfte vor ihr auf und ab. Warum lag die blaue Reisetasche auf der Decke? Zur Hälfte gepackt mit Poloshirts und Baumwollhosen. Helen durchforstete ihr Gehirn. Wollte Daniel verreisen? Geschäftlich? Wieso benutzte er nicht den Kleidersack, in dem man Anzüge knitterfrei transportierte? Welche Anzüge? Das waren alles Freizeitklamotten. Sie schüttelte den Kopf und nahm das Tier auf den Arm. Charlie schmiegte sich an ihre Brust. Ob er ihre Verwirrung merkte? Hunde hatten ein Gespür für Stimmungen. Wann immer ein Koffer gepackt wurde, blieb er dicht beim Gepäck, aus Angst, vergessen zu werden. Sie strich mit der Hand über die rote Jeans, die oben auf dem Stapel lag. Ihre Lieblingshose. Daniel hatte die auf ihre Initiative hin gekauft. Denkst du nicht, dass diese Farbe für mich zu jugendlich ist? Für ausdrucksstarke Töne ist man nie zu alt.
Was hatte sie verpasst?
Mit Charlie auf dem Arm schritt sie zurück in die Küche, wo sie den Hund vor seinen Näpfen absetzte. Der Yorkshire tauchte seine Schnauze in den Wassernapf und ein schlabberndes Geräusch durchschnitt die Stille. Helen goss den Kaffee in den Ausguss. Sollte sie noch schnell einen Kaffee trinken? Besser nicht, sie war aufgeregt genug. Ihr Herz klopfte lauthals, und sie tastete mit der rechten Hand nach dem Puls. Zu schnell. Und wenn sie Daniel im Büro anrufen würde?
Schlechte Idee. Die Kommunikation zwischen ihnen war derzeit schwierig. Sie war verantwortlich. Endlich abschließen mit der Trauer und den ewigen Vorwürfen. Irene lebte über vierhundert Kilometer entfernt. Wenn die Schwester sich weigerte, sie zu sehen, war es eben so. Keine endlosen Diskussionenmehr, Originalton Daniel. Ihr Mann hatte die Nase voll von ihr. Helens Augen wurden feucht. Sie schluckte. Jetzt bloß nicht wieder heulen. Schau nach vorn. Daniel hatte recht, sie würde ab sofort damit anfangen zu vergessen. Wohin wollte er mit der Reisetasche?
Charlie schoss in den Flur, Sekunden später hörte Helen, wie sich die Haustür öffnete. „Hallo Hund“, ertönte die kraftvolle Stimme Daniels. „Wenigstens einer, der sich immer wieder aufs Neue freut.“
Sie hastete zum Küchentisch und setzte sich, schob die Zeitung zu sich hin. Was machte Daniel um diese Uhrzeit hier? Normalerweise war er in seinem Büro. Die Zeilen verschwammen vor ihren Augen. Sie bemühte sich, den Text zu verstehen. Irgendetwas mit Fußball. Ein Foto von jubelnden Menschen vor irgendeinem Stadion. Daniel trat in die Küche. Helen hob den Blick. Er nickte ihr, ohne zu lächeln, zu, öffnete den Kühlschrank und goss sich ein Glas Orangensaft ein.
„Seit wann interessierst du dich für Sport?“, fragte er und stellte sich so nahe an sie heran, dass sie sein Rasierwasser roch. Ein Hauch von Sandelholz und Moschus. So vertraut.
„Arbeitest du heute nicht?“
„Nein.“ Daniel setzte sich an den Tisch und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. „Wir müssen reden.“
Helens Magen verkrampfte sich. Würde er sie verlassen? Hatte er eine andere Frau gefunden? Eine, die nicht mit so vielen Problemen zu kämpfen hatte?
„Jetzt?“
„Ja, jetzt.“
Unter dem Tisch kniff sie sich mit den Nägeln der rechten Hand in den linken Handteller, bis es wehtat. Bloß nicht anfangen zu weinen. Helen zwang sich, ihrem Mann ins Gesicht zu sehen. Entdeckte sie einen Hauch von Mitleid in seinem Blick? Sie räusperte sich. „Fährst du weg?“
„Ja. Ich brauche Zeit nur für mich.“ Er seufzte. „Ich zieh für einige Wochen nach Mallorca. In Lutz’ Wohnung. Die in Palma.“
„Aha.“ Sie drückte die Fingernägel stärker in die Haut.
Daniel legte seine Brille vor sich ab. Er wischte sich über die Augen und massierte seine Kopfhaut. Sein schmaler goldener Ehering blitzte am linken Ringfinger auf.
„Ich brauch eine Auszeit.“
„Aha.“
„So kann es nicht weitergehen.“
„Aha.“ Helen schmeckte Magensäure, gleichzeitig klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
„Ist das alles, was du dazu sagst?“
„Fährst du allein?“
Daniel schob sich die Brille wieder auf die Nase. „Hast du mir in den vergangenen Monaten auch nur einmal zugehört?“
Sie fröstelte und beugte sich zu dem Hund hinunter, der sich auf ihren Füßen niedergelassen hatte. Mit zitternden Händen strich sie ihm über das Fell. Charlie drehte sich auf den Rücken und ließ sich von ihr den Bauch kraulen. Minutenlang sprach niemand.
„Glaubst du ernsthaft, dass ich eine Affäre habe? Du solltest mich eigentlich besser kennen“, sagte Daniel beleidigt. „Ich bin ausgebrannt und will so nicht weiterleben. Bald bin ich sechzig, ich werde nicht mehr so viel arbeiten. Du weißt, dass ich seit Jahren den Plan habe, vorzeitig aufzuhören. Dafür habe ich so geschuftet. Für uns. Jetzt bin ich mir nicht sicher, ob es überhaupt noch ein ‚Uns‘ gibt.“
Helen richtete sich schwerfällig auf. Ihre Hände zitterten, sie verbarg sie unter dem Tisch. Nur keine Schwäche zeigen.
„Wie lange bleibst du weg?“
„Weiß nicht. Du kannst mich jederzeit anrufen. Ich melde mich ab und zu. Ansonsten …“ Daniel sah auf seine zusammengepressten Hände.
„Ansonsten soll ich dich in Ruhe lassen.“
Daniel sprang auf, eilte zum Fenster und sah hinaus. Charlie folgte ihm auf dem Fuße und versuchte knurrend, sich mit der Schnauze an seiner Hose festzubeißen. Daniel hob sein Bein und schüttelte ihn ab. „Du hörst ja nicht auf meinen Rat, leider. Nimm auch eine Auszeit“, sagte er nach einigen Minuten. „Vielleicht schaffst du es endlich, dir professionelle Hilfe zu suchen. Schließ mit deiner Familie ab oder versöhn dich mit Irene. Eins von beiden, das ist mir egal. Sonst weiß ich nicht, ob wir eine gemeinsame Zukunft haben. Ich werde so nicht weiterleben.“ Seine Schultern zuckten. Ob er weinte? Sollte sie ihn trösten? Warum? Sie war diejenige, die die Mutter verloren hatte. Ihre Schwester hatte das Erbe an sich gerissen und verweigerte ihr den Zutritt zum Elternhaus. Und nun verließ er sie, weil sie es nicht schaffte, über diese Ungerechtigkeit hinwegzukommen. Verkehrte Welt.
Helen starrte auf das von einem voluminösen Blattgoldrahmen umgebene leuchtende Lavendelfeld. Ein Ölbild, was sie beide in einem längst vergessenen Frankreichurlaub auf einem Flohmarkt entdeckt hatten. Sie räusperte sich und blinzelte, um die Tränen zurückzudrängen. „Mach das, was du glaubst, tun zu müssen. Ich halte dich nicht auf. Im Notfall hat das Büro sicher deine Adresse.“
„Du brauchst mein Office nicht zu bemühen. Ich habe dir die genaue Anschrift auf den Sekretär im Wohnzimmer gelegt.“
Warum klang seine Stimme auf einmal so kalt?
„Wann geht dein Flug?“
„In drei Stunden. Ich rufe mir ein Taxi.“
„Dann hast du ja alles bestens geregelt und kommst ohne mich zurecht. Ich wünsch dir einen angenehmen Aufenthalt.“ Helen wandte sich um und ging aus der Küche. Jetzt nicht zusammenbrechen. Dafür war Zeit, sobald sie wieder allein war.
Das Taxi war innerhalb von zehn Minuten da. Daniel warf die Tasche auf die Rückbank, bevor er sich in den Ledersitz fallen ließ. „Zum Flughafen bitte.“
„Klaro.“
Der Mercedes beschleunigte. Daniel wischte die feuchten Hände an der Jeans ab. Geschafft. Bis zuletzt war er nicht sicher gewesen, ob er das tatsächlich durchziehen würde. Ohne die Hilfe von Lutz hätte er es nicht gemeistert. In den vergangenen Tagen hatte er stundenlang mit seinem langjährigen Kanzleipartner diskutiert. Sollte er Helen zurück in Hamburg lassen? Was würde sie tun? Er erinnerte sich nicht daran, wann er zuletzt allein Urlaub gemacht hatte. War das hier überhaupt eine Ferienreise? Es ging immerhin um seine Ehe. Stimmt nicht, korrigierte er sich selbst. Es betraf sein Leben. Seine Zukunft.
„Wo geht’s denn hin? Hoffentlich haben Sie da besseres Wetter.“
„Hoffe ich auch“, brummte Daniel. Der Taxifahrer drückte auf die Hupe, um die Fahrerin des Minis aufzuschrecken, der vor der grün gewordenen Ampel stand.
„Sehen Sie sich das an. Total unfähig. Schleichen durch den Stadtverkehr und wundern sich dann, wenn andere Unfälle bauen.“ Der Mann gestikulierte mit beiden Händen. Daniel schloss die Augen. Bloß keine Diskussion mit Taxifahrern anfangen. Da zog man immer den Kürzeren. Er murmelte etwas Zustimmendes und sank tiefer in den Sitz.
„Sie brauchen dringend Erholung, was?“, prasselte es erneut auf ihn ein. „Stress im Job oder Stress daheim?“
„Keins von beiden“, sagte Daniel. „Hab nur schlecht geschlafen.“
„Kenn ich. Zu heftig gebechert, was?“
Mein Gott, musste er ausgerechnet auf einen Taxifahrer treffen, der Sabbelwasser getrunken hatte? Auf einmal sehnte er sich nach dem Süden. Zuerst würde er sich in Palma eine Bar suchen, um im Sonnenschein ein Glas Weißwein zu trinken. Am besten gleich eine ganze Flasche. Dazu Tapas.
„Ich kenn das. Passiert ja jedem mal. Sie werfen am Flughafen einen großen Becher Kaffee ein, dann klappt’s schon. Es stört doch nicht, wenn ich Musik mache, oder?“ Kurze Zeit später erscholl Reggae aus den Lautsprechern, die Bässe wummerten.
„Bitte, geht es etwas leiser?“
„Ach ja, sorry, Mann, klaro.“
Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Es nieselte. Daniel verfolgte die herablaufenden Tropfen auf der Windschutzscheibe. Bis Weihnachten waren es dreieinhalb Monate. Ob er dann wieder zurück war? Wieso dachte er an das Weihnachtsfest? Wegen der Familie? Die Wohnung in Palma war bis auf Weiteres nicht vermietet. Er konnte so lange bleiben, wie er Lust hatte. Und wenn ich gar nicht mehr zurückkomme? Dann eröffnen wir eine Zweigstelle in Spanien, hatte Lutz gesagt. Mach dir keine Sorgen, Alter, du hast eine Auszeit verdient. Wir wollten doch sowieso die Arbeitszeit reduzieren. Sollen die Jungen mal zeigen, was sie draufhaben.
Am Flughafen gab Daniel dem Taxifahrer ein zu hohes Trinkgeld. Er schnappte seine Tasche und bahnte sich den Weg durch die Menschenmasse in der Abflughalle, bis er vor dem Check-in angekommen war. Hinter einer Familie mit zwei Kindern reihte er sich ein. Die Mutter trug vor der Brust ein bunt gestreiftes Tragetuch, der Blondschopf eines Säuglings lugte hervor. Neben ihr hielt ein Mann einen kleinen Jungen an der Hand. Der hüpfte von einem Bein auf das andere und plapperte vor sich hin. Der Vater beugte sich zu der Frau und küsste sie auf den Mund, gleichzeitig strich er über den Kopf des Babys. Daniel ließ seine Reisetasche zu Boden fallen und schubste sie mit dem Fuß ein Stück vor. Er zwinkerte dem Knirps zu. Der runzelte die Stirn und sah ihn mit blauen Kulleraugen an, bevor er sich ruckartig umwandte. Sophie und Ben. Als die klein waren, konnten Helen und er sich Flugreisen nicht leisten. Urlaube an der Nordseeküste, entweder in Dänemark oder auf einer der Inseln, waren die Regel. Inzwischen besaßen Helen und er ein Appartement auf Sylt, das meistens vermietet war. Schon lange her, dass sie dort Sommerurlaube verbracht hatten. Über Weihnachten und Silvester flohen sie oft auf die Insel. Zur Weihnachtsparty am Heiligen Abend lud Marlene sie ein, die in Wenningstedt in einem uralten Reetdachhaus wohnte. Die Kinder waren nur selten mit dabei. Sie lebten in Partnerschaften und wollten an ihren freien Tagen nicht bei den Eltern herumhängen. Das war in Ordnung. Die Zeit verging so rasch. Ob er bald Großvater werden würde?
Die Schlange schob sich ein paar Meter vor. Hier und jetzt, darauf kam es an. Niemand wusste, wie viel Zeit einem blieb. Warum begriff Helen das nicht?
„Sie sind dran.“ Eine genervte Stimme durchbrach von hinten sein Gedankenkarussell. Die Familie vor ihm war nicht mehr zu sehen. Daniel fischte die Brieftasche aus dem Rucksack und legte seinen Ausweis auf den Schalter.
„Wo geht’s denn hin?“, fragte ein gelangweilter Mitarbeiter, ohne hochzublicken.
„Nach Palma de Mallorca.“
„Eine Bordkarte haben Sie nicht?“
„Nein, sorry. Habe total vergessen, vorher einzuchecken.“
„Okay, dann muss ich sehen, wo ich etwas für Sie finde. Der Flug ist ausgebucht, ich habe nur Plätze in der Mitte.
„Hauptsache, ich komme mit.“
Der Mann händigte ihm die Bordkarte aus und wünschte einen guten Flug. Daniel schlenderte in Richtung der Sicherheitskontrolle und fand sich kurze Zeit später im Duty-free-Bereich wieder. Fünfundvierzig Minuten bis zum Abflug. Was hatte der Taxifahrer gesagt? Ein Becher Kaffee würde helfen. Ihm war nach etwas Stärkerem zumute. Er musterte die Phalanx der Whiskeyflaschen. Sollte er Helen vor dem Start anrufen? Auf gar keinen Fall. Er wählte die Nummer von Sophie und lauschte ungeduldig dem Freizeichen. Vermutlich war sie im OP. Bei Ben brauchte er es gar nicht zu versuchen; der war als Headhunter bundesweit unterwegs und tagsüber nie zu erreichen. Er verschob die Telefonate auf den Abend. Oder auf morgen. Helen würde die Kinder sicher über seinen Ausbruch informieren.
Am Zeitungskiosk ignorierte er die Tageszeitungen und betrachtete stattdessen die Thriller. Endlich würde er Zeit zum Lesen haben. Wahllos griff er nach fünf Büchern, die vom Cover her blutrünstig aussahen. Ablenkung war nützlich. Wenn er sich in seine neue Situation eingefunden hatte, war Muße genug für tiefsinnige Romane. Deutsche Buchhandlungen gab es in Palma schließlich auch. Und wer sagte überhaupt, dass schwere Kost notwendig war? Komplizierte Texte hatte er berufsbedingt zuhauf gelesen. Gewöhn dich daran. Die nächsten Wochen bestimmst nur du, was Sache ist. Wenn dazu Thriller gehören, umso besser.
Hinter ihm schloss der Steward die Tür des Flugzeugs. Eine Flugbegleiterin fing an, die Klappen der Gepäckfächer zu schließen. Er schlängelte sich an ihr vorbei und hastete, bepackt mit seiner Büchertüte und der Flasche Whisky, die er beim Aufruf des Boardings gekauft hatte, zu seinem Platz in der letzten Reihe. Am Fenster und Gang saßen zwei ältere Damen, die über den freien Sitz hinweg in ein Gespräch vertieft waren.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Daniel, die beiden Köpfe fuhren auseinander. „Wenn Sie mögen, setzen Sie sich doch nebeneinander, ich sitze gern außen.“ Genau genommen war der Gangplatz sein Lieblingsplatz, es flog sich besser mit ausgestreckten Beinen.
„Wie aufmerksam von Ihnen, junger Mann“, antwortete die Frau am Fenster, die eine hellblaue Lesebrille über ihre schneeweißen, kurz geschnittenen Haare geschoben hatte. Auf ihrem Schoß lag ein dicker Schmöker. „Emilia und ich haben uns aber extra so weit auseinandergesetzt, damit wir nicht die ganze Zeit schnattern.“ Sie gluckste. Er schätzte sie auf mindestens achtzig. Pech gehabt, es blieb beim unbequemen Mittelplatz.
„Kommen Sie, ich stehe mal kurz auf.“ Emilia benötigte ein paar Sekunden, bis sie ihren Anschnallgurt gelöst hatte. Sie stützte sich mit den Händen auf der linken Armstütze auf, bevor sie sich schwerfällig erhob.
„Darf ich Ihnen behilflich sein?“
„Danke, nicht nötig. Ich schaffe das schon. Es dauert nur. Hatte ich eben gesagt, dass ich kurz aufstehe?“ Sie kicherte und schob sich an ihm vorbei. Dabei fiel ein Buch hinunter. Er bückte sich, das Cover kam ihm bekannt vor. Das gleiche Teil hatte er erstanden.
Emilia trug eine rote Baseballkappe, farblich abgestimmt auf ihre Hose, die sie bis über die Ohren gestülpt hatte. Genau wie ihre Freundin war sie äußerst farbenfroh gekleidet: in eine rot-gelbe Bluse mit bedruckten Schmetterlingen. Sie bevorzugten wohl denselben Designer. Bei der Frau auf dem Fensterplatz waren Insekten in Blau- und Türkistönen auf den Kleidungsstücken zu sehen.
Daniel verstaute Rucksack und Tüte im Gepäckfach, einen der Thriller behielt er in der Hand. Er zwängte sich in den Mittelsitz und schnallte sich an. Glücklicherweise dauerte der Flug nicht so lange. Wieso hatte er sich nicht rechtzeitig um einen komfortableren Platz gekümmert?
Die Stewardess half Emilia, sich wieder anzuschnallen. Geräuschvoll schloss sie die obere Klappe, der Flieger rollte in Richtung Startbahn. Daniel hoffte, dass er den Flug verschlafen würde. Gestern Nacht hatte er sich im Bett hin- und hergewälzt, den leisen Schnarchtönen von Helen gelauscht.
„Reisen Sie geschäftlich oder machen Sie Urlaub?“
„Emilia, der Mann hat einen Ehering und ist allein im Flugzeug. Natürlich dienstlich“, schallte es von rechts in sein Ohr. Heute war offenbar sein absoluter Glückstag. Jeder wollte mit ihm ins Gespräch kommen. Jeder, außer Helen.
„Das weißt du doch gar nicht, Dorothea. Vermutlich sitzt die Dame ein paar Reihen vor uns. Haben wir doch schon erlebt, dass es nicht mit Plätzen nebeneinander geklappt hat.“
„Er ist allein eingestiegen.“
Es nützte nichts, Daniel öffnete die Augen. Die Maschine beschleunigte, über ihm ratterte es. Jetzt hob der Flieger ab. Daniel wurde in den Sessel gedrückt. Die Kiste stieg, und es wackelte heftig. Ein Grund, warum er nicht gern hinten im Flugzeug saß.
„Stör den Herrn nicht“, sagte Dorothea. „Vielleicht hat er Flugangst. Er sieht auf einmal ganz blass aus.“
„Kann man Ihnen helfen?“ Es roch nach Lavendel. Emilia beugte sich zu ihm hin. „Soll ich die Stewardess rufen? Die Spucktüte ist vorn in der Klappe.“
„Ach was, ich bin nur etwas müde.“ Daniel drehte sich zu ihr um. Sein Blick fiel auf den Roman. „Wir haben denselben Geschmack, ich habe mir vorhin das gleiche Buch gekauft.“
„Wirklich? Ich liebe Karin Slaughter. Keine schreibt so spannend wie sie. Und dabei immer aktuell am Puls der Zeit. In diesem wird Sara entführt, und es geht um ein Neonazi-Netzwerk, das …“
„Jetzt verrate doch nicht den ganzen Inhalt!“
„Huch. Entschuldigen Sie bitte, das war keine Absicht.“
„Kein Problem, jetzt bin ich neugierig.“ Daniel griff nach seinem Exemplar. Eventuell würde das den Redeschwall von links bremsen.
„Mir ist das zu blutig. Ich bevorzuge Romantik.“ Dorothea schwenkte ihren Wälzer, dabei verzogen sich die dunkelrot geschminkten Lippen zu einem breiten Lächeln. „Das Leben ist schon kompliziert genug, da muss ich wenigstens in meinen Büchern eine heile Welt haben.“
„Ich entspanne mich bei Thrillern am besten“, sagte Daniel zu seiner eigenen Überraschung.
„Lovestorys sind ja nun auch wirklich nichts für Männer“, sagte Dorothea resolut.
„Sie denken, dass wir alle unromantisch sind?“
„Das habe ich nicht behauptet, junger Mann. Mein Hubert, Gott hab ihn selig, war ein äußerst romantischer Kerl. Er hat mir jede Woche eine rote Rose geschenkt und nie einen Hochzeitstag vergessen.“
„Du vergisst seine Affären, meine Liebe.“ Emilia lehnte sich nach vorn und sah ihre Freundin an. Auf Daniel wirkte sie wie ein Habicht, der sich auf die Maus stürzte.
„Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.“ Dorothea grinste Daniel weiterhin an. Die Anschnallzeichen erloschen. Die Stimme der Flugbegleiterin wies darauf hin, dass man wegen möglicher Turbulenzen den Sicherheitsgurt geschlossen halten sollte.
„Papperlapapp!“ Dorothea öffnete den Verschluss. „In meinem Alter macht man sich keine Sorgen mehr um Turbulenzen. Im Gegenteil: Ich wäre froh, wenn ich etwas Aufregendes erleben würde.“
Daniel beschloss zu schweigen.
„Das ist so typisch“, kreischte Emilia. „Wer kümmert sich nachher um dich, wenn es schiefgeht? Ich natürlich.“
„Machen Sie Urlaub auf Mallorca?“ Bevor die beiden übereinander herfielen, würde er lieber Konversation betreiben. Die paar Stunden käme er noch ohne Schlaf aus. Und ohne Buch.
Sie fingen wie auf Kommando an, herzhaft zu lachen. „Wo denken Sie hin, junger Mann“, sagte Dorothea. „Emilia und ich leben auf Mallorca, wir waren nur besuchsweise in Hamburg. Ab und zu muss man sich mal bei Kind und Verwandtschaft sehen lassen. Sonst sind die beleidigt.“
„Ach …“ Daniel war verblüfft. „Darf ich fragen, wo Sie auf der Insel wohnen?“
„Fragen dürfen Sie alles.“ Dorothea sah ihn verschmitzt an. Ihre grünen Augen leuchteten.
„Jetzt hör schon auf, den netten Herrn zu provozieren“, schaltete sich Emilia ein. „Wir haben seit vielen Jahren ein Haus bei Llucmajor. Dort verbringen wir die meiste Zeit. Nur wenn wir die jährliche Kreuzfahrt unternehmen oder Familie und Freunde in Hamburg besuchen, sind wir nicht auf der Insel.“
„Du musst ihm doch nicht gleich unser ganzes Leben erzählen.“
„Ich finde das äußerst interessant.“ Und es stimmte. Zwei alte Damen, die auf Mallorca lebten, Schiffsreisen unternahmen und sich ab und zu bei der Verwandtschaft blicken ließen. Wer hätte das gedacht?
„Was führt Sie denn auf unsere Insel?“, fragte Emilia.
„Ich … äh, ich gönne mir eine kurze Auszeit. Ein paar Wochen ohne Job und …“
„Ohne Ehefrau“, sagte Dorothea.
Daniel nickte. „Ohne Familie. Ich brauche ein wenig Zeit für mich.“ Wieso erzählte er das zwei fremden Frauen? Normalerweise war er nicht so redselig. Egal. Er würde sie nach diesem Flug nie wiedersehen.
„Wenn es Ihnen zu einsam wird, kommen Sie bei uns vorbei. Wo werden Sie wohnen? Ich schreib mal unsere Adresse auf.“ Emilia beugte sich zu ihrer Handtasche, die sie unter dem Sitz verstaut hatte. Dabei fiel das Buch zu Boden.
„Äh“, stieß Daniel hervor. „Das ist …“
„Der will seine Zeit sicher nicht mit zwei ollen Schachteln verbringen“, sagte Dorothea.
„Wenn ich in der Gegend bin, komme ich Sie gern besuchen.“
„Siehst du“, antwortete Emilia, die in ihrer Tasche herumkramte. „Ich finde meinen Kuli nicht.“
„Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?“ Der Steward strahlte sie hinter seinem Getränkewagen an.
„Haben Sie etwas zu schreiben?“ Emilia schloss den Reißverschluss. „Ich muss dem Herrn neben mir unsere Adresse notieren.“
Der Flugbegleiter, ein Sonnyboy mit einem Glitzerstein im Ohr, wirkte verunsichert. Überlegte er, ob es sich bei Daniel um einen Betrüger handelte? Einen Gauner, der hilfsbedürftige Seniorinnen ausraubte?
„Lassen Sie nur“, winkte Daniel ab. „Ich hab einen Stift in meinem Rucksack.“ Vielleicht vergaß Emilia ihre Idee bis zur Landung.
„Nix da, nachher verbummeln wir das. Junger Mann, Ihren Kugelschreiber bitte. Und einen Zettel. Was wollen wir trinken?“
„Ich gebe einen aus. Wie wäre es mit einem Glas Sekt? Wir könnten auf unsere neu gewonnene Bekanntschaft anstoßen.“ Daniel zwinkerte dem Steward zu, der hektisch ein Stück Papier von einem Block abriss. Eigentlich war das Prickelwasser nicht sein Getränk. Die Situation fing aber an, ihm Spaß zu bereiten.
„Nix da, ich zahle.“ Emilia holte aus ihrer abgegriffenen gelben Ledertasche ein ebenso gelbes Portemonnaie hervor.
Der Sonnyboy kapitulierte und fischte aus einer der Schubladen drei Piccolos heraus. Zusammen mit den obligatorischen Plastikbechern reichte er die Fläschchen Daniel und sagte von oben herab. „Als Gentleman übernehmen Sie sicher das Einschenken.“
Emilia zahlte und kritzelte ein paar Zeilen auf das Papier, bevor sie den Stift zurückgab. „Wenn Sie nicht im Dienst wären, würde ich Sie ebenfalls einladen.“
Auf den Mund gefallen war sie nicht. Darin glich sie dieser Dorothea, die bereitwillig den gefüllten Becher von Daniel entgegennahm.
„Auf das Leben“, rief sie aus und stieß über den Schoß von Daniel hinweg mit Emilia an.
Er goss sich etwas Sekt ein. „Auf meine charmanten Reisebegleiterinnen.“
„Hier ist unsere Adresse mit Telefonnummer. Wenn Sie sich nicht melden, bin ich beleidigt.“ Emilia schob ihm das Papier hin.
„Herr … wir kennen gar nicht Ihren Namen.“ Dorothea runzelte die Stirn.
„Richtig, wie unhöflich von mir. Ich bin Daniel Jakobi aus Hamburg.“
Dorothea nickte gnädig. „Herr Jakobi hat sicherlich anderes im Sinn, als uns zu besuchen.“
„Ich bin Emilia, und das ist Dorothea. Die Nachnamen sparen wir uns. In unserem Alter ist das nicht wichtig.“
„In Ordnung, ich bin Daniel. Wenn ich in der Gegend bin, komme ich vorbei.“ Wie oft lügt der Mensch am Tag? Da kam es auf eine weitere Unwahrheit nicht mehr an. Emilias Augen leuchteten unter ihrer Kappe. Dorothea hustete.
„Sie werden sich vermutlich Mühe geben, gar nicht erst nach Llucmajor zu kommen. Obwohl es ein hübsches Städtchen ist.“ Sie schwenkte den Becher. Daniel goss ihr erneut ein. War er so einfach zu durchschauen?
„Dorothea ist eher der pessimistische Typ. Hören Sie nicht auf sie.“ Emilia wedelte mit der rechten Hand in Dorotheas Richtung. „Ich backe einen Mandelkuchen, wenn Sie sich vorher ankündigen. Alle Männer lieben meinen Kuchen.“
„Jaja“, brummte es von der anderen Seite.
Die beiden verhielten sich wie ein eingespieltes Ehepaar. Daniel trank hastig von dem Sekt und hätte sich beinahe verschluckt.
„Was machen Sie beruflich?“, fragte Dorothea. „Ich meine, wenn Sie sich nicht gerade eine Auszeit nehmen?“
„Jetzt bist du es doch, die neugierig ist. Sie müssen uns das nicht verraten.“
„Ich bin Steuerberater.“
„Ein Zahlenschubser, auch das noch. Verstehe, dass Sie eine Pause von dem Job brauchen.“
Dorothea schob sich die Lesebrille ins Gesicht und öffnete ihr Buch.
„Du bist wirklich unmöglich“, sagte Emilia. „Kein Wunder, dass du bei deinen Schülern nicht beliebt warst.“
„Papperlapapp. Beliebtheit war nie mein Ziel, davon kann man sich nichts kaufen. Heutzutage sind alle verweichlicht. Ich sage nur ‚Helikopter-Eltern‘.“ Dorothea blätterte demonstrativ einige Seiten um.
„Sie waren Lehrerin?“
„Fast vierzig Jahre im Schuldienst, ja. Ich übrigens auch“, sagte Emilia.
„So lange hält heute niemand mehr durch.“ Dorothea schaltete sich wieder in das Gespräch ein.
„Welche Fachkombinationen haben Sie unterrichtet?“
„Ich habe Kunst und Sport gelehrt,“, sagte Emilia und lehnte sich zu ihm hin. „Meine Freundin Deutsch und Geschichte. Sofort nach der Pensionierung sind wir nach Mallorca gezogen.“
„Und Ihre … äh, Ehemänner?“
„Ich war nie verheiratet, und Doros Mann ist mit zweiundsechzig gestorben.“
„Du hast in wilder Ehe gelebt, und Ulrich ist ebenfalls lange tot“, sagte Dorothea. Es hörte sich wie ein Wettbewerb zwischen ihnen an.
„Oh“, bemerkte Daniel, um Ernsthaftigkeit bemüht. „Sie sind also beide verwitwet.“
„Und Sie?“, fragte Emilia.
„Bitte?“
„Ich meine, Sie sind doch noch verheiratet. Was macht Ihre Frau denn nun ohne Sie?“
„Ich nehme an, dass sie sich selbst bemitleidet und täglich zwei Stunden in ihrer Boutique verbringt. So kann sie wenigstens gegenüber Dritten behaupten, dass sie etwas Sinnvolles fabriziert.“ Seine Stimme brach. Zu hart formuliert. Das betretene Schweigen seiner Nachbarinnen bewies, dass er über das Ziel hinausgeschossen war.
„Jetzt wissen Sie, warum ich eine Auszeit brauche“, sagte er leichthin. „Ich muss raus und nachdenken, wie es weitergeht.“
Emilia tätschelte seinen Arm. „Das wird schon wieder.“
„Gießen Sie mal den Rest des Sekts ein, junger Mann. In unserem Alter darf man nichts verschwenden.“ Dorothea hielt ihm erneut den Becher hin, und er beeilte sich, die Flüssigkeit gleichmäßig zwischen den Frauen zu verteilen.
Die Maschine setzte mit einem harten Ruck auf, und Daniel schreckte hoch.
„Willkommen auf Mallorca“, sagte Emilia. Er benötigte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Sein Thriller war ihm vom Schoß gerutscht und steckte in der Spalte zwischen seinem und Dorotheas Sitz.
„Wieder wach?“ Dorothea warf ihm einen schelmischen Blick zu. „Sie hatten es bestimmt nötig.“
Daniel beobachtete, wie die Passagiere das Flugzeug hintereinander verließen. Emilia machte keine Anstalten, aufzustehen. Normalerweise war er einer der Ersten, der aufsprang und nach dem Gepäck griff, um zügig an die frische Luft zu kommen. Eingezwängt zwischen zwei Damen, die es nicht eilig hatten, war daran nicht zu denken. Er räusperte sich und schnallte sich los.
„Sie gelangen hier früh genug hinaus, junger Mann. Spätestens am Gepäckband in der Flughafenhalle treffen wir alle wieder.“ Dorothea klappte ihr Buch zu und löste den Anschnallgurt.
„Wo werden Sie wohnen?“, fragte Emilia, die sich schwerfällig aus ihrem Sitz erhob. „Können wir Sie irgendwohin mitnehmen?“
„Nein danke, das wird nicht nötig sein, am Flughafen steht mein Mietwagen.“ Daniel hoffte, dass Emilia ihn nicht nach der Adresse fragen würde. Mit den Fingern tastete er in seiner Hosentasche nach dem Zettel, den sie ihm vorhin in die Hand gedrückt hatte.
Sie waren die letzten, die die Maschine verließen. Daniel passte sich Dorotheas und Emilias Gang an. An ihnen vorbeizuhasten wäre zu unhöflich gewesen. Lange Förderbänder zogen sich durch die Röhren. Daniel hatte vergessen, wie weitläufig der Flughafen war. Dorothea und Emilia kannten sich aus. Sie schritten, ohne anzuhalten, zu den Gepäckbändern. Daniel überlegte, wann er das letzte Mal auf Mallorca gewesen war. Einige Jahre her. Lutz hatte Helen und ihn zu seinem Fünfzigsten nach Palma eingeladen. Hatte er damals schon das Appartement in der Stadt?
In der Ankunftshalle tummelten sich die Menschen. Sie brauchten einige Minuten, bis sie sich zum richtige Kofferband durchgearbeitet hatten. Daniel erspähte seine blaue Reisetasche, die zwischen den schwarzen Rollkoffern hervorstach.
„Meine Tasche ist schon da, Glück gehabt“, sagte er und schob sich an den Leuten vorbei zum Gepäckband, wo er mit einem beherzten Griff sein Gepäckstück an sich nahm. „Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?“, fragte er Emilia, die mit Dorothea ein wenig abseits des Getümmels Stellung bezogen hatte.
„Wir warten immer, bis sich alle verzogen haben. Unser Koffer läuft nicht weg.“ Emilia streckte ihre Hand aus. Daniel bemerkte, dass ihre Finger mit breiten Ringen geschmückt waren. „Ich wünsche Ihnen das, was Sie sich wünschen. Bitte besuchen Sie uns, wir würden uns freuen.“ Sie gab ihrer Freundin einen leichten Klaps auf den Arm. „Nicht wahr, Dorothea?“
„Selbstverständlich“, sagte Dorothea und lächelte breit. „Denken Sie an den Mandelkuchen.“
Daniel kam es komisch vor, die beiden allein zu lassen.