Herbstzeiten - Patrick Bucher - E-Book

Herbstzeiten E-Book

Patrick Bucher

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Philipp Grütter leitet die Finanzabteilung einer grösseren Kommunikationsfirma. Er wird bald 63 Jahre alt und lässt sich dann vorzeitig pensionieren. Seine Frau Gertrud, die vor einem Jahr an Brustkrebs gestorben ist, meldet sich gelegentlich aus dem Jenseits bei ihm. Philipp ist nicht immer erfreut darüber, da sie auch schnippische Kommentare auf Lager hat. Für die ersten drei Wochen nach der Pensionierung hat Philipp klare Vorstellungen. Er ist kulturinteressiert, liebt kulinarische Highlights und bewegt sich gerne draussen; zudem hat er einen grossen Freundes- und Bekanntenkreis. Entgegen früherer Zweifel gelingt ihm der Einstieg in den Ruhestand gut. Nach einem halben Jahr zieht Philipp eine erste Bilanz - und macht eine unerwartete Bekanntschaft. Ein leichtfüssiger Roman über Entschleunigung, Selbstbestimmtheit, Gelassenheit, Achtsamkeit, Dankbarkeit und Zufriedenheit in der dritten Lebensphase - und ein Plädoyer für die vorzeitige Pensionierung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wer die alte Strasse für eine neue verlässt, weiss, was er zurücklässt, aber nicht, was er findet. (1)

Italienisches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Anmerkungen

1

Werde ich das Arbeiten vermissen? Ich habe immer gerne gearbeitet, solange die Inhalte spannend waren. In fünf Monaten wird es so weit sein – die Pensionierung steht unmittelbar bevor. Ich habe mich selbst dafür entschieden, vorzeitig in Pension zu gehen. Denn ich habe noch einiges vor. Ich möchte mehr Zeit haben, um meinen verschiedenen Hobbys nachzugehen.

In einer Viertelstunde findet die monatliche Sitzung der erweiterten Geschäftsleitung statt. Neben einigen ambitionierten Abteilungsleitern und -leiterinnen werde ich dort auch die Leiterin der Personalabteilung, Monika Schnüriger, sehen. Ich mag sie sehr, denn sie denkt immer für den Betrieb mit und bringt sich positiv ein. Auch nimmt sie Anregungen gerne auf und erledigt aufgetragene Arbeiten immer zeitnah. Sie ist transparent in ihren Äusserungen und nichts scheint ihr zu viel zu sein. Für mich ist sie ein Lichtblick, wann immer ich sie sehe. Wir führen oft anregende Gespräche, meist im Zusammenhang mit der Arbeit, aber auch über Privates. So haben wir uns schon über Feriendestinationen, Hotels in Südtirol oder Geschenke für Patenkinder ausgetauscht.

Seit fünfzehn Jahren bin ich nun Prokurist in der Kommunikationsfirma Enterprise AG und zuständig für die Finanzen. Diese Stelle hat mich gereizt, weil ich mich stets mit neuen und spannenden Inhalten auseinandersetzen kann. In meiner beruflichen Karriere habe ich ein paarmal die Stelle gewechselt – immer dann, wenn die Arbeit mir nichts Neues mehr bieten konnte und mich zunehmend langweilte. Hier bin ich, zusätzlich zu meinen Kernaufgaben, auch für die Praktikanten und Auszubildenden zuständig. Ich mag die Auseinandersetzung mit jungen Menschen und erfreue mich daran, wie selbstverständlich sie mit den elektronischen Hilfsmitteln umgehen. Meine Arbeitsstelle verlangt hundertprozentiges Engagement. Eine Zeitlang war ich lediglich zu achtzig Prozent beschäftigt, als meine Frau krank wurde.

Bei anderen Firmen habe ich öfters schlechte Erfahrungen mit Vorgesetzten gemacht – das kenne ich zu Genüge. Insgesamt dreimal habe ich erlebt, dass sich Vorgesetzte kurz nach meiner Anstellung verabschiedeten. Die jeweiligen Nachfolger entpuppten sich als Personen mit verschiedenen Problemen, was sich auf das Arbeitsklima negativ auswirkte. Mir begegneten Vorgesetzte mit enormer Selbstüberschätzung, ausgeprägte Machtmenschen und psychisch Kranke. Da ich mich solchen Launen in meinen letzten Arbeitsjahren nicht mehr aussetzen wollte, bewarb ich mich auf diese Stelle. Bei der Geschäftsleiterin Frau Brunner hatte ich ein gutes Gefühl, und das ist bis heute so geblieben. Sie ist sehr taff und klar, aber immer fair und korrekt.

Die Personalleiterin Monika ist vor fünf Jahren neu dazugekommen, nachdem ihre Vorgängerin diese Position wegen Unzulänglichkeiten aufgeben musste. Ich freue mich immer, wenn ich sie sehe oder mit ihr zu tun habe.

Monika werde ich vermissen. Auf die Arbeit kann ich dagegen gut verzichten, vor allem die damit verbundene Verantwortung lasse ich gerne hinter mir. Manchmal machte sich dieser Teil der Arbeit körperlich bemerkbar: verspannte Schultern, Kopfschmerzen und teilweise Migräneanfälle.

Hoffentlich geht die bevorstehende Sitzung gut und schnell vorüber, denn ich möchte heute Abend ein Konzert in der Tonhalle Zürich besuchen. Daher muss ich spätestens um 16.30 Uhr zum Zug, um noch etwas Kleines essen zu können und genügend Zeit zu haben, mich umzuziehen. Wenn jedoch die ambitionierten Leiter und Leiterinnen jeweils in ihrem Element sind, lassen sie sich schwer in ihrem Redefluss stoppen.

Frau Brunner versucht in den Sitzungen nicht unhöflich zu sein und ausufernde Äusserungen nicht einfach abzuklemmen. Wenn sich die ambitionierten Abteilungsleiter und -leiterinnen jedoch inhaltlich im Kreis drehen, greift sie ein und beginnt den Ablauf zu strukturieren. Da gab es auch schon unschöne Szenen, wenn sich jemand nicht verstanden fühlte und noch weitere Ausführungen anbringen wollte. Heute stehen keine schwerwiegenden Themen auf der Traktandenliste, sodass ich wahrscheinlich rechtzeitig Feierabend haben werde.

Frohen Mutes mache ich mich auf den Weg zum Sitzungsraum.

Gibt es den richtigen Zeitpunkt, sich pensionieren zu lassen? Einzelne meiner Bekannten sind bereits im Ruhestand. Von ihnen höre ich nicht nur Positives.

Da ist zum Beispiel Thorsten aus der Jassgruppe. Er wurde noch kurz vor der offiziellen Pensionierung entlassen – und das, obwohl er sich für «seinen» Betrieb sehr eingesetzt hatte und stets innovativ unterwegs war. Anfangs tat er sich mit der neuen Situation schwer, doch inzwischen hat er sich an den Ruhestand gewöhnt.

Rainer, ebenfalls Teil der Jassgruppe und ungefähr zehn Jahre jünger als ich, hat mir einmal im Vertrauen gesagt, er wüsste momentan nicht, was er mit der vielen freien Zeit anfangen sollte. Seine Worte beschäftigen mich nachhaltig und oft muss ich daran denken. Es irritiert mich, dass es Menschen gibt, die keinen Plan haben, wie sie die neu gewonnene Zeit nach der Pensionierung nutzen könnten.

Thomas, ein Selbstständiger, meinte einmal zu mir, er werde sicher bis siebzig berufstätig sein, denn er arbeite ja gerne. – Wie heisst noch mal dieses geflügelte Wort? Wir arbeiten, um zu leben, oder leben wir, um zu arbeiten?

«Bist du damit einverstanden, Philipp?»

Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Die Frage trifft mich völlig unvorbereitet. In diesem Moment weiss ich wirklich nicht, worum es geht. Offenbar hat die Leiterin Marketing einen neuen Antrag eingebracht.

«Ja, grundsätzlich schon», antworte ich rasch. «Aber mich würde zunächst interessieren, was die Geschäftsleiterin dazu meint. Wurde der Antrag denn bereits bilateral besprochen?»

Mein improvisierter Rettungsversuch gelingt. Nach zwei, drei Stellungnahmen ist mir klar, worum es geht. Wieder einmal wird eine kleine Sache riesig aufgebauscht und damit will sich die Leiterin Marketing lediglich wichtigmachen. Schliesslich wird dem Antrag zugestimmt, denn für den Betrieb entstehen dadurch keine grösseren Kosten.

Ich merke, dass es mir zunehmend schwerfällt, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und mich gleichzeitig gedanklich auf die bevorstehende Pensionierung einzulassen. Will ich den Schritt wirklich wagen oder erfordert die momentane Situation im Betrieb weiterhin meine Präsenz? Strategisch müssten einige Weichen neu gestellt werden. Vor allem im Finanzbereich stehen in nächster Zeit mehrere Entscheide an, die weitreichende Konsequenzen haben werden.

Nach meinem Empfinden vergeht die Zeit immer schneller; Woche um Woche, Monat um Monat und Jahr um Jahr. Liegt es daran, dass der Mensch mit zunehmendem Alter langsamer wird? Schliesslich bin ich kein Jungspund mehr. Offenbar gehört es dazu, dass man für gewisse Aufgaben mehr Zeit benötigt als früher. Fragen über Fragen, aber eigentlich gibt es nichts mehr zu überlegen. Ich habe Frau Brunner bereits vor fünf Monaten mitgeteilt, dass ich mich auf meinen 63. Geburtstag hin vorzeitig pensionieren lassen werde. Diesen Zeitpunkt selbst bestimmen zu können, war mir immer schon sehr wichtig. Ich will keine Manövriermasse sein, die noch vor der offiziellen Pensionierung entlassen wird oder wegen der biologischen Grenze in Ruhestand gehen muss.

Ich habe mir zu diesem grossen Schritt viele Gedanken gemacht und verschiedene Bücher darüber gelesen. Es gibt kein einfaches Rezept für einen gelungenen Übergang – alle betreten mit der Pensionierung Neuland. Dieser Weg ist absolut individuell, keine Situation ist mit der anderen vergleichbar. Einige Bekannte haben mich ermuntert: «Du wirst die neue Freiheit lieben – gerade du mit deinen verschiedenen Hobbys.»

Letztes Jahr konnte ich einen Vorbereitungskurs zur Pensionierung besuchen. Vieles war mir bereits klar, vor allem das Finanzielle mit Blick auf AHV- und Pensionsrente. Ich freute mich auf den Austausch mit Gleichaltrigen aus verschiedenen Betrieben und Branchen. Die Unterlagen des Kurses waren sehr ansprechend und beinhalteten mehrere Themenblöcke. Auch auf die weiterführende Literatur war ich gespannt. Ernüchternd war jedoch die Erkenntnis, dass sich die wenigsten der Teilnehmenden Gedanken gemacht hatten, was der bevorstehende Übertritt in den neuen Lebensabschnitt für sie bedeutet. Einige hatten keine Vorstellung davon, wie diese Zeit ohne Einkommen aus bezahlter Lohnarbeit finanziert werden soll. Nun verstehe ich auch, weshalb es Menschen gibt, die mit somatischen Störungen reagieren, kaum dass sie pensioniert sind. Viele sind es nicht gewohnt, ihren Tag selbst zu strukturieren.

Ich erinnere mich an eine frühere Weiterbildung zum Thema «Selbstmanagement». Dort hiess es, dass uns vorwiegend fünf Themenkreise in unserem Leben beschäftigen: Ausbildung, Arbeit, Finanzen, Gesundheit und Beziehungen. Alle diese Themen sind verknüpft mit der Arbeitswelt oder haben zumindest einen Bezug dazu. Darum waren meine Eltern wahrscheinlich so darauf bedacht, dass wir Kinder eine gute Ausbildung absolvierten, um auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen zu haben.

Sollte aus irgendeinem Grund eine Weiche falsch gestellt worden sein oder ein vermeintlich interessanter Weg in eine Sackgasse gemündet haben, besteht die Möglichkeit, an einer ausserordentlichen Weiterbildung teilzunehmen. Im Weiterbildungswettbewerb werden unzählige Masterabschlüsse in Aussicht gestellt; in Hochglanzprospekten versprechen diverse Institutionen das berufliche Fort- und Weiterkommen. Es fragt sich allerdings: Wohin soll der Weg führen? Und wie viele entsprechende Stellen gibt es tatsächlich? Die Bildungsinstitute liefern sich regelrechte Wettkämpfe zur Gewinnung von Studierenden.

Ungefähr den Gegenwert von drei Mittelklasse-Autos habe ich diesbezüglich investiert. Und jetzt ist es einfach vorbei – alles für die Katz? Krass, wie unser Verständnis von Arbeit den Ideen zur Beschäftigung, verbunden mit persönlichen Präferenzen, gegenübersteht.

«Was verliere und was gewinne ich mit der Pensionierung?» So lautete eine der Fragen im Vorbereitungskurs zur Pensionierung. Zunächst sollten sich alle Teilnehmenden darüber Gedanken machen, um dann ihre Ansichten kundzutun. Erstaunlich war allerdings, dass der grösste Teil der Äusserungen aus dem Plenum negativ war. Sie konzentrierten sich auf Äusserlichkeiten und beklagten, nicht mehr am Puls des Lebens zu sein. Es war von körperlichen Unzulänglichkeiten wie Gebrechen die Rede. Einige betrachteten die sozialpsychologischen Aspekte und fürchteten, nicht mehr gebraucht zu werden. Die meisten Aussagen waren defizitorientiert. Nur wenige Teilnehmende hatten eine Vorstellung davon, was sie mit der Pensionierung gewinnen können.

Ich mache mir über diese Frage viele Gedanken: Wie möchte ich die dritte Lebensphase angehen, gestalten, geniessen?

Nach dem frühen Tod meiner Frau Gertrud bin ich in ein Loch gefallen. Nur mit Hilfe einer Verhaltenstherapie in Form von Malen bekam ich wieder Boden unter die Füsse. Eines habe ich dabei auf jeden Fall gelernt: Es lohnt sich absolut nicht, mit der Vergangenheit zu hadern. Zudem habe ich begriffen, dass sich mein Wohlbefinden schnell zum Positiven verändert, wenn ich Kleinigkeiten nicht als selbstverständlich betrachte. Weiter habe ich erkannt, dass ich im Laufe der Jahre mit bestimmten Situationen besser umgehen kann als früher. Alle Erfahrungen in meinem Leben waren für mich wichtig und ich kann daraus lernen. Die Erkenntnis, dass sich an den vergangenen Jahren nichts ändern lässt, ist für mich von grosser Bedeutung. Meine Zeit ist noch nicht vorbei und die Zukunft wird noch viele schöne Momente für mich bereithalten, davon bin ich überzeugt. Deshalb möchte ich meine freie Zeit geniessen und andere Menschen an meinen Erfahrungen teilhaben lassen.

Mit der Pensionierung beginnt eine neue Lebensphase. Es ist mir wichtig, auf diesen herausfordernden Lebensabschnitt entsprechend vorbereitet zu sein. Deshalb habe ich mich ein wenig mit Gerontologie beschäftigt. Unter anderem habe ich gelesen, dass jeder Mensch mit der Pensionierung Neuland betritt. Um diesen Schritt gut zu schaffen, sollte man sich Ziele setzen. Älterwerden ist ein Umbauprozess und kein Abbauprozess. Wer sich positiv darauf einlässt und neugierig bleibt, kann mit Lebensfreude ungenutzte Potenziale entdecken, kreative Wege gehen und Neues erleben.

«Und, was hast du aus deinem Bereich zu berichten, Philipp?», dringt Frau Brunners Stimme an mein Ohr. Wieder werde ich auf dem linken Fuss erwischt. Gedanklich bin ich weit weg und bereits in der Pensionierungsphase sowie bei der Konkretisierung meiner verschiedenen Pläne.

«Jetzt reiss dich ein wenig zusammen, Philipp», macht sich Gertrud aus dem Jenseits bemerkbar. Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich zu Wort meldet.

«Ich habe alles im Griff, Gertrud, und die Pensionierung ist ja bald Realität», murmele ich leise in mich hinein, ohne dass die anderen Sitzungsteilnehmenden dies hören können.

Ich räuspere mich und erzähle dann von zwei, drei Highlights aus der Finanzabteilung: «Das Budget habe ich beinahe fertiggestellt – ich brauche lediglich noch ein paar Zahlen von der Rechtsabteilung. Die neue IT-Software ist installiert und die Finanzprozesse können nun viel einfacher abgebildet werden. Der Praktikant Markus hat den Bachelor-Abschluss mit Bravour bestanden. Das sind meine Inputs.»

«Vielen Dank an alle für die Ausführungen aus den verschiedenen Abteilungen und für das Mitdenken. Ich wünsche euch einen schönen Abend», verabschiedet sich Frau Brunner.

Jetzt ist es vier Uhr. Somit habe ich noch Zeit für einen Kaffee und erreiche dann den Zug um halb fünf locker.

Ich fühle mich schon im Feierabendmodus, als Jasmin von der Administration auf mich zukommt: «Hast du noch Zeit, um mir die Positionen der Spesen detailliert auszudrucken?»

Ich sehe sie verdutzt an. Das hätte sie doch schon letzte Woche haben können, wenn sie danach gefragt hätte! Jetzt, wo ich ins Konzert möchte, ist es plötzlich ganz wichtig. Ein wenig ungehalten verweise ich sie auf den morgigen Tag und verabschiede mich.

Wie ich im Zug von Baden nach Zürich sitze, komme ich ins Grübeln. War ich gegenüber Jasmin zu kurz angebunden? Zeigen sich bereits erste Anzeichen vom vielbesagten Tunnelblick, der mit zunehmendem Alter auftreten kann?

«Eine gewisse Engstirnigkeit war dir schon immer zu eigen», meldet sich Gertrud erneut. «Du bist ja nicht von ungefähr Stier im Sternzeichen!»

So, das hat gesessen. Da der Zug gut besetzt ist, murmele ich nur leise vor mich hin: «Jetzt ist aber genug, Gertrud. Bleib du mal bei den Sternen und misch dich nicht in diese Welt ein. – Na ja, andererseits ist auch sehr schön, von dir zu hören. Heute Abend würde ich viel lieber mit dir in die Tonhalle gehen statt alleine. Das Violinkonzert von Beethoven magst du doch so gerne. Übrigens, heute leitet dein Lieblingsdirigent das Konzert.»

In der Tonhalle angekommen, habe ich gerade noch Zeit, an der Stehbar ein kleines Sandwich zu essen. Ein Canapé, belegt mit Lachs und Kapern, zusammen mit einem Glas Prosecco – das gönne ich mir immer bei Konzertbesuchen. Solche Abende werden bald öfters und entspannter stattfinden, wenn ich nicht mehr arbeite.

Nach dem zweiten Gong begebe ich mich ins Parkett links und lasse mich mit einem leisen Seufzer in den Sitz sinken.

Super, ich habe es rechtzeitig ins Konzert geschafft.

2

Als Zehn- bis Fünfzehnjähriger lag für mich jedes Alter ab dreissig jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Jeder, der diese Grenze überschritt, war für mich uralt!

Hinzu kam, dass meine Eltern zunehmend schwieriger wurden, je weiter die Pubertät voranschritt. Sie wollten immer alles wissen. Wenn ich ein wenig zu spät nach Hause kam, stellten sie Fragen über Fragen. «Was hast du heute gemacht? Wie geht’s in der Schule? Gibt es eine Freundin?» Dabei hatte ich zunehmend mehr Geheimnisse, die nicht primär mit den Eltern geteilt werden wollten. Meine Unpünktlichkeit war stets Anlass für lange Reden. Rechtfertigungen, Geschichten, Erzählungen – wieso, warum, wo und was. Ich sagte nicht immer die Wahrheit. Ein Akt des Selbstschutzes gegenüber neugierigen Eltern.

Über meine ersten Erfahrungen mit Freundinnen wollte ich mich definitiv nicht mit meinen Eltern austauschen. Um weitere Erfahrungen machen zu können, war es unabdingbar, mich mit Gleichaltrigen zu treffen. Das heisst, ich hatte keine Zeit, um zu Hause mitzuhelfen, etwa beim Abwaschen oder Abtrocknen. (Zu dieser Zeit gab es noch keine Spülmaschinen!) Meine Eltern hatten dazu aber eine andere Einstellung. Vor allem meine Mutter bestand darauf, dass ich mich diesbezüglich mehr einbringe.