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"Dieser Mann hat mich aus der schwäbischen Enge in die weite Welt gelockt. Ins Freie ging es, nach draußen, nicht nur in die Geographie, sondern auch in die Welt des Geistes. Und der weht bekanntlich, wo er will." Fasziniert von Hermann Gundert hat sich Widmar Puhl auf eine Spurensuche gemacht. Beharrlich zieht er Parallelen zwischen dem Leben und der Zeit Hermann Gunderts und der heutigen Zeit. Der Autor, Übersetzer, Missionar und Kulturbotschafter Gundert ist hoch aktuell. Der Lieblings-Großvater von Hermann Hesse hat allen etwas zu sagen. Er ist für alle da und lässt sich nicht vereinnahmen. Seine Ansichten über Fragen des Glaubens und der Kirche, Entwicklungspolitik, Kolonialismus und Mission oder seine Einstellung zu Bürokraten und zur Freiheit der Kinder Gottes sind aufgeschlossener und fortschrittlicher als das Denken und Handeln mancher Zeitgenossen. Deshalb hat auch der Calwer Verlag diese Biographie 20 Jahre lang unterdrückt, obwohl Hermann Gundert einer seiner Gründerväter war. Aber heute gibt es das Internet. Da funktioniert so etwas nicht mehr.
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Seitenzahl: 166
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Widmar Puhl
Hermann Gundert – Der „Luther von Malabar"
Hermann Hesses Lieblingsgroßvater
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort: Wie kommt ein Katholik an Gundert?
Wer war Hermann Gundert? - Ein Umriss
Kindheit und Jugend (1814 - 1835)
Elternhaus und Familienverhältnisse
Das Umfeld: Armut, Frömmigkeit, Bildungsstreben
Flucht aus der Enge: Maulbronn und Tübingen
Zwischen zwei Welten: Der Vater und die Freunde
Warum Missionar?
Missionar in Indien (1836 - 1859)
Die große Reise: London, Madras, Chittoor
Ein schlechter Job und eine gute Frau
Die Mission in Thalassery
Studien, Einsamkeit, Misserfolge
Missions-Romantik? Urlaub, Druckerpressen, das Komitee
Doktor, Guru, Prediger
Wie Luther in Malabar: Schriften, Übersetzungen, Liturgie
Das Werk wächst: Neue Aufgaben, Chirakkal und Mangalorere
Mission mit anderen Mitteln: Calw (1859 - 1893)
Der Calwer Verlagsverein
Exoten in der Heimat
Leiter des Calwer Verlagsvereins
Erfüllte Berufung
Ein Stück Ewigkeit: bleibende Früchte
Dank
Auswahl-Bibliographie
Nachwort: Von der Aktualität Hermann Gunderts
Impressum neobooks
Eigentlich hätte mein Buch „Hermann Gundert – ein Leben für Indien“ heißen und im Herbst 1992 beim Calwer Verlag erscheinen sollen, weil im Mai 1993 ein Kongress zum 100. Todestag Gunderts in Stuttgart stattfand. Alles war fertig, doch dann kam es anders. Warum, steht im Nachwort. Trotzdem hat mir die Arbeit daran sehr viel Freude gemacht. Auch jetzt noch wünsche ich mir, dass es möglichst vielen Zeitgenossen bei Lesen ähnlich gehen wird. Doch vorab möchte ich eine Frage beantworten, die niemand gestellt hat: Wie kommt ein Katholik an Gundert?
Ich habe nicht über Gundert geschrieben, weil ich katholisch bin. Aber Tatsache ist: ich bin, wenn auch mit kritischen Einwänden gegen meine Kirche, Katholik. Entweder habe ich also über Gundert geschrieben, obwohl ich katholisch bin, oder es hat dabei keine Rolle gespielt. Hermann Gundert würde sicher widersprechen und sagen: Nein, das hat der liebe Gott so gewollt.
Also gut. Als Außenstehender habe ich bestimmt ein paar Dinge anders wahrgenommen als jemand, der täglich mit dem geistigen Erbe dieses schwäbischen Pietisten und intellektuellen Kosmopoliten zu tun hat, der den Spitznamen „Luther von Malabar“ bekam. Gundert war der Lieblingsgroßvater von Hermann Hesse, der seinen Enkel stark beeinflusst gat. Ich wollte wissen, was dieser Mann uns heute noch zu sagen hat.
Schon als Student habe ich mich mit Columbus, Pizarro, Cortez und Konsorten befasst und mit dem Dominikanermönch Bartolomé Las Casas, der diesen Abenteurern die Leviten las, weil sie die Indios zu Sklaven machten, statt sie zu bekehren. In Gundert ist mir die Gestalt eines Missionars begegnet, der die Sache anscheinend richtig angefasst hatte. Von dem wollte ich mehr wissen. Mich haben immer Menschen interessiert, die Grenzen überschreiten.
Ich habe etwa über den Dichter Reiner Kunze geschrieben, den Autor des Buches „Die wunderbaren Jahre“, der seine Heimat verlassen musste, weil seine Texte dem DDR-Regime nicht passten. Oder über den Altkommunisten Walter Janka, der sich mit 75 Jahren entschlossen hatte, SED-Literaten wie Anna Seeghers und Hermann Kant ihre „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ vorzurechnen. Oder über Manfred Rommel, dessen pragmatische Lokalpolitik ihn zum einzigen CDU-Politiker Deutschlands machte, den seinerzeit auch die SPD wählte. An Hermann Gundert hat mich fasziniert, dass er als Missionar, Autor und Verleger zugleich Insider eines Systems, Außenseiter und Neuerer war.
Als mich der Filmemacher Franz Lazi 1989 fragte, ob ich Lust hätte, mit ihm eine Dokumentation über Leben und Werk von Hermann Gundert zu produzieren, sagte mir dieser Name noch nichts. Lazi machte mich mit Dr. Albrecht Frenz bekannt, und der weckte mein Interesse. Ich begann zu recherchieren und wurde immer neugieriger auf diesen Hermann Gundert. Ich schrieb ein Exposé für ein Drehbuch und schickte es dem zuständigen Redakteur des Süddeutschen Rundfunks. Aber leider war dem SDR wieder einmal das Geld ausgegangen, erklärte der. Und so wurde nichts aus dem Film. Jeder, der schreibt, kannt das.
Einige Monate später rief Frenz an und fragte, ob ich vielleicht eine kleine Biographie für den Calwer Verlag schreiben würde. Gundert war immerhin einer der Gründerväter dieses Verlages, und zu seinem 100. Todestag wollte man ein Buch über sein Leben und Werk vorlegen. Nicht wissenschaftlich und dick sollte es sein, sondern allgemeinverständlich und handlich. Man müsse doch etwas tun, um diesen Gundert wieder ins Gedächtnis der Menschen zu bringen. Doch dafür habe er keine Zeit, und außerdem sei das eine journalistische Aufgabe. So stand ich plötzlich vor der Frage, aus meinem Drehbuchentwurf mehr zu machen: keine wissenschaftliche Biographie, sondern eine Version für Heiden, Ketzer, Ungläubige und Laien. Das hat was, dachte ich.
Anfängliche Zweifel beseitigte Frenz, damals Vorsitzender der Hermann-Gundert-Gesellschaft, mit dem Versprechen, mich wissenschaftlich zu beraten. Er hat dies dann während der Arbeit auf vorbildliche Weise getan. Frenz stellte auch den Kontakt mit dem Calwer Verlag her. Wir wurden uns schnell einig. Und dann begann ein Abenteuer, von dem ich bis heute nie mehr ganz losgekommen bin. Je weiter ich mit der Arbeit kam, desto mehr Spaß machte sie mir. Wenigstens das sollte man merken, wenn man das Buch liest, sagte ich mir. Schließlich waren 150 Seiten Manuskript nötig, um diesem Gundert einigermaßen gerecht zu werden. Sein Leben und Werk wurden in ihrer ganzen Vielseitigkeit vor mir ausgebreitet wie in einer Ausstellung. Ich habe dann nur versucht, das Ganze „auf die Reihe zu bringen“.
Der Großvater des Dichters Hermann Hesse
Wer war Hermann Gundert? Hermann Hesse schreibt 1937 über seinen Großvater in der Kindheit des Zauberers: „Dieser Mann, der Vater meiner Mutter, stak in eimem Wald von Geheimnissen, wie sein Gesicht in einem weißen Bartwalde stak, aus seinen Augen floss Welttrauer und floss heitere Weisheit, je nachdem, einsames Wissen und göttliche Schelmerei. Menschen aus vielen Ländern kannten, verehrten und besuchten ihn, sprachen mit ihm englisch, französisch, indisch, italienisch, malaiisch und reisten nach langen Gesprächen wieder spurlos hinweg, vielleicht seine Freunde, vielleicht seine Gesandten, vielleicht seine Diener und Beauftragten“.
Hermann Gundert, geboren 1814 in Stuttgart und gestorben 1893 in Calw, war also einer der beiden Großväter Hermann Hesses, zu denen sich der Schriftsteller besonders hingezogen fühlte. In dem Briefband „Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert“ schildert Ninon Hesse, die dritte Ehefrau des Dichters, eine Begebenheit, die dazu passt: Über die schwerste Krise seines Schullebens, das Davonlaufen von Maulbronn und die Folgen, berichtet Hermann Hesse in dem Gedenkblatt „Großväterliches“, geschrieben 1952 (Ges. Schriften, 824 ff.). Da sagt der Großvater zu ihm, dem fünfzehnjährigen Hermann Hesse, der nach Hause zurückkehrt und furchtsam das Heiligtum des
Arbeitszimmers betritt, „gefasst auf Verhör, Urteil und Verdammung: So, du bist´s Hermann? Ich habe gehört, du habest neulich ein Geniereisle gemacht“. Und damit war die Sache abgehakt.
Das war 1892, ein Jahr vor Gunderts Tod. Diese Episode bezeichnet am Ende den typischen Widerspruch (und seine Auflösung in Menschlichkeit!) zwischen Toleranz und Strenge, Offenheit und Enge, Glauben und Denken, der sein Leben und Werk von Anfang bis Ende durchzog wie ein roter Faden.
Der Missionar
Hermann Gundert spielte eine führende Rolle beim Aufbau der Basler Mission in Südindien – einer exakten Kopie der evangelischen Landeskirche Württembergs. Eike Middell beschrieb 1975 in seiner Hesse-Biographie die geistlichen Pole, zwischen denen Gunderts Leben verlief, mit den Worten: „Über das Landexamen nach Maulbronn und schließlich nach Tübingen, wo er unter den Einfluss des damaligen Repetenten am Tübinger Stift David Friedrich Strauß geriet, sich jedoch von der junghegelschen Richtung wieder ab – und dem schwäbischen Pietismus Bengelscher Prägung zuwandte“.
Der Sprachwissenschaftler und Publizist
Im südindischen Malabar schuf Gundert ein vollständig eigenes Lebenswerk neben der eigentlichen Mission. Seine Bibelübersetzungen, Wörterbücher und anderen Publikationen in der Malayalam-Sprache wurden Grundlagen für die literarische und kulturelle Identität eines Volkes von 20 Millionen Menschen. Das hat ihm mit Bezug auf die Wirkungsgeschichte den Beinamen „Luther von Malabar“ verschafft. Ohne enorme sprachwissenschaftliche Leistungen und intensive Erfahrungen mit der Gedankenwelt des Hinduismus wäre so etwas völlig unmöglich gewesen.
Der Verleger und Theologe
Stuttgart, Rotebühlplatz 10: Die Buchhandlung Steinkopf ist die erste sichtbare Spur zur Familie des „Bibel-Gundert“.
2014 wurde sie 222 Jahre alt.
Enger als bei Hermann Gundert kann ein Leben kaum mit der Bibel verknüpft sein. Sein Elternhaus in der Stuttgarter Kirchgasse – das Gebäude brannte im Zweiten Weltkrieg ab – war von tiefer Frömmigkeit geprägt. Der Vater, Ludwig Gundert (1783 - 1854), Sohn eines Lehrers, begann als kleiner Kaufmann und war 1812 Gründungsmitglied und Sekretär der privilegierten Württembergischen Bibelanstalt. Diese Einrichtung wurde von der Deutschen Christentumsgesellschaft zur Pflege der biblisch geprägten Frömmigkeit und von den pietistischen Gemeinschaften zusammen mit der evangelischen Landeskirche getragen. 1816 produzierte noch die Tübinger Druckerei Hopfer de L´Orme die ersten 10 000 Bibeln, da die Bibelanstalt noch keine eigene Druckerei besaß. Nach einigen Jahren konnte man die ersten Druckerpressen in der Eberhardsgasse aufstellen, wo die Bibelgesellschaft Räume gemietet hatte und Hermann Gunderts Vater nebenamtlich im Kontor arbeitete. Es gab aber so viel zu tun und die weltlichen Geschäfte liefen so schlecht, dass die Bibelanstalt Ludwig Gundert 1819 als ersten Sekretär hauptamtlich anstellte.
Hermann Gunderts Mutter war Christiane Luise Enßlin (1792 – 1833), die Tochter eines Kolonialwarenhändlers, zu deren Familie aber auch Lehrer, Stadtschreiber und Pfarrer gehörten. Johannes Hesse, der Vater von Hermann Hesse, der Hermann Gunderts Tochter Marie heiratete und sein Nachfolger als Vorstand des Calwer Verlagsvereins wurde, beschreibt sie in seinem Buch „Hermann Gunderts Leben“ als „zartbesaitete Seele“ mit einem wahren Heißhunger auf alles Schöne und Geistreiche. Sie war aber auch religiös geprägt von ihren pietistischen Lehrern Flatt und Dann. Dass aber der Geist Gottes weht, wo er will – damit hatte es dieser Mann nicht so arg. Trotz des schwülstigen Stils und der bigotten Frömmelei seines Autors bestimmt dieses Buch bis heute das öffentliche Gundert-Bild. Dennoch werde ich daraus zitieren, wenn es um Fakten geht. Fakten sind aber mehr als Lebensbezüge, aus denen Propaganda einen Teil einfach streicht.
Hermann Gundert hat seiner Mutter mit 19 Jahren aus Briefen und Aufzeichnungen zu einer Art Familienchronik ein Denkmal gesetzt, das 1868 als Manuskript gedruckt wurde und 1893 im Verlag der Calwer Vereinsbuchhandlung mit dem Titel „Christianens Denkmal“ erschien. Von ihr hat der Sohn einen bedeutenden Teil seiner schöngeistigen Fähigkeiten geerbt – aber eben auch anderes.
Wie mir Pfarrer Hans-Hermann Enßlin aus Beutelsbach im Remstal berichtet hat, war Christianes Schwester Friederike-Rosine mit dem Dekan Simeon Gundert (zuletzt in Esslingen) verheiratet, und ihr Bruder Karl Heinrich wurde ebenfalls Pfarrer. Von diesen Enßlins stammt auch der Pfarrer Helmut Enßlin ab, dessen Tochter Gudrun Ensslin 1977 als Terroristin durch einen nie ganz geklärten Selbstmord in Stuttgart Stammheim endete. Diese Tatsache kann und darf Gundert nicht rückwirkend in die Nähe des Terrorismus rücken, wohl aber als Beispiel für kritisches Denken im viel zitierten „schwäbischen Pfarrhaus“ dienen. Das wird nämlich gern unterschlagen.
Henriette Enßlin (1824 – 1914), Tochter des Pfarrers Heinrich Enßlin und Nicht seiner Mutter Christiane, war ab 1862 Hermann Gunderts Mitarbeiterin in Calw. Aber zurück zur Chronologie.
Ludwig Gundert und Christiane Enßlin heirateten 1810, und Ludwig wurde Geschäftsteilhaber seines Schwiegervaters. Am 4. Februar 1814 kam der Sohn Hermann zur Welt. Seinen Namen, eine Erinnerung an den Germanenfürsten Hermann den Cherusker, bekam er im Überschwang des Nationalismus nach der Völkerschlacht von Leipzig, mitten im Befreiungskrieg gegen Napoleon. Der Vater unterrichtete ihn im Lesen, Schreiben, Rechnen und sogar in Latein. Und so kam es, dass Hermann im Oktober 1819, im Alter von nur fünf Jahren, zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Ludwig das „Gymnasium illustre“ besuchen durfte. Dieser Vorläufer des traditionsreichen Stuttgarter Eberhard-Ludwig-Gymnasiums, das heute am Herdweg liegt, stand an der Ecke Gymnasiumstraße/Lange Straße, nicht weit von der Bibelanstalt in der Eberhardgasse entfernt.
Als Hermann sechs Jahre alt war, arbeitete der Vater schon ganz im dortigen Kontor. Die Söhne verbrachten viel Zeit bei ihm zwischen Papierballen und Pressen, Büromöbeln und Büchern. Hermann kam von dem Geruch nach Druckerschwärze, Bleisatz und Buchbinderleim nie wieder los.
Er studierte längst in Tübingen, als 1832 das neue Bibelhaus an der Ecke Christophstraße/Hauptstätterstraße fertig wurde, wo im dritten Stockwerk der „Bibel-Gundert“ und seine Familie dann eine schöne Wohnung beziehen konnten. Das Haus war, wie Johannes Hesse berichtet, „freundlich gelegen und hatte ein Gärtchen dahinter“. Doch eine Idylle war dieses Leben nie. Schon der junge Gundert begegnerte dem Tod.
Wilhelm Gundert, ein zeitgenössischen Nachfahre Hermann Gunderts und Autor einer „Geschichte der deutschen Bibelgesellschaften im 19. Jahrhundert“, schrieb zum 175. Geburtstag der Privilegierten Württembergischen Bibelanstalt: „Die Britische und Ausländische Bibelanstalt ernannte zu ihrem Auslandssekretär den Pfarrer an der deutschen lutherischen Savoykirche in London, Carl Friedrich Adolph Steinkopf. Er war Schwabe und hatte zur gleichen Zeit wie Hegel, Hölderlin und Schelling im Stift und an der Universität Tübingen studiert. Nach dem Studium war er aber nicht in den württembergischen Kirchendienst eingetreten, sondern als Sekretär der Deutschen Christentumsgesellschaft nach Basel gegangen. In dieser Eigenschaft kam Steinkopf ab 1804 viel unter den Ablegern dieser Gesellschaft in ganz Europa herum – auch nach Stuttgart“.
Am 11. September 1812 fand dort im Haus des Kaufmanns Lotter am Markt, nur einen Steinwurf von Gunderts Elternhaus entfernt, eine Versammlung statt, auf der die Gründung der Bibelgesellschaft beschlossen wurde. Teilnehmer waren Christoph Matthäus Daniel Hahn, der Korrespondent der Christentumsgesellschaft am Ort, die angesehenen Kaufleute Heinrich und Ludwig Lotter sowie der Pfarrer und Erweckungsprediger Christian Adam Dann. Steinkopf brachte als Starthilfe das Abgebot mit, 200 Pfund, 600 Bibeln und 50 Ausgaben des Neuen Testaments zu stiften. 200 Pfund waren damals eine stattliche Summe – Steinkopfs Jahresghalt als Pfarrer in London betrug 150. Vier Tage später war die Grundungsversammlung.
Der erste Präsident der neuen „Bibelgesellschaft für die ärmeren Volksklassen in dem protestantischen Teil des Königreichs Württenberg“ war Gottlob Heinrich Rieger, Dekan der evangelischen Landeskirche in Stuttgart. Nebenamtliche Sekretäre wurden die Kaufleute Christian Heinrich Enßlin, Ludwig Gundert und Heinrich Lotter. Auch der Staatsminister Johann Carl Christoph Graf von Seckendorf war Gründungsmitglied. Wilhelm Gundert bemerkt, dass dies wichtig war, „denn in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts, als Vereinigungen von Bürgern noch nahezu unbekannt waren, wirkte die Mitliedschaft eines Ministers für die Obrigkeit als Garantie des Wohlverhaltens einer Vereinigung“.
1831 schrieb der besorgte Vater seinem Sohn Hermann ins vorrevolutionär erregte Maulbronn: „Uns aber gilt das Wort: Seid unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat, also der republikanischen wie der monarchischen. Der Christ sagt dazu Ja und Amen; denn sein Reich ist nicht von dieser Welt, und das ist seine Freiheit“. Eben dieser Untertanengeist aber hat bei Hermann Gundert nie so ganz funktioniert. Es war ein Denken, das auch Hermann Hesses Vater Johannes Hesse seinen Eintritt in die Basler Mission mit den Worten begründen ließ: „Ich sehne mich nach einem Korporationsleben, überhaupt nach einem großen Ganzen, dem ich als dienendes Glied aus Überzeugung und Pflicht mich unterordnen kann, um zur Erreichung des großen Ziels mitzuwirken oder wenigstens mitzustreben. Eine solche Korporation scheint mir: die Missionsgesellschaft“. Unter den Freunden Gunderts in Maulbronn waren aber der spätere Philosophieprofessor Eduard Zeller, der Schriftsteller Hermann Kurz sowie Gottlob Fink, der als früher Sozialdemokrat bekannt wurde. Und die haben gewiss nicht zu allem Ja und Amen gesagt, was von der Obrigkeit kam.
Und sind die Motive auch politisch oder weltanschaulich betrachtet eher konservativ, so dürfen doch die Folgen der Bibelarbeit als geradezu revolutionär gelten. Wenn Wissen, wie Friedrich Nietzsche schrieb, Macht ist, dann war schon Luthers Übersetzung der Bibel ins Deutsche revolutionär. Ganz ähnlich musste die Bibelanstalt wirken, deren Zweck es war, die Bibel in der lutherischen Übersetzung ohne alle Anmerkungen – außer Parallelstellen - „also zu verbreiten, dass sie auch in des Ärmsten Händen sey“.
Die historische Emanzipation des Bürgertums und die Aufklärung wären ohne solche christlichen Antriebe undenkbar. Ein Luther, der die göttliche Offenbarung der Bibel unmittelbar in die Hände der einfachen Leute gab, indem er sie ihnen sprachlich erschloss, ein Bildungsideal, das mit Lesen und Schreiben eben deswegen untrennbar verknüpft ist: Das sind Anstöße zum selbständigen Denken. Lesen und Schreiben zu können, sind die elementaren Voraussetzungen zur Unabhängigkeit des Geistes. Wer die Bibel liest, kann alles lesen. Was das bedeutet, wird spätestens klar, wenn man sieht, wie manipulierbar die Menschen in Ländern der Dritten Welt sind, wo Diktatoren und Putschisten die öffentliche Meinung durch Rundfunk und Fernsehen total im Griff haben. Vor allem, wenn es dort viele Analphabeten gibt.
Johannes Hesse schreibt über das Haus des Großvaters Gundert: „Äußerlich ging es sehr bedrückt zu im Hause des Schullehrers, und der kleine Ludwig hatte nicht gerade das, was man eine fröhliche Jugend nennt. Der Vater sparte die Rute nicht, die Mutter war jahrelang krank, das Einkommen sehr gering. Das Abendessen bestand aus einem Tee, zu dem die Kinder selbst die Kräuter auf Wiesen und Rainen suchen mussten; dazu kam ein wenig Milch“. Hermann Gunderts Jugend im Hause von Vater Ludwig, dem „Bibel-Gundert“, sah streckenweise gar nicht so viel anders aus. Was am Essen fehlte, mussten das Lesen in der Bibel, das Psalmensingen und andere religiöse Übungen ersetzen. Geld war besonders knapp nach dem Niedergang des Kolonialwarengeschäfts, und als Sekretär der Bibelanstalt verdiente der Vater auch kein Vermögen.
Die Armut und die Frömmigkeit verhinderten keineswegs ein Bildungsstreben, das den breiten Massen zugute kam. König Friedrich I. Von Württemberg genehmigte die Errichtung der Anstalt, die der Königlichen Oberstudiendirektion unterstellt wurde, einer Vorläufer-Einrichtung des Kultusministeriums. Wilhelm Gundert berichtet: „Sie ernannte eine „Administrationsbehörde“ aus sechs Personen, die die Gründer vorschlagen durften. Diese unterstand der Königl. Oberstudiendirektion. In späteren Jahren wurde daraus der Verwaltungsrat, der ein Organ der Bibelantalt, nicht des Kultusministeriums war“. Das bedeutet eine Art von Selbstverwaltung nach dem Subsidiaritätsprinzip, deren Modernität auch heute Erstaunen hervorruft.
Es fällt auf, wie sehr diese Konstruktion der Regelung ähnelt, die der Staat (erst das Königreich Württemberg und später das Land Baden-Württemberg) für die Verwaltung der säkularisierten Kirchengüter und für die Ausbilung des Theologennachwuchses getroffen hat: die staatlichen „Evangelisch-theologischen Seminare“ von 1806 leben ebenso wie die Seminar-Stiftung von 1928 ganz im Geist der Zusammenarbeit von Kirche und Staat. Dass daraus auch Spannungen entstehen, muss man nicht eigens betonen. Im Zusammenhang mit den Stichworten „Maulbronn“ und „Tübingen“ wird noch davon die Rede sein.