Hermann Hesse - Hugo Ball - E-Book

Hermann Hesse E-Book

Hugo Ball

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Beschreibung

Hugo Balls Biographie über Hermann Hesse gehört zu den Standardwerken zu dem großen Schriftsteller und Bestseller-Autoren. Die Biographie geht zunächst auf die familiären Hintergründe Hesses ein und zeigt die prägenden Einflüsse seiner Jugend- und Studienzeit. Im zweiten Teil der Biographie erzählt Hugo Ball die Entstehungsgeschichte der großen Werke wie »Steppenwolf«, »Siddharta« und »Peter Camenzind«.

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Hermann Hesse

Hermann HesseDas VaterhausDie KindheitKloster MaulbronnTübinger GoethestudienHermann Lauscher und Peter CamenzindGaienhofen am BodenseeDemianSiddharthaKlingsors letzter SommerKurgast und SteppenwolfImpressum

Hermann Hesse

Eine Biographie

von

Hugo Ball

Das Vaterhaus

Hermann Hesse ist geboren am 2. Juli 1877 in dem württembergischen Städtchen Calw an der Nagold. Beide Eltern waren nicht Schwaben von Geburt. Johannes Hesse, der Vater des Dichters, war seinen Papieren nach russischer Untertan, aus Weißenstein in Estland; seine Familie kam dorthin aus Dorpat und hat baltisches Gepräge; der älteste nachweisbare Familienahn kam aus Lübeck und war hanseatischer Soldat. Die Mutter des Dichters, Marie Gundert-Dubois, Tochter von Dr. Hermann Gundert-Dubois, wurde als Missionarstochter geboren in Talatscheri (Ostindien). Dem Blute und Temperamente nach kommt ihre Mutter, eine geborene Dubois, aus der Gegend von Neuchâtel und aus calvinistischer Winzerfamilie.

Die von dem hanseatischen Soldaten Barthold Joachim stammenden Hesses (Vater und Sohn) zeigen einen schmalen, eher schmächtigen Typus von zartem Gliederbau; sie haben blaue, scharfe Augen und helles Haar; angespannte, habichtartige Gesichtszüge und in der Erregung spitzige, rückwärtsfliehende Ohren. Sie zeigen gefaßte Haltung, bei seelischer Berührung Schüchternheit, die sich überraschend in jähen Zorn wandeln kann; zähes, stilles, geduldig zuwartendes Wesen und Neigung zu einer edlen, ritterlichen Geselligkeit. Die Dubois (Mutter und Tochter) sind klein und schmal von Statur. Sie haben engsitzende, feurig-dunkle Augen; lebhaftes, nervöses, sanguinisches Temperament. Sie sind religiös verschwärmt und von innerer Glut verzehrt: heroische Frauen in ihren Vorsätzen und Zielen, in ihrer Hingabe und Leidenschaft; hochgemut bis zum Empfinden ihrer Überlegenheit und ihres Isoliertseins, milde aber und gütig in ihrem Werben um die ihnen Anvertrauten, worunter sie keineswegs nur die eigene Familie verstehen, sondern weit darüber hinaus die Familie der Menschenbrüder und -schwestern, die Gemeinde der gleich ihnen Opferbereiten, der Auserwählten und Heiligen.

Beide Großväter des Dichters, von Vater- und von Mutterseite, tragen den Vornamen Hermann, und es dürfte schwer zu entscheiden sein, an welchen der beiden man bei der Taufe des Dichters vorzüglich dachte; denn beide diese Großväter waren, jeder in seiner Weise, bedeutende und originelle Männer, die nicht nur ihre engere Umwelt und ihren Familienkreis, sondern durch gelehrte und menschliche Eigenschaften die breite Öffentlichkeit beschäftigten; Männer, über die sehr lesenswerte Memoiren im Druck, ja in mehreren Auflagen erschienen sind. Die 342 Seiten starke Biographie des Missionars und Indologen Dr. Hermann Gundert hat den Vater des Dichters selbst zum Verfasser; sie erschien 1907 als 34. Band der »Calwer Familienbibliothek«. Erinnerungen an den Großvater väterlicherseits, den Kreisarzt und Staatsrat Hermann Hesse in Weißenstein, veröffentlichte mit einem Geleitwort des Dichters 1921 eine Nichte des Kreisarztes, die Sängerin Monika Hunnius. Beide Großväter erreichten ein hohes Alter und nahmen innig noch an der Entwicklung ihres heute gefeierten Enkels Anteil. Der Dr. Gundert starb achtundsiebzigjährig in Calw; der Kreisarzt Hesse überbot ihn noch um fünfzehn Jahre, als er mit dreiundneunzig in Weißenstein das Zeitliche segnete.

Hier ist zunächst über Gundert mancherlei zu sagen. Sein Name ist aufs engste mit der evangelischen Kirchengeschichte des Schwabenlandes verbunden. Seine Vorfahren, der »Schullehrer Gundert« und der »Bibelgundert«, waren im ganzen Neckarlande wohlbekannte Persönlichkeiten. Hermann, des »Bibelgundert« Sohn, studierte in Maulbronn und Tübingen und geriet zeitweilig unter den heftigen Einfluß des damaligen Repetenten am Tübinger Stift, David Friedrich Strauß. Er bekehrte sich zwar bald wieder vom Junghegelianismus zu den pietistischen Neigungen seiner Familie, vermochte aber zeitlebens der kritischen Einwände und Anregungen jener Strauß, Bauer und Feuerbach nicht zu entraten.

Dr. Hermann Gunderts Jugend ist durchwirkt von den antichristlichen Beänstigungen, die Napoleons Auftreten im Gefolge hatte, und von den damit korrespondierenden frommen Erwartungen einer Wiederkehr des Messias Jesu, der sein Volk ins himmlische Jerusalem führen wird. Mit Freuden folgt er einundzwanzigjährig dem Werberuf eines englischen Fabrikanten Groves, der künstliche Gebisse herstellt, diese seine irdische Beschäftigung aber stets mit einem Zuge zum Jenseits und zur Verbreitung des Evangeliums in den indischen Kolonien zu vertauschen geneigt ist. Als Hauslehrer wandert der junge Dr. phil. nach England, von dort mit seinem Brotherrn und Protektor nach Bombay, nach Ceylon, nach Malabar. Auf diesen Reisen entdeckt er seine Sprachbegabung. Im Handumdrehen lernt er einige fünf oder sechs indische Dialekte, die er bald derart beherrscht, daß er in Hindostani, in Malajalam, in Sanskrit den Eingeborenen zu predigen, später sogar indische Gelehrte zu beschämen vermag.

Er wird einer der ersten Pioniere der pietistischen Mission in Indien und, aus dem englischen Dienst in denjenigen der Basler Mission übertretend, deren wichtigster Vertreter bei der Missionierung von Malabar. Dort, unter Hindus und Mohammedanern, vermählt er sich mit Julie Dubois, die ebenfalls, von Neuchâtel aus, dem Grovesschen Kreise sich angeschlossen hatte und als Vorsteherin von Mädchen- und Fraueninstituten die Missionssorgen teilt. Dort, in Malabar, werden seine Kinder geboren, darunter Maria Hesse, die Mutter des Dichters, die als echte Dubois, nachdem sie herangewachsen, an den Erziehungsarbeiten unter den Eingeborenen teilnimmt und sich in erster Ehe mit dem indischen Missionar Isenberg verheiratet.

In den sechziger Jahren zurückgekehrt, läßt Dr. Gundert sich von seinen Basler Freunden nach Calw beordern. Er hat den Auftrag, dort zu einem Dritteil seine Zeit den wichtigen indologischen Studien, besonders der Fertigstellung seines Malajalam-Lexikons zu widmen, ein Werk, an dem er im ganzen etwa dreißig Jahre gearbeitet hat und das von der englischen Regierung mit einem Ehrensolde bedacht wird. Die zwei übrigen Drittel seiner Arbeitskraft sollen dem Calwer Verlagsverein und dessen dermaligem Vorstand Dr. Barth zur Verfügung stehen.

In Calw lernt Dr. Gundert zu seinen drei Weltsprachen (Deutsch, Englisch, Französisch) und den inzwischen an Zahl noch vermehrten indischen Dialekten einige zehn weitere Sprachen hinzu, deren Grammatik ihn in lebendigster Weise beschäftigt. In Calw widmet er sich neben der überseeischen Mission mit ganzer Hingabe auch der inneren. Er hält Betstunden, Missionspredigten, besucht Kongresse, redigiert Propagandablätter, empfängt Besuche aus aller Welt: gelehrte, exotische, pietistische Besuche. Er hat eine Audienz beim König, steht mit den bedeutendsten Persönlichkeiten des evangelischen und philologischen Lebens in Austausch, liest hundert Revuen, druckt sehr bedeutsam kirchengeschichtliche, exegetische und Übersetzungswerke, um sich schließlich, von seinem Biographen mit einem breiten, ruhig fließenden Strome verglichen, nach jener einen Wurzel der Realitäten zu sehnen, die er in allen Sprachen der Welt gesucht und vielleicht schon gefunden hatte.

Von ganz anderer, nicht weniger origineller, nicht weniger reicher Begabung in menschlichen und göttlichen Dingen ist der russische Staatsrat und Kreisarzt Hermann Hesse. Ist für den einen der Großväter die Studierstube bezeichnend, die wie ein Bergwerk aussah, wo Schichte um Schichte liegt; wo über dem bücherbeladenen Sofa, über dem ebenso dicht mit Briefen, Handschriften und Blättern beladenen Schreibtisch die Bilder der Missionskoryphäen hingen, so bezeichnet den anderen Ahnherrn der parkähnliche Garten, »der schönste Garten, den ich je gesehen«, wo es in einem Meer von Rosen, Lilien, Malven und wohlriechenden Erbsen, zwischen ungezählten Beerensträuchern, Grasplätzen und Obstbäumen, unter alten Linden, Tannen und Ahornkronen nicht weniger sachkundig und selbstsicher zuging als in der Studier- und Redaktionsstube des Calwer Verlagsvereins.

Dieser andere Großvater ist ein ungeheuer lebendiger, witziger, fröhlicher Mensch, allem Akten-, Streber- und Beamtenwesen tief abgeneigt. Durch Goßners Bibel wird er in die seligen Bereiche eingeführt. »Gott selbst trat mir nahe und redete aus seinem Wort mit mir.« Nach Weißenstein zieht er als junger Arzt, ohne auch nur einen Rubel Einnahme in Aussicht zu haben. Die kleine öde Stadt mit dem Aussehen einer sibirischen Strafkolonie vermag ihn nicht abzuschrecken. Eine Freude im heiligen Geist bewegt sein Herz und ordnet die Widerstände. Die religiöse Erweckung war auch in Weißenstein soeben eingezogen. Um Pfingsten angekommen, kann er im Herbst schon ein Haus kaufen und seinen Garten anlegen. Als seine Frau niederkommt, bieten drei Ammen sich freiwillig an; es regnet vom Himmel. Losung am 2. Juni: »Sie sollen erfahren, daß ich, der Herr, ihr Gott bin.« Jeden Montagabend, so notiert er selbst, wird beim Dr. Hesse eine Bibelstunde gehalten.

Auch dieser Ahn also ist Pietist. Aber keineswegs kopfhängerisch und menschenscheu; auch nicht in Probleme versponnen und die Einheit der Erscheinungen suchend, sondern offen und hell allem Segen der Kreatur und der Offenbarung des Herrn in Menschen, Tieren und Pflanzen ergeben. Als Grenzpionier und Kolonisator bewahrt er sein hanseatisches Wesen im russischen Amt, wie der andere Großvater seine schwäbische Art in englischen Diensten. Er ist der Gründer des Studentenchors Livonia und liebt es als solcher, Choräle singen zu lassen, indes man die Bowle serviert. Bei den Gebetsstunden, die er selbst, nicht etwa der Geistliche oder der Organist des Städtchens abhält, erscheinen ohne Unterschied die Barone der Umgebung wie die Handwerksmeister und -burschen der Nachbarschaft. Man muß bei diesen Gebetsstunden oft herzlich lachen über die naive, direkte, urwüchsige Art des Herrn Doktor; denn es kann ihm bei seiner Hitzigkeit begegnen, daß er den falschen Spruch anzieht, wie er seine Patienten mitunter von einem gesunden statt vom kranken Zahne befreit. »Mein Heiland«, sagte er, »liebt frohe Kinder, und warum soll ich denn nicht lachen und jubeln, da ich so reich bin, weiß ich doch, daß ich meinen Heiland habe.«

Mit fünfzig Jahren noch läuft er Schlittschuh; schon in den Achtzigern, findet man ihn zum Entsetzen hoch oben im Gipfel eines Apfelbaums, wo er im Begriff ist, einen Ast abzusägen, den er, als Fallschirm benutzend, beim Sturz mit herunterbringt. 1847 wird als letztes von fünf Kindern des Dichters Vater geboren, der elf Jahre später nach Reval ins Haus des Barons von Stackelberg gebracht wird. 1868 reist Großvater Hermann nach Worms, wo er mit Kaiser Wilhelm und dreißigtausend Deutschen das Lutherdenkmal einweihen hilft; dann nach Basel, wo er seinen inzwischen Missionar und Lehrer der Basler Mission gewordenen Herzens-Johannes umarmen kann. Am 11. August dieses Jahres nämlich war Johannes in Heilbronn zum Missionsprediger ordiniert worden, kaum einundzwanzig Jahre alt.

Im Geburtsjahr des Dichters feiert Großvater Hesse sein 50. Doktorjubiläum: »Man hat mir Ehre und Liebesbeweise gegeben ohne Maß. Es kamen die Kameraden aus Dorpat alt und jung mit Fahnen und Ehrengeschenk. Es waren hundert Personen versammelt. Nach den An- und Dankreden haben wir gesungen: Nun danket alle Gott. Es war nichts als Liebe und Freude nach dem Burschenrezept: Gott lieben macht selig, Weintrinken macht fröhlich, drum liebe Gott und trinke Wein, dann wirst du fröhlich und selig sein.«

Die Magie des Vornamens und des Namens überhaupt ist sehr stark, ja unumgänglich. Man hat ganze Systeme und Bewegungen darauf gegründet. In altchristlicher Zeit schloß der Taufname die Verpflichtung in sich, dem betreffenden Heiligen, dessen Namen einem erteilt worden war, nachzueifern, ja ganz in seinem Schutz und Dienste aufzugehen. In pietistischen Kreisen, die das Urchristentum nahe berühren, spielen zwar nicht die Heiligen im katholischen Sinne, wohl aber die Großväter eine Rolle, die eigentlich die der Heiligen noch übertrifft. Es ist hier, wie Pfister in seiner Zinzendorf-Studie sagt: Gott als himmlischer Vater wohnt noch immer als Großvater im Altenteil. Der Heiland hat ihm die leibliche Pflege der Gläubigen übergeben, und um Jesu willen dürfen wir ihn unseren Vater nennen. Doch ist ein Großvater auch ein rechter Vater, nur nicht unmittelbar. Für Zinzendorf, den Erneuerer der Brüdergemeinden, vertritt der Vater stets die Rolle Christi; der Großvater aber die Rolle Gottvaters selbst. Nun waren aber nicht nur die beiden Großväter des Dichters, sondern auch seine Eltern freudige, ja strenge und führende Pietisten, die sich im Eifer für die Sache des Herrn verzehrten; denen die Pietät schwurähnliche Verpflichtung war.

Es ist ersichtlich, daß der Gegensatz der beiden eindrucksvollen Großväter für den Enkel eine ominöse Bedeutung gewinnen konnte. Dieser Enkel, der als gereifter Mann auf der Magie eines bloßen Namens (der »schönen Lau«) eine seiner schönsten Erzählungen, die »Nürnberger Reise«, aufgebaut hat, dieser geheimnisvolle Wortkünstler, sollte er sich in die Ideen und Beweggründe, in die Wanderfahrten und Liebhabereien seiner beiden Ahnen nicht aufs innigste eingeträumt haben?

Wer hätte als Kind nicht an seinem Vornamen gelitten, ihn hundertmal sich vor- und eingesprochen, Forderungen an ihn gestellt, ihn mit berühmten Mustern verglichen, ihm zugejubelt oder ihn ungenügend befunden? Wer hätte als Knabe und Jüngling nicht hundertmal in sanftem, kühnem, steilem oder lässigem Bogen mit Schnörkel und seltsam verschlungenem Strich seinen Namen vor sich hingeschrieben, sich mit ihm gestritten und ausgesöhnt, sich ihn eingeprägt und mit ihm abgesondert von den Geschwistern, von der Familie, als Ich, als Ich selbst, als eigenster Besitzer und Mitgiftträger für Zeit und Ewigkeit?

Frühere Zeiten pflegten dem heranwachsenden Novizen den leiblichen Vornamen nebst seinem Ich abzunehmen und ihm dafür den Namen einer Maske, ein fremdes, höheres, kanonisiertes Ich als Vorbild einzuokulieren. Wir Heutigen aber: müssen wir uns mit dem natürlichen Ich nicht abfinden? Ist dieses uns verbleibende leibliche Ich nicht ein steter Quell der Verfänglichkeit und des Verfangenseins in den Zufall und in die eigene Natur? Und wenn übermächtige Gaben der Eltern uns aufsaugen und entselbsten wollen, wenn eine wohl- oder schlechtbeschaffene Erziehung unseren Eigenwillen brechen, uns kleinkriegen will –: ist dieser Vorname nicht eine Zuflucht? Enthält er nicht unser besonderes Recht auf eigenes, neues, von vorn beginnendes Leben und Wirken?

Unversehens habe ich von den Großvätern erzählt; es ist an der Zeit, daß ich zu den Eltern übergehe. Ich sagte schon, daß beide nicht geborene Schwaben waren. An Calw band sie nur ihre Tätigkeit. Schon der alte Gundert hatte seine Berufung dorthin als ein Schicksal betrachtet, ängstlich wegen der Nebel des von hohen Tannenwäldern umgebenen, im Winter nach dem indischen Klima recht rauhen Städtchens. Die Schwarzwälder Heidelbeeren halfen ihm dann seine von den Tropen mit nach Haus gebrachte Ruhr kurieren. Immerhin war Gundert ein echtes Stuttgarter Schwabenkind, das sich in der Heimat, unter alten Studiengenossen bald wieder zurechtzufinden vermochte. Anders stand es um die Eltern des Dichters. Sie mußten sich erst assimilieren. Das indische Gepräge der Gunderts, die »wie die Zigeuner aussehend« aus Malabar zurückgekommen waren, und das baltische, adelige Wesen des Vaters Hesse, der sich in eine mitunter recht ungenierte, wohl auch verständnislose Umgebung versetzt sah –, all dies separierte die Familie, hob sie von der schwäbischen Allzu-Natürlichkeit ab, brachte ihr das Anderssein nicht immer in der annehmlichsten Weise zu Bewußtsein.

Auch in theologischen Stücken, nicht nur in der Lebensart, gab es trennende Unterschiede. Man bekannte sich innig zur Gnade und zur Gefühlsfrömmigkeit; aber es gab doch gelegentlich Differenzen, mit der Orthodoxie sowohl wie mit den Schwärmern. Es war ein weitgereister, erfahrener, ein durch die Laugen der modernen Kritik und des Seewassers gegangener Glaube, dem man anhing. Man wußte, daß sich die Christen von Milet und Tyrus gar nichts daraus gemacht hatten, auf dem Ufersand niederzuknien und zu beten. Man wußte aber auch, daß vom Pietismus im engeren, historischen Sinn unsereinen etwas trennen muß. »So trennt mich«, schrieb der alte Gundert, »auch etwas von Luther, von Augustin usw. Denn ich würde Wechselbälge nicht in die Elbe werfen heißen, noch könnte ich mich an den milanischen Märtyrer-Reliquien erbauen. Ebenso ist mir auch das Hallesche Wesen etwas zu kurz geraten, und Methodismus, Darbysmus, und wie die neueren Formen alle heißen, sprechen mich nicht als den Ihrigen an.«

Hesses Eltern ordnen sich in der ersten Zeit ihres Calwer Aufenthaltes dem berühmten Großvater in allen Stücken und besonders in Glaubenssachen unter. Die Mutter des Dichters spricht in ihren Tagebüchern bei weitem mehr von ihrem überaus verehrten und geliebten Vater als von Jonny, ihrem Gatten. Als dieser in den Arbeiten für ein Kirchenlexikon völlig aufgeht, konstatiert sie nur ihre Befriedigung, daß Johannes, der demütige Gehilfe ihres Vaters, das kann. In ihren eigenen literarischen Arbeiten empfindet sie sich ebenso als geistige Tochter ihres Vaters, wie sie den Gatten als dessen geistigen Sohn empfinden mag.

Auch Johannes Hesse und seine Frau gehörten, wenn auch nur für kurze Zeit, zum indischen Kreuzzugsfähnlein der Basler Mission. Noch ist der Brief erhalten, mit dem Johannes Hesse sich bewerbend an das Basler Komitee wandte. »Ich heiße Johannes Hesse, bin achtzehn Jahre alt und Primaner der Ritter- und Domschule in Reval. Vor zwei Jahren entschloß ich mich zum Studium der Theologie, weil ich in dieser Wissenschaft die beste Lösung für Kopf und Herz, die beste und nützlichste Art des Lebensberufes zu finden glaubte. Allmählich aber bekam ich eine Sehnsucht danach, dem Herrn auch praktisch zu dienen; ihm, dessen Dienst- und Lehensmann ich bin, nun auch mit dem Heerbann zu folgen.« Es ist ein verspäteter Ordensritter, der hier wirbt; und er sieht sich nach einer Gemeinschaft um, nicht weil sein Ich zu schwach, sondern weil es ihm »längst zu stark geworden« ist. Er sehnt sich nach einem großen, heiligen Zweck, in dessen Dienst sein Einzelleben untergehen könne; denn »bis jetzt war ich mir Selbstzweck gewesen«. Man beachte wohl: so schreibt ein Achtzehnjähriger! Er schreibt, als stünde er bereits vor seinem Lebensende. Er schreibt wie ein bejahrter Mann mit jenem vorwegnehmenden Wissen, das auch in den Erstlingsbüchern seines Sohnes mitunter überrascht.

Am Missionshaus bleibt Johannes Hesse vier Jahre, erst als Zögling, dann als Privatsekretär des Direktors Josenhans, dessen Lebensbild er später geschrieben hat. Dem indischen Klima aber vermag er nur drei Jahre standzuhalten. Kopf- und dysenterieleidend kehrt er 1873 in die russische Heimat zurück; Josenhans beordert ihn indessen als Helfer zu Dr. Gundert nach Calw, wo er elf Jahre lang das Basler Missionsmagazin redigiert. Das Haus des Indologen wird ihm bald zur zweiten Heimat. Dort findet er 1874 auch seine Lebensgefährtin, die ihm als verwitwete Isenberg zwei bereits erwachsene Söhne mit in die Ehe bringt. Anfänglich wohnte man am Marktplatz in altertümlicher Umgebung (in diesem Hause ist der Dichter geboren), dann in einem Schullokal, zuletzt im Hause des von Pearsall Smith und seinem Kreise gegründeten »Verlagsvereins«.

Unterbrochen wurde die Calwer Zeit durch einen fünfjährigen Aufenthalt in Basel. Vom dritten bis zu seinem neunten Lebensjahr hat Hermann Hesse seine Kindheit in der Schweiz, nicht im Schwabenlande verbracht. Der Vater gab Unterricht am Missionshaus, eine Tätigkeit, die mit mancherlei Darben und Bitternis verbunden war. In Basel wurde der »Heimatlose«, der bisher auf einen russischen Paß gereist war, auch Schweizer Bürger. Erst 1886 trat er, als Gunderts rechte Hand, in den Dienst des Calwer Verlagsvereins, um nach Gunderts Tod 1893 dessen Amt und sehr umfängliche Tätigkeit völlig zu übernehmen und abzuschließen.

Der Dichter hat seine Vaterstadt mit ihren Fachwerkhäusern und ihrem schön rauschenden Flusse, mit ihren Kelterfesten und Mädchenzöpfen, mit ihren Forellenbächen und Blumensträußen so oft und liebevoll geschildert, daß mir in diesem Punkte nicht viel zu tun übrig bleibt. In »Schön ist die Jugend« und »Unterm Rad«, in »Knulp« und in den »Märchen« –, immer wieder ist Calw der Gegenstand einer Kleinkunst, die an zierliche Kostümbögen und alte Stiche erinnert. Er konnte sich kaum genug tun, sein Städtchen zu preisen, und machte fast eine moralische Sache und einen Kult daraus.

Es gibt ein wenig bekanntes Buch des Dichters, das noch vor »Camenzind« erschienen ist; darin steht ein kurzes Impromptu, »Gespräch mit dem Stummen«, das eine scheue, ja eifersüchtige Liebe zeigt. »Was weißt du«, so heißt es da, »wenn ich sage: meine Mutter? Du siehst dabei nicht ihre schwarzen Haare und ihr braunes Auge. Was denkst du, wenn ich dir sage: die Glockenwiese? Du hörst dabei nicht das Windrauschen in den Kastanienkronen, und spürst nicht den Duft der Syringenhecke, und siehst nicht die blaue Fläche der Wiese, die ganz mit den schwanken Glockenhäuptern der blauen Campanula bedeckt ist. Und wenn ich dir den Namen meiner Vaterstadt sage, dessen Laut mir schon das Blut bewegt, so siehst du nicht die Türme und den herrlich überbrückten Strom, und siehst nicht den Hintergrund der Schneeberge und hörst nicht die Volkslieder unserer Mundart, und hast nicht selber Lust und Heimweh dabei.«

Was der Dichter nicht erwähnt, ist die geistige Atmosphäre; man findet sie erst später. Mag sein, daß mancher Widerspruch, der den Jüngling vom Vaterhaus löste, erst heilen und vernarben mußte; daß ihn die dürftige Enge der ersten Kinderjahre oft allzusehr gedrückt; daß er als Knabe der Amseln und der Veilchen dringender bedurfte als der Studierstube des Vaters. Gelegentlich tauchen auch in den früheren Büchern Reminiszenzen auf, doch ist es dann stets, als werde die Hauptsache umgangen und vermieden; als liebe der Dichter die Peripherie seiner Herkunft mehr als den Kern und die fatalerweise von aller Welt belächelte pietistische Sphäre. In »Camenzind« und »Unterm Rad« und noch in »Knulp« und in »Demian« sind es Handwerksmeister, die zur Brüdergemeinde gehören und ihrer eigenen evangelischen Weisheit folgen; die dem Stadtpfarrer nicht gewogen sind, sondern ihn mit tiefem Mißtrauen als einen »Großkopfeten« betrachten; Typen, von denen auch Heinrich Mann als von einem Bildungsingredienz zu berichten weiß. Nur daß sie bei Hesse als ein Stück Volkspoesie mit weit mehr herzlicher Liebe, mit innigerem Anteil geschildert sind.

Was Hesse so lange verschwieg und was ihn darum wohl zumeist von den Calwer Eindrücken beschäftigt hat, das ist das kleinstädtische Pietisten- und doch auch weltweite Brahmanen-Milieu, dem er entstammt und das deshalb hier um so ausführlicher genannt werden mag; enthält es doch die Wurzel seiner geistigen Existenz und seines ästhetischen Gewissens, seiner Lebensart und seiner bedeutsamsten Konflikte. In dieser Welt wurde der Sinn geschärft, der ihn die Natur so zart erfassen, der ihn für sein Erleben so tief verschlungene Worte finden läßt. In den Studierstuben seines Vaters und Großvaters wurden die philologischen und grammatikalischen Finessen geübt, die des Dichters Sprache zu einem unerhört biegsamen und bewußten Instrumente machen; die seinem Satzbau saubere Klarheit und logische Folge geben. In diesem Vaterhaus wurden die Psalmen gesungen, die Bibel gelesen, wie nur katholische Priester ihr täglich Brevier verrichten.

Man darf den schwäbischen Pietismus nicht unterschätzen. Schelling und Hegel, Mörike und Hölderlin, Strauß und Vischer sind ohne ihn nicht zu denken. An die Seminare Maulbronn, Blaubeuren und Urach knüpfen sich schönste und älteste deutsche Erinnerungen. Die Geschichte des Tübinger Stifts vollends ist ein gut Teil der deutschen Geistesgeschichte. Hier, im Schwabenlande, vereinigt sich das mit Jubel begrüßte Zinzendorfische Ideal der Erneuerung mit den Ideen der Romantik und fördert eine Gesinnung, die vom offiziellen Protestantismus mitunter weiter entfernt scheint als von Rom; eine Bewegung, die recht eigentlich danach aussieht, als wolle sie den alten Zwiespalt, den die Reformation mitbrachte, auf halbem Wege poetisch verbrücken.

Die Pietisten haben den mystisch versunkenen Luther wieder entdeckt, der über den Religionshändeln und über dem fürstlichen Aufkläricht fast war vergessen worden. Menschen, die Brüder und Heilige wollen sein oder werden, leitet ein Enthusiasmus, der, in wie kindlichen Formen er immer sich äußern mag, mit aller Ewigkeit im Bunde steht. Im Baltenland und in Schwaben trug die Erweckungsbewegung die tiefsten, sehr häufig asketische Züge. Das Königtum Christi wird hier verkündet, lange bevor es von Rom in aller Form zum Weltfeste erhoben ward. Der Heerbann Christi, die Hingabe an sein Reich, der Einzug ins himmlische Jerusalem –: all dies sind Vokabeln aus typisch pietistischem Wortschatz; Vokabeln, die niemand sanftmütiger ergriffen hat als die verachteten Stundenbrüder.

Auch die evangelische Heidenmission ist ihr Werk; Schwaben hat große Verdienste daran. Die indischen, chinesischen und japanischen Studien erweisen noch heute den alten Zusammenhang. Gelehrte wie Hauer in Tübingen, den Übersetzer Richard Wilhelm oder den Shintologen W. Gundert in Japan, dem Hesse als seinem Vetter den zweiten Teil des »Siddhartha« gewidmet hat, kann man als Beispiele nennen. Die Jesuiten waren um Jahrhunderte früher am Werk, und Namen wie Franz Xaver oder Taten wie die Propaganda fide wurden von England und Deutschland nicht überboten. Aber die evangelische Mission, die mit der Erweckungsbewegung beginnt, ist philologisch ganz anders interessiert. Die Text- und Systemkritik, die poetische Kraft der Übersetzung sind ein Vermächtnis der Reformatoren. Die Männer aus dieser Schule treten an alle die fremden Kulte viel unbehinderter, freier heran. Freilich hatten sie auch ganz anders erschütternde und verwirrende Seelenkämpfe mit Sufilehrern, Brahmanen und Hindupriestern zu bestehen. Diese Bewegung bemächtigte sich aber der tausend heidnischen Tempel, Götter und Untergötter, durchdrang sie und führte zu einer Vielfalt der Kenntnis, die den romantischen Aufwand weit hinter sich läßt.

Die Kindheit

Hermann Hesse ist das jugendliche Volkslied, in unendlicher Variation. Er ist ohne das Volkslied nicht zu denken; es singt sich gut beim Lesen seiner Bücher. Und doch ist er mehr als das Volkslied; er ist dessen Hintergrund, dessen Höhe und Tiefe, dessen Geheimnis und Interpret. Einmal heißt das Thema »Am Brunnen vor dem Tore«, dann »Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus«, dann »Guten Morgen, Spielmann, wo bleibst du so lang?«, und so fort, die ganzen deutschen Liederbücher durch, bis zum geistlichen Lied, zur Kantate und zur Passion. Die zugrundeliegende Melodie ist oft kaum mehr zu erkennen; die Modulationen und Arabesken, die Koloratur und der Kontrapunkt verbergen die Grundmelodie. Bald ist man an Schuberts und Hugo Wolfs kristallene Bäche und schimmernde Horizonte erinnert, bald an Chopins schluchzende Feste; dann ist zuletzt auch noch Mozart da, der die Stimmen energisch zusammenrafft. Immer aber liegt das Volkslied zugrunde, das deutsche, und später wohl auch das italienische. Wer diesen Dichter ehren will, der mag ihm Lieder singen, wie sie vom Muttermunde, auf der Schulbank und beim Wandern zu lernen und zu singen sind.

Hermann Hesse ist der letzte Ritter aus dem glanzvollen Zuge der Romantik. Er verteidigt die Nachhut. Wird er sich plötzlich umdrehen, dieser Ritter, und eine neue Front aufbieten? Wer weiß es. Er ist der letzte aus der ungebrochenen Linie des Jean Paul, mit dem ihn die Liebe zu allen Sternen, zu Schmetterlingen und Papageien, zu leuchtenden Paradiesen und eingesponnenen Sonderlingen, zu allen Aventüren der Freundschaft und der nervösen Herzensergüsse verbindet. Er ist der fromme, graziöse und auch der belastete Romantiker aus der Schule der Brentano und Hölderlin. Er grüßt die Sternbalde, Schlemihle und Taugenichtse. All deren wehmütige und lustige Tonfälle trägt er im Blut; all ihre himmelblaue und goldene Kindsköpfigkeit hat er aufgenommen. Von ihren Furcht-, Nacht- und Troststücken erfüllt ist sein Werk. Er ist der letzte aus diesem Zuge und also auch derjenige, der die Summe ihrer Erfahrung und ihrer Nöte, ihrer weltfernen Leiden und überströmenden Sehnsüchte trägt. Von Sonne, Mond und Sternen spricht sein Werk, und sie sind noch immer wie einst. Von Blumen, Vögeln und Fischen, und sie sind um ihrer selbst willen da. Und da sich im Menschen all diese trefflichen Meisterstücke des Schöpfers in immer wieder erstaunlicher Mischung spiegeln, so ist er der Freund und Bruder auch des Menschen, wiewohl der Mensch nur selten, nur in der Liebe zur Kreatur, als der Erleuchtete und allem Leben Verbundene, als Franziskus und Buddha die tote und die belebte Natur übertrifft.

Ländlich-holde Bläsermusik begleitet diesen Zauberer, wenn er auftritt. Es leuchtet, blüht und stöhnt; es fliegt, zwitschert und schluchzt in seinen Büchern. Die Tiere bekommen Menschengesicht, und die Menschentiefe bewegt ein seltsames Geschiebe von Tier- und Pflanzenseelen, von Urwald- und Dschungeldüften; von all den fremden, klingenden Dingen, die der Traumbereich und die Sinne zu fassen vermögen.

Dieser Dichter liebt nicht die Monstrebücher und großen Formate; nicht bei andern und nicht bei sich selbst. Talent haben, heißt ihm Talent verbergen. Die Kunst des Schreibens besteht im Weglassen und Einsparen, im Reduzieren. Ein Satz, ja eine Geste oder ein Schweigen ersetzen in seinen Büchern den Aufwand ganzer Kapitel. Nicht die Maschinerie des Romans und nicht das Theater der aufgetragenen Leidenschaften sind ihm verfänglich; weder die Abstraktion und das Gemächte der Absicht, noch die furiose Gewalt des Genies. Das Kabinettstück ist seine Sache. Langsames Wachsen und Reifen, ein Aufleuchten der Gnade; Jungsein und Altsein und Wiedergeburt –: das sind die Quellen seiner Erzählung. Wie in der zierlichen Sinfonietta die einzelnen Sätze einander ablösen mit der Verpflichtung zu Wechsel und Kontrast, so kennzeichnet das Werk dieses Dichters mehr der Gegensatz und das verschlungene Motiv als der bewußte und kahle Gedanke.

Merkwürdig genug: dieser Musikus, der die Flöte zu spielen versteht, ist zugleich ein hervorragender Bildner. Die Musik ist immer zuerst da, schon von weitem her, wenn er kommt. Sie läuft ihm voraus, sie begleitet ihn; dann umtanzt sie die Bilderbogen, die er aufrollt. Und dies ist selten, und lustig und traurig zugleich; weil dann die schönen Dinge gar sehr vorhanden und süß sind und doch vergänglich erscheinen; weil sie den festlichen Tod im Gesichte tragen und schon die beginnende Gnade der Wiederkehr. Mit Auge und Ohr zugleich umfaßt dieser große Künstler die Gegenstände, und immer mit gleich verteilter Schärfe. Kein Gedanke, der sich ihm nicht in Bild und Musik, in eine wohlklingende Schildnerei auflöste. Er lauscht und zeichnet. Er hat die gemessene Logik eines Architekten, und doch auch die stille Geduld eines Gärtners, der warten kann, bis sich die schmächtige Pflanzung zum tragenden Wipfel verzweigt.

Es gibt heute keinen zweiten Dichter, der so sehr die Tradition für sich hat und so bewußt in ihr ruht. Die Ruhe ist ihm eigen wie dem Baume im Park und im Walde, der Ulme und Esche, die aufwachsen, Ringe gewinnen und sich im Abendwind wiegen. Die Ruhe ist ihm so eigen wie dem Brunnen, der in sich verspielt und versunken ist, und dem still fließenden Gewässer, das in seinen eigenen Kreislauf mündet. Der Wald gehört ihm, der Schwarzwald und der Odenwald; noch heute, er weiß es wohl. Ihm gehört der schlafende Garten, die tönende Nacht und das Urbild der Mutter, der freundliche Tod, für den er das franziskanische Bruderwort findet.

Und es gibt keinen Zweiten heute, der so allem Echten, Dauernden, Liebenden auch im geistigen Bezirke zugetan und verschworen wäre. Für die durchdringenden Augen dieses Mannes gibt es kein Flunkern, kein Klopfreden, keinen Firlefanz. Wie seiner Worte Form und Treue erkämpft und errungen ist, mit mancherlei Irrweg und Scham, mit mancherlei Aufbruch und Heimweh, mit Scherbengeklirr und mit wehem Verzicht, so sieht er im Getümmel der Schreiber und Sprecher, der Bildner und Musikanten auf das Herz vor allem, daß es genau und richtig schlage; daß es gelitten habe und seinen Glanz behalten; daß es ritterlich sich darbringe; daß es im Denken der Väter ruhe und doch ein neu Lied und ein neuer Beginn aus sich selber wäre.

Es ist nicht immer so gewesen; nicht immer klangen die Töne so voll und sonor; so gegenwärtig und ihrer selbst gewiß. Das Künstlerideal des jungen Hesse wächst sehr entlegen heran. Er entnimmt es aus Büchern; sehr guten, alten, bewährten Büchern, aber immerhin der Lektüre, nicht der Erfahrung. Er stand nicht in namhaften Spannungen seiner Zeit; nicht im großen Strom einer Clique, einer Richtung, einer Kameraderie hochgemuter Freunde und ebenbürtiger Begabung. Die Großstadt hat ihn nie berührt; mit ihren Höllen nicht und nicht mir ihren Himmeln.

Er nimmt sein Ideal aus Biographien verschollener Zeiten; seine Beispiele aus altitalienischen Legenden und Novellisten, seine ganze Lebendigkeit von der Natur. Aus dem Maulbronner Seminar, wo er den »Werther« und Heine liest, entläuft er mit allerlei Umwegen in eine Tübinger Buchhandlung, bedient dort Studenten und Professoren; sitzt, zwanzigjährig, in Stapeln von Büchern bis über den Kopf und bleibt dabei immer frischer, als wenn er Germanistik studierte. Er gerät in die Schlingen eines sentiment prémature; schreibt schon und publiziert in angesehenen Verlagen, ohne außer sich selbst auch nur einen einzigen zeitgenössischen Dichter gesehen zu haben.

Seine jugendliche Auffassung vom Artisten ist diejenige, die Vasari und der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts teuer war. Der Dichter als spezialisierter Poet ist kaum vorhanden; er lehnt sich an den fahrenden Gesellen, an den noch handwerklich gebundenen Maler an. In Samtjoppe und Barett, wenn nicht eine Spielhahnfeder am Hut, erweist dieser Künstler mit Streichen à la Boccaccio die Kraft seines Naturells. In winkeligen Nachtquartieren weiß er spaniolische Komplimente zu drechseln, um zu Hause in einsamer Trauer den edleren Teil seiner Seele in Skrupeln und Wonnen entströmen zu lassen. In dieses Ideal mischen sich die dämonischen Geiger des Lenau, die fröhlichen Lautenschläger der Renaissance, die musikalischen Käuze des E. T. A. Hoffmann mit ihrer schattenhaften Vertauschung von Nacht und Tag. Und mischen sich, als der junge Hesse aus der Tübinger Buchhandlung 1897 in eine Baslerische einwandert, die stillen Züge studierender Mönche aus den chronikalischen Büchern des Jacob Burckhardt.

Selbst die Ehe des Dichters vermag diesen hartnäckig abseitigen Traum nicht zu brechen; er wird sich im eigenen Hause ein Turmzimmer einrichten und es mit Stachligkeiten verbarrikadieren. Die Gattin aus altem Basler Geschlecht ist viel zu tief in die Ahnenreihe versunken; Festen und froher Geselligkeit ist sie ganz abgeneigt. So bleibt der Künstler ein Eigenbrötler, wenn nicht ein Widersacher; bleibt er der Einsame und Isolierte in einer entlegenen Kammer. Erst 1911 mit einer Reise nach Indien, und eigentlich erst im Kriege, und noch später 1919 mit der Übersiedlung von Bern in den Tessin beginnt die menschliche Anonymität des Autors sich aufzulösen und mitzuteilen.