Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
The closest connection between Jews and Christians probably lies in the fact that they share a common scriptural basis. All of the books of the Hebrew Scriptures (Tanach) are included in the ?Old Testament= of the Christian Bible. However, the history of Judaism and Christianity shows that the same books are understood and interpreted quite differently in each of the separate contexts. The new edition of this book emphasizes common ground and differences in understanding and interpretation and takes up the intensive hermeneutic debate that has been taking place over the last 20 years. This includes new findings on interrelationships between Judaism and Christianity in the first few centuries after Christ, as well as advances in Christian&Jewish dialogue. Special attention is given to the reorientation of the relationship with Judaism based on the Second Vatican Council, which led to a new understanding of the Old Testament in Catholic theology.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 576
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Kohlhammer Studienbücher Theologie
Herausgegeben von
Christian Frevel Gisela Muschiol Dorothea Sattler Hans-Ulrich Weidemann
Band 1,2
Christoph Dohmen Günter Stemberger
Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments
Zweite, überarbeitete Auflage
Verlag W. Kohlhammer
Zweite, überarbeitete Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-036140-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-036141-6
epub: ISBN 978-3-17-036142-3
mobi: ISBN 978-3-17-036143-0
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Die wohl engste Verbindung zwischen Juden und Christen ist in der gemeinsamen Schriftgrundlage zu greifen. Alle Bücher der Heiligen Schrift des Judentums (Tanach) sind im "Alten Testament" der christlichen Bibel enthalten. Die Geschichte von Judentum und Christentum zeigt aber, dass dieselben Bücher in je eigenen Kontexten ganz verschieden verstanden und ausgelegt werden. Die Neuausgabe dieses Buches stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verständnis und in der Auslegung heraus und nimmt die intensive hermeneutische Diskussion der vergangenen 20 Jahre auf. Dazu gehören neue Erkenntnisse zu den Wechselbeziehungen von Judentum und Christentum in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ebenso wie die Fortschritte im christlich-jüdischen Dialog. Die im II. Vaticanum begründete Neuorientierung der Beziehung zum Judentum, die zu einem neuen Verständnis des Alten Testaments in der katholischen Theologie geführt hat, findet besondere Berücksichtigung.
Prof. Dr. Christoph Dohmen lehrt Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments an der Universität Regensburg. Prof. Dr. Günter Stemberger lehrte Judaistik an der Universität Wien.
Vorwort
Vorbemerkung
Allgemeine Literatur
1. Text und Kon-Text
(Christoph Dohmen)
1.1 Die zweigeteilte Einheit der christlichen Bibel
1.1.1 Altes Testament, Jüdische Bibel und Bibel Israels
1.1.2 Das Alte Testament als Ur-Kunde
1.2 Das Verstehen der Schrift
1.2.1 Hermeneutik und Exegese
1.2.2 Texte verstehen
2. Hermeneutik der jüdischen Bibel
(Günter Stemberger)
2.1 Die Zeit des Zweiten Tempels
2.1.1 Innerbiblische Auslegung
2.1.2 Apokryphen, Pseudepigraphen, Josephus
2.1.3 Bibel in Qumran
2.1.3.1 Bibeltext
2.1.3.2 Die Tempelrolle
2.1.3.3 Halakhische Exegese
2.1.3.4 Pescher
2.1.4 Übersetzung als Auslegung
2.1.4.1 Ist die Bibel übersetzbar?
2.1.4.2 Die Septuaginta als Kommentar
2.1.4.3 Die Targumim
2.1.5 Philo von Alexandria und die allegorische Deutung
2.1.5.1 Homerexegese und Bibelauslegung
2.1.5.2 Vorgänger Philos
2.1.5.3 Philo
2.2 Die Schriftauslegung der Rabbinen
2.2.1 Der feste Text
2.2.2 Allgemeine Voraussetzungen
2.2.3 Auslegungsregeln
2.2.3.1 Die sieben Regeln Hillels
2.2.3.2 Die dreizehn Regeln Jischmaels
2.2.3.3 Die 32 Regeln des R. Eliezer
2.2.3.4 Kritik an Auslegung durch logische Regeln
2.2.4 Allegorische Auslegung
2.2.5 Auslegung und liturgische Schriftlesung
2.2.6 Auslegung in Reaktion auf das Christentum
2.3 Jüdische Exegese im Mittelalter
2.3.1 Vom Midrasch zur Exegese
2.3.1.1 Die karäische Herausforderung
2.3.1.2 Saadja Gaon
2.3.1.3 Raschi und seine Nachfolger
2.3.1.4 Abraham Ibn Esra
2.3.1.5 Abwehr christlicher Auslegungen
2.3.2 Zwischen Wortsinn und Allegorisierung
2.3.2.1 Philosophische Allegorisierung
2.3.2.2 Kabbala
2.3.2.3 Pardes: Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn
3. Hermeneutik des Alten Testaments
(Christoph Dohmen)
3.1 Das Christentum und die Heilige Schrift
3.2 Markion und der Kanon der christlichen Bibel
3.2.1 Die Heilige Schrift zwischen Markion und Markionismus
3.2.2 Der Kanon des Alten Testaments
3.3 Die der Bibel Israels
3.4 Altes Testament und christlicher Glaube – Verhältnisbestimmungen und Abhängigkeiten
3.4.1 Mehrfacher Schriftsinn
Exkurs: Die Visualisierung der Typologie
3.4.1.1 Ein Vollsinn
3.4.1.2 Der christologische Sinn
3.4.1.3 Der Sinn des Kanons
3.4.2 Das Alte Testament in der heutigen katholischen Theologie
3.4.3 Verortungen des Alten Testaments
3.4.3.1 Verheißung – Erfüllung
3.4.3.2 Gesetz – Evangelium
3.4.3.3 Schöpfung – Erlösung
3.4.3.4 Wahrheitsraum des Neuen Testaments
3.4.3.5 Die fremde Bibel
3.4.3.6 Die eigentliche Bibel
3.4.3.7 Die entsprechende Bibel
3.4.3.8 Die Bibel im Kanon
Exkurs: Das Alte Testament im Horizont Biblischer Theologie
3.5 Grundpfeiler und Ziele der Hermeneutik des Alten Testaments – Das Alte Testament als Altes Testament verstehen
3.5.1 Pragmatisch konzipierte Rezeption
3.5.2 Erst- und Zweitadressaten
3.5.3 Bedingungen heutigen Verstehens
3.5.4 Israelerinnerung als Ziel und Zentrum der Hermeneutik des Alten Testaments
4. Verbunden und getrennt
(Christoph Dohmen – Günter Stemberger)
Register
Im Zusammenhang mit der »Einleitung in das Alte Testament« für die Reihe »Kohlhammer Studienbücher Theologie«, die in die einzelnen Disziplinen und Bereiche der Katholischen Theologie einführt, hatte Erich Zenger geplant, dass es einen eigenen Band zur Hermeneutik geben müsse. Zwei gewichtige Gründe hatte er angeführt: Zum einen hat die Theologie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die fundamentale Bedeutung der Bibel erkannt und im Kontext des für alle theologischen Disziplinen immer wichtiger werdenden jüdisch-christlichen Dialogs auch die Notwendigkeit für ein spezifisch christliches Verstehen des Alten Testaments, zum anderen führte der Bereich der Biblischen Hermeneutik in der Katholischen Theologie ein Schattendasein, das es nach Zengers Meinung zu beenden galt. Die Bedeutung des Alten Testaments sollte ins Bewusstsein aller Christen gehoben werden. Um der Besonderheit des Alten Testaments als Jüdische Bibel und als erster und größter Teil der Heiligen Schrift der Christen gerecht zu werden, haben die beiden Verfasser das Anliegen Zengers durch eine »Doppelhermeneutik« umzusetzen versucht. Dabei geht es nicht um eine womöglich interessante Ergänzung der christlichen Position durch eine jüdische, sondern um die grundlegenden Bedingungen des Verstehens des ersten Teils der christlichen Bibel, zu denen die Grundeinsicht in das jüdische Verstehen dieser Bücher wesenhaft gehört. Die Beobachtung, dass dieselben Bücher in unterschiedlichem Kontext ganz verschieden verstanden werden können und sehr unterschiedliche Existenzweisen begründen, entpuppt sich als zentrale Frage der alttestamentlichen Hermeneutik.
Seit dem Erscheinen dieser Hermeneutik sind schon mehr als zwanzig Jahre vergangen und nicht nur die Forschung, sondern auch der jüdische-christliche Dialog und die innerkirchliche Reflexion haben sich weiterentwickelt. Hinzukommt, dass es eine ganze Reihe von Publikationen zur Biblischen Hermeneutik gegeben hat. Diese Entwicklungen legen es geradezu nahe, die vorliegende »Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments« einer Neubearbeitung zu unterziehen. Es hat uns gefreut, dass sowohl der für die alttestamentlichen Bände der Reihe zuständige Herausgeber als auch der Verlag einer Neubearbeitung des Bandes sehr offen gegenüberstanden. Ihnen, dem Kollegen Christian Frevel und dem Verlagslektor Florian Specker, gilt unser aufrichtiger Dank für die Unterstützung und Betreuung dieses Projekts. So kann unsere Hermeneutik nun also in einer 2. überarbeiteten Auflage erscheinen.
Erich Zenger wäre in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden; seiner Erinnerung sei diese Neuausgabe der von ihm initiierten Hermeneutik gewidmet.
Regensburg und Wien, im Januar 2019
Christoph Dohmen Günter Stemberger
Bibeltexte sind der revidierten Einheitsübersetzung (2016) entnommen. Wo der Zusammenhang dagegen spricht, ist dies angegeben, so etwa in der Diskussion der Septuaginta. Abkürzungen folgen dem Verzeichnis von Schwertner.
Bei rabbinischen Zitaten steht vor den Traktatnamen m für Mischna, y für den palästinischen Talmud (Yerushalmi), b für den Bavli. Näheres über rabbinische Texte: G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 92011.
(Hier genannte Literatur wird im Buch nur mit Verfasser und Kurztitel angegeben)
B. J. Bamberger, The Bible: A Modern Jewish Approach, New York 1956. – A. Behrens, Das Alte Testament verstehen. Die Hermeneutik des ersten Teils der christlichen Bibel, Göttingen 2013. – C. Böttigheimer, Die eine Bibel und die vielen Kirchen. Die Heilige Schrift im ökumenischen Verständnis, Freiburg 2016. – M. Carasik, The Bible’s Many Voices, Philadelphia 2014. – F. Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011. – D. Daube, Collected Works I. Talmudic Law, Berkeley 1992 (173-204: Texts and Interpretation in Roman and Jewish Law; 333-355: Rabbinic Methods of Interpretation and Hellenistic Rhetoric; 357-376: Alexandrian Methods of Interpretation and the Rabbis). – I. Z. Dimitrov u. a. (Hg.), Das Alte Testament als christliche Bibel in orthodoxer und westlicher Sicht (WUNT 174), Tübingen-Stuttgart 1984. – J. Ebach, Das Alte Testament als Klangraum des evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh 2016. – M. Fishbane, The Garments of Torah. Essays in Biblical Hermeneutics, Bloomington & Indianapolis 1989, Ndr. 1992. – M. Fishbane (Hg.), The Midrashic Imagination. Jewish Exegesis, Thought and History, Albany 1993. – M. A. Fishbane, Jewish Hermeneutical Theology (Library of Contemporary Jewish Philosophers 14), hg. von H. Tirosh-Samuelson/A. W. Hughes, Leiden 2015. – S. D. Fraade, Legal Fictions. Studies of Law and Narrative in the Discursive Worlds of Ancient Jewish Sectarians and Sages (JSJS 147), Leiden 2011. – O. Fuchs, Praktische Hermeneutik der Heiligen Schrift, Stuttgart 2004. – S. Gillmayr-Bucher, T. Meurer, J. Rahner, T. Söding, A. Weihs, Bibel verstehen. Schriftverständnis und Schriftauslegung (Theologische Module 4), Freiburg 2008. – M. Grohmann, Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2000. – A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik (ATD Ergänzungsreihe 5), Göttingen 1977. – D. W. Halivni, Peshat and Derash. Plain and Applied Meaning in Rabbinic Exegesis, New York/Oxford 1991. – D. W. Halivni, Reflections on Classical Jewish Hermeneutics, PAAJR 62 (1996) 19-127. – M. Hengel/H. Löhr (Hg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum, (WUNT 73), Tübingen 1994. – D. Instone Brewer, Techniques and Assumptions in Jewish Exegesis before 70 CE (TSAJ 30), Tübingen 1992. – Jahrbuch für Biblische Theologie 6 (1991): Altes Testament und christlicher Glaube – Jahrbuch für Biblische Theologie 12 (1997): Biblische Hermeneutik – Jahrbuch für Biblische Theologie 31 (2016): Der Streit um die Schrift – B. Janowski (Hg.), Kanonhermeneutik. Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel, Neukirchen-Vluyn 2007. – U. H. J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik. Göttingen 1994. – U. H. J. Körtner, Arbeiten am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015. – S. Lieberman, Hellenism in Jewish Palestine, New York ²1962 (47-82: Rabbinic Interpretation of Scripture). – S. Lutter/R. Zimmermann (Hg.), Studienbuch Hermeneutik. Bibelauslegung durch die Jahrhunderte als Lernfeld der Textinterpretation. Porträts – Modelle – Quellentexte, Gütersloh 2014. – P. D. Mandel, The Origins of Midrash. From Teaching to Text (JSJS 180), Leiden 2017. – F. Mildenberger, Gottes Tat im Wort. Erwägungen zur alttestamentlichen Hermeneutik als Frage nach der Einheit der Testamente, Gütersloh 1964. – M. J. Mulder (Hg.), Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew Bible in Ancient Judaism and Early Christianity (CRINT II,1), Assen 1988. – M. Oeming, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 42013. – D. Patte, Early Jewish Hermeneutic in Palestine (SBL.DS 22), Missoula 1975. – H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung Bd. I-IV, München 1990 – 2001. – N. M. Sarna, Studies in Biblical Interpretation, Philadelphia 2000. – H.-G. Schöttler, Re-Visionen christlicher Theologie aus der Begegnung mit dem Judentum, Würzburg 2016. – J. Schreiner, Das Alte Testament verstehen (NEB Ergänzungsband zum AT 4), Würzburg 1999. – H. Seebass, Biblische Hermeneutik, Stuttgart u. a. 1974. – C. R. Seitz, The Character of Christian Scripture. The Significance of a Two-Testament Bible, Grand Rapids 2011. – Y. Shavit/M. Eran, The Hebrew Bible Reborn: From Holy Scripture to the Book of Books. A History of Biblical Culture and the Battles over the Bible in Modern Judaism, Berlin 2007. – T. Söding, Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons (QD 211), Freiburg 2005. – E. Tov, Textual Criticism of the Hebrew Bible, Second Revised Edition, Minneapolis 2001 (zit.: Tov). – E. Tov, Textual Criticism of the Hebrew Bible, Qumran, Septuagint: Collected Writings 3 (VT.S 167), Leiden 2015 (zit: Collected Writings). – C. Westermann (Hg.), Probleme alttestamentlicher Hermeneutik. Aufsätze zum Verstehen des Alten Testamentes (ThBü 11) München 1963. – O. Wischmeyer (Hg.), Die Bibel als Text. Beiträge zu einer textbezogenen Bibelhermeneutik, Tübingen 2008. – O. Wischmeyer (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009 (22013). – O. Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibel-Hermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin 2016. – E. Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf 1991 (51995).
(Christoph Dohmen)
Der Gegenstand, dem das vorliegende Buch gewidmet ist, ist die Bibel. Die so bekannte und selbstverständliche Bezeichnung Bibel birgt bei genauerer Betrachtung einige Fragen in sich; denn die Bezeichnung Bibel deutet schon an, dass es sich um mehr als ein Buch handelt. Die Bibel ist mehr als ein Buch und sie ist mehr als ein Buch. Das Wort Bibel leitet sich letztlich vom griechischen biblia her, das selbst die Pluralform von biblion »Buch(rolle), Schrift, Brief, Dokument« ist. Der griechisch schreibende jüdische Schriftsteller Flavius Josephus benutzt im 1. Jahrhundert n. Chr. diesen Plural biblia schon als Begriff sowohl für die Tora, d. h. die fünf Bücher Mose, als auch für die Sammlung aller Heiligen Schriften, und so begegnet der Begriff dann auch für die Gesamtheit von Altem und Neuem Testament in der christlichen Bibel seit dem 4. Jahrhundert. Über das lateinische Lehnwort biblia ist das Wort schließlich zu uns gelangt. Wollte man die Sprachentwicklung von der Plural- zur Singularform sachgerecht wiedergeben, dann müsste man das Wort Bibel eigentlich durch »Büchersammlung« oder »Bücherei« erklären. Das Wort hält also fest, dass es sich bei der Bibel nicht um ein einziges Buch handelt, sondern um eine Zusammenfassung mehrerer Bücher zu einer Einheit. Diese Einheit der Büchersammlung hat allerdings nichts mit modernen Formen von Gesamt- oder Teilausgaben zu tun, wie wir sie vor allen Dingen von den Werken großer Schriftsteller her kennen, sondern die Bibel ist ein aus vielen Büchern gewachsenes Buch. Hinter dem Wachstum dieser Bücherei stehen Menschen (Glaubensgemeinschaften), die in diesen Büchern ihren Glauben ausgedrückt finden und durch Fortschreiben der Texte ihr eigenes Glaubensverständnis für die kommenden Generationen ausdrücken.
Judentum und Christentum verbindet, dass ein großer Teil ihrer Heiligen Schriften identisch ist. Alle Bücher der Heiligen Schrift des Judentums sind auch in der christlichen Bibel enthalten, näherhin in deren ersten Teil, dem sogenannten Alten Testament. Dieses Faktum führt zu einer zentralen theologischen Frage, der Christen sich immer wieder neu stellen müssen. A. H. J. Gunneweg hat diese Frage 1977 am Beginn seiner alttestamentlichen Hermeneutik markant auf den Punkt gebracht:
»Ja, es ist keine Übertreibung, wenn man das hermeneutische Problem des Alten Testaments nicht bloß als ein, sondern als das Problem christlicher Theologie betrachtet, von dessen Lösung so oder so alle anderen theologischen Fragen berührt werden. Ist Auslegung der Heiligen Schrift wesentliche Aufgabe der Theologie und gilt die Schrift als Grundlage christlichen Lebens, Fundament der Kirche und Medium von Offenbarung, so ist die Frage, ob und warum diese Sammlung israelitisch-jüdischer Schriften, die im Bereich der christlichen Kirchen als Altes Testament bezeichnet wird, Teil und gar der umfangreichste Bestandteil des Schriftkanons sei und welche theologische Bedeutung ihm zukomme, von fundamentaler theologischer Relevanz. Sie betrifft ja den Umfang und damit sogleich auch qualitativ den Inhalt dessen, was als christlich zu gelten hat. Eine fundamentalere Frage lässt sich im Bereich der Theologie nicht stellen; ihre Beantwortung bestimmt selbst den Bereich, in welchem Theologie sich zu vollziehen hat!« (Gunneweg, Verstehen 7f.)
Im Kontext des jüdisch-christlichen Dialogs unserer Tage hat sich der Gedanke, dass die Bibel Israels einen doppelten Ausgang in Judentum und Christentum gefunden hat, zur festen Formel verdichtet. Schon 1983 hatte Rolf Rendtorff auf die Notwendigkeit einer christlichen Besinnung in Bezug auf die je eigene Bedeutung derselben Schriften in Judentum und Christentum hingewiesen: Der einzig angemessene Weg sei,
»das Selbstverständnis des Alten Testamentes in seiner kanonischen Form ganz ernst zu nehmen und zugleich die historische Tatsache, daß es eine doppelte Wirkungsgeschichte hat, eine jüdische und eine christliche, auch theologisch anzuerkennen. Dies würde die christliche Theologie freimachen von dem Versuch, die eigene Auslegungsgeschichte für kanonisch zu erklären, und es würde zugleich die Möglichkeit eröffnen zu einem Gespräch zwischen Juden und Christen über die gemeinsamen Grundlagen in der Hebräischen Bibel und deren heutige Relevanz im Lichte der je verschiedenen Auslegungs- und Wirkungsgeschichte«1.
Die historischen und hermeneutischen Implikationen dieses Gedankens hat K. Koch in seinem Aufsatz »Der doppelte Ausgang des Alten Testamentes in Judentum und Christentum« freigelegt und dahin gehend präzisiert, dass sich dieser Gedanke nicht nur auf ein Buch beziehen kann:
»Ein Buch hat keinen ›Ausgang‹ in einer Religion oder gar in deren zwei. Doch mit Absicht war nicht von einem Ausgang der Heiligen Schrift Alten Testaments in christlicher und jüdischer Theologie die Rede, was auch Sinn gäbe. Vielmehr war vorausgesetzt, dass der Terminus ›Altes Testament‹ von Haus aus den ›Alten Bund‹ bezeichnet und nur abgeleitet auch die Schrift dieses Bundes. Um den Bundselbst geht es mir letztlich, um jene Verflechtung von Institutionen und Ideen, unter der das Verhältnis Gottes als des Grundes aller Wirklichkeit zu einem bestimmten Volk, zu Israel, sich Ausdruck verschafft hatte. Eben dieser Bund hat scheinbar einen doppelten Ausgang, hat zwei Religionen aus sich entlassen« (Koch, Ausgang 240f.).
Von hierher tritt die Tiefenstruktur dieser Vorstellung klarer hervor. Nicht nur eine gemeinsame Schriftgrundlage von Juden und Christen gilt es sachlich und terminologisch in den Griff zu bekommen, sondern das Verhältnis von Judentum und Christentum als Verhältnis zweier Religionen zueinander ist tangiert. Die graphische Y-Struktur des ›doppelten Ausgangs‹ insinuiert eine Symmetrie, die in dieser Weise jedoch nicht besteht; denn Heilige Schrift im engen Wortsinn bleibt für das Judentum ausschließlich die Hebräische Bibel auch dann, wenn die Abgrenzung zur sogenannten »mündlichen Tora« nicht eng gezogen wird.
Aus der zweigeteilten Einheit der christlichen Bibel folgt vielmehr eine Asymmetrie, durch die das Christentum von der Schrift her auf das Judentum verwiesen wird, während das Judentum nicht in gleicher Weise von seiner Heiligen Schrift auf das Christentum verwiesen wird.2 Es geht hier nicht darum, das biblische Israel mit dem Judentum bis heute gleichzusetzen, sondern einzig darum, die besondere Kontinuität zwischen biblischem Israel und Judentum in der Glaubensgemeinschaft derselben Heiligen Schrift zu erkennen. Die zweigeteilte Einheit der christlichen Bibel mit der Bibel Israels als erstem Teil macht den Unterschied dazu deutlich. Der Blick auf das Judentum zeigt dem Christentum eine Art, die Bücher, die erster Teil der christlichen Bibel sind, als selbständige Heilige Schrift zu verstehen, während dies für die Schriften des Neuen Testaments in Parallele dazu nicht möglich ist (s. 3.5). Dieselben Bücher werden zweifach verstanden und daraus erwächst wiederum eine zweifache Verkündigung, eine doppelte Kunde. Die Art und Weise der christlichen Rezeption der Bibel Israels als Altes Testament in der zweigeteilten christlichen Bibel lässt keinen Zweifel daran, dass es für das Christentum konstitutiv ist, das doppelte Verstehen des ersten Teils in seiner Heiligen Schrift – als Bibel Israels oder als Altes Testament – wahrzunehmen (s. 3.3). Es geht dabei nicht um einen interreligiösen Dialog, der verlangen würde, dass Juden und Christen in gleicher Weise die je andere Auslegung kennenlernen, sondern es ist einzig und allein die Besonderheit der zweigeteilten Einheit der christlichen Bibel, die das doppelte Verstehen des ersten Teils herausfordert. In seiner vielbeachteten Rede vor dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Rabbinerkonferenz am 17. November 1980 in Mainz hat Papst Johannes Paul II. diese Einsicht in die notwendige Verbindung zum jüdisch-christlichen Verhältnis gestellt:
»Die erste Dimension dieses Dialogs, nämlich die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten (vgl. Röm 11,29) Alten Bundes und dem des Neuen Bundes, ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel.« (Zitiert aus: R. Rendtorff/H. H. Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, Paderborn-München 21989, 75.)
Die je eigene Einbettung derselben Schriften in die unterschiedenen Traditionen des Judentums und des Christentums ist für die Christen der Ort, an dem die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem doppelten Verständnis sichtbar und greifbar wird. Die Schriftgemäßheit aller christlichen Theologie ist an der hermeneutischen Reflexion in Bezug auf die Zweieinheit der christlichen Bibel zu messen. Diese wiederum kann sich der Auseinandersetzung mit Israel und dem Judentum nicht entziehen, weil die Schrift selbst die Frage aufwirft, warum als erster und größter Teil in der christlichen Bibel die Heilige Schrift zu finden ist, die zuvor und weiterhin Heilige Schrift des Judentums war und ist. Dies ist die alles entscheidende Frage einer Hermeneutik des Alten Testaments, weil nur sie den doppelten Ort dieser Schrift in Judentum und Christentum reflektiert.
Die Einsicht in die Besonderheit der christlichen Bibel und die daraus hervorgehende Sensibilisierung in Bezug auf die doppelte Kunde in Judentum und Christentum hat die Konzeption der vorliegenden Hermeneutik bestimmt. Sie hat sich als Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments der Programmatik der »doppelten Kunde« verschrieben, um das zweifache Verstehen des Alten Testaments im Christentum als einzig sachgerechtes, weil schriftgemäßes, Verstehen zu etablieren.
D. L. Baker, Two Testaments, one Bible. Study of the theological relations between the Old and New Testaments, Leicester ²1991. – B. S. Childs, Die Theologie der einen Bibel. Bd. 1: Grundstrukturen, Freiburg 1994, 76-82. – C. Dohmen, Altes Testament I. Begriff, LThK³ I, 1456f.– C. Dohmen/F. Mussner, Nur die halbe Wahrheit? Für die Einheit der ganzen Bibel, Freiburg 1993. – C. Dohmen / M. Oeming, Biblischer Kanon – warum und wozu? Eine Kanontheologie (QD 137), Freiburg 1992. – C. Dohmen / T. Söding (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen Biblischer Theologie (UTB 1893), Paderborn 1995. – D.-A. Koch, Altes Testament, II. Neutestamentlich, LBH 13-14. – K. Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testaments im Judentum und Christentum, JBTh 6, 1991, 215-242. – H. Liss, TANACH – Lehrbuch der jüdischen Bibel, Heidelberg 2005 (42019). – J. A. Loader, Altes Testament, Einführung; I. Alttestamentlich, LBH 11-13. – J. A. Loader, Tenach and Old Testament – the same Bible?: HTS 58, 2002, 1415-1430. – N. Lohfink, Der niemals gekündigte Bund. Exegetische Gedanken zum christlich-jüdischen Dialog, Freiburg 1989. – D. Sänger, Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel, Tübingen 1994, 63-71. – M. Seckler, Christentum I. Name und Begriff, LThK³ II, 1105-1107. – T. Söding, Mehr als ein Buch. Die Bibel begreifen, Freiburg 1995, 90-117. – E. Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf 51995, 140-154.
Mit der Bezeichnung der dem Christentum vorgegebenen Heiligen Schrift durch »Altes Testament« haben die Christen zum Ausdruck gebracht, dass ihre Heilige Schrift eine zweigeteilte Einheit ist. Im Blick auf den Ursprung der Schrift ergibt sich daraus, dass die ursprüngliche Bezeichnung »Heilige Schrift« auf das Ganze der neuen – zweigeteilten – Schrift übertragen wird, der Teil, der die übernommenen oder vorgegebenen Bücher enthält und durch die Bezeichnung Altes Testament eine neue Benennung erhält. Der historische Ursprung der Bezeichnung Altes Testament und Neues Testament für die beiden Teile der christlichen Bibel ist schwer auszumachen. Häufig wird das Kanonverzeichnis des Meliton von Sardes (um 180 n. Chr.) genannt, da dort von den »Büchern des alten Bundes« die Rede ist, doch findet sich bei ihm einerseits keine Gegenüberstellung von »Büchern des neuen Bundes« und andererseits kann die Bezeichnung auch noch im Sinne von 2 Kor 3,14 gelesen werden. Dort, der einzigen Stelle in der Bibel, wo der »Bund« als »alter« qualifiziert wird, liegt kein Terminus technicus für die Bezeichnung der Heiligen Schrift vor, sondern im Kontext der Überlegungen zum apostolischen Dienst in 2 Kor 3 stellt Paulus dem Dienst am »neuen Bund« (3,6) den »alten Bund« entgegen, der in seiner Verlesung verhüllt bleibe. Diese Verhüllung, die in Christus ein Ende habe, lässt den »alten Bund« als »neuen Bund« erkennen. Dies setzt aber voraus, dass hier nicht von zwei Bünden gesprochen wird, sondern von einem einzigen.
Deutlich ist folglich, dass diese Rede von dem einen Bund – ob alt oder neu – nicht auf eine Buchbezeichnung abzielt oder diese schon voraussetzt.3 Gleichwohl ist möglich, dass hier einer der Ursprungs- bzw. Anknüpfungspunkte für die spätere Terminologie zu finden ist. Zumindest enthält 2 Kor 3 die entscheidenden Elemente, die für den späteren Umgang mit der Begrifflichkeit von Altem und Neuem Testament prägend gewirkt haben. So ist es durchaus möglich, dass man die Besonderheiten der geteilten Einheit der christlichen Bibel in der Symbiose von Elementen der Kontinuität und Elementen der Diskontinuität besonders gut in diesem Gedanken des Bundes als altem und neuem ausgedrückt fand. Dass die paulinische Überbietungsthematik – erst einmal als Titulatur für Schriftkorpora verwendet – auch zu Missverständnissen führen kann, zeigt die spätere Wirkungsgeschichte, die gerade im Rückgriff auf 2 Kor 3,14f an das Ende des alten Bundes denkt und den neuen Bund als »anderen« gegenüber dem alten auffasst, an dessen Stelle jener tritt. Greifbar ist dieses Missverständnis in der bis heute zu findenden Fehlübersetzung von 2 Kor 3,14, die das Ende auf den Bund und nicht auf dessen Verhüllung bezieht. So hieß es auch noch in der EÜ (1980): »Doch ihr Denken wurde verhärtet. Bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird, und es bleibt verhüllt, dass er in Christus ein Ende nimmt.« Paulus geht es aber im Kontext von 2 Kor 3 gerade nicht darum, dass der (alte) Bund in Christus ein Ende nimmt, sondern dass in Christus die Verhüllung des alten Bundes zu Ende geht. Dies bestätigt auch die nachfolgende Aussage, die festhält, dass immer dann, wenn sich jemand zu Christus bekehrt, ihm diese Hülle weggenommen wird (vgl. 2 Kor 3,15f). In der EÜ (2016) ist dieser Übersetzungsfehler beseitigt: »Doch ihr Denken wurde verhärtet. Denn bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird; sie wird nicht aufgedeckt, weil sie in Christus beseitigt wird« (2 Kor 3,14)4. Ein Grund des Missverständnisses sowohl in Bezug auf 2 Kor 3,14 als auch in Bezug auf die terminologische Unterscheidung von Altem und Neuem Testament in der christlichen Bibel liegt in der Semantik von »alt – neu«. In der Verbindung mit dem in der Kombination mit alt und neu identischen Begriff »Bund/Testament« ist man vorschnell von zwei völlig verschiedenen Größen ausgegangen und hat übersehen, dass alt und neu auch zwei Formen oder Erscheinungsweisen derselben Sache charakterisieren können. »Alt und neu« können also nicht nur als Oppositionspaar, sondern auch als Korrelationspaar aufgefasst werden. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass das skizzierte Missverständnis nicht nur auf sprachlichen oder hermeneutischen Problemen beruht, vielmehr ist es Bestandteil und Ausdruck der Trennungsprozesse von Christentum und Judentum.
Aus dieser Spannung zwischen Judentum und Christentum heraus ist einerseits die bis heute nachwirkende Negativassoziation in Bezug auf das »Alte Testament« als veraltetes, überholtes und minderwertiges Zeugnis zu sehen, andererseits aber auch das seit einigen Jahren zu beobachtende intensive Bemühen, eine angemessenere, eindeutigere und unbelastete Terminologie zu finden.
Neben Vorschlägen, statt vom Alten und Neuen Testament vom Ersten und Zweiten Bundesbuch zu sprechen, hat es auch eine Reihe anderer Vorschläge zur Korrektur der Terminologie gegeben. Aus diesen Vorschlägen, die vor allen Dingen von amerikanischen Bibelwissenschaftlern stammen (vgl. Prime / Original / First Testament), hat sich im deutschen Sprachraum der Ausdruck »Erstes Testament« in den Vordergrund des Interesses und der Diskussion geschoben. Erich Zenger, der mit seinem erstmals 1991 erschienenen Buch »Das Erste Testament« auf das Problem aufmerksam gemacht und die Auseinandersetzung wesentlich bestimmt hat, nennt selbst mehrere positive Implikationen der Bezeichnung Erstes Testament:
»(1) Sie vermeidet die traditionelle Abwertung, die sich assoziativ und faktisch mit der Bezeichnung ›Altes Testament‹ verbunden hat.
(2) Sie gibt zunächst den historischen Sachverhalt korrekt wieder: Es ist gegenüber dem ›Neuen‹ (Zweiten) Testament in der Tat als ›erstes‹ entstanden.
(3) Sie formuliert theologisch richtig: Es bezeugt jenen ›ewigen‹ Bund, den Gott mit Israel als seinem ›Erstgeborenen‹ Sohn (vgl. Ex 4,22; Hos 11,1) geschlossen hat, als ›Anfang‹ jener großen ›Bundesbewegung‹, in die der Gott Israels auch die Völkerwelt hineinnehmen will.
(4) Als ›Erstes‹ Testament weist es hin auf das ›Zweite Testament‹. So wie letzteres nicht ohne ersteres sein kann, erinnert auch die christliche Bezeichnung ›Erstes Testament‹, dass es in sich keine vollständige christliche Bibel ist.« (Zenger, Testament 153)
Auch und gerade, wenn man die Notwendigkeit sieht, die Negativassoziationen und Fehlinterpretationen beim Begriff Altes Testament aufzudecken und zu beseitigen, muss gefragt werden, ob eine Ersetzung, wie sie durch den Terminus Erstes Testament geboten wird, den traditionellen Begriff Altes Testament vollumfänglich ersetzen kann. Stellt man den genannten positiven Implikationen des Begriffs Erstes Testament die kritischen Anfragen gegenüber, die E. Zenger zum Begriff Altes Testament anmeldet, wird das Problem recht deutlich. So moniert er, dass der Begriff Altes Testament nicht biblisch sei, das Neue Testament selbst weder ein Altes Testament noch alte Schriften kenne und schließlich dies weder dem Selbstverständnis des Alten Testaments entspreche noch dem jüdischen Verständnis dieser Schriften angemessen sei (vgl. Zenger, Testament 146-148).
Zweifellos ist die Bezeichnung Altes Testament für den ersten Teil der christlichen Bibel nur denkbar und sinnvoll in Verbindung mit einem Neuen Testament. Insofern lässt sich die Diskussion nicht von den Besonderheiten der christlichen Bibel als zweigeteilter Schrift trennen (s. o.). Wenn die Bezeichnung Altes und Neues Testament zur Kennzeichnung der Unterteilung der einen Heiligen Schrift des Christentums aber vom Faktum der so entstandenen Schrift schon ausgeht, kann, darf oder muss man diese Begrifflichkeit dann überhaupt in der Bibel suchen? Dies gilt in gleicher Weise und sogar noch verstärkt in Bezug auf die Feststellung, dass das Neue Testament keine durch alt qualifizierte Schriftbezeichnung kennt. Zur Zeit der Abfassung der Schriften, die später zum Neuen Testament zusammengefasst wurden, ist noch keine Größe greifbar, die der vorhandenen Heiligen Schrift, dem späteren Alten Testament, gegenüberstehen könnte, so dass das Fehlen des Begriffs Altes Testament im Neuen Testament gerade darauf hindeutet, dass das Begriffspaar alt – neu bei der Schriftbezeichnung im Christentum auf die Korrelation der beiden Teile abhebt und keine Qualifizierung im Sinne von Aufwertung oder Abwertung des einen gegenüber dem anderen intendiert.
Mit der Frage nach dem Selbstverständnis der Schrift bzw. dem jüdischen Verständnis als Maßstab für die Angemessenheit einer Bezeichnung dieses Schriftkorpus wird schließlich ins Zentrum des Problems vorgestoßen. Die Frage nach dem Selbstverständnis der Schrift als ganzer, nicht der Einzeltexte, führt unweigerlich zu dem, was die klassischen Bezeichnungen Bibel bzw. Heilige Schrift, die für Juden und Christen trotz der Unterschiede bei der jeweiligen Schrift gelten, anzeigen. Es handelt sich um eine Schriftensammlung (noch im ursprünglichen Plural ta biblia zu erkennen), der man in ihrer Einheit eine besondere Qualität (Heiligkeit) zuschreibt. Beides, Komposition und Qualitätsbezeichnung, setzen den Gebrauch der Schriften in einer Glaubensgemeinschaft voraus. Man rührt an dieser Stelle an das Phänomen und Problem des biblischen Kanons (s. 3.2.2). Vom Kanon her ist aber deutlich, dass man nicht nach dem Selbstverständnis der jeweiligen Heiligen Schrift fragen kann, sondern im jeweiligen Kanon artikuliert sich das Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, die diesen als Heilige Schrift anerkennt. In Bezug auf Gemeinsamkeiten trotz einiger Unterschiede beim Textumfang in Judentum und Christentum bei der Anerkennung als Heilige Schrift mag man schnell geneigt sein, das Verhältnis von Altem und Neuem Testament in gewisser Entsprechung zum Verhältnis von »schriftlicher« und »mündlicher« Tora im Judentum zu sehen. Jedoch muss in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, dass die neutestamentlichen Schriften aus dem Anliegen der Christusverkündigung heraus entstanden sind. Auch wenn die Christusverkündigung ohne die Bibel Israels nicht denkbar ist, liegt doch ein anderer Bezug als der zwischen schriftlicher und mündlicher Tora vor.5 Die Beurteilung der vorgeschlagenen Bezeichnung Erstes Testament verlangt folglich, die traditionelle Bezeichnung Altes Testament von ihrem Ursprung und ihrer Entstehung her präziser zu erfassen, um entscheiden zu können, ob die neue Bezeichnung der alten entspricht und sie zu ersetzen vermag.
Das Begriffspaar alt – neu in der Bezeichnung der beiden Teile der christlichen Bibel als Altes und Neues Testament weist auf eine Korrelation hin, die die Bezeichnungen von Altem und Neuem Testament auf die Rang- und Reihenfolge innerhalb der christlichen Bibel festlegt. Das Alte Testament geht dem Neuen Testament voraus, es ist das Fundament, auf dem jenes aufruht und ohne das es nicht existiert. Darüber hinaus wird durch die in der Korrelation festgehaltene Reihenfolge auch die Interpretationsrichtung festgeschrieben (s. 3.3). Schließlich bilden die Begriffe alt – neu eine ausschließliche, absolute Korrelation, d. h. es gibt nur zwei aufeinander bezogene Größen, eine dritte oder weitere sind in dieser Relation nicht denkbar. Sprachliche Differenzierungen wie neu, neuer, neuest bzw. alt, älter, ältest (z. B. in »neueste Theorien« oder »die ältere Forschung«) können nur dann sinnvoll benutzt werden, wenn von einem einzigen Begriff her gedacht und formuliert wird, nicht jedoch wenn zwei Größen relational gegenübergestellt werden. Gerade diese Ausschließlichkeit der Beziehung, die durch alt und neu angezeigt wird, ist bei der numerischen Qualifizierung nicht gegeben bzw. wird eigentlich nur deutlich, wenn man lediglich vom Ersten Testament, nicht aber vom Zweiten Testament spricht. Dies wiederum wirft aber neue Fragen in Bezug auf die Einheit der beiden dann so unterschiedlich bezeichneten Teile auf.
Es bleibt folglich festzuhalten: Der Begriff Altes Testament ist missverständlich, er verleitet zu Fehlschlüssen, zumal im Christentum dieser erste Teil der christlichen Bibel allzu oft als altes – im Sinne von veraltetes, überholtes und damit minderwertiges – Testament verstanden wurde. Der neue Begriff Erstes Testament rüttelt hier zweifellos wach und sensibilisiert für die Frage nach der Besonderheit der christlichen Bibel in ihren beiden Teilen. Gleichwohl vermag er all das, was die traditionelle Bezeichnung von Altem und Neuem Testament beinhaltete, nicht wiederzugeben. Denn manches muss hier ebenso zur Bezeichnung erklärend hinzugesetzt werden, wie bei der Bezeichnung Altes Testament. So wie erklärt werden muss, dass »Altes« Testament nicht meint, dass es alt oder veraltet ist, muss erklärt werden, dass das »Erste« Testament nicht der Anfang einer Folge weiterer Testamente ist. Es geht – so oder so – um die historische und theologische Erstrangigkeit und die begründende Funktion dieses Schriftteils in der christlichen Bibel, also vor allen Dingen um das, was durch den Begriff der Anciennität ausgedrückt wird (die sprachliche Differenzierungsmöglichkeit – z. B. franz. ancien neben vieux – macht die hier vorgestellte Diskussion in romanischen Sprachen überflüssig). Zusätzlichen Erklärungsbedarf hat sowohl die Bezeichnung Altes als auch Erstes Testament in Bezug auf den Begriff »Testament«, weil dieser häufig im Sinne der juristischen letztgültigen Verfügung missverstanden wird und nicht mit dem ihm zugrundeliegenden biblischen Bundesbegriff verbunden wird.
Die vielfältigen Bemühungen um einen Ersatzbegriff für den missverständlichen Ausdruck »Altes« Testament sind, was eine Reihe von kirchenamtlichen Texten auch ausdrücklich betont, im Horizont des jüdisch-christlichen Dialogs zu sehen. Mit Recht ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die oft so gedankenlose Verwendung des Begriffs Altes Testament für die Jüdische Bibel unsachgemäß sei und mangelnde Sensibilität zeige. Doch der Begriff Erstes Testament bleibt genauso wie der Begriff Altes Testament innerhalb der christlichen Tradition stehen und bezeichnet lediglich den ersten Teil der christlichen Bibel. In ihrem Synodalbeschluss »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden« hatte die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland schon 1980 deshalb vorgeschlagen, für das Alte Testament die Bezeichnung »Hebräische Bibel« einzuführen, um einen von Juden und Christen gemeinsam zu verwendenden Begriff zur Hand zu haben. Mit dieser Bezeichnung ergeben sich aber andere Schwierigkeiten, weil die Festlegung auf die Sprache (Hebräisch) streng genommen die aramäischen Teile ausschließen würde und vor allem die in der katholischen und orthodoxen Tradition als deuterokanonisch anerkannten griechischen Schriften. Darüber hinaus verwischt der Begriff Hebräische Bibel, wenn er von Juden und Christen benutzt werden soll, auch die strukturellen Eigenheiten des jüdischen bzw. christlichen Kanons dieser Schriften, deren theologische Bedeutung die jüngere Kanonforschung gerade herausgearbeitet hat (s. 3.2.2). Die kanonische Struktur der Jüdischen Bibel kommt am besten in dem hebräischen Kunstwort Tanach (bzw. TaNaK), das aus den Anfangsbuchstaben der hebräischen Begriffe für die drei Kanonteile (Tora / Weisung, Neviim / Propheten, Ketuvim / Schriften) gebildet ist, zum Ausdruck. Als Kanon-Begriff weist Tanach /Tenach für das Judentum auf seine spezifische Lese- und Verstehensweise dieser Schriften hin, so dass der Begriff »Jüdische Bibel« von dem der »Hebräischen Bibel« zu unterscheiden ist. »Zwar ist die hebräische Bibel die jüdische Bibel insofern, als sie die Heilige Schrift der Juden darstellt. Aber die ›jüdische‹ Lesart liest die Bibel niemals ohne die traditionelle Bekleidung, d. h. ohne ihre Einbindung in den Strom der nachbiblischen Traditions- und Auslegungsliteratur.« (Liss, TANACH 17) Es zeigt sich folglich, dass die Bezeichnung für diese Schrift nicht von der Relevanz, die diese für die eine oder andere Glaubensgemeinschaft hat, zu trennen ist, und man tut gut daran, eben dies je spezifisch durch differenzierte Begrifflichkeit zum Ausdruck zu bringen.
Gleichwohl ist verständlich und richtig, dass man daneben auch nach einer Bezeichnung sucht, die das Gemeinsame (vor allen Dingen im Ursprung) der Schriftgrundlage für Juden und Christen zum Ausdruck bringt. Da sich aber eine Heilige Schrift nicht von jeglicher Glaubensgemeinschaft lösen lässt – und dies im Blick auf das jüdisch-christliche Verhältnis gerade auch in Bezug auf die (Erst-) Adressaten von Bedeutung ist – eignet sich der abstrakte und mehr religionswissenschaftlich und religionsgeschichtlich orientierte Begriff Hebräische Bibel hierzu nicht. Man kann vielmehr, wenn man die gemeinsame Schriftgrundlage von Juden und Christen bezeichnen will, den Begriff »Bibel Israels« verwenden, weil sowohl der Begriff Bibel jüdisch und christlich unproblematisch ist (auch für im Textumfang unterschiedliche Größen), als auch die Bezeichnung Israel im theologischen Sinn eine größere Offenheit zulässt. Der Verlust der staatlichen Existenz im 6. Jahrhundert v. Chr. hat Israel in nachexilischer Zeit zum Ehrentitel des Gottesvolkes werden lassen, den sich unterschiedlichste Gruppen – besonders im Frühjudentum – dann gegenseitig streitig machten. Die Rede vom »wahren Israel« weist auf die Spitze dieser Auseinandersetzung und den Kern der mit ihr gegebenen Identifizierung hin6. An dieser Beanspruchung hat auch die Gruppe der Christen Anteil, die – wenn sie sich dieses Hintergrundes bewusst wird – in der Israelbezeichnung gerade auf ihren Ursprung verwiesen wird. An diesem Ursprung, der in der gemeinsamen Schriftgrundlage von Juden und Christen liegt, können Christen auch klarer ihre Verwurzelung im Judentum und ihre Gemeinsamkeit mit diesem erkennen, gleichzeitig aber auch die Differenz zu jenem »Israel, das sich in Kontinuität nicht nur mit dem Gott, sondern auch mit der Nation und dem Land der Heiligen Schrift weiß« (Koch, Ausgang 242). An dieser Stelle zeigt sich, dass die Bezeichnung Bibel Israels nicht nur als gemeinsame im Gebrauch von Juden und Christen dienen kann, sondern zu den theologischen Fundamenten beider Religionen führt7. Die bewusste Verwendung der Bezeichnung Bibel Israels eröffnet den Blick darauf, dass dieses Glaubenszeugnis eine zweifache Nachgeschichte hat, die sich in einer doppelten Auslegung, einer jüdischen und einer christlichen, niedergeschlagen hat.
Jesus Christus steht am Anfang des Christentums, aber nicht als Religionsstifter, sondern durch das Bekenntnis, dass Jesus von Nazareth der Christus (= Messias) ist. Dieses Bekenntnis der Jünger, Apostel und der gesamten frühen Kirche fließt in die Schriften ein, die später als Neues Testament bezeichnet werden. In den Schriften wird für alle folgenden Zeiten dieses Bekenntnis verkündet. Das Spezifikum des Christentums leuchtet hinter diesem Bekenntnis schon auf, da die im Bekenntnis gesetzte Identifizierung der Form »A ist B« zu erkennen gibt, dass das Bekenntnis von einer bekannten Größe (Christus / Messias) ausgeht und eine unbekannte Größe, den zu Bekennenden (Jesus), vom Bekannten her zu erklären und zu verstehen sucht. Da das, was ein »Gesalbter« (Messias / Christus) ist, und welche Vorstellungen und Erwartungen mit ihm verbunden sind, nur aus der Bibel Israels zu erfahren ist, wird schon durch dieses Grundbekenntnis die Verwurzelung des Christentums in der Glaubensgeschichte Israels deutlich.
Jesus wird von der frühen Kirche nicht als Religionsgründer vorgestellt, der etwas bis dahin Unbekanntes gelehrt hat. In diese Richtung hat allein das spätere Christentum immer wieder gefragt und gedacht, wenn beispielsweise nach dem Neuen des Neuen Testaments in Absetzung zum Alten Testament gesucht wurde. Demgegenüber steht im Zentrum frühchristlicher Verkündigung die Identifizierung, die Jesus von Nazareth als Messias / Christus verkündigt. Sie bewegt sich mit sachlicher Notwendigkeit innerhalb der (jüdischen) Religion, der Jesus selbst und seine Jünger uneingeschränkt angehören. Lediglich das identifizierende Bekenntnis führt dazu, dass es zu einer besonderen Glaubensgemeinschaft innerhalb der jüdischen Glaubensgemeinschaft kommt. Auch wenn eine Reihe von zusätzlichen Faktoren einen Trennungsprozess dieses messianischen Bekenntnisses im Judentum auslösen, so bleibt doch das Spezifische dieses christlichen Bekenntnisses nur von diesem Ursprung her und in Verbindung mit ihm verständlich.
Selbst den Kirchenvätern (z. B. Ignatius von Antiochien oder Origenes), die Anfang und Grund des Christentums in Jesus festmachen, gelingt dies nur in relationalen Aussagen, die Jesus mit Mose parallelisieren oder die Zentralpunkte der ihnen zugeschriebenen Lehren aufeinander beziehen. Und selbst die in diesem Kontext gelegentlich zu findenden Absetzungsversuche deuten letztendlich in all ihrer Fragwürdigkeit noch auf den Ursprung des christlichen Bekenntnisses hin.
Die so skizzierte Besonderheit des christlichen Bekenntnisses findet ihre Widerspiegelung in der Heiligen Schrift des Christentums, die eine Heilige Schrift in zwei Teilen ist. Diese Anlage der Bibel Alten und Neuen Testaments signalisiert Kontinuität und Diskontinuität zwischen Judentum und Christentum. Dass der erste – und größte – Teil dieser zweigeteilten Einheit zuvor schon Heilige Schrift des Judentums war und dies auch weiterhin bleibt, ist als religionsgeschichtliche Einmaligkeit zu werten, deren Verständnis allerdings den Lebensnerv des Christentums tangiert. Denn insofern das Christentum auf der Heiligen Schrift gründet, ja, diese Heilige Schrift als Ur-Kunde des Christentums bezeichnet werden kann, muss die Frage gestellt und beantwortet werden, warum diese Heilige Schrift des Christentums als einen und dazu größten Teil die Heilige Schrift des Judentums bzw. Israels beinhaltet. Allein von dieser Besonderheit der Schriftgrundlage des Christentums her kann man theologisch zugespitzt fragen, ob das Christentum denn vielleicht nur eine »Spielart«, eine Konfession, innerhalb des Judentums sei oder andersherum auch, ob vielleicht das Judentum im Christentum aufgegangen sei. Die so formulierten Fragen mit ihren möglichen Antworten können aber lediglich zur Schärfung des Problembewusstseins beitragen, ansonsten sind sie theoretisch, weil sie sich mit der konkreten Realität, der historischen Faktizität, nicht in Deckung bringen lassen. Das Christentum beansprucht eindeutig, eine eigene Religion zu sein, wie auch das Judentum historisch zweifelsfrei vom Christentum unabhängig fortbesteht.
Die Besonderheit der Schrift des Christentums drängt folglich zu einer tieferen Betrachtung. Zweifellos sind die Schriften, die in der christlichen Bibel als »Altes Testament« enthalten sind, »vorchristlich«. Bevor man klären kann, ob dieses »vorchristlich« eine Voraussetzung des Christentums betrifft oder Nichtchristliches bezeichnet, muss man sich die Implikation der zugrundeliegenden Frage vor Augen führen: Warum hat das Christentum diese Schriften überhaupt tradiert? Ist das Alte Testament für das Christentum nur der historische oder religionsgeschichtliche Hintergrund seines Ausgangspunktes? Dies schwingt immer dann mit, wenn das Alte Testament im Christentum als Bibel Jesu und der Apostel legitimiert wird. Obwohl man aus diesem Ansatz auch eine theologische Priorität des Alten Testaments als Heilige Schrift ableiten kann, wird dies zumeist mehr als erinnernde Anerkennung aufgefasst, wobei zumeist vorgebracht wird, dass es eben noch kein Neues Testament gegeben habe. Doch unabhängig davon, wie man diese Fragen beantwortet (s. u. 3.), tritt die Besonderheit und die Schwierigkeit der zweigeteilten christlichen Bibel an diesen Fragen entlanggehend immer deutlicher zutage. Wobei zuerst und vor allem festzuhalten bleibt, dass es sich nicht ausschließlich um ein literarisches Problem handelt; denn von Heiliger Schrift kann man streng genommen nur in Verbindung mit der Glaubensgemeinschaft sprechen, die die entsprechenden Bücher als ihre Heilige Schrift anerkennt.
Wenn das Alte Testament des Christentums zuvor und weiterhin Heilige Schrift des Judentums war und ist, dann beinhaltet jede christliche Aussage zum theologischen Rang des Alten Testaments gleichzeitig eine zum Judentum. So wird beispielsweise der Gedanke, dass im Alten Testament das notwendige (historische / religionsgeschichtliche) Hintergrundwissen zum Neuen Testament zu finden sei, dahingehend weitergeführt, dass die Bibel Israels für das Christentum als »Erbe« betrachtet wird8. So richtig und wichtig es ist, festzuhalten, dass das Christentum den größten Teil seiner Heiligen Schrift übernommen und nicht selbst hervorgebracht hat und dadurch im Judentum gründet, so gefährlich ist der Gedanke des Erbes, weil dieser Gedanke immer mit Tod oder zumindest einem Abschluss verbunden ist. Und Christen haben sich allzu oft als einzig legitime Erben der Religion des »Alten Bundes« betrachtet und in Konsequenz das Judentum für beendet oder überholt erklärt, wovon die bis heute immer wieder zu findende Bezeichnung »Spätjudentum« für das nachbiblische Judentum – besonders in vorchristlicher Zeit – ein beredtes Zeugnis ablegt. Andererseits muss auch darauf hingewiesen werden, dass es eine Reihe von Zeugnissen aus der Geschichte des Christentums gibt, die die Verbindung zum Judentum auch und gerade vom eigenen Schriftzeugnis im Alten Testament der christlichen Bibel her positiv gesehen haben (s. 3.5). Im Blick auf die Bibel trifft man bei Christen aber auch oft auf die Ansicht, dass das Eigentliche des Christentums, die Christusbotschaft, im Neuen Testament enthalten sei, so dass folglich das spezifisch Christliche in Absetzung vom Alten Testament und vom Judentum formuliert werden müsse. Dagegen steht allerdings nicht nur die schon erwähnte Eigenart des Christusbekenntnisses, sondern auch das noch zu behandelnde Phänomen, dass das Neue Testament niemals als eigenes und selbständiges Buch konzipiert worden ist, das dem Alten Testament gegenübergestellt werden könnte. Um die an dieser Stelle zuerst interessierende Besonderheit der christlichen Bibel zu erfassen, ist es hilfreich, die möglichen Alternativen zu dieser komplexen – zweigeteilten – Einheit vor Augen zu führen.
Die Heilige Schrift der Muslime, der Koran, führt beispielsweise eine andere Art der Schriftwerdung und -konzeption vor, die in Bezug auf die Bibel vom Prinzip her als Integration bezeichnet werden kann, denn im Koran findet sich eine ganze Reihe von biblischen Traditionen (z. B. von Abraham, Isaak / Ismael, Jesus, Maria), die jedoch in das eine, unter offenbarungstheologischem Gesichtspunkt einheitliche und geschlossene Buch, den Koran, integriert sind.
Ein zweites denkbares Modell ist das der Addition. Dies hätte man vor sich, wenn das Christentum die ihm wichtigen Christuszeugnisse (Evangelien, Briefe etc.) der vorhandenen Bibel einfach hinzugefügt hätte. Diese Lösung, die uns Heutigen vielleicht allzu theoretisch und forsch erscheint, wäre in der damaligen Zeit gar nicht so etwas Besonderes gewesen, weil die Schriftensammlung des biblischen Kanons eine prozessual gewachsene Größe ist (s. 3.2). Damit in Verbindung steht zudem, dass unterschiedliche Gruppierungen innerhalb des Judentums nicht völlig deckungsgleiche Schriftsammlungen als Heilige Schrift anerkannten.
Eine weitere Möglichkeit wäre die der Redaktion oder redaktionellen Bearbeitung. Auch für dieses Modell kann man sich von der Sache her antike Vorbilder zu Hilfe nehmen. Redaktionelle Überarbeitung hieße im Fall der Bibel, dass das Christentum die ihm vorliegende Heilige Schrift christianisiert hätte, und zwar in der Weise, dass es die Eigenheiten des christlichen Bekenntnisses in die vorliegende Heilige Schrift eingetragen hätte. Gut vorstellbar wäre, dass das, was uns heute beispielsweise bei den sogenannten Erfüllungszitaten im Neuen Testament vorliegt, an den entsprechenden Stellen des Alten Testaments eingefügt worden wäre (z. B. die Aussage von Mt 1,22f. direkt in Jes 7,14). Dieses Redaktionsmodell entspricht von der Sache her dem schon genannten Integrationsmodell, das in gleicher Weise aus dem Ganzen der Heiligen Schrift etwas auswählt. Die letzte theoretische Alternative zur zweigeteilten christlichen Bibel lässt sich mit dem Begriff der Substitution umschreiben. Substitution liegt dann vor, wenn das Alte Testament durch das Neue ersetzt werden soll, was der bis heute immer wieder einmal geforderten Abschaffung des Alten Testaments im Christentum gleichkommt9.
All diese Lösungen sind vom Christentum nicht gewählt worden; stattdessen schlägt das Christentum den schwierigsten Weg ein, indem es eine zweigeteilte Einheit der Heiligen Schrift hervorbringt. Die Wichtigkeit dieser eigentümlichen Ur-Kunde des Christentums wird dadurch für alle Zeiten festgeschrieben, dass diese sozusagen »erweiterte Neuausgabe« der Heiligen Schrift keinen neuen Titel bekommt, sondern weiterhin wie schon im Judentum einfach (Heilige) Schrift oder später Bibel heißt. Die Zweiteilung in der Einheit findet lediglich durch eine interne Terminologie ihren Ausdruck, die die beiden Teile als Altes und Neues Testament kennzeichnet (vgl. zu Ursprung und Bedeutung der Zweiteilung 3.2).
Die anfängliche, erste und alles Spätere begründende Kunde des Christentums geht von der Heiligen Schrift aus, die später Altes Testament genannt wird. Von hierher darf diese Heilige Schrift mit Recht »Ur-Kunde« des Christentums genannt werden, auch und gerade wenn wie bei der genannten Titulatur Heilige Schrift oder Bibel die neutestamentlichen Schriften später hinzukommen. Insofern ist diese Schrift, das spätere Alte Testament, die Urkunde, das Basisdokument, aller christlichen Verkündigung. Die gelegentlich – von christlicher oder jüdischer Seite – erhobene Forderung, klare (getrennte) Verhältnisse durch die ausschließliche Zuordnung des Neuen Testaments als Heiliger Schrift des Christentums und der Hebräischen Bibel als Heiliger Schrift des Judentums zu schaffen10, muss als Widerspruch zum christlichen Bekenntnis zurückgewiesen werden (s. 3.2).
E. Angehrn / J. A. Loader / O. Wischmeyer u. a., Hermeneutik: LBH 245-254. – C. Dohmen / K. Kertelge / G. L. Müller, Exegese: LThK3 3 1087-1103. – U. Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 1990. – K. Ehlich, Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung, in: A. u. J. Assmann / C. Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I, München 21993, 24-43. – K. Ehlich, Zum Textbegriff, in: Ders., Sprache und sprachliches Handeln Bd. 3, Berlin – New York 2007, 531-550. – H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 61990. – S. Kreuzer/O. Wischmeyer/M. Hailer u. a., Interpretation/Interpretieren/Interpret: LBH 289-296. – K. Pollmann/J. A. Loader/E.-M. Becker u. a., Exegese: LBH 166-174. – O. Wischmeyer/E.-M. Becker (Hg.), Was ist ein Text?, Tübingen 2001.
Jede Beschäftigung mit der Bibel steht vor der vielschichtigen »Übersetzungsfrage«. Das ist nicht auf die sprachliche Übersetzung vom Hebräischen, Aramäischen oder Griechischen ins Deutsche oder eine andere lebendige Sprache begrenzt, sondern hat auch mit der »Übersetzung« eines Textes aus ferner Zeit und fremder Kultur in die heutige Welt zu tun. Derartige Texte »übersetzen« zu wollen, geht darauf zurück, dass die Texte in einer Glaubensgemeinschaft als den Glauben begründende und bestimmende Texte tradiert worden sind und werden. Die grundlegenden Bedingungen solcher Übersetzungsvorgänge werden wissenschaftlich in der Hermeneutik reflektiert. Das dem Begriff »Hermeneutik« zugrunde liegende griechische Wort hermēneia bedeutet zuerst einmal »auslegen, übersetzen« und deutet somit an, dass es um ein reflektiertes Verstehen oder auch die Methodik der Interpretation geht. Hermeneutik ist folglich aufs Engste mit Exegese verbunden. Der Begriff Exegese, der auf das griechische Verb exēgeomai »herausführen, erklären, deuten, erzählen etc.« zurückgeht, wird in verschiedenen Wissenschaftsbereichen (Literatur, Recht, Religion) zum Terminus technicus für Deutungen und Kommentierungen gebraucht. Die Aspekte von Auslegen und Übersetzen finden sich auch in den entsprechenden lateinischen Äquivalenten interpres, interpretatio, interpretor wieder. Der moderne Sprachgebrauch unterscheidet nicht immer deutlich zwischen Interpretation, Exegese und Hermeneutik. Die semantischen Überschneidungen bei den verschiedenen Begriffen erklären aber auch, dass im Zusammenhang mit biblischer Hermeneutik mal stärker die Verstehensbedingungen behandelt werden und mal stärker die Auslegungsmethoden in den Vordergrund rücken.
In Bezug auf das Alte Testament und einer alttestamentlichen Hermeneutik ergeben sich aber besondere Probleme, da das je eigene Verstehen derselben Texte in Judentum und Christentum vor die Frage stellt, ob die Auslegungsmethode oder der Kontext, in dem ein Text gelesen wird, für das Verstehen entscheidend ist. Der verstehensrelevante Kontext der biblischen Texte wird zum einen durch den Kanon, d. h. den konkreten Kontext, in dem die einzelnen Texte oder die einzelnen Bücher stehen, bestimmt, zum anderen aber durch die Geschichte der Auslegung der Texte in den Glaubensgemeinschaften, die die Texte gebrauchen und überliefern. Hier ist auf die »hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstandes«11 zu verweisen, die H.-G. Gadamer im Kontext der von ihm behandelten Frage der »Geschichtlichkeit des Verstehens« behandelt.
»Wir fragen zunächst: Wie setzt denn die hermeneutische Bemühung ein? Was folgt für das Verstehen aus der hermeneutischen Bedingung der Zugehörigkeit zu einer Tradition? Wir erinnern uns hier der hermeneutischen Regel, daß man das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstehen müsse. Sie stammt aus der antiken Rhetorik und ist durch die neuzeitliche Hermeneutik von der Redekunst auf die Kunst des Verstehens übertragen worden. Es ist ein zirkelhaftes Verhältnis, das hier wie dort vorliegt. Die Antizipation von Sinn, in der das Ganze gemeint ist, kommt dadurch zu explizitem Verständnis, dass die Teile, die sich vom Ganzen her bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen.« (Gadamer, Wahrheit 275)
Mehr noch als beim Verstehen von Texten, die über einen langen Zeitraum hin überliefert wurden, kommt es beim Verstehen des Alten Testaments darauf an, die Geschichte der Auslegung als Brücke zu unseren heutigen Verstehensbedingungen zu reflektieren, da die zweigeteilte Einheit der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament die Auslegungsgeschichte zum konstitutiven Bestandteil des Verstehens macht.
Biblische Hermeneutik hat immer mit schriftlichen Zeugnissen, mit Texten, zu tun. Das gilt sowohl für die Grundlage, die Bibel, als auch für große Bereiche der Auslegungsgeschichte der biblischen Bücher. Aus diesem Grund scheint es geraten, am Anfang eines Studienbuches zur Hermeneutik der Bibel – jüdisch wie christlich – die Besonderheiten (schriftlich) überlieferter Texte bewusst zu machen.
Anders als die wissenschaftliche Definition von »Text« im Bereich der Linguistik oder der Kommunikationswissenschaften, bei der jede Form von sprachlicher Handlung als Text bezeichnet wird, schlägt Konrad Ehlich vor, die mit der Schrift verbundenen Sprachhandlungen terminologisch zu differenzieren und als Text nur solche Sprechhandlungen zu bezeichnen, die für eine weitere – gegenüber der ursprünglichen – Sprechsituation gespeichert sind. Als Text kann demnach der schriftliche Textgelten, ganz so wie es im alltäglichen, nichtwissenschaftlichen Verständnis üblich ist. Ein wesentliches Merkmal eines Textes ist folglich die Überlieferungsqualität der sprachlichen Handlung. Damit rückt die »sprachsituationsüberdauernde Stabilität« (Ehlich, Text 32) in den Fokus des Interesses, wenn die Möglichkeitsbedingungen des Verstehens von Texten untersucht werden. Ausgangspunkt eines so gefassten Textverständnisses ist die Institution des Boten, da durch den Boten ein Sprechsituationshindernis im Blick auf Ort und Zeit überwunden wird. Die als Text verschriftete Botschaft ermöglicht unterschiedliche – und immer neue – Sprechsituationen mit unterschiedlichen Hörern / Lesern (Adressaten) an verschiedensten Orten und zu verschiedenen Zeiten.12
»Eine Sprechhandlung kann also aus ihrer unmittelbaren Sprechsituation herausgelöst und in eine zweite Sprechsituation übertragen werden. Die Sprechhandlung bleibt in allen oder in mehreren ihrer Dimensionen gleich – nicht jedoch Sprecher, Hörer und die Sprechsituation als ganze. Ich schlage nun vor, für eine solche, aus ihrer primären unmittelbaren Sprechsituation herausgelösten Sprechhandlung, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert wird, den Ausdruck ›Text‹ zu verwenden. Nach dieser Auffassung sind Texte also durch ihre sprechsituationsüberdauernde Stabilität gekennzeichnet. Der Prozeß, den ich bisher beschrieben habe, kann zusammenfassend bezeichnet werden als Prozeß der Überlieferung. Als Kriterium für die Kategorie ›Text‹ sehe ich also die Überlieferungsqualität einer sprachlichen Handlung an. Der Text wird von der primären unmittelbaren Sprechsituation abgelöst und dadurch für die weitere Verwendung in anderen Sprechsituation zur Verfügung gestellt. Resultat der Ablösung ist die Vorfindlichkeit von Texten. Sie suggeriert, daß Texte sozusagen in sich selbstständige, quasi naturwüchsig vorfindliche Objekte sind. Doch ist dieser Eindruck scheinhaft, wie deutlich geworden ist. Denn der Text wird gespeichert, um in eine zweite Sprechsituation hinein transportiert zu werden. Beide Sprechsituationen (…) sind über den Text und den Überlieferungsprozeß, den er bestimmt und dessen Teil er ist, miteinander vermittelt. Es ist m. E. sinnvoll, diese Vermittlung selbst terminologisch zu erfassen. Ich spreche von einer zerdehnten Sprechsituation. Texte sind also Teile sprachlichen Handelns, die eine sehr spezifische Funktion erfüllen. Sie sind essentiell auf Überlieferung bezogen.« (Ehlich, Text 32)
Wenn durch den Boten »Text« ein diatopes und diachrones Sprechsituationshindernis überwunden wird, dann ist die Überlieferung der »Botschaft« ermöglicht, insofern sie durch den Text zur Aufnahme für Leser in beliebigen Konstellationen von Orten und Zeiten bereit liegt. Die »zerdehnte Sprechsituation« stellt aber an den potenziellen Leser, der die Sprechsituation durch den Text aufnimmt13, eine besondere Anforderung, da Texte aus ferner Zeit und fremden kulturellen Verhältnissen eventuell nicht ohne Weiteres (Erklärungen) angeeignet werden können.
Vom Gedanken her, dass der Text als Bote fungiert, ergeben sich für das Verstehen zwei zu unterscheidende Beziehungen, nämlich zum einen die vom Autor (Verfasser) auf den Text hin, und zum anderen die vom Leser auf den Text hin. Beide, Autor und Leser, sind auf den Text verwiesen und an ihn gebunden. Die Frage nach der Aussage (Sinn) eines Textes muss zwischen diesen Relationen geklärt werden. Hebt der Leser hier tatsächlich nur den Schatz, den der Autor in seinem Text verborgen hat? Da der Leser jedoch ausschließlich mit dem Boten (Text) konfrontiert ist, nicht aber mit dem Absender (Autor), welcher selbst auch nur mit dem Boten (Text) verbunden war, sind im Blick auf das Verstehen die vielfältigen kontextuellen Bedingungen einer über einen solchen Boten laufenden Kommunikation zu beachten.
So steht der Text als eigenständige Größe da, und sein Autor, der ihn als Text auf den Weg gegeben hat, sieht sich selbst diesem Eigenleben des Textes gegenüber. Letztendlich ist ein Text als Text, der ja vom Autor unabhängig eine ort- und zeitübergreifende Sprechsituation ermöglichen soll, auf diese Ausschließlichkeit der Beziehung zum Leser angelegt. Einen Text zu verstehen, die Aussage des Textes zu ermitteln, verlangt eine Aktivität des Lesers. Er muss und kann die »faule Maschine« (U. Eco) Text in Gang bringen. Dabei kommt dann die Interessenslage, Absicht und Situation des Lesers mit ins Spiel, so dass man schließlich drei verschiedene Größen hat, die beim Verstehensprozeß aufeinandertreffen und die man im Anschluss an die klassische rhetorische Terminologie als »Intentionen« bezeichnen kann. Diese Intentionen werden dem Autor, dem Text und dem Leser zugeordnet und als intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris bezeichnet. Die Intention des Lesers kann unklar bzw. durch Kontextdifferenzen fragwürdig sein. Ein von der Mystik her kommender und an Zahlensymbolik interessierter Leser wird an einen Börsenbericht wohl anders herangehen als der Börsenmakler, und ein von Science-Fiction begeisterter Jugendlicher mag wohl Mythen und religiöse Legenden mit himmlischen Wesen und übersinnlichen Kräften anders lesen als der rationalistische Naturwissenschaftler. Und der Autor eines juristischen Kommentarwerkes wird beim Schreiben seines Textes auch nicht gerade an einen Poeten als Leser denken.
Uns begegnen in den drei genannten Intentionen im Blick auf die Auslegung zwei problematische: Aus der Sicht des Lesers bleibt die intentio auctoris (in der Regel) unerreichbar, und die intentio lectoris ist undeutlich und fragwürdig in Bezug auf den Text. Zwischen beiden steht die an sich evidente und greifbare intentio operis. Sie kann in simplen Fakten bestehen, sich aber auch erst aus einem komplexen Zusammenhang herauskristallisieren. Bei umfangreicheren Texten ergibt sich intentio operis erst aus der Einheit des Ganzen. Bei der Frage, wie denn die intentio operis in der notwendigen Klarheit zu ermitteln sei, muss auf die sprachliche Konvention verwiesen werden. Es gilt also zuerst einmal, das zu erheben und zu erkennen, was durch die Sprache, d. h. die lexikalische Bedeutung der Worte und die grammatikalischen / syntaktischen Regeln, gegeben ist. Übertragene Bedeutung oder Kodierungen lassen sich demgegenüber erst sinnvoll annehmen, wenn es im Text oder im Zusammenhang mit diesem Text konkrete Hinweise auf Derartiges gibt. Da die sprachliche Konvention Grundlage aller Kommunikation ist, hat sie ihre uneingeschränkte Gültigkeit auch für deren verschriftete Form. In diesem Bereich der sprachlichen Konvention liegt auch die schon genannte Vermittlung zwischen dem sprachlichen Zeichen (als visuelles und / oder phonetisches) und der durch dieses bezeichneten Sache. Die spezifischen Fragen von Sprache und Schrift liegen also sozusagen hinter dem Text, der wiederum zwischen Autor und Leser steht.
Jede Konzeption einer Biblischen Hermeneutik hat somit in gleicher Weise auf die Bedeutung des Textes und seine speziellen Bedingungen (z. B. seine kontextuelle Einbindung) zu hören und zu achten wie auf die Rezipienten (Leser). Die Rezipienten stellen direkt oder indirekt Fragen an den Text. Hinter diesen Fragen steht der Wille, den Text in die je eigene Kultur und Zeit zu übersetzen. Hermeneutische Konzepte anderer Zeiten können interessant und für das eigene Verstehen anregend und hilfreich sein, sie können aber keine besondere Autorität im Blick auf das Verstehen der biblischen Texte beanspruchen. Das gilt für die Hermeneutik des Paulus beispielsweise genauso wie für die hermeneutischen Ansätze der Kirchenväter oder großer Theologen des Mittelalters.14 Da es keine zeitlosen (biblischen) Hermeneutiken gibt und geben kann, kann auch keine Hermeneutik Verbindlichkeit oder Anerkennung über andere hinaus fordern.
(Günter Stemberger)
Jede Hermeneutik, und so auch die jüdische Hermeneutik der Bibel, ist nicht zeitlos. Zwar sind gewisse Prinzipien wie die Inspiration und göttliche Herkunft der Bibel oder ihre dauernde Geltung über fast die ganze Geschichte hinweg Grundvoraussetzungen jüdischer Bibelauslegung. Insgesamt aber unterliegt die biblische Hermeneutik einem zeitbedingten Wandel. In einer frühen Phase geht es v. a. um eine unmissverständliche Weitergabe einer Aussage; der Text als solcher ist noch nicht unantastbar, da sich ja auch die Sprache im Lauf der Zeit verändert. Aber auch später und bis heute treten je nach den eigenen innerjüdischen religiösen Hauptinteressen einer Zeit und den kulturellen Bedingungen der Umgebung je verschiedene Fragestellungen in den Vordergrund. Damit verändert sich auch trotz gewisser gemeinsamer Grundlinien ständig mehr oder weniger der Zugang zur Bibel als ganzer und zur Auslegung einzelner ihrer Texte. So kann selbstverständlich auch nicht eine einheitliche jüdische Hermeneutik der Bibel dargeboten werden. Deshalb ist auch die folgende Darstellung ihrer Hauptzüge in die einzelnen Epochen gegliedert. Damit soll bei aller Gemeinsamkeit über die Zeiten zugleich auch der Wandel in der Zeit deutlich werden. Der Überblick endet jedoch mit der Kabbala noch im späten Mittelalter. In der frühen Neuzeit ist jüdische Bibelauslegung weithin traditionsgebunden, entwickelt kaum noch neue hermeneutische Ansätze.
Später und bis heute gibt es zwar noch immer jüdische eher erbauliche Kommentare, die auf rabbinische und mittelalterliche Auslegung zurückgreifen. Wissenschaftliche Auslegung dagegen eignet sich immer mehr die Methoden und Zugänge der christlichen Bibelforschung an, übernimmt – anfangs noch sehr zögerlich – die Quellenteilung im Pentateuch und auch allgemein einen historisch-kritischen Zugang1. Gewiss vermag ein mit der Thematik Vertrauter so manchen auch modernen, wissenschaftlich voll begründeten Kommentar als Werk eines jüdischen Autors erkennen. Ein gutes Beispiel ist die schöne neue umfangreich kommentierte Bibelübersetzung von Robert Alter2