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Ich sehe in die Leere der Landschaft, während die Wolken immer dichter werden. Ihr Duft hängt noch im Raum. Niemand außer uns hat seit langem diesen Ort betreten. Wie viele Stunden wir hier im vergangenen Jahr gelacht, geweint, geredet, geträumt, in den Armen des anderen gelegen und uns geliebt haben … – ich kann sie nicht zählen … Es sind die glücklichsten Momente meines Lebens, die ich hier mit ihr verbracht habe, tief verborgen vor der Welt, ohne dass auch nur irgendjemand von unserer Liebe weiß.
Und obwohl wir diesen Raum nie verlassen haben, obwohl wir nie zusammen im Kino waren, obwohl wir nie gemeinsam ein Restaurant besucht haben, obwohl wir nie in der Öffentlichkeit zusammen sichtbar waren und obwohl wir nie eine ganze Nacht miteinander verbracht haben, beginnt mit diesem ersten Kuss am 7. Januar 2021 eine Liebe, die, obwohl sie wohl für immer geheim bleiben wird, so besonders, so außergewöhnlich, so einzigartig, so tief ist, dass sie sich, ohne dass es auch nur einen Augenblick einen Zweifel daran geben kann, in die großen Liebesgeschichten der Weltliteratur einreiht: Tristan und Isolde, Abaelard und Heloise, Lady Marian und Robin Hood, Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn, Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre, Maria Casarès und Albert Camus, Florentino Ariza und Fermina Daza, Harry und Sally, Emma Morley und Dexter Mayhew, Anastasia Steele und Christian Grey …
Markus Weiss, geboren 1968, lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Ludwigsburg.
„Hermetische Liebe – Liebe in Zeiten von Corona“ ist ein Liebesroman, der während der Corona-Pandemie spielt und eine außergewöhnliche Liebesgeschichte erzählt.
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Hermetische Liebe
Liebe in Zeiten von Corona
Roman
von
Markus Weiss
© 2023 Europa Buch | Berlin www.europabuch.com | [email protected]
ISBN 9791220137270
Erstausgabe: März 2023
Gedruckt für Italien von Rotomail Italia
Finito di stampare presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)
Hermetische Liebe
Liebe in Zeiten von Corona
Du! wir wollen uns tief küssen –
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, An der wir sterben müssen.
Aus dem Gedicht ‚Weltende‘ von Else Lasker-Schüler, 1905
Geliebte Prinzessin!
Die Sonne ohne dich ist leer, denn im Mittelpunkt der gestohlenen Zeit, bewegen wir Märchen ...
Der Tag ohne dich ist leer, denn im Mittelpunkt der gestohlenen Welt, tanzen wir Träume ...
Der Augenblick ohne dich ist leer, denn im Mittelpunkt der gestohlenen Liebe, leben wir Magie ...
Dein geliebtester Geliebter
Am 31. Dezember 2019 wurde die WHO über Fälle von Lungenentzündung mit unbekannter Ursache in der chinesischen Stadt Wuhan informiert. Daraufhin identifizierten die chinesischen Behörden am 7. Januar 2020 als Ursache ein neuartiges Coronavirus, das vorläufig als ‚2019-nCoV‘ bezeichnet wurde.
Coronaviren (CoV) bilden eine große Familie von Viren, die Erkrankungen von einer normalen Erkältung bis zu schweren Krankheitsverläufen verursachen können. Das neuartige Coronavirus (nCoV) ist ein neuer Stamm des Virus’, der bisher bei Menschen noch nicht identifiziert wurde und erhielt später die Bezeichnung ‚COVID19-Virus‘.
Am 30. Januar 2020 erklärte Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO, den Ausbruch des neuartigen Coronavirus zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite, der höchsten Warnstufe der WHO. Zu diesem Zeitpunkt wurden in 18 Ländern außerhalb Chinas 98 Fälle und keine Todesfälle verzeichnet.
Aufgrund der rapiden Zunahme der Fallzahlen außerhalb Chinas erklärte der WHO-Generaldirektor am 11. März 2020 den Ausbruch offiziell zu einer Pandemie. Bis zu diesem Zeitpunkt waren mehr als 118.000 Fälle aus 114 Ländern und insgesamt 4.291 Todesfälle gemeldet worden.
Mitte März 2020 war die Europäische Region zum Epizentrum der Pandemie geworden und meldete über 40 Prozent der weltweit bestätigten Fälle. Mit Stand vom
28. April 2020 entfielen 63 Prozent der weltweiten, durch das Virus bedingten Mortalität auf die Europäische Region.
Bis heute, 7. Januar 2022 gibt es weltweit über 500 Millionen Infizierte und mehr als sechs Millionen bestätigte Todesfälle im Zusammenhang mit dem Covid-19Virus.
Quelle: https://www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/novelcoronavirus-2019-ncov, 7.1.2022
„Wir werden durch Corona unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen
– im Sinne unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen.“
Slavo Žižek, Philosoph
Das Jahr 2020 bedeutet, liebe Leserinnen und Leser, einen tiefen Einschnitt in das Leben vieler Menschen weltweit. Mit der Corona-Pandemie, die ihren Ausgangspunkt aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem HuananWildtiermarkt in der chinesischen Millionenmetropole Wuhan hatte, wird deutlich, dass die menschliche Zivilisation zu gierig mit den Ressourcen unseres Planeten umgegangen ist und der Natur zu wenig Raum lässt.
Alles verändert sich durch das Coronavirus, das als Zoonose, wohl von einer Fledermaus, den Weg über einen Zwischenwirt auf dem Wildtiermarkt zum Menschen gefunden hat.
Um die Pandemie einzudämmen, wurden in Deutschland Mitte März 2020, wie gleichzeitig auch in vielen anderen Ländern weltweit, weitgehende Einschränkungen für das öffentliche Leben beschlossen.
Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens in Deutschland und die Lock-Downs mit ihren leeren Straßen und Gebäuden sind der Rahmen, in dem ‚er‘ und ‚sie‘ sich unsterblich ineinander verlieben.
Eine Liebesgeschichte, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat und die für die Ewigkeit bleiben wird ... – auch, wenn nie jemand erfahren wird, wer ‚er‘ und ‚sie‘ gewesen sind. Vielleicht sucht in 100 Jahren, wenn die Pandemie – ähnlich wie die der ‚Spanischen Grippe‘ – beinahe in Vergessenheit geraten ist, irgendjemand nach den historischen Spuren der beiden. Wir werden sehen, was dieser jemand dann findet ...
Ich gehe die vielen Treppenstufen, die ich im vergangenen Jahr so oft gegangen bin, in dem völlig verlassenen Gebäude nach oben. Die Wände ragen grau in die Höhe, als ob sie sich in der Unendlichkeit verlieren und sich dadurch immer weiter meinen Blicken entziehen würden. Der quaderförmig, fast quadratisch anmutende Aufbau, der die gesamte Gebäudestruktur bestimmt, wirft den leeren Hall meiner Schritte zurück, ohne dass ein Geräusch an meine Ohren dringt. Die großen Fenster, die in unregelmäßiger Höhe und unterschiedlichen Formen asymmetrisch die Front des Bürokomplexes durchbrechen, sind seit langem nicht mehr geputzt worden, so dass nur das fahle Licht eines frühen Januarmorgens in die bodenlose Tiefe der Stockwerke fällt, die unter mir immer weiter verschwinden. Es ist kalt in den weitläufigen Fluren, die, wie das gesamte Gebäude, den bunten Bauklötzen aus dem Holzbaukasten eines Kindes nachempfunden wirken, die fast spielerisch in ihren immer wiederkehrenden quadratischen und rechteckigen Formen in die Luft geworfen zu sein scheinen, um dem Betrachter einfach entgegenzufallen und ihm das Gefühl völliger Willkür in der Gestaltung vermitteln. Eine Gedenktafel erinnert an den preisgekrönten Architekten, der das Gebäude entworfen hat und weist darauf hin, dass dieser Effekt bewusst gewollt sei und dass alle in den einfachen Grundfarben gehaltenen Elemente des Gebäudes dadurch immer neue, überraschende Einblicke und Wege eröffnen würden. Unzählige Türen, deren Farben jeweils komplementär zu den Wänden gewählt wurden, wirken aufgrund der extremen Deckenhöhe der Flure fast wie
Spielzeugtüren, durch die man glaubt, kaum eintreten zu
können und hinter denen sich vielleicht unzählbare Räume verbergen, die seit über einem Jahr im Dornröschenschlaf liegen.
Diesen Weg bin ich im letzten Jahr so oft gegangen ... – ein-, zwei-, manches Mal auch dreimal in einer Woche, um an jenen Ort zu gelangen, den sie den ‚Gemeinsamort‘ getauft hat. Durch die quadratischen Dachfenster, die hier im obersten Stockwerk als Oberlichter natürliche Helligkeit schenken sollen, sehe ich wie riesige Wolken am Himmel über mir vorbeiziehen. Fast glaube ich den Wind zu hören und vereinzelt bricht die Sonne durch und offenbart die Kälte dieses Morgens in den kleinen, glitzernden Kristallen, die auf den bunten Glasscheiben zu sehen sind. Unwillkürlich habe ich meine Schritte verlangsamt, da ich für einen kurzen Moment glaube Wind und Regen und Sonne auf meiner Haut zu spüren und eine Gänsehaut mich erschaudern lässt, bis ich endlich vor ‚unserer‘ Tür stehe. Wie so oft im letzten Jahr, werde ich sie aufschließen, immer in dem Bewusstsein, dass sich hinter dieser Tür unsere Welt befindet. Und sich jedes Mal, wenn ich in der geöffneten Tür stand und auf sie gewartet habe, fast wie im Märchen die Magie des Augenblicks aufs Neue entfaltete ... – Meere und Wiesen, Berge und Wälder, Landschaften und Paläste und unendliche Weiten in unseren ‚gestohlenen Momenten‘ auftauchten, ihren Nachhall für immer in unseren Körpern, Herzen und Seelen hinterlassen haben und bis heute jeden Augenblick unseres Seins bestimmen.
Der Raum, der sich hinter der roten Tür, die alles andere außen vorlässt, erschließt, ist quaderförmig und es durchdringt mich wieder das Gefühl, als würde dieser Ort aus den ansonsten fest umzirkelten Strukturen des Gebäudes herausdrängen, fast so, als ob er mit mehr als zwei Drittel seiner Fläche in der freien Luft über dem Abgrund, der sich unter dem in die Höhe strebenden Bürogebäude befindet, schweben würde. Völlige Stille umgibt mich, wo in ‚normalen‘ Zeiten auf den Fluren hinter mir rege Betriebsamkeit herrschte. Alle sind im Home-Office. Ich bleibe auf der Schwelle stehen, die es aufgrund der modernen Architektur und der nahtlos in die Wände eingefügten Türen nicht gibt. Sie bildet die Grenze, zwischen der Welt ‚draußen‘ und unserer Welt ‚drinnen‘, eine Welt die nur hier, hermetisch und doch alle Dimensionen des Raums sprengend, lebt und lacht und liebt. Mein Blick streift über diesen Ort, der seit über einem Jahr unser ‚Gemeinsamort‘ ist: Das quaderförmige Prinzip der Architektur bestimmt auch in diesem Raum die gesamte Struktur. Fast ist es, als ob der Rhythmus des Gebäudes sich über die komplementären Farben, die in den Fluren dominant das Auge führen, über die Mauern in das Innere unseres ‚Gemeinsamorts‘ hineinschwingen würde. Selbst das Mobiliar passt in die Gesamtkonzeption und die farblich abgestimmten Tische, Stühle und Schränke, nehmen das Baukastenprinzip wieder auf. Das einzige Bild, Wassily Kandinskys ‚Farbstudie Quadrate‘, fällt kaum auf und doch komplettiert es alles. Der fast quadratisch anmutende Grundriss des Büros wirkt aufgrund der gesamten Farbgebung und der variablen ‚Möbelbausteine‘ wie ein Spielbrett und durch die bodentiefen Fenster an drei Seiten entsteht der Eindruck, als gäbe es für diesen Raum keine natürliche Grenze. Ich trete an die Glasfront, die weit für sie offene Tür in meinem Rücken. Weit unter mir sehe ich die riesigen Ulmen, die den Flusslauf einrahmen, sich für den Winter in ihr Inneres zurückgezogen haben und im eisigen Wind vom Frühjahr träumen. Und wie so oft, wenn ich im letzten Jahr hier gestanden bin, habe ich das Gefühl, dass ich nur einen Schritt machen müsste, um in die Tiefe zu stürzen.
Es ist genau ein Jahr her, dass wir uns hier zum ersten Mal tief in die Augen gesehen haben, uns zum ersten Mal liebevoll in die Arme genommen und uns zum ersten Mal zärtlich geküsst haben, wie nur wir das vermögen. Ihre strahlenden Augen, ihre weichen Lippen und ihre kleine, zarte Zunge, die so unendlich zärtlich meine Zunge liebkost. Es ist genau ein Jahr her, dass wir uns hier vom ersten Augenblick an so unendlich tief ineinander verliebt haben, dass es kein Entrinnen mehr gab. Ich sehe in die Leere der Landschaft, während die Wolken immer dichter werden. Ihr Duft hängt noch im Raum. Niemand außer uns hat seit langem diesen Ort betreten. Wie viele Stunden wir hier im vergangenen Jahr gelacht, geweint, geredet, geträumt, in den Armen des anderen gelegen und uns geliebt haben ... – ich kann sie nicht zählen ... Es sind die glücklichsten Momente meines Lebens, die ich hier mit ihr verbracht habe, tief verborgen vor der Welt, ohne dass auch nur irgendjemand von unserer Liebe weiß. Wenn einer von uns sterben würde, würde nie auch nur irgendjemand von dieser Liebe etwas erfahren, und doch hat diese Liebe jeden Augenblick, jeden Gedanken, jedes Wort, jede Sekunde und jedes Sehnen in diesem letzten Jahr bestimmt. Ihre Augen, ihre Worte, ihre Küsse, ihre Nähe, ihr Duft, ihre Zärtlichkeit werden für immer in meinem Herzen geborgen sein, so wie sie in meinen Armen immer geborgen war, ihr Kopf zärtlich an meine Brust geschmiegt. Jede Sekunde dieser Liebe wird von der goldenen Taschenuhr gezählt, die sie mir geschenkt hatte, als wir das erste Mal länger als eine Woche voneinander getrennt waren. Ich trage sie immer bei mir, auch jetzt ... – das Datum unseres ersten Kusses ist eingraviert. Und obwohl wir diesen Raum nie verlassen haben, obwohl wir nie zusammen im Kino waren, obwohl wir nie gemeinsam ein Restaurant besucht haben, obwohl wir nie in der Öffentlichkeit zusammen sichtbar waren und obwohl wir nie eine ganze Nacht miteinander verbracht haben, beginnt mit diesem ersten Kuss am 7. Januar 2021 eine Liebe, die, obwohl sie wohl für immer geheim bleiben wird, so besonders, so außergewöhnlich, so einzigartig, so tief ist, dass sie sich, ohne dass es auch nur einen Augenblick einen Zweifel daran geben kann, in die großen Liebesgeschichten der Weltliteratur einreiht: Tristan und Isolde, Abaelard und Heloise, Lady Marian und Robin Hood, Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn, Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre, Maria Casarès und Albert Camus, Florentino Ariza und Fermina Daza, Harry und Sally,Emma Morley und Dexter Mayhew, Anastasia Steele und Christian Grey ...
Es ist dieselbe Uhrzeit, derselbe Ort ... – der 7. Januar 2022, genau ein Jahr nach diesem ersten Kuss. Die Tür steht weit offen und ich warte darauf, dass sie die Treppen, wie nur sie es tut, hocheilt ... – und ich warte darauf, dass sie mit ihren strahlenden Augen, wie nur sie es tut, mir über den Flur entgegenfliegt ... – und ich warte darauf, dass sie auf der Schwelle, die nicht vorhanden ist, zwischen ‚drinnen‘ und ‚draußen‘, wie nur sie es tut, mich in ihren Armen birgt ... – und wir uns küssen ... – unendlich zärtlich ... – unendlich liebevoll ... – unendlich leidenschaftlich ... – wir nur wir es tun ...
Die Tür steht weit offen und ich warte darauf, dass sie kommt ... – ich höre Schritte ... – sie kommt ...
Sie kennen sich vom Sehen, von der Arbeit im Architekturbüro. Sie sind seit einigen Jahren Kollegen. Sie sitzen in einem als moderne Arbeitslandschaft gestalteten offenen Büro auf Sichtweite. Sie haben noch nie zusammen an der Planung und Umsetzung eines Projekts gearbeitet. Sie haben bis auf ein freundliches „Hallo!“ und ein wechselseitiges Sich-Zunicken noch nie wirklich miteinander geredet. Sie waren immer auf die Arbeit konzentriert. Sie ist 17 Jahre jünger als er. Er ist immer sachlich distanziert. Ihre Chefin hat ihnen ein gemeinsames Projekt zugeteilt: Ein Wohnkomplex, in dem Menschen generationenübergreifend zusammenleben werden und bei dessen Verwirklichung, ganz im Sinne der Firmenphilosophie, das soziale Miteinander und umweltbewusstes Bauen im Vordergrund stehen. Seine jahrzehntelange Erfahrung und ihre Kreativität, gepaart mit ihrem grenzenlosen Esprit, scheinen die beiden, in den Augen ihrer Chefin, dafür prädestiniert zu haben. Sie freut sich, da sie ihn immer wieder aus der Distanz heraus beobachtet hat und die von ihm realisierten Projekte bewundert. Er ist wie immer sehr zurückhaltend, da er gewohnt ist allein zu arbeiten. Doch vom ersten Augenblick an begegnen sie sich professionell auf Augenhöhe. Sie ist immer absolut auf den Punkt vorbereitet, sprüht vor Ideen, macht Skizzen und entwirft Konzepte. Er sieht schnell die praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung und hat immer Lösungen parat, die ihre Pläne unterstützen. Sie spürt, wie sie von seiner Erfahrung jeden Augenblick profitiert. Er bewundert, wie kompetent sie ist und doch dauert es einige Zeit, bis er ihr das ‚Du‘ anbietet. „Weißt du, ich war zunächst unsicher, eingeschüchtert, weil du so viel mehr Erfahrung hast, und ich habe beim ersten Treffen, als wir das Projekt zugeteilt bekamen, deine Abneigung gegen eine Partnerin gespürt!“ Er sieht sie an: „Du hast recht. Es war für mich im ersten Augenblick ungewohnt. Ich habe all die Jahre immer allein gearbeitet und meine Sorge war, dass es zwischen uns nicht harmoniert und die ganze Arbeit an mir hängen bleibt, aber du ... du tickst im Hinblick auf Disziplin und Arbeit wie ich ... und gleichzeitig ergänzen wir uns in so vielen Bereichen genial!“ Sie errötet, schlägt die Augen nieder, weiß nicht was sagen, obwohl sie sonst nicht schüchtern ist. Sie vertiefen sich wieder in die Pläne. Er vermeidet jede Berührung und doch nimmt er das Strahlen in ihren Augen wahr, wenn sie von einem Detail, einem Gedanken oder einem bestimmten Material, das sie verwenden wollen, begeistert ist. Sie sieht ihn immer wieder an und spürt wie ihre Ideen von ihm wertgeschätzt und weitergedacht werden. Sie verlieren sich ganz in ihrem Projekt und erst Stunden später tauchen sie wieder aus der Versenkung auf. Sie sehen sich an, spüren wie nah sie sich durch das gemeinsame Arbeiten sind. Sie lachen gemeinsam, wenn sie den sich wechselseitig ergänzenden Sätzen nachspüren. Sie strahlen glücklich, weil der Rhythmus ihrer Arbeit und die Bereitschaft sich ganz auf die Ideen des anderen einzulassen, das Projekt mit aller Leichtigkeit vorantreibt. Die Außenwelt haben sie völlig ausgeblendet und auch, dass es draußen längst dunkel geworden ist und sie die Zeit vergessen haben. Sie müssen beide nach Hause. Die Skizzen und Entwürfe lassen sie einfach liegen, im stillen Einvernehmen, morgen genau an der Stelle weiterzumachen. Er schließt die Tür, sie wartet auf ihn, im Plauderton gehen sie beschwingt das endlose Treppenhaus hinunter. Niemand ist mehr im Gebäude und als er den Haupteingang abschließt, sagt sie: „Ich freue mich auf morgen!“ Er lächelt, nickt: „Selbe Zeit?“ „Ja!“ „Ich freue mich auch!“ Den Weg zum Parkplatz legen sie zum ersten Mal gemeinsam zurück. Sie bleibt vor seinem Auto stehen, er weiß nicht einmal, was sie für ein Auto fährt. „Was bringt dein Abend?“ „Nicht mehr viel. Wie immer. Abendritual für Sophia.“ „Deine Tochter?“ Sie nickt: „Und bei dir?“ „Joggen, Abendessen machen für die Familie, ein gutes Buch und ein Glas Wein!“ „Hört sich gut an!“ „Also bis morgen!“ Sie steigen ein, er winkt ihr hinterher, sie lächelt ihm im Wegfahren zu.
Er ist schon da, die Tür steht offen als sie am nächsten Morgen Kaffee und Croissants mitbringt. Der Tag gestern hat etwas verändert. Ihr Umgang ist leichter geworden und doch spüren sie, dass es eine unsichtbare Grenze gibt, der sich beide nicht nähern. Fast nahtlos tauchen sie wieder in ihr Projekt ein, beide perfekt vorbereitet, beide mit neuen Ideen, beide voller Elan. In den kleinen Pausen lachen sie zusammen, reden über Belangloses. Ihr fällt, als sie ihn heimlich von der Seite betrachtet, auf, dass er immer noch sehr distanziert wirkt und in jedem Augenblick professionell agiert. Seine vielen Lachfalten um die Augen und sein leicht grau durchzogenes Haar machen ihn attraktiv und ziehen sie an. Ihm fällt, als er sie heimlich von der Seite betrachtet, auf, dass er nie besonders auf ihr Äußeres geachtet hat. Sie ist wunderschön ... – ihre Augen, die ihn anlächeln, ihr sanft geschwungener und dezent geschminkter Mund, der Worte formt, die er manches Mal nur an ihren Lippen ablesen kann, weil er durch das Strahlen in ihrem Blick ganz tief in ihre Seele einzutauchen glaubt. Tag für Tag werden sie mehr und mehr ein eingespieltes Team. Eine Idee gibt die andere, ein Gedanke fliegt von Wort zu Wort und es gibt keine Differenz zwischen ihnen ... – kein Schneller, kein Besser, kein Nicht-Möglich. Ihre Zusammenarbeit ist, ohne dass es ihnen bewusst ist, im Gleichklang mit dem Rhythmus der Wolken, die vor den Glasfronten ihres Büros in den dahinfliegenden Wochen und Monaten mal sanft, mal wild, mal stürmisch, mal klar, mal zärtlich vom Wind getrieben, getragen, gestreichelt und von der Sonne mal mehr, mal weniger durchbrochen werden.
Der restliche Sommer vergeht mit ihrer gemeinsamen Arbeit wie im Flug und als sich die Blätter bereits bunt färben, steigen die Inzidenzen in Deutschland erwartungsgemäß. Das gesamte Leben, das im Sommer so scheinbar leicht und unbeschwert dahingeflossen ist, wird von Tag zu Tag stärker eingeschränkt. Die Bilder von Bergamo sind allen noch im Bewusstsein und das Tragen einer FFP2-Maske gehört zum Alltag. Die anfängliche Unsicherheit beider ist längst völlig verschwunden und es ist unendlich mehr als die Wertschätzung für die Arbeit des anderen, die beide in der tagtäglichen Zusammenarbeit beflügelt. Das Projekt nimmt sie so sehr in Beschlag, dass sie nur selten über ihre Leben sprechen und wenn, dann geht es immer um ihre Familien und alltägliche Begebenheiten. Sie verbringt jede freie Minute mit ihrer Tochter, da ihr Mann ebenfalls beruflich sehr eingespannt und kaum zuhause ist. Er hat einen Sohn und eine Tochter und seine Frau ist, seit die Kinder beim Studieren sind, auch wieder berufstätig. Außerhalb des Büros treffen sie sich nicht. Ihre Mails sind immer sachlich, auf die Arbeit bezogen und doch ist die Vorfreude auf ihre Arbeitstreffen in dem Büro, das ihnen für die Zeitspanne des gemeinsamen Projektes zur Verfügung steht, in jedem Augenblick spürbar. Wenn sie sich außerhalb ihres Büros auf den weitläufigen Fluren begegnen, lächeln sie sich entgegen, bleiben stehen und wechseln ein paar scheinbar belanglose Worte. Es ist nie mehr. Sie wissen nicht, was der andere am Wochenende, in seiner Freizeit oder im Urlaub macht. Als sie an einem Tag Muffins für das ganze Büro mitbringt, weil sie Geburtstag hat, und ihm einen geben will, ist er zu überrascht, um den noch warmen, kleinen Kuchen, anzunehmen. Sie spürt, dass er sich unwohl fühlt. Er weiß nicht, warum er den Muffin ablehnt. Sie lächeln sich unsicher an. Er geht. Sie sieht ihm nach. An diesem Tag begegnen sie sich nicht mehr und als sie sich am nächsten Tag in ihrem Büro treffen und einige Zeit ungewöhnlich still zusammengearbeitet haben, berührt er sie zögerlich sanft am Arm: „Verzeih, wegen gestern! Ich habe mich geschämt, weil ich dich nie gefragt habe, wann du Geburtstag hast und dir gerne etwas geschenkt hätte!“ Sie sieht ihm direkt in die Augen, lächelt ihn an und berührt mit ihrer weichen Hand für einen kurzen Moment seine Wange: „Ich bin froh, dass du das sagst. Ich habe mich schon gewundert, was los war!“ Mehr ist nicht nötig. Der restliche Tag verfliegt wie immer und obwohl es bereits begonnen hat, wieder schneller dunkel zu werden, vergessen die beiden wie so oft die Zeit, so dass sie fast immer die Letzten sind, die das Büro verlassen. Als er die rote Tür hinter ihnen abschließen will, dreht sie sich um: „Ich habe noch etwas vergessen. Du weißt schon, ab Morgen ist hier alles dicht!“ Er steht zwischen Tür und Angel und sieht ihr zu, wie sie die noch herumliegenden Skizzen in ihren neuen Rucksack steckt, den sie von ihrem Mann zum Geburtstag bekommen hat. Was vor einem Jahr in so vielen Bereichen der Arbeitswelt noch undenkbar war, ist ab Morgen auch ihre Realität: Die Corona-Pandemie hat alles verändert ... – Home-Office-Pflicht für alle! Er sieht sie an und spürt, wie schwer es ihm fällt sich vorzustellen sie nicht mehr jeden Tag zu sehen. Im Frühjahr, im ersten Lockdown, hatte er die Zeit im Home-Office genossen ... – er war froh darüber seine Zeit selbst einteilen zu können und auch den Small Talk im Büro hatte er nicht vermisst. Er spürt, wie sehr er sich selbst durch ihr Auftauchen in seinem Leben verändert hat. Vor einigen Wochen war er noch skeptisch, mit ihr ein gemeinsames Projekt anzugehen und der Gedanke, sich an eine Partnerin zu gewöhnen, war ihm eine Last. Alles hat sich seither verändert: Die Arbeit mit ihr bedeutet ihm mehr als er sagen kann. Sie dreht sich um, sieht, wie er sie beobachtet hat, lächelt ihn mit ihren strahlenden Augen an, weil sie spürt, was er fühlt: „Es geht mir wie dir! Unsere gemeinsame Zeit hier wird mir unendlich fehlen. Ich habe in den letzten Wochen so viel von dir gelernt und die Arbeit mit dir hat einfach nur Freude gemacht. Unvorstellbar, dass wir uns nur noch digital sehen sollen!“ „Und wer bringt in Zukunft den Kaffee und die Croissants?“ Sie stehen noch lange gemeinsam genau an der unsichtbaren Schwelle zwischen ‚draußen‘ und ‚drinnen‘, unterhalten sich, lachen, erzählen ... – während die Welt sich irgendwie weiterdreht. Gemeinsam gehen die beiden, wie so oft in der letzten Zeit, das vertraute Treppenhaus hinunter. Wie zufällig stehen ihre Autos nebeneinander auf dem Firmenparkplatz. Fast scheint es, als wäre alles wie immer und doch spüren beide wie schwer es ihnen fällt an diesem Tag auseinanderzugehen. Es fühlt sich beinahe an wie ein Abschied, den beide hinauszögern, bis sie ohne es zu wollen sagt: „Verzeih, ich muss los, Sophia wartet!“ „Bis morgen ... – online mit Kaffee und Croissant?“ „Ich freue mich darauf! Du bist dran mit mitbringen!“ Sie lachen. Sie steigt ein. Er bleibt noch einen Moment im Sonnenlicht stehen. Auch er muss nach Hause, sein Hund wartet. Sie fahren in unterschiedliche Richtungen davon, ohne zu wissen, wann sie sich das nächste Mal wiedersehen werden. Selbst das endlose Treppenhaus, der lange Flur, die Farben und auch ihr gemeinsames Büro werden fehlen. Er ruft sie aus dem Auto an: „Ich wollte nur sagen, dass ich mich schon sehr darauf freue, wenn wir uns wieder real treffen können!“ „Und ich dachte schon, du hättest etwas Wichtiges vergessen.“ Sie lachen. Sie schweigen. Sie wissen in diesem Moment, dass sich zwischen ihnen etwas verändert hat. Die täglichen Begegnungen haben eine tiefe Vertrautheit geschaffen, die beide nicht mehr missen möchten. Irgendwann sagt sie: „Schlaf gut! Morgen wachen wir in einer neuen Welt auf und dann sehen wir uns wieder!“
Der nächste Morgen ist kühl. Der Sommer scheint sich langsam zu verabschieden. Der Sonne fällt es Tag für Tag schwerer ihre Kraft zu entfalten. Beide loggen sich pünktlich zu ihrer ersten gemeinsamen Zoom-Konferenz ein. Sie hat das Bild von Kandinsky aus dem Büro als Hintergrund gewählt: „Siehst du! Alles wird gut!“ Sie lachen und vom ersten Augenblick an ist es, als wären sie nicht nur virtuell miteinander verbunden, sondern würden sich real gegenübersitzen. Es gibt keine Distanz zwischen ihnen. Er sieht, wie sie ihn anlächelt. Sie sieht, wie er sie anblickt. Ihre langen, seidigen Haare fallen goldglänzend über ihre Bluse. Die obersten beiden Knöpfe sind geöffnet. Er sieht zarte, schwarze Spitzen. Sie hat sich geschminkt. Er hat das Gefühl ihren Duft zu atmen. Sie sieht, dass er frisch rasiert ist. Sie hat das Gefühl, dass der Duft seines Aftershaves in ihrem Haus fast greifbar ist. Sie spürt ein Kribbeln in ihrem Körper ... – ihr wird bewusst, wie attraktiv sie ihn in dem Hemd, das er, obwohl er zuhause ist, angezogen hat. Seine Brille verleiht ihm über den Bildschirm eine Ernsthaftigkeit, die sie schmunzeln lässt: „Lachst du mich aus?“ „Nein, ich freue mich einfach, dass wir uns sehen!“ Sie trinken gemeinsam Kaffee, doch obwohl sie sich nah sind, stolpern sie über die Worte, die ihren Blicken hinterherhinken. Es dauert etwas bis sie über die Arbeit in die Tiefen des Kaninchenbaus eintauchen. Stundenlang brüten sie versunken über ihren Entwürfen, sammeln weitere Aspekte, machen Skizzen auf einer digitalen Plattform, die sie für sie beide eingerichtet und ihm erklärt hat. Es ist fast, als würden sich ihre Hände bei den gemeinsamen Ideen, die sie auf dieser Plattform skizzieren, berühren. Sie überlegen, finden, verwerfen, halten inne, setzen neu an, lachen ... – dann, wenn sie für kurze Momente auftauchen und auf den geteilten Bildschirmen den anderen sehen. Es ist ein guter Vormittag, auch wenn sie immer wieder spüren, wie sehr ihnen der unmittelbare Kontakt und auch die räumliche Nähe fehlen. Aufgaben werden verteilt, das Meeting für den nächsten Tag vereinbart. Sie sehen sich an und lächeln wieder ... ohne etwas zu sagen. Es fällt ihnen schwer das Meeting zu verlassen. Sie plaudern noch: „Was bringt dein Tag?“ „Ich muss noch einiges organisieren. Wäsche, Haus, Kochen, bis ich Sophia vom Kindi abhole.“ Ihnen wird bewusst, dass sie fast nichts über den Alltag und das Leben des anderen außerhalb der Arbeit wissen. Nicht einmal die Namen ihrer Partner haben sie bisher erwähnt. „Und du?“ „Ich gehe jetzt mit dem Hund und dann arbeite ich weiter, bis meine Frau von der Arbeit kommt.“ Das Gespräch stockt für einen Moment. Beide spüren, wie sie unsicheres Terrain betreten, die gefühlte, nicht sichtbare Grenze überschreiten und nicht mehr nur Arbeitskollegen sind und sein wollen. Sie verabschieden sich unsicher, mit einem Lächeln, einem Blick in die Augen, einem „Auf Morgen!“ Das Abschließen der Tür, ihr Lächeln, der Weg vom Büro, den lichtdurchfluteten Flur bis zur obersten Stufe, sein Blick, die lange Treppe mit ihren geometrischen Farbakzenten hinunter, er und sie Seite an Seite, das Stehen auf dem Parkplatz von Angesicht zu Angesicht, von Augenblick zu Augenblick unauflösbarer – fehlen. Als er sich ausgeloggt hat, sitzt sie noch lange vor dem PC, versucht zu ergründen, was in ihr vorgeht. Sie lächelt, als er keine Minute später die Anmeldedaten für das Meeting am nächsten Tag schickt.
Die Inzidenzen steigen täglich und so wie sich die Natur immer weiter in sich zurückzieht, scheint in manchen Momenten auch das Leben plötzlich stillzustehen. Die Tage und Nächte sind ungewöhnlich ruhig. Es fahren kaum Autos auf Deutschlands ansonsten hart umkämpften Straßen. Am Himmel sieht man keine Kondensstreifen mehr. Corona hat auch etwas Gutes: Die Menschen müssen sich stärker wieder auf sich selbst besinnen und der CO2-Ausstoß sinkt in diesem ersten Jahr der Pandemie beträchtlich. Zum ersten Mal scheinen die Klimaziele des ‚Übereinkommens von Paris‘ von 2015, die Begrenzung der globalen Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius, wenn möglich sogar unter 1,5 Grad Celsius, im Vergleich zur vorindustriellen Zeit, realistisch. Sie treffen sich täglich online, arbeiten intensiv an ihrem Projekt und die Gespräche über ihre Leben und ihren Alltag werden immer tiefer. Es stellt sich eine neue Vertrautheit zwischen ihnen ein; sie warten auf das nächste Meeting und ihre Verbundenheit, über die Arbeit hinaus, wächst von Tag zu Tag. Zu Beginn und am Ende jeder Arbeitswoche gibt es für alle Kollegen Zoom-Meetings, in denen die Fortschritte der einzelnen Projekte präsentiert werden. Ihre Chefin gibt allgemeine Updates zu firmenrelevanten Entwicklungen, versucht zu motivieren und zeigt Verbindungslinien zwischen den einzelnen Teams auf. Immer wieder betont sie, wie wichtig es ihr ist, dass der Teamgeist, der bisher durch den realen Kontakt im Büro nach ihrer Meinung so außergewöhnlich war, durch das Home-Office nicht verloren geht.