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Simon hat aus seinem Hobby als Drohnenpilot einen einträglichen Beruf gemacht. Doch als er bei einer illegalen Schnüffelaktion einen bestialischen Mord beobachtet, steckt er in der Bredouille. Wird die Polizei ihm Glauben schenken? Nur der Killer selbst weiß, dass Simon nicht lügt – und will den unliebsamen Zeugen ausschalten. Ein mörderisches Katz-und-Maus-Spiel beginnt, auf den Straßen und über den Dächern Hannovers. Ein rasanter Drohnen-Thriller von Peter Hereld – packend und bedrohlich
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Seitenzahl: 323
Peter Hereld
Herr der Drohnen
Thriller
Bookspot EDITION 211
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.
Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.
Copyright © 2019 bei Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH, Planegg
1. Auflage 2019
Lektorat: Bernadette Lindebacher
Korrektorat: Sylvia Kling
Satz/Layout: Martina Stolzmann
E-Book: Mirjam Hecht
Covergestaltung/Einband: Alin Mattfeldt/Martina Stolzmann
Covermotiv unter Verwendung von: © Shutterstock: Julius Elias, Family TV, Macrovector
Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Made in Germany
ISBN 978-3-95669-129-4
www.bookspot.de
Impressum
Inhalt
Teil I
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
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15
16
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18
19
20
Teil II
1
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Teil III
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Teil IV
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Einige Tage später
Danksagung
Über den Autor
Was für eine Pleite …
Sybille sah sich im Zimmer um – alles in Lichtblau und Buche-Imitat. Plastik, wohin das Auge reichte, künstlich-steril wie Barbies Wochenendhäuschen, nur eben lebensgroß.
In so einem eigenartigen Hotel hatte sie noch nie übernachtet. Allein die Rezeption unten: anstelle von Personal Bildschirme und Schlitze für EC-Karte und Bargeld.
Dabei hatte der Abend so vielversprechend angefangen, doch dann …
Sie hätte nicht bleiben sollen, Mitleid hin oder her. Es war nicht ihr erstes Internetdate, und auch nicht das erste Mal, dass sie noch in der gleichen Nacht mit ihrer Verabredung im Bett gelandet war, aber so etwas hatte sie bislang nicht erlebt.
Er stand vor dem Waschbecken und rasierte sich. Vom Bett aus musterte sie seinen athletischen Körper. Das schmale weiße Handtuch um die Hüfte betonte seine sonnengebräunte Haut – eine Figur wie aus dem Anatomiebuch. Zudem war er geistreich, gebildet, hatte makellose Manieren, war wohlhabend.
Es hätte alles so schön sein können …
Gerade einmal ein paar Stunden lagen zwischen ihrem Date am Abend zuvor und der großen Enttäuschung. Sybille war begeistert gewesen, als sie ihn an ihrem Tisch entdeckt hatte. Direkt neben dem Aquarium, so war der Treffpunkt vereinbart. Gentlemanlike stand er auf, gab ihr die Hand, nicht zu fest, nicht zu weich, genau richtig, dann half er ihr beim Platznehmen, rückte den Stuhl vom Tisch ab und schob ihn ihr beim Hinsetzen zurecht. Sie kam sich vor wie Ingrid Bergman in einem Film mit Cary Grant, ein ganz neues Gefühl für sie, aber nicht das schlechteste. Vielleicht wirkte sein Verhalten ein wenig angestaubt, trotzdem fand sie Gefallen daran. So höflich wurde sie noch von keinem ihrer Dating-Partner behandelt. Sybilles Interesse an ihrem Gegenüber wuchs mit jeder seiner Gesten.
Die Unterhaltung, leicht wie eine Feder, pointiert, amüsant, nie verletzend, natürlich nicht. Das Essen ein Gedicht, um die Rechnung – keine Widerrede – kümmerte er sich. Das hatte sie schon ganz anders erlebt. Manche Männer meinten wohl, Frauen respektlos zu behandeln, quasi das alte, längst überholte Rollenklischee zu bedienen, wenn sie die Dame gleich am ersten Abend aushielten. Vielleicht waren sie aber auch nur zu geizig. Wie auch immer, zumindest in diesem Fall war Sybille schon immer gerne etwas altmodisch.
Als die letzten Gäste gegangen waren und sie allein im Restaurant saßen, wurde das Gespräch ernsthafter, intensiver. Seine Frau wäre vor einem Jahr gestorben, hatte er gesagt. Die Ehe sei sehr glücklich gewesen, wenn auch kinderlos. Normalerweise mache er so etwas nicht. Doch seine Freunde hätten ihn zu diesem Schritt gedrängt, sie konnten nicht mehr mitansehen, wie er immer noch um seine große Liebe trauerte, ohne einen Neuanfang zu versuchen. Und da er nie gut darin gewesen sei, Frauen anzusprechen, kam er auf dieses Dating-Portal.
Sybille hatte innerlich jubiliert. Eigentlich war sie nicht auf etwas Festes aus, erst recht, nachdem sich ihre letzte Beziehung zu einem Albtraum entwickelt hatte. Bei ihm jedoch konnte sie sich vorstellen, mit ihren Vorsätzen zu brechen. Sie betrachtete seine Hände. Schmal und filigran waren sie, lange Finger, wunderschön. Sie passten zu seinem Beruf als Chirurg. Sybille war ganz sicher, dass er sich damit geschickt anstellen würde, in jeder Hinsicht. Der Gedanke daran hatte sie erregt.
Nachdem der Kellner zum dritten Mal gefragt hatte, ob die Herrschaften noch etwas wünschten, verließen sie schließlich das Restaurant. Endlich – sie wollte auch nicht länger warten. Der offizielle Teil war nun erledigt und Sybille hatte sich fest entschlossen, wirklich alles über ihn zu erfahren. Sie nahm sich auch vor, ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen, sollte er sich zu umständlich anstellen. Allzu forsch wollte sie allerdings auch nicht bei ihm rangehen. Obwohl kaum älter als sie, wirkte er reichlich konservativ, schien Wert auf die Etikette zu legen. Vielleicht würde es ihn ja verschrecken, sollte sie zu flott vorpreschen.
Sie waren zum Taxistand am Raschplatz geschlendert. Er hatte ihr seinen Arm angeboten und sie hakte sich unter, lehnte zart den Kopf gegen seine Schulter.
Bei den Taxen angekommen, hatten sie einander lange in die Augen geschaut, keiner sagte ein Wort. So durfte der Abend nicht enden, doch irgendwie war sie bei ihm gehemmt, wusste nicht, was sie sagen sollte. Schließlich hatte er auf ein Hotel unweit des Bahnhofs gezeigt und meinte, einen Absacker sollten sie dort eigentlich auch jetzt noch bekommen.
Gott sei Dank, hatte sie gedacht. Endlich übernahm er die Initiative.
Es war schon nach eins. Drinnen dann die Überraschung, es gab keine Rezeption, geschweige denn eine Nachtbar. Das Foyer des Hotels, wenn man es überhaupt so nennen konnte, hatte etwas Futuristisches – kein menschliches Personal, dafür gespickt mit Technik.
Dann plündern wir halt die Minibar, meinte er gutgelaunt und steckte einen Hunderter in den Schlitz.
Hatte er das etwa alles so geplant? War seine Zurückhaltung nur Fassade?
Sie war gespannt, was jetzt noch kommen würde – und mindestens irritiert über das Hotel. So eine eigenartige Absteige passte eigentlich gar nicht zu ihm.
Trotzdem, Sybille hatte nichts gesagt und ließ alles auf sich zukommen. Jetzt war er die treibende Kraft und ihr war es recht so, manche Männer fühlten sich überrumpelt, wenn die Frau zu selbstbewusst auftrat.
Während der Fahrt nach oben im Lift hatten sie munter weitergeplaudert, so, als gäbe es noch Zweifel darüber, was unweigerlich folgen würde. Wenn es letztlich nur auf Sex hinausliefe, wäre das zwar schade, dachte sich Sybille, aber immer noch ein schöner Abschluss. Und sollte sich doch mehr daraus entwickeln, umso besser.
Als er die Zimmertür öffnete, war sie bereit, alles mitzumachen, was er sich wünschte. Zimperliche Prüderie war eh noch nie ihr Ding. Vor allem aber wollte sie nicht durch unnötiges Geziere diese aussichtsreiche Beziehung scheitern lassen, bevor sie überhaupt begann.
Kaum drinnen, war dann alles ganz schnell gegangen. Die Minibar blieb ungeöffnet, nicht so ihre Bluse, Hose, der BH. Sie waren übereinander hergefallen wie ausgehungerte Tiere. Das Bett, Kingsize, wurde zur Spielwiese, sie fummelten aneinander rum – und fummelten … und fummelten …
Und Schluss.
Statt eines Steifen hatte er plötzlich den Moralischen bekommen. Er erzählte von seiner Frau und dass er das Gefühl habe, sie zu betrügen mit einer anderen. Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Wollte – oder konnte er nicht?
Sybille hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Schlimmer noch, erstmal geschürt, hatte sie die Hitze voll erwischt. Sie küsste seine Tränen, die Brust, den Bauchnabel, nahm sein schlaffes Glied in die Hand …
Er stieß sie von sich, unangemessen grob – es tat richtig weh.
Das war der Moment, in dem sie das Trauerspiel endgültig leid war. Sie richtete sich auf, wollte nur noch aus dem Bett, schnell anziehen und weg. Da fing er an zu jammern. Alles wäre für ihn neu und er hätte den Tod seiner Frau noch immer nicht verwunden. Sybille erkannte den bis eben charmanten und eloquenten Mann nicht wieder. Er war ihr plötzlich unheimlich, dieses Geheule kam zu unvermittelt.
Er flehte sie an, zu bleiben – sie zog sich den Slip an und streifte den BH über.
Er bettelte, sie möge ihn nicht allein lassen – Sybille schlüpfte in ihre Jeans.
Dann meinte er, wieder mit festerer Stimme, mit ihr einen Neuanfang wagen zu wollen. Sein Blick, unendlich traurig, sie konnte nicht anders und ließ ihre Bluse fallen.
Die Nacht hatten sie dann eng aneinandergeschmiegt verbracht. In Löffelstellung, wie Geschwister, aus Angst vorm Gewitter zusammengekuschelt. Ganz zart und züchtig, in Unterwäsche, ohne Sex.
Nach einer langen, schlaflosen Nacht wurde es endlich Morgen.
Aus müden Augen beobachtete sie ihn beim Rasieren. Er stand im Bad, als ob nichts gewesen wäre. Klar definierte Muskeln und Sehnen unter glatter Haut spannten und entspannten sich bei jeder seiner Bewegungen. Alles an ihm war einfach zu perfekt, um wahr zu sein – es hätte eine traumhafte Nacht und mehr daraus werden können. Nun war es leider so gekommen. Tragisch, aber nicht zu ändern.
Und an der Zeit, endlich die Reißleine zu ziehen.
»Wie wär’s mit ’nem Frühstück?«
Sybille schaute auf die Uhr – kurz vor neun. Sie hatte Urlaub – und Hunger. Warum nicht, dann würde sie es ihm halt unten sagen. »Gern, ich zieh mir nur noch schnell was an!«
»Nicht nötig, ich meinte auch was ganz anderes …«
Er kam aus dem Bad auf sie zu, die Erektion unter seinem Handtuch war unverkennbar, gewaltiger als jede andere, die sie je gesehen hatte. Mit einem Mal war sie wie elektrisiert, wieder dieses Kribbeln in ihr. Bereitwillig ließ sie sich von ihm an die Hand nehmen und unter die dampfende Dusche ziehen.
»Herrgott, jetzt geh endlich rein … Scheißkarre!«
Das knarzende Dröhnen fuhr Simon Engels bis in die blonden Haarspitzen. Ein letzter Versuch noch, ansonsten würde er den Lada halt in die Parkbox schieben. Er ließ ihn im ersten Gang ein Stück nach vorne rollen, trat fest aufs Kupplungspedal und riss den Schalthebel nach hinten. Der Wagen machte einen kleinen Hopser, dann endlich war der Rückwärtsgang drin.
»Chef, du wirst mir das nächste Mal dein Auto leihen müssen!«
Die Antwort kam prompt und laut. Simon musste das Handy vom Ohr weghalten.
»Ja ja, schon gut … also, ich kann sie sehen, die gehen grade ins Dormo … genau, die Absteige hinterm Bahnhof. Ich leg gleich los und dreh dir ’n hübsches Filmchen. Bis dann!« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Simon auf.
Er schaute die Hausfassade entlang. Das Hotel hatte jede Menge Fenster, da konnte die Zeit schnell knapp werden, zumal auch nach hinten raus noch Gästezimmer lagen. Klar, hier gab’s keinen bevorzugten Meerblick oder so, die Aussicht war in jede Richtung gleich beschissen.
Während Simon seinen Rucksack aus dem Kofferraum hob, sah er die beiden gerade noch im Eingang verschwinden. Er ein untersetzter Glatzkopf in den Fünfzigern, Geschäftsführer einer in Hannover ansässigen Zeitarbeitsfirma, sie seine Sekretärin, dürr wie Schnittlauch. Die Frau überragte ihren Begleiter mindestens um einen halben Kopf. Simon musste sofort an Popeye und Olivia denken.
Direkt vorm Hotel entdeckte er eine Ruhebank, sie war frei.
Perfekt.
Eine Minute später saß er mit dem Rücken zum Eingang und packte seinen Quadroschrauber aus dem Rucksack. Die Drohne, mit HD-Kamera und allerlei Hightech ausgestattet, war kaum größer als sein Handteller. Schnell ließ er sie abheben und steuerte sie dann auf die Hotelfront zu.
Sechs Stockwerke, acht Fenster pro Etage, machte – Vorder- und Rückseite zusammengerechnet – knapp hundert, bei zwanzig Sekunden pro Fenster sollte er spätestens in einer halben Stunde seinen Job erledigt haben.
Popeye, halt so lange durch, ja?
Simon schaute auf die Uhr – kurz vor neun.
Hier übernachteten keine Touristen, nur Geschäftsleute. An einem Werktag wie heute würden die meisten schon außer Haus sein auf dem Weg zu ihren Terminen oder zumindest unten am Frühstückstisch sitzen; die Zimmer sollten also in der Regel leer sein. Das machte die Sache leichter.
Wie immer fing Simon links unten an.
Mit seinem Smartphone steuerte er den Flieger, die eingebaute Kamera lieferte ihm gestochen scharfe Bilder. So, mit über den Kopf gezogener Kapuze, zusammengesunken auf der Bank sitzend, einen mit Edding beschriebenen, ausgefransten Rucksack neben sich, sah er aus wie ein Penner. Niemand würde bei seinem Anblick vermuten, dass er gerade eine Hightech-Drohne im Wert von über eintausend Euro die Hauswand entlangdirigierte.
Simon schüttelte unmerklich den Kopf. Er hasste sich dafür, so seinen Unterhalt zu verdienen – Pärchen dabei zu filmen, wie sie’s miteinander trieben. Sollten sie doch beide ihre Partner betrügen, schließlich war es kein Verbrechen, einvernehmlichen Sex zu haben. Und selbst, wenn Popeye seine Stellung als Vorgesetzter ausnutzte, was ging es ihn an?
Obwohl, so was konnte Familien zerstören. Er musste an seine Mutter denken.
Jetzt nicht!
Ist nur ein Job …
Die erste Etage war komplett unbewohnt, ein Zwölftel also schon mal geschafft. Simon ließ die Drohne ein paar Meter steigen und machte im zweiten Stock weiter, jetzt von rechts nach links. Gerade einmal zwei Minuten waren vergangen, in einer halben Stunde sollte er locker durch sein.
Eine leichte Brise brachte den Copter ins Schwanken. Simon schaute nach oben, es begann zu nieseln. Die Böen hielten an und das Steuern wurde schwieriger. Ihm war es egal, solange sich kein Tropfen auf die Linse verirrte. Stecknadelklein, wie sie war, müsste er dann nämlich den Einsatz zum Abwischen unterbrechen.
Aus dem Nieselregen wurde ein regelrechter Niederschlag.
Scheiß Überwachungsjobs …
Früher hatte er nur bei gutem Wetter gearbeitet, hauptsächlich für Ingenieure, ganz offiziell mit Spezialdrohnen tragende Elemente von Brücken und schlecht einsehbare Gebäudeteile abgefilmt. Und dafür auch noch ’ne Mörderkohle eingefahren. Es gab nicht viele Spezialisten wie ihn, und von den wenigen war er mit Abstand der beste.
Doch dann kam der eine Job, den er niemals hätte annehmen dürfen.
Anklage wegen Industriespionage. U-Haft. Bewährungsstrafe.
Kein Ingenieur hatte ihn seitdem mehr angeheuert. Wenn er überhaupt noch Aufträge bekam, dann nur noch halbseidenes Schnüfflerzeugs – wie jetzt gerade.
Holla, hübscher Hintern …
Ein Zimmermädchen, sich geschäftig im Bad nach den Handtüchern bückend. Dann, ein vorsichtiger Blick von ihr durch die offenstehende Tür den Flur hinunter. Strahlendweiße Zähne, olivbraune Haut, pechschwarzes, volles Haar – wo sie wohl herkam? Südamerika?
Offenbar zufrieden mit dem, was sie sah, wirkte sie nun deutlich entspannter. Sie nestelte Kippen aus ihrem Kittel und steckte sich eine an. Anscheinend war heute nicht viel los. Das dritte Zimmer im zweiten Stock und das erste überhaupt, das nicht leer war.
Der Regen wurde immer heftiger – Grund genug, sich zu beeilen, also weiter.
Auch im nächsten Zimmer fand er jemanden. Ein Pärchen im Bett, schlafend. Simon zoomte näher ran. Viel war nicht zu erkennen. Unter der Bettdecke ein schlanker Frauenkörper und vom Mann die Glatze, mehr nicht. Das passte zwar, aber sollten die beiden tatsächlich so schnell fertig geworden sein und jetzt schlafen? Am helllichten Tag – nach gerade einmal fünf Minuten?
Dafür die ganze Aufregung?
Die Frau räkelte sich zur Seite, oder besser das Mädchen. Es war bestenfalls zwanzig Jahre alt und rothaarig. Nein, das war nicht sein Pärchen. Trotzdem, was ging hier eigentlich ab? Der Typ konnte locker ihr Vater sein.
Und wenn sie noch nicht volljährig ist? Vielleicht sollte ich die Bullen rufen.
Aber was sage ich denen dann?
Dass ich auf Bewährung raus bin und illegal durch Fenster spanne?
Vergiss es, nicht dein Problem …
Simon schüttelte den Kopf. Das Dormo wurde seinem Ruf als modernes Stundenhotel einmal mehr gerecht – genau deshalb war er ja auch hier.
Er wischte mit seinen Fingern über das Smartphone, fixierte das Monitorfenster. Ein leeres Zimmer, und noch eins, immer wieder. Ab und an sah er Personal, aber keine Gäste, jedenfalls nicht in der zweiten Etage. Also rauf zur nächsten.
Der Regen trommelte auf die Kapuzenjacke. Gut, dass er sie mithatte. So blieb er wenigstens oben herum trocken, tröstete sich Simon. Seine Jeans fühlte sich inzwischen an wie ein nasses Handtuch. Er schaute kurz von seinem Handy auf. Die Menschen auf der Straße rannten ins Trockene oder spannten ihre Schirme auf. Windig war es inzwischen auch geworden. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, rannte ein älterer Herr hinter seinem Hut her.
Trotzdem, Simon war nicht zum Lachen zumute.
So, wie er trotz des Wolkenbruchs weiter auf der Bank saß und tat, als ob nichts wäre, machte er sich allmählich verdächtig. Allerdings schützte ihn sein Penner-Outfit vor lästigen Fragen. In solchen Klamotten wurde man praktisch zu Luft und gar nicht erst angesprochen. Und etwas Gutes hatte selbst der Regen: Der Platz neben ihm auf der Bank blieb jetzt mit Sicherheit frei. Das verschonte ihn vor neugierigen Blicken.
Wie beiläufig schaute er die Hotelfassade entlang. Mit dem Regen war es nicht nur nass, sondern auch schlagartig dunkel geworden. In etlichen Zimmern brannte nun Licht.
Simon veränderte die Brennweite der Kamera in den Weitwinkelbereich und steuerte die Drohne auf größeren Abstand zur Fensterfront. So bekam er einen besseren Überblick. Es wurde Zeit, die Angelegenheit abzukürzen, der kalte Wind fuhr ihm unangenehm um die klammen Hosenbeine. Natürlich brauchten Popeye und seine Olivia nicht unbedingt Licht für das, was sie vorhatten. Trotzdem, nach seinen Erfahrungen machten es die meisten Leute bei solch einem Unwetter an. Er beschloss, erst einmal nur die beleuchteten Zimmer anzufliegen. Sollte er auf diese Weise nichts erreichen, musste er schlimmstenfalls zu seiner alten Methode zurückkehren, aber so weit war es ja noch nicht.
Im vierten Stock brannten drei Lichter. Zwei Putzfrauen und ein alter Mann in gerippter Unterhose, am Becken stehend beim Waschen seiner Hemden. Bestimmt ein Handelsvertreter. Der Anblick war an Armseligkeit kaum noch zu überbieten. Simon musste an ein Schauspiel denken – »Der Tod eines Handlungsreisenden«. Hatte er schon mal irgendwann gesehen. Bei einer Schulaufführung, oder sogar im Theater? Hey, konzentrier dich auf deinen Job! Darüber kannst du später nachdenken.
Popeye, verdammt, wo steckst du?
Pflichtbewusst steuerte Simon die Drohne zum nächsten Fenster.
In der fünften Etage, gleich im ersten erleuchteten Zimmer, entdeckte er eine Blondine. Sie hatte ein hübsches Gesicht, ihre Figur war atemberaubend – und sie räkelte sich nackt auf dem Bett. Das war eindeutig nicht Olivia.
Er schaute auf die Uhr, für einen kurzen Blick würde die Zeit reichen. Simon steuerte den Flieger dicht ans Fenster, das Objektiv im Telebereich. Sie hatte hübsche kleine Brüste und einen flachen Bauch, alles an ihr schien fest und durchtrainiert, und damit war sie genau sein Typ. Er ließ sich Zeit. Der Regen war schwächer geworden und es gab keinen Grund zur Eile. Die nassen Hosenbeine störten ihn inzwischen auch nicht mehr.
Ihre Lippen bewegten sich, sie war nicht allein.
Simon zog den Zoom auf und sah einen Mann. Trotz des Handtuchs um die Hüften war eine Erektion unverkennbar, riesig wie bei einem Pferd. Er ging auf die Blonde zu und nahm sie an die Hand, gemeinsam gingen sie ins Bad.
»Na, hier wird ja richtig was geboten!«
Zum ersten Mal seit seiner U-Haft hatte er Spaß an seinem Detektivjob.
Eine Körperspannung wie bei einer Ballerina …
Atemlos bewunderte er ihren straffen Körper und die Art, wie sie tänzerisch durch den Raum schwebte. Braune Haut, durchweg, keine hellen Stellen …
FKK oder Sonnenliege?
Egal.
Simons Hände begannen, schwitzig zu werden – was trieb er hier eigentlich? Jedenfalls nichts, worauf man stolz sein konnte.
Du benimmst dich wie ein verdammter Spanner …
Du bist ein verdammter Spanner!
Eine Böe erwischte die Drohne, brachte sie trotz der Stabilisatoren einmal mehr ins Trudeln. Simon steuerte sie näher ans Fenster, in den windgeschützten Bereich dicht an der Fassade. Ein Blick zur Uhr – seit acht Minuten war er nun am Filmen und hatte bereits fast die gesamte vordere Front geschafft. Die Drohne würde dank der leichten Karbonteile eine Dreiviertelstunde fliegen, also kein Grund zur Hektik.
Nur noch ein Minütchen, dann …
Sie zog das Handtuch weg, streichelte seinen Bauch, ging dann gemeinsam mit ihm unter die Dusche. Simon seufzte, gerne hätte er jetzt mit dem Pferdemann getauscht. Trotzdem, ein hübsches Paar, wirklich, auch der Mann. Ein wahrer Riese mit der Figur eines Zehnkämpfers. Der Traumtyp für dieTraumfrau. Kein Grund, neidisch zu werden, sie war einfach zu perfekt für ihn, nicht seine Liga. Bei ihr wäre er garantiert abgeblitzt.
Die Minute ist um …
Widerwillig machte sich Simon daran, den Copter gegen die aufziehenden Winde vom Gebäude wegzusteuern. Er sah noch, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn zu küssen. Er senkte den Kopf, fuhr mit seinen Lippen ihren grazilen Hals entlang. Als sie ihm mit beiden Händen in den Nacken griff und ihr rechtes Bein um seine Hüfte schlang, wusste Simon, dass es an der Zeit war, die beiden allein zu lassen. Er lenkte den Schrauber nach links, im Nachbarzimmer direkt daneben brannte eben noch Licht.
Aber, was zum …?
»Mein Gott!«
Das Handy fiel ihm aus den Händen, direkt vor die Füße aufs regennasse Pflaster, Display nach oben. Unfähig, sich zu bewegen, starrte er auf den Monitor. Das konnte unmöglich gerade geschehen.
Er musste träumen.
»Wie wär’s mit ’nem Frühstück?«
»Gern, ich zieh mir nur noch schnell was an!«
»Nicht nötig, ich meinte auch was ganz anderes …«
Er spürte ihre Blicke auf seinem Körper, eine Mischung aus Bewunderung und Erstaunen. Erstaunen, weil sie nach gestern Nacht wohl meinte, er wäre nicht in der Lage, sie zu befriedigen.
Widerliches Flittchen!
Sie war genau wie die anderen, wollte nur das von ihm, so wie …
Er durfte nicht an Tantchen denken, sonst würde sie sehen, wie der Ekel in ihm aufstiege und alles wäre verdorben. Nein, es musste jetzt sein. Sie hatte ihre Chance gehabt, so wie die anderen, und sie hatte sie wie alle vor ihr vertan. Er gab sich als trauernder Witwer aus, wieso konnte sie das nicht respektieren? Warum riss ihm die verdammte Hure gleich die Klamotten vom Leib, kaum im Zimmer angekommen?
»Darf ich mir mal das Handtuch ausleihen?«
Ohne Gegenwehr ließ er es sich von den Hüften streifen.
»Komm, lass mich machen.«
Wie sie sich die Lippen leckt – und auf meinen Schwanz starrt …
Ihre Geilheit widerte ihn an. Sämtliche Zweifel waren mit einem Mal dahin. Einzig das, was nun unweigerlich folgen würde, war die passende Bestrafung für sie. Er würde es sie spüren lassen, was es hieß, ihn gegen seinen Willen zu benutzen. Der Gedanke daran erregte ihn, er merkte, wie der Druck in seinen Lenden stieg. Dieses erlösende Gefühl, das ihn nur überkam, wenn er die läufigen Hündinnen in ihre Schranken wies, es stand kurz bevor, Vorboten davon ließen ihn bereits erschauern.
Er spürte nicht das heiße Wasser, wie es auf seinen Körper prasselte, hörte nicht, was sie zu ihm sagte und bemerkte nicht ihre Hände, die sich in seinen Nacken legten oder das Bein, wie es sich um seine Hüfte schlang … Er gab sich nun ganz und gar diesem einmaligen Gefühl hin, das sich explosionsartig in ihm entlud.
»Oh, Schatz, wie konnte das passieren?«
Er sah ihren enttäuschten Blick. Was fiel ihr ein, ihm Vorhaltungen zu machen?
Na warte!
In der bläulich durchschimmernden Bahn auf ihrem Hals zeichnete sich die äußere Carotis ab. Er meinte zu erkennen, wie in ihr das Blut zum Kopf hochpumpte.
Ohne zu zögern, biss er zu. Ihren Schrei erstickte er mit der rechten Hand, grob auf den Mund gepresst. Er weidete sich an den panisch aufgerissenen Augen und genoss die Macht über jene Frau, die sich als seine Lehrmeisterin hatte aufspielen wollen.
Blut lief ihm den Hals hinab, als er erneut zubiss. Warm war es, aber nicht so heiß wie das Wasser, dafür klebriger, dicker. Er versuchte davon, nahm den eisenhaltigen Geschmack wahr und spukte es sofort wieder aus. Nie würde er sich an den Geschmack gewöhnen können – aber warum sollte er auch?
Er schaute auf ihre Beine. Sie zitterten, bevor sie einknickten.
Jetzt schon?
Enttäuscht, dass bereits alles vorbei sein sollte, nahm er seine Hand von ihrem Mund – sie würde ihn nie wieder bedrängen.
In dem Moment hörte er ein lautes Schaben. Es schien von draußen zu kommen.
Fensterputzer? Nein, nicht bei dem Wetter, aber was …?
Einen Augenblick noch sah er die Drohne. Ihre Flügel kratzten am Glas. Dann geriet sie ins Trudeln und sackte schließlich nach unten ab.
Hatte ihn etwa jemand dabei beobachtet?
Angewidert stieß er die Blonde von sich, spülte das Blut von seinem Körper und sprang aus der Dusche. Augenblicke darauf stand er nackt am Fenster.
Die Straße war wie leer gefegt. Nur ein Kerl mit Kapuzenjacke, direkt unter ihm. Er lief auf einen zappelnden Haufen Schrott zu.
Die Drohne!
Er schnappte sie sich und rannte damit zu einem alten Lada. Dabei schaute er immer wieder hoch zum Fenster. Maßloses Entsetzen in seinem Blick, trotz der Entfernung unübersehbar.
Das Nummernschild!
Noch stand er davor, schmiss allen möglichen Krempel in den Kofferraum, doch dann …
H – für Hannover, klar.
CN – 9
Nichts zu schreiben …
Merk’s dir, verdammt!
Die Leiche – erstmal muss sie weg, sonst ist alles aus.
Schnell, bevor die Polizei kommt!
Klitschnass zog er sich Hemd und Hose an, schlüpfte in die Schuhe. Keine Minute später war er draußen im Hotelkorridor.
CN … merk’s dir … Cäsar Nordpol … Quatsch, funktioniert nicht.
Du darfst es nicht vergessen wie sonst immer, wenn du’s wieder getan hast … Scheiß Gedächtnis …
Lass dir was einfallen!
Der Fahrstuhl fuhr runter ins Erdgeschoss. Keine Zeit zu warten, er nahm die Treppen.
CE – EN … Ceen? … nein, zehn!
Nach zehn kommt neun …
Da war doch was …?
Zehn … zehn kleine Negerlein – und dann waren’s nur noch neun!
Ganz in der Nähe hatte er gestern den Audi abgestellt, hinten drin war sein Spezialtrolley. Er riss die Heckklappe auf und zog ihn raus, rannte wieder ins Hotel. Im Foyer traf er auf andere Gäste, vermutlich kamen sie vom Frühstück. Ein Pärchen betrat den leeren Fahrstuhl, also wieder die Treppen.
Bleib ruhig … Bloß nicht auffallen … Kein Blickkontakt …
Keuchend kam er oben in seinem Zimmer an. Ein Blick auf die Uhr, es waren keine vier Minuten vergangen. Wenn Kapuze gleich die Bullen gerufen hat, müssten die jeden Moment reinstürmen. Trotzdem, die Leiche konnte unmöglich hierbleiben, an ihr haftete seine DNA wie eine Visitenkarte. Er musste sie rausschaffen – und das so schnell wie möglich.
Zitternd vor Aufregung trug er den Trolley ins Bad. Komplett mit Folie ausgelegt, war er leer bis auf einen stabilen Müllbeutel – und groß genug für seine Zwecke. Noch in der Duschwanne stülpte er den Beutel über die Blonde und hob sie in den Koffer. Sie passte komplett rein, diesmal musste er keine Knochen brechen. Seine Unterhose und Strümpfe warf er auch mit rein, so wie ihre Kleidung. Danach spülte er mit dem kräftigen Strahl der Handbrause das Blut von der Duschwanne. Ein letzter prüfender Blick durch Schlafraum und Bad, dann klappte er den Trolley zu, kontrollierte, ob das Schloss fest zugeschnappt war, warf sich seinen Blazer über und verließ das Zimmer.
Ob sie wohl im Flur auf ihn warteten? Inzwischen müssten sie eigentlich schon da sein. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Nichts, alles leer.
Gott sei Dank – Glück gehabt!
Auf dem Weg zum Fahrstuhl wollte ihm das Kinderlied mit den »Zehn kleinen Negerlein« nicht mehr aus dem Kopf. Er summte es vor sich her. Sein Gedächtnis ließ ihn in letzter Zeit immer häufiger im Stich, besonders an Tagen wie diesen. Bald würde er nicht mehr wissen, was Traum war und was Realität. Umso wichtiger also, ständig daran erinnert zu werden, dass noch etwas Entscheidendes erledigt werden musste.
Passierte das eben gerade wirklich? Simon starrte aufs Display direkt vor seinen Füßen, sah, wie der Blonden Blut vom Nacken herunterlief, erst in dünnen Rinnsalen, dann immer breiter.
Regen tropfte auf sein Handy.
Ob’s wohl wasserdicht ist?
Alles voller Blut …
Wirre Gedanken.
Die Software hielt die Drohne automatisch in Position, ihr elektronisches Auge zeichnete das Grauen auf und schickte die Bilder zum Monitor. Der Riese, immer wieder schlug er seine Zähne in den Hals der Blonden, zog und zerrte an ihr wie ein Raubtier. Sein Mund, blutverschmiert. Stummes, irres Lachen und aufgerissene Augen, die ganze Miene ein verstörender Widerspruch.
Simons Puls trommelte. Wie durch dichten Nebel sah er, dass die Drohne immer näher an die Scheibe gedrückt wurde – und konnte doch nichts dagegen tun, war wie gelähmt.
Drei Feet bis zum Fenster.
Verdammter Wind!
Ein Feet … dann nur noch Inches – ihm wurde schwarz vor Augen.
Mann, reiß dich zusammen … Da stirbt grade eine Frau … Ruf die Bullen … Direkt vor deinen Füßen liegt ein Handy – mach schon!
Selbst unten auf der Bank konnte er den Einschlag hören. Auf dem Monitor bildfüllend der Riese. Er hatte von der Blonden abgelassen und starrte direkt in die Kamera. Zuerst erstaunt, dann wutentbrannt. Augenblicke darauf Chaos – Himmel wechselte mit Straße, wechselte mit Fensterfassade, wechselte mit Himmel. Einen Moment meinte Simon, sich selbst zu sehen, kauernd auf der Bank. Kurz darauf dann der Aufprall, hart, auf Pflasterstein – endgültig.
Schlagartig fiel die Taubheit von ihm ab. Wie gestochen sprang er auf und lief zu seiner Drohne, wollte nur noch weg. Oben am Fenster sah er einen Schatten. Der Riese, jetzt wirkte er noch gewaltiger – grinste er etwa?
Dreißig Schritte bis zum Lada. Simon warf die Drohne in den Kofferraum, sie zuckte immer noch. Tür auf, Schlüssel ins Zündschloss und umgedreht. Trotz des nassen Untergrunds quietschten die Reifen, als er losraste und sich rücksichtslos in den fließenden Verkehr einreihte; das Hupen der anderen bekam er gar nicht mit.
»Wo ist das verdammte …?«
Mit zittrigen Fingern suchte er sämtliche Taschen nach dem Handy ab – vergeblich. Er musste es zusammen mit der Drohne in den Kofferraum geworfen haben. Inzwischen war er auf der Berliner Allee, links, rechts, vor und hinter ihm, überall Autos. Hier konnte er unmöglich anhalten.
Aber er musste doch die Bullen anrufen!
Die Detektei lag zwei Querstraßen weiter – auf eine Minute kam es jetzt auch nicht mehr an. Die Frau war tot, ganz sicher. Vermutlich war sie es schon, als die Drohne abstürzte.
Die grauenhaften Bilder ließen ihn nicht los. Sie erinnerten Simon an einen Horrorfilm. War der Riese wirklich ein Mensch oder nur ein fleischgewordener Albtraum?
Ein freier Parkplatz, direkt vor der Detektei. Gott sei Dank!
Der Motor schüttelte sich noch, als Simon bereits die Kofferraumklappe aufgerissen hatte. Was für ein Durcheinander. Keine Zeit mehr, das Handy zu suchen, er schnappte sich nur die Drohne und rannte nach oben ins Büro. Würde er halt von dort aus telefonieren. Keller, sein Chef, kannte einige Leute bei der Kripo. Er wusste bestimmt, wen man in solch einem Fall anrief.
Die Detektei befand sich direkt unterm Dach. Völlig außer Atem kam Simon oben an und riss die Tür auf. Er stand gleich mitten im Büro, hier gab es kein Vorzimmer.
Erschrocken fuhr Keller zusammen. Seine Rechte tauchte in die oberste Schreibtischschublade. Als er Simon erkannte, zog er sie wieder heraus, der Schreck war ihm allerdings immer noch deutlich anzusehen. »Geht’s noch, hier so reinzuplatzen?«
»Wir müssen die Bullen rufen, sofort!« Atemlos. Keine Bitte – ein Befehl.
»Jetzt beruhige dich erstmal – und dann sag mir, was passiert ist!«
Simon starrte seinen Chef an. Die Behäbigkeit, mit der dieser gedrungene Zweizentner-Mann aufstand und um den Schreibtisch herumschlich, war eine Zumutung. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schnappte sich Simon das Telefon und begann zu wählen.
Im Nu war es um Kellers Ruhe geschehen, blitzschnell fuhr er dazwischen. »Ob von hier aus die Polizei angerufen wird, habe immer noch ich zu entscheiden! Also, ein letztes Mal: Was ist passiert?«
Überrascht von der Festigkeit seines Griffs ließ Simon das Telefon los. Musste er dem Alten jetzt etwa alles erzählen? Wie viel Zeit sollte eigentlich noch vergehen?
»Ich war eben beim Dormo, zum Überwachungsjob …«
»Erzähl mir was Neues!«
»Okay, ich habe also die Drohne gestartet und bin dann die Fenster abgeflogen …«
»Und, hast du Material von unserem Pärchen?«
Simon schaute den Alten ungläubig an – dachte der nur an seinen lausigen Auftrag?
»Nein, Chef, ich …«
»Ach ja? Und wofür bezahle ich dich?«
»Aber Chef!«
»Nenn mich gefälligst nicht Chef!«
»Herrgott, da hat jemand im Hotel eine Frau umgebracht, und ich hab’s gefilmt!« Jetzt war’s raus, endlich – warum nicht gleich so. »Der Kerl hat sie … totgebissen, wie ’n Kampfhund, einfach so, in die Kehle.«
Keller wurde blass. »Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich sicher!« Was für eine dämliche Frage. »Die ganze Dusche … alles war voller Blut. Hier, ich hab’s aufgenommen!« Simon hielt ihm die Drohne entgegen. Dann der Schock, als er sie sich genauer ansah, das erste Mal seit dem Crash. Einen Moment lang meinte er, den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Die … die Kamera, sie ist weg … die muss beim Sturz abgerissen sein.«
»Und woher weißt du – ohne Kamera – was du gefilmt hast?«
»Ich steuere die Drohne mit dem Handy. Da ist ein Monitor drauf. Ich kann live mitansehen, was ich filme.«
»Dann ist die Aufnahme auf dem Handy?«
»Nein«, Simon schüttelte verärgert den Kopf, ungeduldig, dass er immer noch nicht zum Telefonieren kam. »Der Monitor dient nur der Kontrolle, aufgezeichnet wird auf einer Micro-SD-Karte …«
»Und wo ist die?«
«In der beschissenen Kamera, verdammt!« Laut, fast geschrien. »Krieg ich jetzt endlich das Telefon?« Und, deutlich ruhiger: »Bitte!«
»Nein!«
»Was?«
»Simon«, langsam, wie zu einem Kind. »Du weißt schon, dass das, was du hier für mich machst, nicht ganz legal ist, oder?«
Jetzt komm mir nicht auch noch so, alter Mann …
»Ich denke dabei nicht nur an die Detektei, sondern auch an dich, immerhin bist du nur auf Bewährung raus. Du könntest eine Menge Ärger bekommen.«
»Einem Augenzeugen in ’nem Mordfall werden die schon keinen Stress machen …«
»Ach ja? Wie kannst du dir da so sicher sein? Und überhaupt – wenn ich das richtig verstanden habe, hast du den Mörder nur auf diesem kleinen Display gesehen. Könntest du ihn denn auch eindeutig beschreiben?«
»Groß war er, athletisch, braun gebrannt …«
»Also das Gegenteil von mir, so wie zehntausend andere Männer in der Stadt.«
Simon schüttelte den Kopf. »Aber wenn er noch da ist? Wir können ihn doch nicht einfach so davonkommen lassen!«
»Dann hättest du gleich anrufen sollen, direkt, nachdem du’s gesehen hast. Wenn der Kerl nur halbwegs bei Trost ist, dann ist er schon lange weg.«
»Aber …«
»Nichts aber – von mir aus ruf anonym an, von einer Zelle aus, kannst ja das Hotelzimmer nennen. Sollen die halt selbst nachsehen. Hauptsache, du lässt uns beide aus dem Spiel.«
Letztlich ging es ihm doch nur um die Detektei. Simon schüttelte frustriert den Kopf. Anonyme Anrufe bekamen die bestimmt Hunderte am Tag. Niemand dort würde ihm glauben.
»Ich werde jedenfalls abstreiten«, fuhr Keller fort, »dich jemals zum Hotel geschickt zu haben, kapiert?«
Klar, das war überdeutlich. Wegen seiner Methoden lag er schon häufig mit der Polizei über Kreuz. Aber das war noch lange kein Grund, so den Schwanz einzuziehen.
»Okay, ich fahre jetzt zum nächsten Revier und erzähl’s ihnen. Kein Wort von der Detektei, versprochen – ich lass mir was einfallen.«
Traurig senkte Keller den Kopf. Er griff in seine Hosentasche, nahm ein loses, nur von einer Klammer zusammengehaltenes Bündel Geldscheine heraus, zählte vier Fünfziger ab und streckte sie Simon entgegen.
»Was soll das?«
»Dein ausstehender Lohn, Junge!«
Simon war ratlos. »Aber wir haben doch noch ein paar Aufträge?«
»Jetzt nicht mehr.« Der Alte schüttelte bedauernd seinen Kopf: »Nimm’s mir nicht übel, Simon, aber ich möchte dich hier nicht mehr sehen.«
»Aber wieso?«
»Weißt du, ich bin schon lange im Geschäft und habe eine Menge Leute kennengelernt. Viele von ihnen hatten Probleme, aber einige schienen den Ärger förmlich anzuziehen …« Er seufzte, seine schweren Hände legten sich freundschaftlich auf Simons Schultern. »Glaub mir, Kleiner, ich müsste mich schon sehr irren, wenn du nicht auch einer von denen bist!«
»Zehn kleine Negerlein …«
Er hatte den Wagen zweihundert Meter vom Hotel entfernt abgestellt und beobachtete aus sicherer Entfernung, was sich davor abspielte. Seit einer halben Stunde stand er nun schon hier und noch immer war keine Polizei aufgekreuzt.
Sollte Kapuze tatsächlich nichts unternommen haben?
Vielleicht war’s ja ein Spanner, gegen den schon Anzeigen liefen? Dann würde auch er eine Menge Ärger bekommen.
Das Handy klingelte.
»Dr. Krups!«
»Hallo Raimund, ich bin’s, Petra. Ich hab’s schon in deiner Praxis versucht, doch da lief ein Band …«
»Ich habe Urlaub bis zum Ende der Woche«, genervt. Dann, freundlicher, immerhin war sie eine seiner besten Patientinnen. »Was kann ich denn für dich tun?«
»Wir geben am Freitag eine Party, und da hätte ich gern noch eine kleine Spritze, du weißt schon …«
Botox – mal wieder. Sie meinte wohl, das Zeug wäre eine harmlose Antifaltencreme. Krups schüttelte den Kopf. Wenn es um die Schönheit ging, setzte bei vielen seiner Patienten der Verstand aus. Er fühlte sich schon seit Langem nicht mehr als Arzt, hatte eher Kunden als Patienten. Petra war ein Paradebeispiel dafür. Krank war sie nicht, zumindest nicht körperlich.
»Komm Freitagfrüh in meine Praxis – ich bin eh da, um einige Patientenakten …«
»Geht’s nicht auch früher? Schatz, du kannst dir gar nicht vorstellen, was noch alles erledigt werden muss, das Personal …«
»Petra, tut mir leid, aber es passt gerade sehr schlecht – wie gesagt, komm gerne am Freitagmorgen, ansonsten kannst du ja noch zu meiner Vertretung, Dr. Demuth in der Osterstraße.«
»Ach Schatz, bitte!«
Schatz – schon das zweite Mal. Dafür hatte er nicht Medizin studiert. »Ich muss jetzt Schluss machen. Überleg’s dir und melde dich, wenn’s doch passt!«
Krups legte auf, bevor sie protestieren konnte. Die war er los, vermutlich für immer. Ihm war es gleich, die Praxis lief bestens, auf eine Verrückte mehr oder weniger kam es nicht an.
Sein Atem beschlug die nasse Scheibe, während er ins Smartphone tippte, was ihm noch im Gedächtnis geblieben war. Schnell, bevor er es wieder vergaß.
Zuerst das Kennzeichen: H – CN 9.
Das Fabrikat: ein roter Lada, alt.
Dann Kapuze: männlich, jung, vielleicht gerade mal zwanzig, normal groß, normal dünn, schäbige Klamotten, Kapuzenjacke, alles dunkel gehalten. Ein mit schwarzer Schrift beschmierter Rucksack, olivgrün, vermutlich aus Armeebeständen. Er fuhr in Richtung Hochstraße.
Uhrzeit: gegen neun Uhr morgens.
Das war’s, mehr fiel ihm nicht ein.
Vorm Hotel tat sich immer noch nichts Ungewöhnliches. Eine Dreiviertelstunde stand er nun schon hier und nach wie vor keine Polizei. Kapuze musste es für sich behalten haben.
Fürs Erste war Krups beruhigt, doch schnell kamen wieder Bedenken.
Wenn der Kerl gar kein Spanner war, sondern die Aufnahmen machte, um Gäste zu erpressen? Das Dormo war stadtbekannt als Stundenhotel: anonymes Einchecken ohne Rezeptionspersonal, auf Wunsch Bargeldzahlung, keine Kameras im Foyer, oder was die schmucklose Vorhalle auch immer sein mochte. Wenn man es geschickt anstellte und nicht nur schmutzige Filmchen aufnahm, sondern auch die Namen der Beteiligten herausbekam, konnte das Geschäft mit der Untreue anderer eine Goldgrube sein.
Statt eines Schäferstündchens hatte Kapuze jetzt einen Mord gefilmt – entsprechend konfus war seine Reaktion. Trotzdem, würde das den miesen Drecksack von weiteren Aktionen abhalten, vor allem, wenn er erst herausbekäme, wen er da gefilmt hatte? Den hochgeschätzten, steinreichen – und leider auch ziemlich prominenten – Schönheitschirurgen Dr. Raimund Krups? Bestimmt nicht. Und selbst wenn Kapuze mit seinem Gesicht nichts anfangen konnte – heutzutage, mit moderner Erkennungssoftware und den Tausenden von Bildern, die von ihm im Internet kursierten, wäre das nur eine Sache von Stunden.
Grund genug, dieses Problem aus der Welt zu schaffen.
Krups startete den Sechszylinder. Er wusste genau, was zu tun war.
»Wie oft soll ich’s eigentlich noch sagen? Die Kamera ist beim Sturz abgerissen.«