Des Kaisers neue Braut - Peter Hereld - E-Book

Des Kaisers neue Braut E-Book

Peter Hereld

4,9

Beschreibung

Im Jahre 1235 kommen die ungleichen Freunde Robert und der Araber Osman endlich in Cölln, dem Ziel ihrer Reise, an. Hier trifft Robert seine frühere Liebe wieder und muss einer bedeutsamen Überraschung ins Auge blicken. Derweil spinnt der ehrgeizige Domherr Konrad Intrigen. Ihm schwebt das Bischofsamt vor. Dabei schreckt er vor nichts zurück und bringt auch die beiden Freunde in Gefahr. Am Tag des triumphalen Einzugs Isabellas von England in Cölln schließlich überschlagen sich die Ereignisse.

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Peter Hereld

Des Kaisers neue Braut

Historischer Roman

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von Sandro Botticelli, »Idealized Portrait of a Lady«, 1480 (© http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sandro_Botticelli_-_Idealized_Portrait_of_a_Lady_(Portrait_of_Simonetta_Vespucci_as_Nymph)_-_Google_Art_Project.jpg) und der Meister des Dresdner Gebetbuchs, »Die Jungfrau und das Kind auf dem Thron«, ca. 1480/85 (© http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Master_of_the_Dresden_Prayer_Book_or_workshop_(Flemish,_active_about_1480_-_1515)_-_The_Virgin_and_Child_Enthroned_-_Google_Art_Project.jpg)

ISBN 978-3-8392-4572-9

Anno Domini 1235

Lang, lang ist’s her …

Die Welt, damals noch flach wie eine Scheibe …

… zersplittert in unzählige Herzog- und Fürstentümer, die Bevölkerung drangsaliert und ausgebeutet von dessen Herrschern, fand im Osten durch die wilden Horden des Mongolenfürsten Ugedai Khan ihre Grenzen und reichte im Westen bis zur Iberischen Halbinsel, auf der die christlichen Heere der Kastilier gerade die letzten Bastionen der Mauren zurückeroberten.

Reichtum und Willkür …

… weltlicher Potentaten wurde nur noch übertroffen von Einfluss und Geltung klerikaler Amtsträger. Die Schatzkammern etlicher Bistümer waren praller gefüllt als die der Herzöge, und nicht selten maßten sich eben jene, die Gottes Werkzeug sein sollten, seine Pracht und Herrlichkeit an. Andere wiederum, blind in ihrem Eifer Gott zu gefallen, machten aus Regenten gehorsame Söldner und zahlten ein fürstliches Salär, damit diese Armeen aufstellten, um die arabischen Heiden Gottes Barmherzigkeit zu lehren und die Heilige Stadt Jerusalem zurückzuerobern, alles im Namen und unter dem Banner des Kreuzes.

In jener Zeit, in der so manch ein Kirchenmann mehr zu sagen hatte als ein Burgherr, die Wissenschaft einzig und allein der Entwicklung neuer Kriegsapparaturen verpflichtet war, kleinste Wunden bereits den Tod bedeuten konnten und in der ein voller Magen mehr Wert hatte als das Leben des Nächsten, in jener Zeit also, durchstreiften zwei Männer Europa, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Osman Abdel Ibn Kakar, der eine, ein Araber aus Alexandria, einst Kammerdiener und rechte Hand eines byzantinischen Kaufmanns, nun auf der Flucht und fern seiner geliebten Heimat, gestraft mit der Gewissheit, sein Vaterland nie wieder betreten zu dürfen, bestens vertraut mit dem Gedankengut arabischer, griechischer und fernöstlicher Gelehrter und Philosophen, blitzgescheit, redegewandt und zuweilen, mehr als seiner Gesundheit zuträglich, überheblich und stolz.

Robert, der andere, in deutschen Landen geboren und doch nicht hier zu Haus. Als junger Novize verfiel er den verführerischen Worten des Nikolaus von Cölln und pilgerte gemeinsam mit zwanzigtausend Kindern über die Alpen nach Genua. Hier sollte sich das Meer vor ihnen teilen, auf dass sie trockenen Fußes Jerusalem erreichen würden, verhieß ihnen Nikolaus. Natürlich geschah nichts dergleichen und so gelangten die wenigen Überlebenden in die Gefangenschaft von Piraten und Halsabschneidern, die sie an der afrikanischen Küste als Sklaven verkauften. Roberts Martyrium endete in Alexandria. Dort wurde er mehr tot als lebendig von Osman aufgenommen und diente dessen Herrn über zwanzig Jahre. Vom Gemüt und bisweilen auch im Umgang mit seinen Zeitgenossen ist Robert eher von handfesterer Natur, ein Mann mit einer fast beängstigenden physischen Präsenz und doch im Kern, trotz seiner ruppigen Art, ein gutherziger Mensch.

Auf ihrem Weg nach Cölln machten sie unlängst in Hildesheim Rast. Völlig schuldlos gerieten sie in ein mörderisches Komplott, das ihnen beinahe das Leben gekostet hätte. Erst im letzten Moment konnte Schlimmeres verhindert und der wahrhaft Schuldige entlarvt werden.

Doch ihre Odyssee war noch lange nicht zu Ende.

Anstatt auf direktem Wege nach Cölln weiterzureisen, ließ sich Robert auf höchst unanständige Weise in einem Gasthaus unweit Hildesheims von einer Rothaarigen ausrauben. Die Spur der Füchsin führte nach Goslar, und so folgten ihr Robert und Osman in die Pfalzstadt. Hier erlebten sie haarsträubende Abenteuer in einem Bergwerk und konnten einen Unschuldigen, schon am Galgen zappelnd, eben noch das Leben retten.

Mitte Oktober, kurz vor Ausbruch des Winters also, setzten die beiden ihre Reise nach Cölln fort …

April 1235

Cölln

»Ich bin beeindruckt!«

Robert nickte nur. Lass ihn mal reden, dachte er sich. Lob aus dem Munde Osmans? Das konnte nicht ernst gemeint sein, ganz sicher würde die nächste Gemeinheit auf dem Fuße folgen.

»Wirklich, ich bin tief beeindruckt!«

Das klang allerdings tatsächlich aufrichtig. Robert konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen. Aber was sollte Osman auch auszusetzen haben? Immerhin standen sie vor der gewaltigsten Stadtbefestigung des Abendlandes, so sagte man jedenfalls landauf, landab. Selbst die Mauern von Paris konnten mit denen Cöllns nicht mithalten.

»Das hätte ich deinen Leuten nun wirklich nicht zugetraut. Freilich nicht zu vergleichen mit den Befestigungen unserer Städte, aber immerhin. Wenn ich nur an die Wehr von …«

Roberts Lächeln gefror auf seinen Lippen. Dieser klein gewachsene, selbstgefällige Araber konnte einfach nicht aus seiner Haut, aber hatte er allen Ernstes etwas anderes erwartet?

Konnten Schweine fliegen?

Schon seit einer geraumen Weile ritten sie nun auf die Porta Hanonis zu, im Volksmund Hahnentorburg genannt. Links und rechts des Durchgangs verlor sich die gewaltige Stadtmauer inzwischen ins Unendliche. Und während sich Osman weiterhin pausenlos über die architektonischen Wundertaten seiner Landsleute ausließ, verschwamm der Anblick des Tores vor Roberts Augen und machte der Erinnerung Platz. Über zwanzig Jahre führten ihn seine Gedanken zurück. Damals war er, der naive Novize, völlig entrückt von der ungeheuren Opulenz, als er das erste Mal Cöllner Boden betrat. Kein Wunder, wuchs er doch im Kloster Knechtsteden nahe der Siedlung Dalhoven auf und hatte bis zu jenem denkwürdigen Tage im April des Jahres 1212 noch nie eine richtige Stadt gesehen, bestenfalls war er ab und an ins nahe gelegene Dormagen zum Einholen geschickt worden.

Er entsann sich, dass sich hinter den Toren eine gänzlich andere Welt vor ihm auftat, und wie er staunte über den Anblick dieser unglaublichen Menschenmassen. Hier in dieser einzigartigen Stadt waren mehr Leute versammelt, als er bislang auf der ganzen Welt vermutete hatte.

»… du müsstest nur einmal unsere prächtigen Badehäuser sehen …«

Ja, rede nur, dachte sich Robert und genoss die Gänsehaut, die ihm angesichts der unauslöschlichen Erinnerungen an sein erstes großes Abenteuer den Rücken hinablief. Damals war er voller Hoffnung und Zuversicht in Anbetracht der Aufgabe gewesen, der er sich zu stellen gewagt hatte. Und voller Gottvertrauen, der Herr möge mit ihm und den vielen anderen Kinderseelen sein bei ihrem beschwerlichen Zug über die Alpen zur heiligsten aller Städte.

Doch Er hatte sie verlassen …

»Wie sagtest du noch, nennt man dieses Tor?«

Robert hörte die Worte, und dennoch drang ihr Sinn nicht zu ihm durch, zu sehr nahmen ihn die Erinnerungen in Beschlag.

»Robert, ich fragte gerade, wie ihr dieses Tor nennt!«, hakte Osman sofort nach, ungeduldig, wie es seine Art war.

»Hahnentorburg, wir nennen sie Hahnentorburg!«

Vor fast dreiundzwanzig Jahren hatte er Cölln gemeinsam mit zwanzigtausend Kindern durch dieses Tor verlassen, voller Übermut Seinem Ruf folgend. Doch war es tatsächlich Er, der sie aufrief, Jerusalem von den Heiden zu befreien? Oder war es nicht vielmehr Nikolaus, der sie zu dieser Wahnsinnstat verführte, er und seine falsche Sippschaft um ihn herum?

Es ging das Gerücht um, Nikolaus wäre wohlbehalten nach Cölln zurückgekehrt. Sollte das stimmen, würde ihn Robert finden und zur Rechenschaft ziehen, das war er sich und den vielen tausend Opfern dieses so jämmerlich gescheiterten Kreuzzuges schuldig.

Schweigend ritten sie durch das Tor, selbst Osman hatte bemerkt, dass Robert derzeit ganz anderen Gedanken nachhing. Und so blieb ihm Zeit, Eindrücke von dieser kolossalen Stadt in sich aufzusaugen. Seit sie Alexandria verlassen hatten, war ihm nichts Ähnliches unter die Augen gekommen. Und selbst in seiner Heimat gab es keine Befestigung, die mit jener hier mithalten konnte. Doch das würde er Robert natürlich niemals zugestehen. Osman musterte eingehend das Tor, während sie es passierten. Zwei mit Zinnen bewehrte Wachtürme ließen sie wie eine Festung erscheinen, gewaltig und trutzig, links und rechts davon schloss sich die Stadtmauer an, mindestens dreißig Fuß hoch. Wer hinter dieser Befestigung sein Heim wusste, konnte sich sicher fühlen, und wer nicht, sich daran die Zähne ausbeißen. Heute kamen sie ungehindert in die Stadt, und mit ihnen viele hundert andere.

Scheint Markttag zu sein, vermutete Osman. Dass in Cölln ständig Märkte abgehalten wurden, sollte er erst später erfahren. Ein Blick zu seinem Freund zeigte ihm, dass dieser immer noch in seine Gedanken versunken war. Was mochte ihn wohl beschäftigen? Waren es die Erinnerungen an die letzten Tage seiner Kindheit, die unwiederbringlich mit dem Auszug aus Cölln geendet hatten?

Oder dachte er an Augusta, seine erste, seine ganz große Liebe? Auch sie war losgezogen, das Heilige Land zurückzuerobern. Unterwegs hatten sie sich kennengelernt – und lieben. Obwohl beide fast noch Kinder waren, ließ sie die gemeinsam erlebte Not und Gefahr dieses großartige Gefühl füreinander entdecken. Gerade einmal fünf Tage und Nächte waren ihnen beschieden, dann stand die Überquerung der Alpen bevor und Robert überzeugte Augusta, mit einer Schar Kinder, jünger als sie selbst, den Weg zurück nach Cölln einzuschlagen. Er selbst zog mit Nikolaus und den anderen weiter gen Süden, denn er fühlte sich berufen, Schlimmeres zu verhindern.

Wie konnte er nur hoffen, etwas bewirken zu können? Ein lebensfremder Novize gegen Gottes Willen. Zumindest, wenn man den Worten des Nikolaus von Cölln hatte Glauben schenken wollen.

Und wie sollte es nun weitergehen? Hatte Augusta tatsächlich den Weg zurück nach Cölln gefunden? Und sollte sie noch leben, würde Robert sie überhaupt finden in dieser vor Menschen wimmelnden Stadt?

Und wieder für sich gewinnen?

Wenn ja, was wäre dann mit ihm? Eine Frau konnte einem den Freund schneller nehmen als die Blattern, so viel war sicher – doch was würde dann mit ihm geschehen, Osman, dem Exoten? Selbst hier, in dieser betriebsamen Kapitale des Abendlandes, warfen ihm die Bürger feindselige Blicke zu. Kein Wunder, hatten doch die schon ewig währenden Kreuzzüge viele Opfer gefordert. Geliebte Mitmenschen, aber auch immer neue, auferlegte Abgaben an die Kirche, schließlich mussten die Kriege bezahlt werden. Ohne Robert, darüber war sich Osman im Klaren, hätte er es nie bis nach Cölln geschafft.

»Du wirkst so nachdenklich, mein Freund?«, rief Roberts Frage den Araber wieder zurück ins Leben.

»Na, das sagt der Richtige. Ich dachte schon, dein bisschen Geist habe dich nun endgültig verlassen. Du hast so einfältig verträumt dreingeschaut wie eine Kuh beim Grasen!« Kaum gesagt, taten Osman seine frechen Worte leid – eigentlich wollte er sich mit Robert nun besonders gut stellen in Anbetracht der trüben Aussichten. Immerhin war er nicht nur sein bester, sondern auch sein einziger Freund. Und er konnte wahrlich einen Freund gebrauchen in einer Welt, in der er unverkennbar ein Fremder war.

Robert indes schien diese Garstigkeit nicht weiter aufzuregen, ganz sicher hätte es ihn sogar verwundert, würde Osman plötzlich mit Engelszungen daherreden. »Die Erinnerung hat mich einen Moment überwältigt.« Erstaunt über sich selbst schüttelte Robert den Kopf. »Aber schau nur, hast du jemals so viele Menschen auf einem Haufen gesehen?«

»Du weißt schon, dass du mit einem Alexandriner sprichst?«

Natürlich hatte Osman wieder mal recht – Cölln war zwar riesig, doch immer noch bedeutend kleiner als das gewaltige Alexandria.

»Schau nur, wieder eine Mauer hinter der Stadtmauer so wie in Hildesheim!« Robert deutete nach vorn zu einer Kirche, die St. Aposteln, wie er sich erinnerte, und davor Reste einer Befestigung. In Hildesheim gab es ebenso eine Kirche, der eine eigene Mauerwehr beschieden war, dort handelte es sich allerdings immerhin auch um einen Dom.

Der Westturm der St.-Aposteln-Kirche ragte mächtig vor ihnen auf und verdeckte die Sonne. Selten hatte Robert ein höheres Bauwerk gesehen, nur Pharos, der Leuchtturm von Alexandria, wollte ihm einfallen. Da es früh am Morgen war, die Glocken hatten bislang nicht zur Terz geschlagen, und zudem die Sonne an diesem Frühlingstag nur wenig Wärme verbreiten wollte, fröstelte es Robert im Schatten des Turmes. Vielleicht war es aber auch die Ungewissheit, die ihn erschauern ließ. Was mochte hier auf ihn warten?

Augusta bestimmt nicht, nach so vielen Jahren, oder?

Zudem war ihnen das Geld beinahe wieder ausgegangen. Damals im Oktober letzten Jahres, als sie Goslar verließen, da platzte ihre Börse fast aus den Nähten. Als dann völlig unvermittelt und überraschend früh der Winter einsetzte – sie hatten es auf ihren Weg nach Cölln grade noch bis nach Hameln gebracht –, da quartierten sie sich in einem Gasthof ein. Nur vorübergehend, bis die erste klirrende Kälte vorüber wäre, dachten sie, immerhin war es gerade mal Oktober, der eisige Wind konnte nur ein launiger Vorbote des Winters sein. Doch die Eiseskälte wollte kein Ende nehmen, und so wurden aus wenigen Tagen viele Monate, in denen die beiden mit vollen Händen die Silberlinge unters Volk brachten, schließlich ließ die pralle Geldkatze keine Wünsche offen.

Inzwischen verlor sich der traurige Rest in einem schlaffen Beutel an Roberts Gürtel, Cölln kam also gerade recht, dachte er. Nun mussten sie allerdings zusammenhalten, was zusammenzuhalten war, zumindest bis sie beide wieder in Lohn und Brot wären.

»Schau, Robert, da vorne, das Gasthaus – lass uns unsere Ankunft gebührend feiern!«

Andererseits, was war schon gegen ein kleines Gelage einzuwenden, jetzt war’s eh egal. Mit dem Haushalten könnte man auch morgen beginnen.

*

Obwohl es früh am Tage war, machten die Gäste dem Namen des ›Trunkenen Wildschweins‹ alle Ehre, sei es, dass sie mit glasigen Augen schmutzige Lieder lallten oder sich ihr Essen hineinstopften, als gäb’s kein Morgen mehr. Dass sie dabei grunzten und schnauften wie Schweine, schien niemanden zu stören bis auf einen gezierten Araber, der sich nach wie vor nicht so recht an die rauen Tischsitten der Abendländer gewöhnt hatte.

»Und was jetzt?«, fragte Osman und ließ einen satten Rülpser folgen, immerhin wollte er hier nicht durch fremdes Getue auffallen. Die Wirtin jedenfalls lächelte geschmeichelt.

»Was schon, jetzt wird getan, weshalb wir hier sind!«

Beide nickten und starrten dann wieder trübsinnig vor sich hin. Selten zuvor hatten sie so still beieinander gesessen. Fast ein Jahr lag ihre gemeinsame Flucht aus Alexandria schon zurück. Cölln war das Ziel und die einzige Hoffnung auf ein besseres Leben.

Nun waren sie da, und somit nahte die Stunde der Wahrheit.

Doch wären sie nicht in Hildesheim oder Goslar besser aufgehoben gewesen? Dort hieß man sie jedenfalls willkommen. Kluge und gebildete Köpfe gab es dafür in einer Stadt wie Cölln bestimmt mehr als genug.

Stumm schauten sich die beiden an und wussten nur zu gut, was der andere gerade dachte. Schließlich schüttelte Osman den Kopf. »Wenn’s mir nicht so streng verboten wäre, würde ich jetzt glatt mit dem Saufen anfangen.«

»Und ich würde den kümmerlichen Rest meiner Habe dafür hergeben, dich endlich mal volltrunken zu erleben«, grinste Robert und streckte Osman seinen Becher entgegen. Der Dunst von schwerem Most stieg dem Araber in die Nase, kein unangenehmer Geruch.

»Nein, lass nur – ich will nicht nach der Heimat auch noch meinen Gott verlieren. Das kommt nicht infrage!« Lustlos stocherte er in seinem Essen herum, einem Brei aus Getreidegrütze, Gartenfrüchten und allerlei Fischzeug aus dem Rhein. »Was meinst du, wo soll ich um eine Anstellung fragen? Bei euren Kirchenleuten ja wohl kaum.«

»Nein, bei den Klöstern wirst du kein Glück haben als Muselman, obwohl einige über beachtliche Bücherbestände verfügen, die eines gewissenhaften Bibliothekars bedürfen. Und als Kopist oder Schreiberling scheidest du eh wegen deiner Klaue aus. Aber bestimmt gibt’s hier eine bürgerliche Schule wie in Hildesheim das Andreanum. Dort können sie sicher einen Lehrmeister aus dem Morgenland gebrauchen. Die wären schön dumm, wenn sie eine wandelnde Bibliothek wie dich nicht in Dienst stellen würden!«

»Und wenn nicht …?«, fragte Osman, noch lange nicht beruhigt.

»Dann werden wir eine Anstellung bei einem Kaufmann für dich finden. Du kannst rechnen, schreiben, beherrscht mehrere Fremdsprachen, wer außer einigen Klosterbrüdern kann das von sich behaupten? Und wenn du lieb und brav bist und ein wenig genügsam, dann ist vielleicht sogar eine Anstellung in der Schmiede von meiner Augusta drin.« Bei den letzten Worten glitten Roberts Mundwinkel nach unten, ganz so, als habe er in einen sauren Apfel gebissen.

»Du glaubst selbst nicht dran, dass du sie wieder für dich gewinnen kannst, nicht wahr?«, deutete Osman Roberts Miene.

»Aber kann denn ein Weiberherz jemals einen Kerl wie mich vergessen?«

»Nein, vergessen kann man dich ganz sicher nicht. Doch fragt sich, ob ein Klotz wie du jemals eine Frau für sich gewinnen konnte!«

»Man wird sehen«, antwortete Robert kurz angebunden. Wie gut würde es ihm tun, endlich nicht mehr die bissigen Kommentare seines Begleiters erdulden zu müssen. »Vorab habe ich allerdings eine traurige Pflicht zu erfüllen. Ich muss dem Vater der armen Luise erzählen, was mit ihr geschehen ist.« Damals waren er und das Mädchen gemeinsam in Nikolaus’ Heer. Als sie von Köln aus loszogen, hatte ihn der Vater gebeten, sich um seine Tochter zu kümmern. Dabei war Robert ja selbst noch fast ein Kind. Kaum hatten sie die Stadt verlassen, war Luise im Gewühl der Abertausend anderen verschwunden. Verzweifelt hatte er sich auf die Suche gemacht, sie jedoch erst gefunden, als es schon zu spät war, erschlagen von einer Gerölllawine. Seinerzeit hatte er das erste Mal an seinem Gott gezweifelt, erschienen ihm seine Wege doch nicht nur unergründlich, sondern schlichtweg grausam und falsch.

Und nun also wollte er dem Vater von seinem kläglichen Versagen berichten. Ganz sicher keine leichte Aufgabe, dem Mann mitzuteilen, dass sein Kind seit über zwanzig Jahre tot war, verstorben mit gerade mal neun Jahren, obwohl das ganze Leben vor ihm lag. Dennoch war Robert jetzt jeder Aufschub recht. Schließlich blieb ihm, solange er Augusta nicht gefunden hatte, zumindest die Hoffnung auf ein gutes Ende. Er legte einige Groschen auf den groben Schanktisch, dann verließen sie gemeinsam das Gasthaus. Neugierig schaute man ihnen nach – selbst in einer Stadt wie Cölln war ein Muselman offenbar ein ungewohnter Anblick. Im Stall zurrten sie ihre Gäule los. Zumindest Osman erschien der Gestank von Pferdemist und Ziegenkot immer noch angenehmer als der fetttriefende Dunst im ›Trunkenen Wildschwein‹, hörbar atmete er auf.

Die Frühlingssonne hatte mittlerweile die feuchtkalte Morgenluft aufgeheizt: Eine angenehm warme Brise wehte ihnen entgegen, während die Glocken zur Sext läuteten – Mittagszeit also.

»Und wo finden wir nun den Vater von dieser Luise? Weißt du denn, wo sie daheim war?«

»Nein, aber den Namen des Vaters habe ich. Hennes heißt er, und er hat im Hafen gearbeitet.«

»Hennes, mehr nicht? Soll das etwa alles sein?«

»Ich sagte doch, er hat im Hafen gearbeitet!«

»Im Hafen arbeiten doch meist nur Tagelöhner, da wird sich keiner an einen Hennes erinnern, schon gar nicht nach über zwanzig Jahren.« Osman schüttelte skeptisch den Kopf.

»Er ist sehr groß, dieser Hennes.«

»Das ist nichts Besonderes bei Hafenarbeitern.«

»Vermutlich sogar größer als ich.«

»Größer als du?« Osman pfiff durch die Zähne. »Na dann werden wir ihn allerdings garantiert schnell finden, deinen Hennes. Hauptsache er dreht dir nicht vor lauter Trauer den Hals um und meinen gleich mit.«

Robert nickte, doch Osmans Bedenken waren seine geringste Sorge. Jetzt mussten sie erst einmal die halbe Stadt durchqueren, denn sie hatten Cölln von der Westseite betreten und der Hafen lag direkt am Rhein, also im Osten.

Vor ihnen befand sich die Römermauer. Die alte Stadtbefestigung wurde mittlerweile durch einen deutlich weiträumigeren Schutzwall ersetzt, flussseitig fanden immer noch Arbeiten daran statt. Robert und Osman ritten auf die Mauer zu und bogen dann nach rechts ab, irgendwann würden sie schon den Hafen zu Gesicht bekommen. Immer mehr Menschen belebten die Straßen vor ihnen, sodass die Pferde zusehends unruhiger wurden und die beiden Freunde zum Absteigen gezwungen waren. Mit einer Hand am Zügel und der anderen beruhigend über den Nüstern gingen sie nun gemächlich weiter. Das dauerte zwar länger, doch zum einen hatten sie es nicht eilig und zum anderen wollte keiner von ihnen riskieren, dass eines ihrer Pferde durchging.

Während sich Robert inmitten der Menschenmassen ringsumher sichtlich unwohl fühlte, genoss Osman den Trubel in vollen Zügen, erinnerte ihn das lebhafte Treiben doch an seine geliebte Heimatstadt. Seitdem sie in Bremen von Bord gegangen waren, hatte er kein vergleichbares Durcheinander erlebt – diese Stadt schien vor lauter Leben aus den Nähten zu platzen. Männer fuhren ohne Rücksicht ihre Ochsenkarren durch die engen Gassen, und Frauen, eine hübscher anzusehen als die andere, trugen stolz bis zum Bersten gefüllte Köcher mit geradem Rücken zum nächsten Markt. Mittendrin wuselten jede Menge Kinder zwischen den Beinen der Erwachsenen herum und Gaukler luden ein zu Tanz und Spiel. Doch war es nicht nur all das Gewimmel, was Osman so behagte, es lag auch viel Sorglosigkeit und Freude in der Luft. Natürlich, der Frühling hatte endlich Einzug gehalten. Er folgte einem besonders in diesem Jahr langen, harten Winter, und heute lachte sogar die Sonne gnädig auf sie herunter. Cölln meinte es in diesen Tagen gut mit all den Leuten, und auf einmal hatte Osman keine Sorge mehr, hier sein Glück zu finden.

Robert indes fühlte sich immer noch zurückversetzt in jene Tage des Jahres 1212. Voller Ungeduld hatte er auf die Abreise des Zuges gewartet und so blieben ihm einige Wochen Zeit, die Stadt näher zu erkunden. Einiges hatte sich seitdem verändert, die Stadtmauern und Türme waren damals gerade im Entstehen, die Kirchen freilich gab es seinerzeit schon. Zu ihrer Rechten lag die St. Pantaleon mit ihren beiden, in Anbetracht des wuchtigen Kirchenschiffs, zierlich wirkenden Rundtürmen, eine ausgedehnte Klosteranlage umsäumte das Gelände, und weit voraus erkannte Robert die St. Georgkirche wieder. Wenn er sich recht erinnerte, musste dahinter der Rhein liegen, der beste Schutzwall, den sich eine reiche Stadt überhaupt wünschen konnte. Kein Baumeister hätte eine wirksamere Wehr errichten können, zumal der einzige Zugang jenseits des Rheins, die alte Römerbrücke, vor Jahrhunderten abgerissen wurde.

Möwen kreisten über ihren Köpfen. Schon lange waren ihnen keine mehr unter die Augen gekommen, das letzte Mal vor einem Jahr, als sie Bremen landeinwärts verlassen hatten. Dazu gesellte sich der Geruch von Fisch, als sie den Heumarkt passierten. Oder war es der Neumarkt? Obwohl Robert einige Monate in dieser Stadt zugebracht hatte, konnte er sich das einfach nicht merken.

»Gibt’s in Cölln eigentlich eine Universität?«

»Meines Wissens nicht, da musst du schon weiter bis nach Paris. Aber es sind immerhin dreiundzwanzig Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal hier war, wer weiß, was seither alles geschehen ist. Die hohe Mauer am Rheinufer jedenfalls ist neu.

Breit und erhaben floss er dahin, der deutscheste aller Flüsse, und sogar die Hafenanlagen waren schon zu erkennen. Eine Vielzahl Schiffe unterschiedlichster Größe lag vertäut an den Kaimauern, ganz so wie in einer Hafenstadt direkt an der Küste. Wer trotz der Geschäftigkeit ringsumher noch Zweifel haben mochte an der Tüchtigkeit der Cöllner Kaufmannsgilde, hier wurde sie eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Der Warenumschlag in dieser Stadt musste gewaltig sein.

Osman grinste selig. Das Menschengewühl, die vielen Märkte und die Hafenanlagen – hier würde er es gewiss aushalten.

Am Ufer angelangt wandten sie sich zum Hafen. Groß und kräftig waren alle Männer, die hier ihr Tagewerk verrichteten, aber keiner reichte auch nur annähernd an Robert heran. Osman wollte bereits den Nächstbesten fragen, da bemerkte er, wie sein Freund erstarrte. Bewegungslos stierte er an ihm vorbei und weit über ihn hinweg. Osman wandte sich um und erschrak, ein plötzlich aufgetauchter Berg aus grobem Leinen drohte die Sonne zu verdunkeln.

»Was starrst du mich so an, Kleiner?«

Osman wollte schon antworten, weil der bärtige Koloss unmöglich Robert meinen konnte, obwohl er ausschließlich ihn fixierte.

»Ich … ich wollte Euch wiederbringen, was einst Eurer Tochter gehörte, Herr«, stammelte Robert, nach den passenden Worten ringend, und hielt dem Riesen Luises Medaillon entgegen. Sie hatten den Vater des Mädchens gefunden, so viel war sicher, denn der Bärtige war tatsächlich einige fingerbreit größer als Robert. Und nebenher mindestens doppelt so schwer, wenngleich er nicht fett erschien, eher vermittelte er den Eindruck unbändiger Kraft. Eine durch und durch beeindruckende Erscheinung.

»Luise!« Seine Lippen begannen zu zittern, dann starrte er Robert an. Dem Unglauben folgte Erstaunen, dann blitzten seine Augen auf. »Ich kenne dich, du bist doch mit Luise fortgezogen, damals, im Heer der Verrückten!« Hastig riss er Robert das Medaillon aus der Hand, dann betrachtete er es bedächtig wie einen lange verlorenen Schatz. »Was ist mit ihr geschehen, wieso ist sie nicht bei dir? Solltest du nicht auf sie Obacht geben?« Er fixierte ihn mit seinen Augen, während seine tiefe Stimme immer lauter grollte.

Neugierig geworden gesellten sich weitere Hafenarbeiter zu ihnen, allesamt mindestens einen Kopf größer als Osman. Ihm wurde angst und bange, sollten sie den langen Weg nach Cölln gewagt haben, nur um hier im Hafen niedergemacht zu werden für etwas, was sie nicht zu verantworten hatten, schon gar nicht er?

»Ihr erkennt mich wieder nach so langer Zeit?« Robert schien der Ernst der Lage nicht bewusst, ängstlich wirkte er jedenfalls nicht, bestenfalls erstaunt.

»Seit damals sehe ich jede Nacht dein Gesicht vor mir. Du bist groß geworden, Junge, aber deine Züge sind die alten geblieben. Und jetzt rede endlich, wo ist meine Luise?«

»Sie ist tot, Herr, gestorben in meinen Armen!«

Das war’s also, dachte Osman und schloss augenblicklich mit seinem Leben ab. Dieser Herkules würde selbst Robert ohne Mühe in der Luft zerreißen, und für ihn selbst reichte gewiss schon ein tiefer Atemzug. Umso erstaunter war er, als dem Riesen plötzlich statt Blitze aus den Fäusten Tränen in die Augen schossen. Mit hängendem Kopf stand er da, unfähig, einen Ton von sich zu geben, und selbst als Robert auf ihn zuging und tröstend die Arme auf seine breiten Schultern legte, ließ er es widerstandslos mit sich geschehen. Dieser Mann, so viel war sicher, hatte trotz allem die Hoffnung nie ganz aufgegeben.

*

»Sie hat nicht leiden müssen, der Tod kam schnell und gnädig. Viele schlimme Dinge sind ihr erspart geblieben, die anderen das Leben zur Hölle gemacht haben.«

Zu dritt saßen sie in einer windschiefen Hütte nahe der Stadtmauer. Die Decke war so niedrig, dass sich Hennes und Robert gebückt bewegen mussten. Aber immerhin hatte Hennes so etwas wie ein Heim, viele Habenichtse schliefen derweil jahrein, jahraus in den schmalen Nischen der Stadtbefestigung.

»Was soll schlimmer sein für ein neunjähriges Mädchen, als von einer Lawine erschlagen zu werden, Robert?« Die Trauer war deutlich in Hennes’ Gesicht geschrieben, doch wirkte er jetzt gefasst und bereit für die ganze Wahrheit.

»Sie ist gestorben, bevor wir das Schneegebiet der Alpen erreicht haben. Viele sind dort elendig in der Kälte verendet, einigen sind die Hände oder Füße abgefroren, und die wenigen, die die Alpen bezwingen konnten, sind, so wie ich, von Sklavenhändlern nach Afrika verschifft worden.«

»Aber du bist wohlauf!«

»Glaub mir«, mischte sich Osman ein, »ich habe sie gesehen, die Kinder vom Kreuzzug der Verrückten. Verbrannt von der Sonne standen sie nackt im Wüstensand und warteten auf Käufer. Ihr Leben galt bei uns weniger als das eines Viehs, und hellhaarige Mädchen fanden bei den Männern besonderen Gefallen, egal wie jung. Mit dem schnellen Tod hat sie’s besser getroffen …«

»Robert hat’s überlebt!«

»Nur weil er mehrere Sprachen spricht und unser Herr ihn zudem gnädig aufnahm. Bei jedem andren hätte er sich zu Tode geschuftet.«

Robert nickte wie zur Bestätigung. Fast liebevoll dachte er an den byzantinischen Kaufmann, dessen Kinder ihm zur Unterrichtung der deutschen Sprache anvertraut waren. Mit ihm hatte er enormes Glück gehabt, so kultiviert und gütig wie er war. Wer weiß, wie es ihm bei einem Araber ergangen wäre? Nicht, dass es unter ihnen nicht auch menschenfreundliche Zeitgenossen gab, doch diese kauften gewiss keine Sklaven.

»Außerdem«, setzte Osman ganz leise und behutsam nach, »als Knabe hatte er andere Dinge zu verrichten, als von einem Mädchen erwartet wurde. Alles Folgende wäre grausamer und brutaler für sie gewesen als ein schneller Tod.«

Der Bärtige nickte. Er hatte sich von Robert berichten lassen, wie es ihm nach dem Auszug aus der Stadt ergangen war, angefangen bei seiner vergeblichen Suche nach Luise, bis zu ihrem tragischen Tod. Jetzt stürzte er in einem Zug einen Becher Wein hinunter und ließ dem ersten rasch einen zweiten folgen. Hoffentlich, dachte sich Osman dabei, war er nicht einer jener Männer, denen es schnell in den Fäusten juckte, wenn sie über den Durst getrunken hatten. Sollten sich diese beiden Riesen raufen, würde es ihn nicht wundern, wenn das Dach über ihnen einstürzte.

Auch Robert schenkte sich ein, nur an Osman hatte wieder keiner gedacht, außer dem schweren Obstwein stand nichts auf dem Tisch.

Hennes trank unentwegt weiter und begann allmählich zu lallen, machte aber keine Anstalten, Streit vom Zaun zu brechen, er wurde lediglich von Schluck zu Schluck redseliger. Traurig schüttete er sein ganzes Herz vor ihnen aus und berichtete klagend, dass er damals nicht nur seine Frau an der Seitenkrankheit und Luise an Nikolaus verloren hatte, sondern kurz darauf auch noch die anderen Töchter einen Freier fanden und das Haus verließen. Seitdem stand er ganz allein da. Zum Trost schenkte er sich gleich wieder ein, und Robert ließ sich nicht zweimal bitten. So ging der Tag dahin, und als die letzten Sonnenstrahlen die Nacht ankündigten, legten sich alle drei zur Ruhe, Robert und Hennes mit weingeschwängertem Kopf, Osman mit Durst und knurrendem Magen, denn außer dem vermaledeiten Most hatte es nichts gegeben. Dass der eine, kaum auf dem Lager liegend, lauter schnarchte als der andere, machte Osman das Einschlafen nicht leichter, aber schließlich fielen auch ihm die Augen zu.

*

»Allah sei gepriesen, dass er seinen Kindern diese Dummheit verwehrt!« Osman betrachtete Robert und Hennes, der Katzenjammer hatte tiefe Furchen in ihre kalkweißen Gesichter geschnitten, beide waren ein Häuflein Elend.

»Und, wie soll’s nun weitergehen – wie wollen wir deine Augusta finden?«, fragte Osman seinen Freund, erheblich lauter, als es in der winzigen Hütte nötig gewesen wäre.

»Ich bin nicht taub geworden über Nacht, verflucht noch eins«, murmelte Robert heiser und drückte seine Hände an die Schläfen, »und für heute bin ich schon froh, wenn einfach nur dieser Tag zu Ende geht, wie auch immer.«

Es gab durchaus Zeiten, da bedauerte es Osman, dass er nicht trinken durfte. Sein Ärger hielt sich jedoch immer nur bis zum Morgengrauen nach einem von Roberts Saufgelagen. Er schaute amüsiert zum Hausherrn hinüber. Hennes sagte nichts und litt stumm und nahezu regungslos, ganz im Gegensatz zu Robert, der seinen schweren Kopf rieb und drückte, als wolle er die kleinen Teufel darin zerquetschen. Plötzlich stand er auf und ging schnell vor die Tür. Als er nach einer Weile zurückkam, sah er bedeutend wohler aus.

Schade, dachte sich Osman. Er wollte ihm die rasche Genesung nicht so recht gönnen.

»Ich weiß, dass ihr Vater damals Waffenschmied war, das sollte uns eigentlich helfen«, beantwortete Robert Osmans Frage – flüsternd, sich selbst und Hennes zuliebe.

»Und wann wollen wir los? Gleich nachdem wir was gegessen haben?«, gab Osmans lautstark seinem Magen eine Stimme.

»Geh mir los mit Essen! Ich werde nichts brauchen heute. Lass uns lieber gleich rausgehen und den ganzen Tag nutzen, um zu suchen.«

Osman war verärgert, immerhin hatte er seit gestern nichts mehr zwischen die Zähne bekommen. Allerdings wusste er, dass Robert mit Vorsicht zu genießen war, wenn er den Katzenjammer hatte, also schluckte er seinen Groll hinunter.

Und so verabschiedeten sie sich schließlich kurz darauf von Hennes mit dem heiligen Versprechen, bald wieder vorbeizuschauen und ihn über den Fortgang ihrer Suche zu unterrichten. Dass es inzwischen wieder regnete, vermochte Osmans Laune nicht zu verbessern. »Schade, dass uns Hennes nicht weiterhelfen konnte mit deiner Augusta.«

»Ich denke, seine Hilfe wird nicht nötig sein. Auch wenn Cölln groß ist, so viele Waffenschmiede wird’s hier schon nicht geben.«

»Aber das liegt schon über zwanzig Jahre zurück. Wer weiß, ob ihr Vater noch lebt«, entgegnete Osman, bedeutend weniger zuversichtlich.

»Dann hat halt sie die Schmiede übernommen.« Robert war verärgert, immer wieder musste dieser Schwarzseher Bedenken vorbringen.

»Eine Frau soll ein Handwerk ausüben, und zudem das eines Schmiedes? Ich bitte dich, Robert, das wäre nicht nur in meiner Heimat undenkbar. Und ich glaube auch nicht, dass es dir recht wäre, wenn sie sich vermählt hat und nun ihr Freier die Schmiede des Vaters weiterführt, oder?«

Wo Osman recht hatte, da hatte er recht, musste Robert insgeheim zugeben. »Wir werden sie schon finden, und danach kümmern wir uns um einen Dienstherrn für dich«, sagte er und dachte: Damit ich dich endlich los bin.

Sie gingen zu Fuß durch die Stadt, die Pferde hatten sie bei Hennes gelassen. Ein Grund mehr, ihn erneut aufzusuchen.

So schön und freundlich die Stadt am Tag zuvor bei strahlendem Sonnenschein gewirkt hatte, so trist und grau erschien sie jetzt bei Regen. Nur wenige Wege waren mit Steinen ausgelegt, und die anderen waren mittlerweile aufgeweicht, sodass die beiden knöcheltief im Matsch versanken.

»Hast du eigentlich ein Ziel, oder stapfst du nur so durch die Gegend?«

»Natürlich habe ich ein Ziel«, antwortete Robert schlecht gelaunt, während ihm der Schlamm in die Stiefel lief. »Hennes kennt einen Schmied und er hat mir erklärt, wie wir dort hinkommen. Einer aus der Zunft wird am besten Bescheid wissen, wo ich Augusta oder ihren Vater finde.«

»Und wie sieht’s mit Essen aus?«

»Kein Hunger!«

Klar, du Suffkopf, dachte sich Osman. Dein Magen ist mit der gestrigen Sauferei geschlagen, und ich darf weiter hungern. Allerdings kannte er seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass sich dessen Magen sehr bald melden würde.

Kurz darauf fanden sie den Schmied, doch Roberts Zuversicht sollte einen herben Rückschlag erleiden, denn der junge Spund wusste weder etwas von Augusta noch von ihrem Vater. Nur Name und Heim eines anderen, lang eingesessenen Zunftgenossen konnte er ihnen nennen. Freilich, wie sollte es anders sein, am anderen Ende der Stadt.

Dort angekommen mussten sie sich allerdings sagen lassen, dass Meister Reinhold, so hieß der Alte, zwar schon damals im Jahre 1212 sein Handwerk verrichtete, doch leider kürzlich verstorben war. Sicher hätte Reinhold ihnen Auskunft geben können, sagte dessen Sohn und man spürte deutlich die Trauer in seinen Worten, doch er selbst könne es nicht. So wurden sie zum nächsten Schmied geschickt und von dort wieder zu einem anderen. Osmans ständige Nörgelei, dass sie die Pferde hätten nehmen sollen, machte Roberts Ärger keineswegs leichter. Schließlich, als die Sonne hinter den Häuserreihen zu verschwinden drohte, holten sie Fressalien ein und machten sich bis auf die Haut durchnässt wieder auf den Rückweg. Solange sie ihre Geschäfte nicht erledigt hätten, so lange sei sein Heim das ihre, so hatte Hennes sie am Morgen verabschiedet. Daran wollten sie sich halten, denn noch mehr Geld sollte nicht verprasst werden.

»Wer hätte das gedacht.« Robert schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wir werden sie schon finden«, sagte Osman aufmunternd, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief eingedenk der Mahlzeit, die nun bald auf sie wartete. »So großartig eine Stadt wie Cölln auch sein mag, für unsere Zwecke sind die vielen Menschen, die hier leben, eher hinderlich. Aber ich bin sicher, wir werden sie finden.«

Und so geschah es, grade mal einen Tag später.

*

»Da hol mich doch der … da hinten ist sie!«

Osman reckte seinen Hals, doch er konnte im dichten Gedränge auf dem Heumarkt nichts sehen. Währenddessen stürmte Robert los, und nicht wenige, die ihm dabei im Weg standen, fanden sich kurz darauf im Schlamm wieder.

»Augusta!« Robert schrie aus Leibeskräften, und schon machte die Menge vor ihm Platz. Ein durchgehender Bulle hätte nicht mehr Angst und Schrecken verbreiten können.

»Aber warum bleibt sie nicht stehen?« Robert verstand die Welt nicht mehr und rannte weiter, Osman hinterher, so schnell es ihm möglich war. Nicht selten stieg er dabei über am Boden liegende Marktbesucher, sich vielfach für seinen Freund entschuldigend.

Bald hatten sie den Marktplatz hinter sich gelassen, und jetzt endlich sah auch der klein gewachsene Araber das Mädchen vor ihnen, fünfzig Schritte mochten sie noch voneinander trennen.

»Augusta!«

Sie drehte sich um und sah zu Robert herüber, doch in ihren Augen spiegelte sich alles andere als Erkennen wieder, vielmehr wirkte sie ängstlich, ja nahezu panisch. Kein Wunder, dachte sich Osman, wenn ein Berserker, größer als so manch ein Gaul, brüllend auf sie zupreschte.

»Schrei nicht so laut, Robert, du verschreckst sie nur!«

»Augusta!«

Konnte er nicht einmal auf ihn hören? Osman schüttelte verärgert den Kopf. Bestenfalls dreißig Schritte war sie ihnen noch voraus. Wenn sie nicht so lange Beine gehabt hätte, wäre die Verfolgung sicherlich schnell beendet gewesen, so aber blieb der Abstand nahezu gleich. Jetzt rannte sie um die Ecke. Als Robert und Osman ihr in die schmale Gasse folgten, erwartete sie eine Überraschung.

Sie war verschwunden, nur ein gezierter Geck stand dort mit seinem Pagen.

»Wo ist sie hin?«

Dem jungen Mann schoss sämtliches Blut aus dem Kopf. Bleich starrte er zu Robert hinauf und zitterte wie Espenlaub. Dabei sah er so aus, als ob er soeben mit seinem Leben abgeschlossen habe.

»Ich frage dich nur noch einmal. Wo ist sie hin?«

Der Page öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Dafür wies seine Hand umso deutlicher auf eine Tür.

»Verzeiht Herr, er hat heute seine große Liebe wiedergefunden«, sagte Osman, während Robert auf das Haus zustürmte. Täuschte er sich, oder war der junge Mann tatsächlich noch einen Deut weißer geworden?

Währenddessen hatte Robert die Tür aufgerissen. Gleich darauf war er im Haus verschwunden, Osman folgte nur widerwillig.

Da wand sie sich nun, mit dem Rücken an die Wand gepresst, keine drei Schritte vor ihr stand Robert. »Augusta, wieso rennst du denn vor mir davon?«, fragte er sie mit einer Stimme, die sämtliche Rauheit verloren hatte.

»Aber Herr, ich heiße doch gar nicht Augusta, mein Name ist Adelinde!«

Osman schaute sich die Frau näher an. Eigentlich war sie noch ein Mädchen, schön wie eine Oase in der Wüste. Schwarze Haare umsäumten ihr makelloses Gesicht, aus denen zwei kastanienbraune Augen mit langen Wimpern ängstlich den Riesen anstarrten. Wenn ihre Haut nicht so hell gewesen wäre, dann hätte sie ohne Weiteres eine Wüstenrose aus seiner Heimat sein können.

»Robert, das Mädchen kann unmöglich deine Augusta sein. Schau sie dir doch an, sie ist vielleicht grade mal zwanzig Jahre alt.«

»Zweiundzwanzig, wenn’s beliebt, der Herr!«

»Aber«, stammelte Robert völlig verwirrt, »du schaust genauso aus wie meine Augusta. Nicht selten wache ich auf und sehe ihr Bild vor mir. Du musst es einfach sein!«

Plötzlich fiel der Schatten vom Gesicht des Mädchens und machte einem Lächeln Platz. »Wie dumm von mir, natürlich, Ihr müsst meine Mutter meinen. Wartet hier, ich werde sie holen, aber nur, wenn Ihr versprecht, friedlich zu bleiben.«

Robert nickte, während Osman zu rechnen begann. Was er dabei herausbekam, verschlug ihm die Sprache.

Derweil kam das Mädchen zurück, an der Hand eine andere Schwarzhaarige. Wenngleich einen halben Kopf kleiner als Adelinde, glich sie ihr fast wie ein Ei dem anderen. Erst wenn man genauer hinschaute, verriet die eine oder andere Falte um die Augen, dass sie einige Jahre älter war.

»Augusta?« Robert meinte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Sie schaute ihn an, anfangs ungläubig, dann plötzlich schien sie ihr Gegenüber wiederzuerkennen.

»Augusta, ich bin es, Robert!«

Erst stieß sie einen spitzen Schrei aus, dann fiel sie ihm in die Arme. Adelinde schaute nur verwirrt, sie wusste beim besten Willen nicht, was in ihre Mutter gefahren war. Irritiert schaute sie zu Augusta und Robert, die ineinander verschlungen waren und kein Wort von sich gaben, sondern bestenfalls ein leises Schluchzen. »Mutter«, fragte sie schließlich ziemlich gereizt, »willst du mir deinen Freund nicht vorstellen?«

Nur widerwillig schien sich Augusta von Robert trennen zu wollen. Obwohl ihre Augen förmlich in Tränen schwammen, strahlten sie eine unglaubliche Freude und Glückseligkeit aus. »Kind, darf ich dich bekannt machen mit Robert, genannt der Schmale – deinem Vater!«

Robert war wie betäubt vom lange erhofften Wiedersehen mit seiner Augusta. Die Worte schienen ihn nur langsam zu erreichen, dann allerdings trafen sie ihn wie ein Blitz. Seine Knie, eh schon weich wie Butter, wollten plötzlich sein Gewicht nicht mehr halten, der Blick wurde erst trüb, bis alles vor seinen Augen verschwamm, dann fiel er mit einer solchen Wucht auf die Dielenbretter, dass eines von ihnen laut krachend entzweibrach.

*

Robert träumte …

Kein wirres Zeug, eher war’s wie eine Reise zurück in die Vergangenheit, ins Jahr 1212.

Du bist Vater, Robert!