Herr Wolle läßt noch einmal grüßen - Sibylle Krause-Burger - E-Book

Herr Wolle läßt noch einmal grüßen E-Book

Sibylle Krause-Burger

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Beschreibung

Als wir zu Nazis und Juden wurden – ein deutsches Familiendrama

Sibylle Krause-Burger erzählt die Geschichte ihrer Familie und entwirft zugleich ein lebendiges Panorama der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Was mit einer Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann aus der schwäbischen Provinz und der Tochter eines jüdischen Unternehmers im Berlin der zwanziger Jahre begann, entwickelte sich im »Dritten Reich« zu einem Drama, das bis in die Nachkriegszeit fortwirkte.

Im September 1941 muss Thekla Wolle zum ersten Mal den gelben Stern tragen. Ihre Enkeltochter, damals fast sechs Jahre alt und nach Maßgabe der Nazis ein »Mischling ersten Grades«, erlebt diesen Moment der Verzweiflung am Anfang eines Weges in den Tod. Erst 2004 erfährt Sibylle Krause-Burger jedoch in allen Einzelheiten, was ihrer Großmutter damals geschah und wie der jüngere Bruder ihrer Mutter jahrelang vergeblich darum kämpfte, den Häschern zu entkommen. Alle Hoffnungen richteten sich dabei auf den älteren Bruder, dem die Flucht nach Brasilien noch gelungen war. In Hunderten von Luftpostbriefen, die zwischen 1937 und 1941 jede Woche pünktlich von Berlin an ihn abgingen, außerdem in vielfältigen Aufzeichnungen und Dokumenten, fand die Autorin diese Familientragödie widergespiegelt. So konnte sie anschaulich beschreiben, wie die Schikanen der Nazis nach und nach den Alltag der Verfolgten vergifteten, wie die begeisterten Deutschen die tödliche Gefahr nicht wahrhaben wollten, wie sich »arische« Teile der Familie von den jüdischen abwandten und ein Dorf für die Überlebenden zur Zuflucht wurde.


• Einfühlsam und ergreifend geschrieben, erzählt die Autorin die dramatische Geschichte ihrer Familie

"Ganz ohne Schnulzigkeit und Rührseligkeit ist das eine rührende, eindrucksvolle Liebes- und Lebensgeschichte.« Michael Wolffsohn, Deutschlandradio Kultur

»Das große Trauma unserer Vergangenheit, eindringlich und einfühlsam gespiegelt in einer Familien-Geschichte, die man nicht ohne Bewegung lesen kann.« Hermann Rudolph, Tagesspiegel

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SIBYLLE KRAUSE-BURGER

Zum Inhalt

Sibylle Krause-Burger erzählt die Geschichte ihrer Familie und schildert den Einbruch der nationalsozialistischen Gewalt in die bürgerliche Welt. Was mit einer Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann aus der schwäbischen Provinz und der Tochter eines jüdischen Unternehmers im Berlin der zwanziger Jahren begann, entwickelte sich unter der Diktatur zu einer Tragödie, die eine Familie zerriss und tiefe Wunden hinterließ, die bis heute fortwirken.

»Dieses Buch ist ein beklemmendes Zeugnis darüber, wie das Zerstörerische leise und unaufhaltsam in das zivile Leben eindringt. Am Ende hat das Dritte Reich eine deutsche Familie zerbrochen, ihren jüdischen Teil ermordet oder in alle Welt verstreut. Das große Trauma unserer Vergangenheit, eindringlich und einfühlsam gespiegelt in einer Familien-Geschichte, die man nicht ohne Bewegung lesen kann.«

Hermann Rudolph, »Der Tagesspiegel«

Die Autorin

Sibylle Krause-Burger, in Berlin geboren, studierte politische Wissenschaften in Tübingen. Sie ist Kolumnistin der »Stuttgarter Zeitung« und veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen Themen, darunter »Joschka Fischer – Der Marsch durch die Illusionen«, »Wie Gerhard Schröder regiert – Beobachtungen im Zentrum der Macht« und »Ein einig Volk von Träumern – Szenen der deutschen Krise«. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, so mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Karl-Hermann-Flach- und dem Quandt-Medien-Preis.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Bildnachweis»Nussdorf nach der Zerstörung«, Foto von Walter Mochel, Vaihingen /Enz. Alle anderen Fotos, Briefe und Dokumente stammen aus Privatbesitz.

3. Auflage 2008 Copyright © 2007 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Ulrich Volz, Stuttgart Umschlaggestalter: Büro Jorge Schmidt, München Umschlagabbildung: © privat Layout und Satz: DVA/Brigitte Müller Reproduktionen: Die Repro GmbH, Ludwigsburg ISBN: 978-3-641-19697-4V001www.dva.de

Edith Wolle und Walter Burger, die Eltern der Autorin

Widmung

Für Clara

Die Hauptpersonen dieser Geschichte

Edith Burger, geborene Wolle

und Walter Burger, ihr Mann,

die Eltern der Autorin

Gustav Wolle und Thekla Wolle, geborene David

die Eltern von Edith

Dr. Erwin Burger und Kläre Burger, geborene Baur

die Eltern von Walter

Fritz Burger

Hilde Burger

Gudrun Burger,

Walters Geschwister

Hans Wolle

und Günter Wolle,

Ediths Brüder

Ein Nachspiel als Vorspiel

An einem sonnigen Dienstag im Mai des Jahres 1963 waren wir wieder einmal fröhlich vereint. Wie so oft bei Familienfesten, bei Taufen, Konfirmationen und vor allem bei den Hochzeiten, die damals reichlich anfielen, traf man sich auf Schloss Solitude bei Stuttgart, inmitten einer Architektur wie Musik. Dieses Mal stand meine Cousine Uta vor dem Altar. Sie hatte sich einen amerikanischen Arzt ausgesucht, der mutterseelenallein zum Heiraten aus den Vereinigten Staaten nach Europa angereist kam – Grund genug, um unseren ganzen Clan, zum Ausgleich der fehlenden Verwandtschaft aus Übersee, aufzubieten, damit wir die Frischvermählten eindrucksvoll feiern konnten. Und als ob nichts gewesen wäre, als ob es die tödlichen Zerwürfnisse in der Zeit des kollektiven Wahnsinns zwischen 1933 und 1945 nie gegeben hätte, ließen es sich nicht nur die Jungen, sondern auch die einst entzweiten Älteren bei zartem Rehrücken und samtenem Lemberger wohl ergehen.

Am Morgen waren sie Zeugen der Trauung gewesen, jetzt umrahmten sie das Brautpaar an der festlichen Tafel: auf der einen Seite meine Eltern – Vater Walter, elegant und gewandt, der in jenen Jahren als inoffizielles Oberhaupt der Familie amtierte und mit seinem Gardemaß ohnedies alle überragte. Er vor allem hatte diese Hochzeitsfeier für die Nichte organisiert. Neben ihm Edith, unsere jüdische Mutter, die von den Nazis gejagt worden war, ein zierliches Persönchen, das nie lange still sitzen konnte und auch hier nach kurzen Phasen der Ruhe durch das Fest quirlte. Auf der anderen Seite dann die Eltern der Braut, Vaters sportliche und immer braungebrannte Schwester Hilde mit ihrem etwas fülligen Mann, der zu Adolfs Zeiten mit Stolz die Uniform eines SS – Offiziers getragen hatte. So umrahmten sie die Jungvermählten bei Tisch, zwei Paare mit sehr unterschiedlichen und doch aufeinander bezogenen Lebensläufen – die einen einst auf der Seite der Verfolgten, die anderen begeistert bei den Verfolgern. Hier gruppierten sie sich nun fröhlich und locker um das junge Glück, obwohl sie doch ziemlich viel unfrohe Vergangenheit im Gepäck hatten.

Davon ließen sie nicht das Geringste erkennen. Keine bösen Blicke, keine Andeutungen, nur Glückwünsche, Gläserklirren und die obligaten Reden, eine segensreiche Zukunft und gesunden Nachwuchs beschwörend. Mein Bruder zupfte die Gitarre. Alle beide sangen wir dazu. Nichts an dieser Hochzeitsgesellschaft verriet, was tatsächlich unter der Oberfläche brodelte; nichts von alledem drang nach außen, so wenig wie es bei anderen Zusammenkünften in den Jahren zuvor aufgebrochen war. Es schien das Selbstverständlichste auf der Welt zu sein, dass man diesen Festtag wie so viele andere einträchtig beging. Lauter nette Menschen, die sich über ihre Kinder, bald auch über die Kindeskinder freuten und die fast magisch aneinander gebunden schienen, sich regelmäßig trafen und auf unzähligen Fotos wie auch auf ein paar Schmalfilmen als gut gelaunte Viererrunde zu sehen sind. Gerade so, als hätten sie, ohne dass darüber je ein einziges Wort gefallen wäre, das Leben im Dritten Reich mit ihrem neuen Leben tilgen, auslöschen, für immer zum Verschwinden bringen wollen.

Dabei war die Harmonie nicht gar so abwegig. Mit Ausnahme des Brautvaters, der erst 1938, als er in die Familie einheiratete, dazu gekommen war, kannten sich alle aus der Elterngeneration schon von Jugend an. Sie waren verwandt oder verschwägert und hatten es geschafft, das Verbindende aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren, aus dieser alten, fast vierzig Jahre zurückliegenden Zeit, das unter der Naziherrschaft bis in die Geschwisterreihen hinein für immer zerstört zu sein schien, wundersam neu zu beleben. Aber natürlich war die nationalsozialistische Zeit, die unsere Mutter und uns »Mischlingskinder« in äußerste Bedrängnis gebracht, die unsere Großmutter und Mutters jüngsten Bruder das Leben gekostet hatte, nicht völlig vergessen. Es war einfach zu viel passiert. Die alten Geschichten, mit allem, was an Verletzungen daraus folgte, blieben sogar noch lange Zeit über das Hochzeitsfest auf Schloss Solitude hinaus gegenwärtig. Aber an diesem heiteren Tag ahnte niemand, wie zerstörerisch sie wiederaufleben und sich schließlich bis in den Tod der beteiligten Personen fortspinnen würden.

Als ich begann, die Geschichte dieser Geschichten aufzuschreiben und am Beispiel meiner Familie den deutschen Wahn und seine Folgen nachzuzeichnen, war ich nicht darauf gefasst, in welche bis dahin verborgenen Winkel des familiären Dramas ich vordringen würde. Natürlich wusste ich in wesentlichen Zügen, was geschehen war, hatte auch, obschon in kindlichem Alter, den Krieg und die Verfolgung selbst miterlebt, hatte in Dokumenten und Aufzeichnungen der Eltern gestöbert, dazu diesen und jenen alten Brief gelesen. Als ich jedoch bei den wenigen im Ausland noch lebenden Verwandten nach weiteren Papieren schürfte, stieß ich unvermutet auf eine historische Goldader – auf Hunderte von Briefen an Hans Wolle, den älteren der beiden Brüder meiner Mutter.

Seit 1937 lebte er in Sao Paulo. Zu Hause war er ein aufstrebender Diplomingenieur gewesen, ein moderner junger Mann, mittelgroß, schlank, mit einem feinen Gesicht und dunkel gewelltem Haar. Schon in seinen Kinderjahren wurde er, zum Ärger seiner um ein Jahr älteren Schwester, als besonders hübsch bewundert. Dabei fehlte ihm von Geburt an eine Ohrmuschel, weshalb er auf allen Fotos den Kopf leicht nach rechts dreht, so dass nur die linke, die vollständige Seite zu sehen ist. Auch konnte er mit dem unvollständigen Ohr nicht hören.

Doch es war nicht dieser Makel, der ihn besonders hellhörig gemacht hätte. Hans Wolle war von seinem Arbeitgeber, dem Elektrizitätswerk in Breslau, der jüdischen Herkunft wegen entlassen worden. Auf dieses Signal hin sah er für sich keine Zukunft mehr in Deutschland und glaubte, seine Heimat verlassen zu müssen. Im Juli 1937 schiffte er sich zusammen mit vierhundert anderen Passagieren auf der »Cap Norte« Richtung Sao Paulo ein, beladen mit den zeitbedingten »Minderwertigkeitskomplexen, die man ja nicht so schnell wieder loswird«, wie er auf der Reise notierte, aber doch noch mutig genug, an den vom Kapitän anberaumten Turnieren im Schach- und Bridgespielen teilzunehmen, die er zu seiner eigenen Überraschung mühelos gewann. Er war der einzige Wolle, dem die Flucht ins Ausland noch gelang.

Hans wanderte also nach Brasilien aus, das 1937 noch jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufnahm, kurz bevor ihnen auch dieser Weg, wie so viele andere Möglichkeiten, sich zu retten, versperrt war. Den Kontakt zu seiner Mutter, seinen Geschwistern und meinem Vater, dem Mann seiner Schwester, hat er über Jahre hinweg nie abbrechen lassen und alle Briefe, die sie ihm schickten, gleichsam als letzte und heilige Brücke nach Berlin ausnahmslos aufbewahrt. Auf hauchdünnem Papier, handgeschrieben oder getippt, sind sie bis zum Kriegsausbruch, pünktlich jede Woche, später seltener und nicht ohne das Signum eines Zensors, nach Sao Paulo abgesandt worden – mit Flugbooten über den Atlantik transportiert. 1941 brach die Korrespondenz ab. Bis dahin legen sie Zeugnis ab vom Leben der Zurückgebliebenen, von den Alltäglichkeiten, von Ängsten, vom verzweifelten und letztlich erfolglosen Bemühen, dem Ausgewanderten nachzufolgen.

Als ich mich in dieser Fülle vergrub, erstand vor mir eine Welt, die 1945 endgültig untergegangen war, und es kam mir so vor, als ob ich den darin handelnden Personen, die in meiner Vorstellung durch Erzählungen oder eigene Erlebnisse längst einen unverrückbaren Platz eingenommen hatten, zum ersten Mal begegnete – sogar dem Kind, das ich einmal war. Ebenso gewannen die Szenarien, die ich beschreiben wollte, viele, mir bis dahin völlig unbekannte Schattierungen. Unverhofft sah ich mich auch zurückversetzt in die Lebensumstände meiner Eltern und der beiden Großelternpaare – zum einen der Wolles aus den Kreisen der assimilierten Berliner Juden, zum anderen der Burgers aus dem pietistischen schwäbischen Unterland. Rein zufällig wohnten die beiden so verschiedenen Familien für ein paar Jahre in demselben Mietshaus in der Schillerstraße 104 in Berlin-Charlottenburg. So wurden ihre Kinder Freunde, so fanden sich auch Walter und Edith, meine Eltern. Doch was für eine Mixtur! Kein Wunder, dass diese Mischung, noch dazu unter den obwaltenden, von 1933 an so irrwitzigen Umständen, einen schier unglaublichen Erzählstoff hervorbrachte, mit allem, was dazu gehört: mit großer Liebe und Hass, mit Krieg und Frieden, mit Mord und wundersamer Errettung, mit Verrat und Standfestigkeit, mit Schuld ohne Sühne und halbherziger Vergebung. Schwankende Gestalten, sich auch ständig wandelnd – mal dieser, mal jener Zeiterscheinung unterworfen, bisweilen schwach und dann wieder von erstaunlicher Kraft. Es könnte ein Roman sein und ist doch eine wahre Geschichte.

Das Feinste vom Feinen

Sie muss Rheinisch gesprochen haben, Bönnsch, und sie muss von entsprechend heiterem Temperament gewesen sein: Thekla Wolle, als Thekla David im Jahr 1879 in Bonn geboren – meine Großmutter. Sie war eine unter vier Schwestern, von denen man sich in der Familie erzählte, dass sie in ihrer Jugend bisweilen auf dem Tisch getanzt hätten. Ihre Vorfahren, aus Altenkirchen im Westerwald stammend, waren am Rhein zu Wohlstand, ja zu Reichtum gekommen, sei es als Kaufleute, wie Moritz David, Theklas Vater, oder im Geldgewerbe, wie sein Bruder Louis. Der machte später, anno 1926, auf dramatische Weise bankrott, weil er sich mit der Beteiligung an einer Weinhandlung verspekuliert hatte. Bis dahin war sein Bankhaus, das 1893 gegründete Privatbankhaus Louis David, jedoch hochangesehen, und Hermann Josef Abs, der in der Nachkriegszeit die Deutsche Bank neu gründete und den Kanzler Adenauer beriet, hatte dort sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Umtriebige Leute also, die Davids, die ihr Vermögen erst einmal fleißig mehrten und um 1912 in Bonn zu den Millionären gezählt wurden.

Moritz David, mein Urgroßvater, wohnte mit seiner Familie in der Kaiserstraße 77, einem geräumigen, drei Stockwerke hohen Haus, das später die Bonner Wach- und Schließgesellschaft beherbergte und heute einer Einrichtung für Drogenkranke als Domizil dient. Den Charme der alten Zeiten sieht man dem Gebäude freilich nicht mehr an. Die damals verzierte Fassade ist inzwischen schmucklos restauriert und geglättet, ganz im Gegensatz zu so vielen anderen Anwesen im reizvollen Ensemble der alten Bonner Straßen. Unzählige Male bin ich auf meinen Berufsreisen in die kleine Stadt am Rhein, solange sie noch als Bundeshauptstadt diente, an diesem Haus vorbei gefahren, das heute gleich hinter den Bahngleisen liegt, und immer dachte ich dann, bevor mich der Politikbetrieb verschluckte, an meine Großmutter Thekla, die hier in einer angesehenen Familie eine glückliche Kindheit und Jugend verbracht hatte.

Jahrzehnte später, da war sie schon ein Erwachsenenleben lang in Berlin heimisch, mittlerweile auch verwitwet, wohnte sie ganz in unserer Nähe, in Wilmersdorf, in einem Teilabschnitt der Rudolstädter Straße, den es heute nicht mehr gibt, weil er dem Bau der Stadtautobahn zum Opfer gefallen ist. Nummer elf war ihre Adresse, die Wohnung lag im Erdgeschoss. Auf einem Foto vom Ende der dreißiger Jahre stehe ich unten im Garten und strecke die Ärmchen zu ihr nach oben. Sie hält mir ihre Arme entgegen. Wenn ich auf das Bild schaue, meine ich die kleine Szene noch einmal zu erleben und sehe meine Großmutter wirklich vor mir. Sie war ein bisschen mollig, hatte gut gepolsterte Wangen und große, dunkle, sehr ausdrucksvolle, bisweilen durchaus kess von der Seite schauende Augen – eine ausgesprochen hübsche Frau. So wird sie auch von denen beschrieben, die zu ihren Lebzeiten schon erwachsen waren und sich noch an sie erinnern können. Die schwarzen Haare trug sie in Wellen eng an den Kopf gelegt und hinten zu einem Knoten zusammengefasst. Das galt in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht als großmütterlich, sondern als modisch. Und modisch waren auch ihre halblangen Kleider samt den Hüten für jede Jahreszeit. Schließlich hatte sie einen Mann vom Fach geheiratet, Gustav Wolle, einen der vielen jüdischen Konfektionäre in Berlin. Seine Firma stellte Mäntel für Mädchen und junge Damen her und folgte damit, zumindest was die Branche anging, einer Familientradition. Zwar hatte er einen Lithographen zum Vater gehabt, aber etliche Vorfahren waren Tuchhändler gewesen – daher wohl auch der Name Wolle. Mit dieser Fabrikation verdiente er sein Brot, war dabei zu Wohlstand, wenngleich nicht, wie die Davids in Bonn, zu bedeutendem Reichtum gekommen.

Thekla Wolle, die jüdische Großmutter, Tochter einer alteingesessenen Bonner Familie.

Gustav Wolle, mein Großvater, war allenfalls mittelgroß, auch nicht kräftig, sehr kurzsichtig, also weiß Gott nicht gerade das, was man einen Beau nennen würde. Mit seiner kahlen Stirn und den dicken, scharf geschliffenen Brillengläsern sah er aus wie ein Gelehrter. Das humanistische Gymnasium hatte er nur bis zur Mittleren Reife besucht, gleichwohl war er ein gebildeter Mann, der sich, hauptsächlich durch Lektüren, selbst vorangebracht hatte. In seinem Bücherschrank standen die damals vielgelesenen »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« von Wilhelm von Kügelgen, dem Maler und Portraitisten Goethes, außerdem die Erinnerungen »Besonnte Vergangenheit« des Chirurgen und Schriftstellers Carl Ludwig Schleich, dazu sämtliche Werke von Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi. Doch so sehr ihn Kunst und Literatur begeisterten, seine größte Leidenschaft, die er auch den Söhnen weiterreichte und für die er später sogar den Schwiegersohn entzünden wollte, galt dem Schachspiel. Nach jedem Essen setzte er sich ans Brett und spielte mit sich selbst. Immer trug er ein Taschenschach bei sich. Wenn er einen guten Einfall hatte, zog er es sogar im Büro hervor und bescherte sich – so oder anders herum – ein Matt.

Ein »Schadchen«, ein Heiratsvermittler, vielleicht auch irgendwelche Tanten, Eltern oder Onkels hatten die Verbindung zwischen Thekla David und Gustav Wolle eingefädelt, hatten die ersten Begegnungen arrangiert, und siehe: 1903 wurde geheiratet. Ob die Ehe so richtig glücklich war, ist von meiner Mutter, der Tochter aus dieser Verbindung, immer wieder einmal, mehr im Spaß als wirklich ernsthaft, angezweifelt worden. Zum Beweis erzählte sie gern die Geschichte von jenem Geburtstag, an dem Gustav seiner Frau eine vollständige Ausgabe der Werke Strindbergs schenkte – anstelle von Perlen oder einem goldenen Armreif, einem Seidentuch oder einer Brosche. Das wäre für die lebenslustige, dazu außerordentlich erdgebundene Frau fraglos angemessener gewesen. Gustav hatte eben ganz nach Männerart an etwas gedacht, das ihn selbst erfreuen würde. Außerdem war er ein richtiger Preuße, also nüchtern und verstandesbetont, zudem ein wenig professoral und so zerstreut, dass er einmal, nachdem er auf dem Nachhauseweg im Auftrag seiner Frau ein halbes Pfund Butter gekauft hatte, dieses in der Manteltasche versenkte und vergaß. Ein paar Stunden später, es war im Frühjahr und unverhofft warm, ging er an der Krummen Lanke spazieren und setzte sich schließlich auf eine Bank. Die Butter schmolz inzwischen durch den Mantel hindurch. Gustav versuchte den Kragen am Hals zu lockern, fuhr sich auch mit der Hand über die Stirn und konnte sich dabei gar nicht genug auswundern, dass er an diesem Tag »so fett« schwitzte.

Als Konfektionär in Berlin zu bescheidenem Wohlstand gekommen. Großvater Gustav Wolle mit seinen Kindern Hans und Edith

Im Grunewald.

Gustav Wolle und seine Frau Thekla

Gustav Wolle pflegte einen selbstironischen Humor, und insofern war er sehr jüdisch. Manchmal, wenn Abendgäste ein paar Minuten zu spät eintrafen, empfing er sie gerne, gespielt unwirsch: »Um diese Zeit hoffte ich, euch schon gute Nacht sagen zu können«. Und machte die Familie eine bedeutende Anschaffung oder gönnte sie sich ein besonderes Ausgehvergnügen, so bespiegelte er seinen bescheidenen Wohlstand gern mit dem Satz: »Ich wollt’, ich könnt’ so leben, wie ich lebe«. Ein liebenswürdiger und leiser Mensch, wovon nicht zuletzt die allabendlich, geradezu marottenhaft und stets nebenbei vor dem Zubettgehen hingestreute Bemerkung »Der liebe Gott erhalte mir mein Bett und meine Nachttischlampe« kündete. Wie recht er damit hatte! Im Grauen ihrer letzten Tage und Stunden mag Thekla an diesen in der Familie so oft belächelten Satz gedacht haben.

Obwohl er sein Unternehmen nicht ohne Erfolg führte, war Gustav Wolle doch eher ein Intellektueller, sehr angezündet von der Kulturblüte im Berlin seiner Zeit. Sein bester Freund war Max Marcuse, der damals berühmte Mitbegründer des Instituts für Sexualwissenschaften in Berlin, ein Vetter ersten Grades, der nicht nur Gustav, sondern die ganze Familie stark beeinflusste. Die Mütter der beiden Männer waren Schwestern gewesen, man hing auch über das Verwandtschaftliche hinaus aufs Engste zusammen. Max – ganz anders als Gustav – hatte Medizin studiert, hatte sich auf Dermatologie spezialisiert und war über dieses Fach mit den sexuellen und sozialen Problemen der unteren Schichten in Berührung gekommen. Als Student begleitete er einmal einen Arzt, der nach einer illegalen Abtreibung zu Hilfe gerufen worden war. Die junge Frau starb an dem Eingriff der Engelmacherin. Ein erschütterndes Erlebnis für den jungen Mediziner, das ihn für immer zu einem Verfechter der Frauenbewegung machte.

Max Marcuse war eine hochgeachtete Kapazität im Berlin des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Steckbrief der Humboldt-Universität nennt ihn heute »a forgotten giant« – einen vergessenen Riesen. Dass er vergessen wurde, erscheint merkwürdig in einer Zeit, da die Sexualität mit all ihren Problemen und Spielarten zu einem großen und völlig unbefangen zu behandelnden Thema geworden ist. Vielleicht hat man auch gerade deshalb seine epochalen Leistungen nicht mehr wahrgenommen, weil das heute alles selbstverständlich ist.

Damals aber war es vollkommen neu, ja revolutionär. Über alles, was da zum Kanon des zu Erforschenden gehörte, hat Max Marcuse in den Jahren zwischen 1910 und 1933 gearbeitet und publiziert. Die Titel dieser Arbeiten heißen »Hautkrankheiten und Sexualität«, »Inzest« oder »Uneheliche Mütter«, und die Zeitschriftenbeiträge tragen die Überschrift »Hermaphroditis beim Menschen«, »Sexualleben und Arbeitsleistung«, »Psychologie der Blutschande«, auch ein Aufsatz über die »Fruchtbarkeit jüdisch-christlicher Mischehen« – als Hinweis auf den Zeitgeist, dem selbst jüdische Wissenschaftler offenkundig nicht ausweichen konnten – gehört dazu. Insgesamt hinterließ er ein Werk, das weit über hundert Veröffentlichungen in einer unvollständigen Liste aufweist. Nur zwei seiner Arbeiten stammen aus der Zeit nach 1933. Nach Hitlers Machtergreifung war es vorbei mit Max Marcuses Produktivität und seinem Ruhm, wohl auch mit den Möglichkeiten eines Forschers, der in seiner Heimat im Kreis um Magnus Hirschfeld die Sexualwissenschaft mit aus der Taufe gehoben hatte.

Mit diesem Vetter Max also, unter den Eingeweihten und in der Familie nach den Anfangsbuchstaben seines Namens nur M. M. genannt, tauschte Gustav Wolle sich aus. Sie trafen sich wöchentlich, mal bei der einen, mal bei der anderen Familie, spielten Skat, diskutierten über die neuesten literarischen Erscheinungen oder die Theateraufführungen unter der Regie von Max Reinhardt und über die Kritiken von Alfred Kerr. Oft erzählte Max auch von den Strafprozessen, in denen er, der erste offiziell bei Gericht anerkannte Sexologe in Deutschland, als Gutachter auftrat und dabei ab und an ein »reizendes Mörderchen« zu beurteilen hatte. Ein faszinierender Mann mit »magnetischer Ausstrahlung«, so behauptet zumindest die Familienfama. Schön war allerdings auch er nicht. Sein Gesicht in die Länge gezogen, was ein kleiner Kinnbart noch betonte, die Stirn hoch und weithin kahl. Aus den alten Fotos schaut er einen kritisch, stechend, ja fast mit Röntgenblicken an. Kein anderer erregte soviel Aufsehen und Interesse unter den Wolles wie Max Marcuse, Gustavs Vetter. Schon zu Lebzeiten war er so etwas wie eine Legende. In jedem Gespräch, an dem er teilnahm, verstand er es, alle Anwesenden, sogar die Jugendlichen, mit einzubeziehen, und immer war er der bewunderte Mittelpunkt dieses wachen Milieus.

Herrenrunde beim Skat.

Gustav Wolle (Mitte) mit Max Marcuse (rechts),

seinem Cousin und besten Freund

Alles, was die zwanziger Jahre in Berlin zu bieten hatten, und das war bekanntlich nicht wenig – auch die frivolen Kabaretts mit Claire Waldoff, die Auftritte der Sängerin Fritzi Massary und ihres Lebensgefährten, des Schauspielers Max Pallenberg –, wurde in dieser Familie wahrgenommen, genossen und diskutiert: Opern, Malerei, Literatur. Man war aufgeschlossen, uneingeschränkt assimiliert und distanzierte sich ganz bewusst von den ostjüdischen Einwanderern, mit denen man nichts zu tun haben wollte, weil sie, wie besonders Gustav Wolle fürchtete, das Ghetto ein Stück zurückbringen, auf die Assimilierten abfärben, sie auf ihr Niveau herabziehen und also den Assimilierungsgewinn zunichte machen könnten.

An jüdischen Feiertagen wie Jom Kippur ging nur Thekla noch in die Synagoge. Ihrem ältesten, nach Brasilien emigrierten Sohn berichtete sie Ende 1937, dass sie sich einen Synagogenplatz »genommen« habe, der für das ganze Jahr gelte. Es ist dies eine Art der Spende in den jüdischen Gemeinden, wobei ein der Thora naher Platz besonders wertvoll und folglich besonders teuer ist. Auch freute sie sich, dass Hans sich in Brasilien einer Gemeinde zugesellt hatte und an den Feiertagen ebenfalls in die Synagoge ging: »Es gibt einem doch ein bisschen Gemeinschaftsgefühl, das Du mit den Brasilen sicher niemals haben wirst.«

Mit der Religion hielten es die Wolles freilich unter normalen Verhältnissen nicht viel anders als eine große Zahl der Christen heutzutage, die das ganze Jahr keine Kirche von innen sehen und sich allenfalls an Weihnachten und Ostern in einen Gottesdienst bequemen. Von Hans Wolle, zum Beispiel, hat man in späteren Jahren, nachdem er in Brasilien heimisch geworden war, niemals mehr vernommen, dass er religiös gewesen wäre. Aber in der jüdischen Gemeinde von Sao Paulo hat er Leidensgenossen aus Deutschland getroffen, Erfahrungen austauschen können und auch tätige Hilfe für den Neuanfang erfahren.

Von bewusstem Jüdischsein lag das alles weit entfernt. Nicht einmal jüdische Witze waren bei den Wolles wohlgelitten. Sie wurden gleichsam unter dem Tisch erzählt, sehr zum Vergnügen meines nichtjüdischen Vaters, der, völlig hingerissen vom natürlichen und unverkrampften Umgangston im Hause seiner Schwiegereltern, solche Geschichten auch an die nächste Generation weiterreichte. Im Grunde aber galt das Kapitel dieser Herkunft als abgeschlossen. Man war doch so deutsch, so wahnsinnig deutsch, und man war ebenso stolz auf das Land, auf seine Kultur und seine wissenschaftlichen Leistungen wie alle anderen Mitbürger auch. Und der jüdische Rest? Der hatte nichts zu tun mit Mesusen und der Menorah oder gar mit koscherem Essen. Ganz im Gegenteil, darüber machte man sich eher lustig. So pflegte Gustav seine etwas intensiver an die Traditionen gebundene Ehefrau mit dem sehr unkoscheren Hinweis zu provozieren: »Nicht wahr, Thekelchen, am besten schmecken Matzes doch mit Schinken.«

Mit Vergnügen servierte er ihr auch seine Einsicht: »Ach weißt du Muttchen, ich glaube, es gibt doch keinen lieben Gott.« Und Günter, der jüngste Spross der Familie – als er seinem älteren Bruder vom Besuch bei einer Tante berichtet –, lästert geradezu über das ebenso jüdische wie christliche weihnachtliche Ritual, das er bei ihr erlebt hat: »Meine Ankunft hier wurde mit Chanuccah-Ende oder irgend so was ähnlichem gefeiert, zu welchem Zweck Tante Clara Weihnachtskerzen in einen jüdischen Leuchter und sich vor diese stellte, um etwas vorzulesen, was ich nicht verstand, worauf alle anderen sich verpflichtet fühlten, etwas zu singen, was ich ebenfalls nicht verstand; dazu musste ich mir meinen leicht fettigen Hut aufsetzen, trotzdem geheizt war. Und dann sagten alle, es wäre sehr schön gewesen, was ich auch nicht verstanden habe.«

Nein, den Jahrtausende alten Regeln fühlte man sich nicht mehr verpflichtet. Und wenn man sich in dieser Familie schon in einem jüdischen Verbund sah, so – ohne sich mit ihnen messen zu wollen – mit den Mendelssohns und den Damen der jüdischen Salons im Berlin des 19. Jahrhunderts, wie Rahel Varnhagen, oder mit den Zeitgenossen wie Max Liebermann und Lovis Corinth, mit Max Reinhardt und Fritz Kortner, mit Kurt Tucholsky und Walther Rathenau, mit den Mosses und Wertheims, mit den vielen aufgeklärten, modernen Juden in Deutschland und im Berlin des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts.

Das Jüdische erschien ihnen allenfalls als eine Art Sahnehäubchen auf dem Deutschen. Nicht in den jüdischen Witzen, sondern im jüdischen Witz erkannten sie sich wieder. Ein doppelt elitäres, dabei erlittene Kränkungen kompensierendes, also nicht ungebrochenes Bewusststein blühte da auf, das für meine Mutter, wenn sie zurückblickte, in der tröstenden Erkenntnis gipfelte, die Berliner Juden wären »das Feinste vom Feinen« gewesen. Eine nicht gar so abwegige Behauptung, wie man bei Amos Elon in seinem bewegenden Buch über die deutsch-jüdische Epoche nachlesen kann, in dem er auch auf Theodor Fontanes Bemerkung hinweist, dass die Juden ihre Villen lieber mit Musikzimmern als mit Reitställen ausstatteten und die Wände lieber mit Bücherregalen als mit Ahnenporträts: »Keine andere Bevölkerungsschicht in Deutschland (oder anderswo in Europa) war so kunstbegeistert wie das deutsch-jüdische Bürgertum der wilhelminischen Epoche.«

Dass dieses Deutschjüdische oder Jüdischdeutsche, diese wunderbare Errungenschaft nach Jahrhunderten der Verfolgung und Diskriminierung, noch einmal auf das Nur-Jüdische zurückgeworfen werden und in einen tödlichen Gegensatz zum Betont-Deutschen geraten könnte, wäre niemandem in den Familien der Wolles und Marcuses in den Sinn gekommen – zumindest nicht, bevor es alle erleiden mussten. Sie hielten den Antisemitismus ihrer Zeit für ein Nachhutgefecht der Geschichte und fühlten sich sicher und einigermaßen anerkannt in der Gesellschaft, in der sie lebten. Wer hätte sich das je träumen lassen: jüdische Hochschullehrer, Rechtsanwälte, Ärzte, Beamte, Offiziere, sogar ein jüdischer Außenminister. Beglückendes Deutschland, auch wenn man mit Familien anderer Religionszugehörigkeit, also mit den »Gojim«, den Nichtjuden, nur in Ausnahmefällen innig befreundet war und auch, gleichsam selbstironisch auf die Vergangenheit zurückschauend, gern ein paar treffende jiddische Ausdrücke oder jüdische Sprüche in die Unterhaltungen einfließen ließ.

Günter und Hans Wolle,

die Söhne von Thekla und Gustav,

Anfang der zwanziger Jahre

»Mit Ejzes bin ich versehen«, was soviel bedeutet wie: an Ratschlägen mangelt es mir nicht, war ein häufig zu hörender Satz in unserer Familie. Oder »Gojim nacheß«, sagte unsere Mutter mit einer Spur Überheblichkeit, ein Vergnügen der Gojim, der Nichtjuden, bezeichnend, wenn von einem billigen Volksvergnügen die Rede war. Klagte jemand über einen Lehrer, einen Vorgesetzten oder einen Partner, so kam unweigerlich der mit altjüdischer Weisheit getränkte Satz, man solle sich nie einen neuen Méjlech, einen neuen König, wünschen. Und ein Mensch ohne Charme, ohne Liebreiz hatte keinen »Chein«, galt als »unbecheint«. Auf diese Weise vergewisserte sich die Familie aus dem Abstand ihrer Wurzeln, freute sich an der Treffsicherheit der Pointen und Formulierungen, fand es auch interessant, nahm das alles aber nicht mehr so ganz ernst und rechnete es vorweg in ironischen Selbstbespiegelungen zu den Ausweisen der eigenen Identität. Man spielte damit. »Spaß, werd ich jetzt maßgenommen. Vor lauter Arbeit weiß ich überhaupt nicht, womit ich zuerst anfangen soll«, schreibt der jüngste Wolle ein bisschen »jidelnd« an seinen Bruder in Brasilien oder: »Vorhin war ich nebbich bei Sachs, um Deinen Brief abzuholen«, und: »Joi, hat man mich heute beim Mittagessen genudelt …«. Das war der Ton in dieser jüdischen Familie. Kein deutscher Offizierssohn hätte in dieser Art an seinen Bruder geschrieben. Ja, es waren Juden, und sie wussten es. Aber was hieß das schon? Das war nicht mehr als eine Farbe. Vor allem waren diese Menschen begeisterte Deutsche.

Unbehaust in Palästina

Als ich auf die Welt kam, war mein Großvater Gustav Wolle schon lange tot, gestorben an einer Gallenoperation, die notwendig geworden war, da er an Gallensteinen gelitten hatte – ein in allen Generationen wiederkehrendes Familienübel. Heute geht dieser Eingriff fast ambulant, ohne große Schnitte und ohne größere Gefahren vonstatten, damals war er noch äußerst riskant. Zu alledem hatten die operierenden Ärzte einen Kunstfehler gemacht, ein Gefäß nicht richtig vernäht oder einen Tupfer in seinem Bauch vergessen. Man hat es nie so richtig erfahren. Gustav verblutete innerlich – und hatte doch auch Glück in diesem Unglück. Im Gegensatz zu seiner Frau ist ihm die Zeit der Verfolgung im Dritten Reich erspart geblieben. Oder hätte das Schicksal der Familie einen anderen Verlauf genommen, wenn Gustav anno 1926 nicht auf dem Operationstisch geblieben wäre?

Hätte er womöglich die Dinge in eine ganz andere Richtung gelenkt, hätte er das Dritte Reich mit seiner Frau und allen Kindern und Kindeskindern in Südafrika überstanden, wie sein Schwager, der Berliner Rechtsanwalt Max Simon? Oder wäre er, wie der angebetete Vetter Max Marcuse, rechtzeitig nach Palästina ausgewandert? Denn dieser, Arzt mit psychologischem Einfühlungsvermögen und forensischer Gutachter, verstand es schon aus den Erfahrungen seiner Profession, in die Abgründe der menschlichen Seele zu schauen. Er wusste, welche Art von Verbrechern in Deutschland die Macht übernommen hatte und dass die Juden hier nicht mehr in Ruhe würden arbeiten und leben können. Gewiss ahnte er nicht, was wirklich noch geschehen würde. Denn bevor es geschah, war die totale Entrechtung deutscher Staatsbürger und der industriell organisierte und durchgeführte Mord an sechs Millionen Juden genauso unvorstellbar wie danach. Und doch verließ M. M. schon 1933, gleich nach der Machtergreifung, mit seinem Sohn Hans das Land seiner Väter, zog nach Tel Aviv, wo er zwar wieder als Arzt arbeitete, jedoch niemals mehr an die Berliner Erfolge anknüpfen konnte oder gar als Kapazität gefeiert wurde. Max Marcuse, ein großer Deutscher, geriet in Vergessenheit.

Erst sein ältester Sohn, jener Hans, mit dem er zu Beginn des Dritten Reiches ausgewandert war – der zweite Sohn, damals erst zwei Jahre alt, folgte mit der Mutter wenige Monate später nach –, machte wieder von sich reden, allerdings unter seinem neuen, in Palästina angenommenen Namen. Statt Hans Marcuse hieß er nun Yohanan Meroz. Er hatte semitische Sprachen studiert, war Berufsdiplomat geworden, hatte sein Land zunächst in Ankara, später als Gesandter in Washington und Paris vertreten. Eine sehr beherrschende Persönlichkeit, insofern dem Vater nicht nur in der Statur, sondern auch in der Unbedingtheit seines Auftretens ähnlich, immer fordernd – im Persönlichen wie im Politischen, das Unrecht der Vertreibung, das er als Dreizehnjähriger erlitten hatte, als ewigen Stachel in sich tragend.

Im Gegensatz zu Max Marcuse, der noch dreißig Jahre nach der Emigration in Palästina und später in Israel lebte, ohne dass er jemals die Landessprache auch nur halbwegs geläufig erlernt hätte, war sein Sohn ausgesprochen polyglott. Er sprach Englisch, Französisch und Arabisch fließend, natürlich beherrschte er auch das Iwrith, das neue Hebräisch, und sein Deutsch, das Deutsch der zwanziger Jahre, das Deutsch der gebildeten Berliner jener Zeit, das heute niemand mehr beherrscht, fiel jedem, der ihn sprechen hörte, sofort als besonders elegant auf. Über die Jahrzehnte in der Emigration hinweg hatte er es gepflegt und sich bewahrt. Wenigstens die Sprache wollte er noch lieben, wenn er das Land nicht mehr lieben konnte, in dem er geboren wurde und in prägenden Kinder- und Jugendjahren aufgewachsen war. 1959 kam er als politischer Stellvertreter des Leiters der Israel-Mission in Köln zum ersten Mal wieder für längere Zeit zurück in die alte Heimat und half die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Jerusalem vorzubereiten. Viel später, von 1974 bis 1981, war er Botschafter seiner mittlerweile leidenschaftlich geliebten neuen Heimat Israel in der von ihm allzeit kritisch beäugten Bonner Republik.

Nur fast ein Liebespaar.

Thekla Wolle und Max Marcuse

beim Spaziergang

Auch Thekla Wolle versuchte erst einmal den Weg der Marcuses zu gehen. Max hatte in der ganzen Familie immer wieder für die Emigration und besonders für diesen Weg geworben, hatte auch sie wiederholt zur Auswanderung gedrängt. Also reiste sie 1936 zunächst zur Probe nach Palästina, gerade so, als ob sie unendlich viel Zeit hätte, sich den Schritt in eine andere Welt noch einmal zu überlegen. Dabei wurde in diesem Jahr das Konzentrationslager Sachsenhausen eingerichtet, und überall in Berlin – unterbrochen nur durch die Wochen der Olympiade – hingen Schilder, die anzeigten, dass Juden an diesem und jenem Ort »unerwünscht« seien – an Badeanstalten, Kinos, Theatern, Ausstellungshallen. Trotzdem erschien meiner Großmutter das Leben in Deutschland immer noch angenehmer als in Palästina und, von der Reise zurück, befand sie, dass es in dieser Wildnis nicht auszuhalten sei. Danach gab sie den Gedanken an eine Auswanderung erst einmal auf.

Aber vielleicht lag das nicht nur an der Wildheit, an der Unterentwickeltheit Palästinas – der Staat Israel war noch lange nicht geboren –, vielleicht hatte die Enttäuschung auch mit dem bewunderten, wahrscheinlich sogar geliebten Max Marcuse zu tun. Die ganze Familie wusste, dass Thekla, damals seit zehn Jahren Witwe und 57 Jahre alt, für M. M. entflammt war, wie ernsthaft auch immer. Mein Vater hat deshalb einmal mit Blick auf seine Schwiegermutter das Gedicht »Wie einst im Mai« aus der Feder des österreichischen Poeten Hermann von Gilm persifliert: »Stell auf den Tisch die duftenden Reseden, zünd’ auch die Kerzen an aus Wachs, und lass uns von dem Manne reden, dem göttergleichen Max«.

Auf ihn hatte die Witwe sicher auch ihre Hoffnungen gesetzt. Aber der gute Max war nicht nur ein berühmter Arzt und Sexualwissenschaftler, er war in diesem Fach sozusagen auch selbst praktizierend, war ein Liebhaber der Frauen, ein womanizer. Thekla musste erkennen, dass sie nicht die einzige Verehrerin des mittlerweile schon zweimal Geschiedenen war.

So kam eines zum anderen: das unerträgliche Klima und die einfachen Verhältnisse in Tel Aviv für eine Frau, die das bürgerliche und angenehme deutsche Großstadtleben gewohnt war, dazu die Enttäuschung darüber, dass der Angebetete sie nicht liebte oder eben auch viele andere liebte, und nicht zuletzt: der Gedanke an zwei Söhne, an die Tochter und ein neugeborenes Enkelkind, die alle miteinander weiterhin in Berlin lebten. Verständlicherweise wollte sie ihre älteren Tage doch »im Kreise meiner Lieben« verbringen, wie sie ein paar Jahre später in einem Brief bekannte. In Palästina aber warteten nur Unbequemlichkeiten und Ungewissheiten auf sie. Und ganz sicher hatte sie in diesen ersten Jahren der Hitlerdiktatur, also lange vor der sogenannten Reichskristallnacht, nicht die leiseste Ahnung von dem, was die Nazis den Juden bereits antaten und vor allem: was sie ihnen noch antun würden. Nicht jeder war so hellsichtig wie Max Marcuse.

Großmutter Thekla

mit ihrer Enkeltochter,1936.

Manchmal frage ich mich, jetzt, da ich in der gleichen Lebensphase bin wie Thekla während jener Jahre: wäre ich Max Marcuse gefolgt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich mich aus dem damals immer noch recht sicher erscheinenden Mitteleuropa abgesetzt hätte, ob ich in dem feucht-heißen Klima Tel Avivs hätte leben und die Familie zurücklassen wollen. Wäre es nicht unerträglich gewesen, die eigenen Kinder, obschon erwachsen, so weit weg und unter solchen Verhältnissen zu wissen? Den jüngeren Sohn, gerade mal 24 Jahre alt, am Start eines Berufslebens, noch zu Hause wohnend, also nicht ganz flügge? Und erst recht die etwas nervenschwache Tochter, ohne Unterstützung, allein mit ihrem lebhaften Kind, mit »Bille, dem garstigen Rüpel«? Konnte man sich nicht damit beruhigen, dass es schon nicht so schlimm werden und auch bald vorüber sein würde? Ein brauner Spuk und alles andere als das wahre Deutschland, das man so sehr liebte, mit seinen Dichtern und Musikern, mit seinen Opern, Konzerten, Ausstellungen, mit seinen Theatern und Kabaretts? Man war doch assimiliert, gehörte dazu. Unmöglich, dass dies alles spurlos weggefegt würde, unmöglich, dass sich die braune Barbarei auf Dauer festfressen könnte. Ausgeschlossen. So ähnlich mag sie sich alles zurechtgelegt haben. Und dann dieser eine Satz, dieser unendlich naive Satz: »Was soll uns schon passieren? Wir haben doch immer unsere Steuern bezahlt!«

Sie kehrte also tatsächlich zurück nach Berlin in ihr gewohntes bürgerliches Leben und fühlte sich zunächst in ihrer Entscheidung durchaus bestätigt. Aus ihren Briefen an Hans, den Ältesten, geht das hervor. Er hatte sich ebenfalls zunächst in Palästina umgetan, nachdem er vom Breslauer Elektrizitätswerk entlassen worden war. Wie Thekla, so hatte auch er die nahöstliche Gegend nicht sehr attraktiv gefunden. In Brasilien, dem südamerikanischen, schon weiter entwickelten und europäisch geprägten Land, vermeinte er für sich die besseren Chancen zu erkennen, fasste dort tatsächlich Fuß und arbeitete sein Leben lang, wenn auch nicht auf dem Niveau, das er in einem Deutschland ohne Nazis erreicht hätte, für den Elektrokonzern, der sich anfänglich »Light & Power Company« nannte und heutzutage »Eletropaulo SA« heißt. Aber immerhin: Hans hat überlebt. Im Sommer 1937 verließ er Berlin, und sowohl seine Mutter, sein Bruder und seine Verlobte, die sich ihm nicht gleich anschlossen, sollten es später tief bereuen. Theklas Briefe an ihn erzählen die Geschichte von anfänglicher Blauäugigkeit und Blindheit, von versäumten Chancen, allmählich aufblitzenden und immer dringlicher werdenden Hilferufen, von schlussendlicher Vergeblichkeit und Verzweiflung. Doch am Anfang berichten sie auch von einer erstaunlichen Normalität.