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Mit der Forderung nach political correctness für wissenschaftliche Erkenntnis wird derzeit weithin der Streit um eine wissenschaftsfremde, ideologische Einflussnahme auf Forschung und Lehre geführt. Er ist im Kern herrschaftssoziologischer Natur, wirft aber wissenschaftstheoretische und rechtliche Folgeprobleme auf. Der Beitrag skizziert grundlegende Begriffe und Überlegungen hierzu. Zugrunde liegt ein Wissenschaftsverständnis von moderner, eher pragmatischer denn theoretischer, erkenntnisphilosophischer Lesart. Es gestattet, unterschiedliche Erkenntnisbemühungen geisteswissenschaftlicher, einschließlich analytischer (logischer, mathematischer), und empirischer Art gemeinsam als „wissenschaftlich-methodisch“ zu klassifizieren und dennoch die – wie immer unscharfen – Grenzen zum Alltagswissen sowie zur Ideologie und Scharlatanerie zu ziehen. Die aktuellen Bedrohungen der Autonomie von Forschung und Lehre sind damit – in der Unterscheidung zur grundgesetzlich verbrieften Wissenschaftsfreiheit ¬– in ihrer gesellschaftlichen Motivationsgrundlage deutlicher zu erkennen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
[105]
Jahrbuch Wissenschaftsfreiheit, 1 (2024): 105 – 117https://doi.org/10.3790/jwf.2024.1431401
Herrschaft statt Wissenschaft
Wissenschaftstheoretische und wissenschaftssoziologische Anmerkungen zur political correctness in Forschung und Lehre
Von Gebhard Geiger*
I. Einleitung
Helmut Schelsky äußerte 1975 die Vermutung, dass Versuche, die Lehrmeinungen der Sozial- und Kulturwissenschaften politisch-ideologisch gezielt zu beeinflussen, mit den 68er-Jahren keineswegs zum Erliegen gekommen seien. Solche Versuche würden voraussichtlich aus wechselndem Antrieb und in unterschiedlicher Besetzung über Generationen andauern.
Selbst in Ländern mit Verfassungsgarantien für Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit geraten Forschung und Lehre an den Hochschulen gegenwärtig erneut unter Herrschaftseinfluss, und dies weit über die Sozialwissenschaften hinaus. Es sind dabei Zensurbestrebungen am Werk, die sich unter der Bezeichnung cancel culture gegen die unterschiedlichsten herkömmlichen akademischen Lehrmeinungen richten, wenngleich von „Zensur“ zu „Kultur“ um- und schöngefärbt. Ausgelöst werden sie von Anschuldigungen des „Rassismus“, „Sexismus“ und ähnlichen, auf politische Wirkung zielenden Vorwürfen. Bestrebungen dieser Art sind seit etlichen Jahren aus den Vereinigten Staaten unter dem Schlagwort der political correctness bekannt geworden und haben weltweit einen Kulturkampf entfacht, namentlich auch hierzulande.1 Entsprechend dem Selbstverständnis ihrer Anhänger richteten sie sich ursprünglich gegen die Diskriminierung von Minderheiten in der amerikanischen Gesellschaft, wobei man davon ausging, dass Ausgrenzung und Benachteiligung gesellschaftlicher Gruppen in der Umgangssprache gleichermaßen Ausdruck wie Bestätigung fänden („Alltagsrassismus“). Man [106] betrachtete einen „politisch unangemessenen“ Sprachgebrauch sozusagen als Fortsetzung der rechtlichen und sozialen (beruflichen, wirtschaftlichen, schulischen) Diskriminierung mit sprachlichen Mitteln. In den vergangenen Jahrzehnten richteten sich diese Bestrebungen jedoch auch zunehmend darauf, wissenschaftliche Fachsprachen, Lehrmeinungen und schließlich auch die Ergebnisse ganzer Forschungsgebiete nach Maßgabe politischer Ideologien zu zensieren.
Der Versuch einer wissenschaftsfremden Einflussnahme auf Forschung und Lehre hat eine Reihe juristischer und fachwissenschaftlicher Untersuchungen und Beiträge zur grundgesetzlichen Garantie der Wissenschaftsfreiheit und ihren praktischen, insbesondere hochschulpolitischen Auswirkungen angeregt.2 Sie tragen dazu bei, die politischen Ansprüche, die sich mit den neuerlichen Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit verbinden, rechtlich einzuordnen, lassen jedoch einige wesentliche Fragen offen. Denn der Streit um political correctness in der Wissenschaft ist im Kern herrschaftssoziologischer Natur und wirft rechtliche, fachwissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Fragen als Folgeprobleme auf.