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Die Saga des Wikingerkönigs Harald Hardrada – seine Abenteuer und Kämpfe, seine Frauen und sein unbezwingbarer Ehrgeiz. AD 1027: Harald ist zwölf Jahre alt und jüngster Sohn aus edlem Hause. Er will Krieger werden und seinem Halbruder Olaf nacheifern, der Kriegsherr und König von Norwegen ist. Doch ein Aufstand der Jarls treibt Olaf aus dem Land. Harald bereitet sich auf den Tag vor, da sein Bruder mit einem Heer zurückkehrt. Drei Jahre später ist es so weit. Blutjung zieht Harald in den Krieg. Es kommt zur entscheidenden Schlacht von Stiklestad. Olaf stirbt, und Harald muss schwer verwundet fliehen. An seiner Seite die junge Sklavin Aila. Ihr gemeinsamer Weg führt nach Russland. Der Auftakt der historischen Saga um den Wikinger-König Harald Hardrada. Es folgen die Bände "Odins Blutraben" und "Die letzte Schlacht".
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Seitenzahl: 624
Ulf Schiewe
Historischer Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
AD 1027: Harald ist zwölf Jahre alt und jüngster Sohn aus edlem Hause. Er will Krieger werden und seinem Halbruder Olaf nacheifern, der Kriegsherr und König von Norwegen ist. Doch ein Aufstand der Jarls treibt Olaf aus dem Land. Harald bereitet sich auf den Tag vor, da sein Bruder mit einem Heer zurückkehrt. Drei Jahre später ist es so weit. Blutjung zieht Harald in den Krieg. Es kommt zur entscheidenden Schlacht von Stiklestad. Olaf stirbt, und Harald muss schwer verwundet fliehen. An seiner Seite die junge Sklavin Aila. Ihr gemeinsamer Weg führt nach Russland.
Karte
Einleitung
TEIL I
Auf der Flucht
Das Hexenweib
Sigurds Fluch
Åstas Ehrgeiz
Das Untier
Der zornige Engel
TEIL II
Thors Hammer
Die schönen Zwillinge
Stikla Stad
Verwundet
Die Hütte im Wald
TEIL III
Das Heulen der Wölfe
Im Land der Rus
Die Pelzräuber
Jarl Eilif
Der Großfürst
Elisif
Anmerkungen des Autors
Glossar
Personen
Harald und seine Familie (historisch)
Andere historische Personen
Fiktive Personen
Ich bin Harald, Sigurds Sohn und von königlichem Blut.
Die Skalden nennen mich Harðráði, was so viel wie kühner, aber auch harter Herrscher bedeutet, je nachdem, wie wohlgesinnt man mir ist. Mein alter Freund Thjodolf nennt mich Rabenfütterer in seinen Liedern. Man kann sich denken, warum. Ich bin nicht unzufrieden mit solchen Beinamen, denn sie flößen Respekt ein, auch wenn nicht alles wörtlich zu nehmen ist, was die Skalden singen. Doch da sie in meiner Halle saufen, gern auch mein Silber nehmen, sollen sie mich gefälligst rühmen, wenn sie von meinen Taten erzählen.
Aber nicht heute. Heute will ich weder prahlen noch Ruhmeslieder anstimmen, sondern erzählen, wie es wirklich war in meinem Leben. Natürlich war ich nicht immer König dieses kargen, wildschönen Landes, das sich Norðvegr nennt, benannt nach der Seeroute, die entlang der zerklüfteten, inselreichen Küste führt, vorbei an schneebedeckten Bergen und stillen Fjorden bis hinauf ins Eismeer, wo Wale, Robben und Walrosse gejagt werden.
Wir Nordmänner sind Bauern, Jäger und Fischer und vor allem Seefahrer. Denn urbares Land gibt es nur wenig in unserer rauhen Heimat, in der die Winter lang sind und das Leben hart. Seit Generationen segeln unsere Männer in die Ferne, um ihr Glück zu machen. Wir sind ein unerschrockenes Volk und stolz auf die schnellen Schiffe, mit denen wir die Welt befahren, Handel treiben und je nach Gelegenheit auch Beute machen. Island, Grönland und die Orkneyinseln haben wir entdeckt und besiedelt, in Irland wie auch im Land der Angeln und Sachsen haben wir gekämpft und Land erstritten, den Franken Gebiete abgetrotzt und in den unendlichen Wäldern des Ostens nach Fuchs und Zobel gejagt.
Wir lieben unsere Freiheit mehr als alles andere. Manche Siedlungen, besonders im Norden, sind abgelegen und nur übers Meer zu erreichen. Dort herrschen Familienklans, die sich von niemandem etwas sagen lassen. Bei ihnen sind Abgaben, wenn überhaupt, nur mit Gewalt einzutreiben. Ruft man sie aber zum Krieg mit Aussicht auf Beute, dann sind sie schnell dabei.
Treu sind wir Nordmänner, ob auf Handelsfahrt oder im Krieg, vor allem den Kameraden einer eingeschworenen Schiffsmannschaft, einer hirð, wie wir sie nennen. Auch in der Schlacht ist das die Kampfeinheit, auf die man sich blind verlassen kann. Aber einem König folgen die Männer nur, solange er hält, was er verspricht. Wendet sich sein Glück, lassen sie ihn im Stich. Mit einem Wort: Wir sind ein Volk, das nur schwer zu beherrschen ist.
Das musste mein Halbbruder Olaf, den sie heutzutage den Heiligen nennen, nur allzu schmerzhaft am eigenen Leib erfahren. Und da es den Nornen gefiel, mein Schicksal eng mit dem seinen zu verknüpfen, wurde ich gezwungen, viel zu jung die Heimat zu verlassen. Nicht aus Abenteuerlust, sondern weil man mir nach dem Leben trachtete. Überhaupt haben im Laufe der Zeit viele versucht, mich umzubringen. Aber ich stehe immer noch auf beiden Beinen und lache dem Schicksal ins Gesicht.
Dies hier ist also meine Geschichte. Ich beginne mit jenem denkwürdigen Tag, der eigentlich schon alles andeutete, was später folgen würde. Obwohl es noch niemand ahnen konnte. Damals war ich zwölf Jahre alt.
Gehör erbitt ich aller heiligen Geschlechter,
höherer und mindrer Söhne Heimdalls:
Du willst, dass ich, Walvater, richtig erzähle
älteste Kunde der Wesen, deren ich mich erinn’re.
Aus den Götterliedern der Edda
Es ist kalt, grau und feucht. Einer jener Tage, an denen man sich lieber hinterm Herdfeuer verkriecht, als draußen im Herbstnebel herumzulaufen.
Das heißt, jeder außer mir. Ich stehe mit nacktem Oberkörper im eisigen Wind hinter einem Vorratsschuppen und hacke Holz, was das Zeug hält. Und warum? Weil mir die Geschichten des alten Hrane, den sie den Weitgereisten nennen, den Kopf verdreht haben. Geschichten, die einen Jungen wie mich von schlanken Drachenschiffen träumen lassen, von fernen Welten und Heldentaten. Hrane behauptet, neben Rudern auf einem Langschiff gäbe es nichts Besseres als Holzhacken, um die Muskeln an Armen und Schultern zu stärken. Und deshalb stehe ich hier in der Kälte und hacke Holz, dass mir der Schweiß herunterläuft.
Der Schuppen gehört zum großen Gehöft meiner Familie in Hringaríke, einer Gegend südlich von Oppland. Das Anwesen liegt gut gesichert in einer engen Schleife der Begna nicht weit vom rauschenden Wasserfall entfernt, den man Hønefoss nennt. Entlang des Flusslaufs und in den Seitentälern zwischen bewaldeten Hügeln liegen die Felder unserer Bauern. Um diese Jahreszeit schon lange abgeerntet.
Im Grunde ist es weit mehr als ein Bauernhof, eher eine aus mehreren Gebäuden bestehende, durch Graben und Palisaden gesicherte Wallburg mit einer Besatzung kampferfahrener húskarlar. Mein Vater Sigurd Halfdansson war, ebenso wie sein Vater vor ihm und auch dessen Vater, König von Hringaríke, bevor er im Alter von achtundvierzig Jahren erkrankte und kurz darauf starb. Bei seinem Tod war ich erst drei Jahre alt gewesen und habe deshalb keine Erinnerungen an ihn, außer daran, was mir andere erzählt haben.
Dabei redet meine Mutter Åsta nur wenig über ihn. Ich vermute, sie hängt immer noch ihrem ersten Mann nach, Harald Grenske, in den sie sich mit fünfzehn Jahren verliebt hatte. Der war sechs Monate nach der Hochzeit einem Brandanschlag zum Opfer gefallen, unter seltsamen Umständen, über die niemand spricht, am wenigsten meine Mutter.
Jedenfalls ist sie danach als junge Witwe hochschwanger zur Familie ihres Vaters Gudbrand in Vestfold zurückgekehrt, wo sie meinen Halbbruder Olaf zur Welt brachte. Drei Jahre später hat sie dann auf Drängen der Verwandten meinen Vater Sigurd geheiratet, eine vorteilhafte Verbindung für die Familie, aber für Åsta eher eine Vernunftehe. So jedenfalls wird getuschelt. Wenn man in einem Haushalt wie dem unseren aufwächst, besonders mit älteren Geschwistern, Mägden und Knechten, bleibt einem wenig verborgen. Auch wenn die Erwachsenen glauben, Kinder hören nicht zu, und einem noch nichts zutrauen, wenn man zwölf ist, so bin ich schließlich weder schwerhörig noch dumm. Wenn meine Mutter denkt, dass niemand ihre Geheimnisse kennt, dann irrt sie sich.
Die Leute erinnern sich an meinen Vater als einen eher friedfertigen, etwas behäbigen Mann, den wenig aus der Ruhe brachte und der oft ein humorvolles Zwinkern in seinen blauen Augen hatte. Jedenfalls war er kein Krieger, nicht wie Åstas erster Gemahl Grenske, sondern ein besonnener Mann der Scholle, dem das Wohl seiner Bauern am Herzen lag sowie die friedliche Mehrung seines Besitzes. Angeblich war er sich auch nicht zu schade, gelegentlich selbst den Ochsenpflug zu führen. Weshalb er sich den scherzhaften Beinamen Sigurd Syr einhandelte, die Sau, die unermüdlich mit dem Rüssel im Boden wühlt. Nicht gerade ein Bild, das geeignet ist, die ehrgeizigen Träume meiner Mutter zu beflügeln. Sie hatte immer mehr im Sinn gehabt als das hinterwäldlerische Hringaríke, in das es sie verschlagen hatte.
Und doch sollte sie sich nicht beklagen, denn Sigurd ist ihr in aller Hinsicht ein guter Ehemann gewesen. Er hat Olaf bereitwillig wie einen eigenen Sohn erzogen und in allem unterwiesen, was ein Mann fürs Leben braucht. Trotzdem waren meine Eltern anscheinend so verschieden, dass es Jahre dauerte, bevor sie sich wirklich näherkamen und eine richtige Ehe führten. Denn mein Bruder Guttorm, Åstas zweites Kind, wurde erst zwölf Jahre nach der Vermählung geboren. Es zeugt vom geduldigen Wesen meines Vaters, dass er es mit meiner oft spröden Mutter so lange ausgehalten hat, bevor sie ihn endlich in ihr Bett ließ. Danach aber folgten in regelmäßigen Abständen meine Geschwister Gunhild, Halfdan und Ingerid. Zuletzt ich selbst als Nachkömmling.
Nach Sigurds Tod hat Mutter sich um die Herrschaft über unser kleines Reich gekümmert, denn Guttorm war damals noch viel zu jung. Sie nimmt ihre Verantwortung ernst, ist gerecht zu jedermann, lässt es jedoch nicht an Härte fehlen, wenn man das Recht bricht, unseren Besitz bedroht oder sich ihrem Willen widersetzt. Die zwanzig Krieger, die sie in der Wallburg unterhält, wie auch die wehrhaften Bauern, die wir jederzeit zu den Waffen rufen können, stehen ihr dabei zur Seite. Und sie ist durchaus fähig, die Männer erfolgreich zu führen, wenn es nottut. Eine wahre Löwin, meine Mutter. Das sagt jeder von ihr. Klar, sie ist nur eine Frau und doch in gewisser Weise mein Vorbild. Besonders was Ehrgeiz, Zähigkeit und Entschlossenheit betrifft. Wer sollte schließlich sonst mein Vorbild sein? Außer Hrane natürlich. Doch der ist alt. Oder Olaf. Aber der ist fast nie hier. Ich hab ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.
Heute Morgen waren die Felder weiß vor Frost, obwohl an den Bäumen noch gelbbraunes Herbstlaub hängt. Der Tag zeigt sich als Vorbote des Winters, unfreundlich und mit klirrender Kälte. Und jetzt am Nachmittag liegen die Wolken so tief über den Hügeln, dass man die bewaldeten Kuppen kaum erkennen kann. Von den nahen Stromschnellen des Hønefoss steigt feiner Nebel auf, und vereinzelt taumeln Schneeflocken vom Himmel. Früh für die Jahreszeit.
Am Vormittag haben die Leibeigenen Schweine geschlachtet und die blutigen Abfälle vors Tor geworfen. Seitdem ist die Luft erfüllt vom Gebell der Hunde und dem Gezeter der Krähen und Raben, die sich um die besten Stücke streiten. Der Anblick der schwarzgefiederten Vögel erinnert mich an Oðins weise Raben Huginn und Muninn, die allmorgendlich in die Welt hinausfliegen, um alles zu erkunden und ihm zu berichten. Vielleicht sind sie gerade da draußen vor dem Tor und zanken und balgen sich mit den anderen Krähen und machen den Hunden die Beute streitig. Oðins Raben sehen alles in der Welt. Und vielleicht berichten sie sogar von mir. Bei dem Gedanken läuft mir ein Schauer über den Rücken.
Christen – ja, es gibt ein paar in Hringaríke – halten diese Dinge für Aberglauben. Eigentlich bin ich auf Befehl meiner Mutter sogar getauft worden, wie viele andere in der Gegend. Nicht weit von der Burg gibt es sogar einen Christenschrein am Wegrand, aber die allermeisten glauben nicht wirklich an hvítakristr, den Weißen Christ, wie er von den Leuten abfällig genannt wird. Unser tägliches Leben ist viel zu sehr mit den alten Göttern verbunden und mit den gewohnten Opfern und Riten, mit denen wir sie beschwichtigen und wohlwollend stimmen. Es gibt nichts Schlimmeres, als Götter zu verärgern oder gar die Aufmerksamkeit des hinterlistigen Loki zu erregen. Frauen lassen an heiligen Bäumen kleine Gaben für Freya zurück, damit sie fruchtbar sind und ihre Kinder gesund bleiben. Krieger beten zu Tyr oder noch besser zu Oðin, dem Gott der Schlachten und des Chaos. So hat Hrane es uns Jungen beigebracht.
Der Gedanke an Oðin befeuert meine Anstrengungen. Ich will eines Tages ein mächtiger Krieger werden. Das treibt mich an. Seit Stunden schon bin ich hier zugange, grob zersägte Holzblöcke in Feuerholz zu verwandeln. Schweiß läuft mir über Gesicht und Brust. Trotz der Kälte habe ich mich meiner Wolljacke und sogar des Hemdes entledigt. Zuerst hatte ich noch Hilfe von meinem besten Freund Thorkel. Aber nach einer Stunde ist seine Mutter aufgetaucht und hat ihn an den Ohren weggezerrt. Was ihm einfiele, die Arbeit von Leibeigenen zu verrichten? Meine Mutter dagegen lässt mich gewähren, denn sie weiß, warum ich mir die Mühe mache, und billigt meinen Ehrgeiz.
Etwas später leistet mein Bruder Halfdan mir kurz Gesellschaft. Nicht ohne spöttische Bemerkungen über meinen Eifer. Aber dann ist es ihm zu kalt, und er verzieht sich ins warme Haus. Inzwischen habe ich schon einen beachtlichen Berg an Scheiten geschlagen. Der Duft des frisch gespaltenen Holzes mischt sich mit dem Blutgeruch der Schweinehälften, die nebenan im Vorratsschuppen hängen. Aus der großen Halle im Haupthaus dringen gedämpfte Stimmen. Das sind die Männer, die beim Bier sitzen.
Eine Magd hastet vorüber und bleibt kurz stehen, als sie mich sieht. Ich ernte einen belustigten Blick von ihr. Einen von Åstas Söhnen mit nacktem Oberkörper beim Holzhacken anzutreffen, muss ihr mehr als seltsam erscheinen. Noch dazu bei der Kälte.
»Du wirst dir den Tod holen, Harald«, ruft sie mit einem verstohlenen Blick auf meine schon recht kräftigen Schultern, da ich aufgrund meiner Körpergröße älter als zwölf Jahre wirke. »Setz dich lieber zu den anderen in die Halle, wo es warm ist.«
Æðelind ist nicht älter als siebzehn und eine Sklavin aus dem fernen Wessex in Englaland. Sie behauptet, die Tochter eines sächsischen ealdorman zu sein, obwohl ihr das niemand abnimmt. Mein Halbbruder Olaf hat sie vor Jahren bei einer seiner Fahrten erbeutet und unserer Mutter geschenkt. Sie ist gewitzt. Und nachdem sie von Anfang an gelehrig war, ist sie zu Åstas persönlicher Magd aufgestiegen.
»Kümmere dich lieber um deinen eigenen Kram, Æðelind!«, sage ich und lege mir das nächste Holzstück zurecht, hebe die Axt und teile es mit einem Hieb in zwei Stücke.
»Wie du willst«, erwidert sie schnippisch und hastet kopfschüttelnd weiter.
Verstohlen blicke ich ihr nach, bis sie durch den Nebeneingang des Haupthauses verschwunden ist. Sie trägt das Haar kurz geschnitten, wie es sich für eine Sklavin gehört, dennoch bietet sie einen bemerkenswerten Anblick, selbst von hinten, denn in den letzten Jahren sind ihr die nötigen Rundungen gewachsen, geeignet, einem halbwüchsigen Jungen wie mir den Schlaf zu rauben. Auch wenn ich mir lieber die Zunge abgebissen hätte, als dies zuzugeben.
Dass auch die übrigen Männer der Burg sie mit hungrigen Blicken verschlingen, weiß die hübsche Æðelind gut für sich zu nutzen. Dennoch ist sie klug genug, sich mit niemandem einzulassen. Schon allein, um nicht den Zorn meiner Mutter heraufzubeschwören. Schließlich ist sie Sklavin, und Åsta duldet keine Hurerei auf dem Anwesen.
Ich greife nach einem neuen Holzklotz und lege ihn auf den Hackblock. Zu groß, um ihn allein mit der Axt zu bearbeiten. Ich treibe deshalb Eisenkeile mit einem schweren Hammer ins Holz. Die Anstrengung lässt mich keuchen, bis der Klotz endlich in zwei Teile bricht. Mein Atem bildet Wölkchen in der kalten Luft. Langsam habe ich genug von der stundenlangen Plackerei. Æðelind hat recht. Es ist Zeit, für heute Schluss zu machen.
Die Hunde müssen sich satt gefressen haben, denn der Tumult vor dem Tor hat sich beruhigt. Oder sie haben den Kampf mit dem gefiederten Gegner aufgegeben. Doch dann kommt mir die plötzliche Stille seltsam vor. Als ich zum Tor hinüberblicke, sehe ich einen ganzen Schwarm Krähen und Raben auffliegen und sich in die nahen Bäume am Waldrand flüchten, wo sie ein entrüstetes Gezeter anstimmen. Auch die Hunde lassen wieder von sich hören. Diesmal aber klingt ihr Bellen anders, lauter und wütender. Irgendetwas muss sie aufgeschreckt haben.
Und dann höre ich es auch. Hufschläge. Kein einzelnes Pferd, sondern eine ganze Reiterschar, die sich rasch zu nähern scheint. Neben dem Stampfen der Hufe und dem Schnauben der Tiere vernehme ich zu meinem Schrecken das Klirren von Zaumzeug und Waffen. Ein Trupp Krieger? Werden wir angegriffen? Das Tor steht weit offen und ist völlig ungeschützt. Von den Wachen ist keiner zu sehen.
Bevor ich mich vom Fleck rühren kann, strömen die Reiter durchs Tor, umgeben von unseren aufgeregt kläffenden Hunden. Zu meiner Erleichterung merke ich, dass sie die Schilde auf dem Rücken tragen und keine Waffen in den Händen halten. Die Flanken der Gäule triefen vor Schweiß, und die Männer machen einen erschöpften Eindruck wie nach einem langen, zehrenden Ritt.
Und dann erkenne ich meinen Halbbruder Olaf. Prächtig sieht er aus auf seinem hochbeinigen Rappen, mit dem silberverzierten Helm auf dem Kopf und einem kostbaren Schwert an der Seite. Unter dem lose über den Schultern hängenden Mantel ist sein blankpolierter Ringpanzer zu sehen. Die buschigen Brauen und der blonde Bart lassen ihn wie den Kriegsgott Tyr persönlich wirken.
Er schaut sich stirnrunzelnd um. »Schaff mir einer die verdammten Köter vom Hals!«, höre ich ihn rufen. »Die verschrecken die Gäule.«
Am liebsten wäre ich gleich zu ihm gerannt, denn Olaf ist mein Held. Er war früher Seefahrer und vikingr. Jetzt ist er ein erfolgreicher Kriegsherr und seit Jahren König von Norwegen. Und er ist mein Bruder. Bisher hat er sich immer Zeit für mich genommen, wenn er uns hier besucht. Leider viel zu selten. Aber irgendetwas scheint ihm an mir zu gefallen. Ich bin also ganz aufgeregt. Aber statt ihn freudig zu begrüßen, bleibe ich steif neben dem Hackblock stehen, etwas verlegen und zu scheu, meine Gefühle zu zeigen.
Während Olaf aus dem Sattel steigt, fällt mir auf, dass viele der erschöpften Pferde alte Klepper sind oder schlecht zugerittene Ackergäule, als hätte man in Eile zusammengetrieben, was sich gerade finden ließ. Jedenfalls sind es keine Reittiere, wie sie den Gefährten eines Königs gebühren. Manchen fehlt es sogar an Sätteln und vernünftigem Zaumzeug. Und dann fallen mir die blutdurchtränkten Verbände und zerhauenen Schilde auf. Vor allem aber die erschöpften und düsteren Mienen der Männer. So sehen keine Sieger aus. Etwas Schicksalhaftes, fast Verhängnisvolles scheint sie zu umgeben. Ein kalter Wind streicht in diesem Augenblick über meinen schweißnassen Rücken. Wie ein Hauch aus der Göttin Hels eisiger Unterwelt. Irgendetwas stimmt nicht.
Endlich sind auch unsere húskarlar munter geworden. Eine Handvoll von ihnen kommt mit Waffen in den Händen aus der Halle gelaufen. Sie entspannen sich aber sofort, als sie sehen, wer es ist, der ihre Nachmittagsruhe gestört hat.
»König Olaf!«, brüllt einer. »Ruft alle zusammen. Der König ist hier!«
Knechte kommen aus den Unterkünften, verscheuchen die Hunde und nehmen den müden Reitern die Gäule ab. Mägde stehen und gaffen die fremden Krieger an. Der ganze Hof ist plötzlich voller Leute. Noch mehr von unseren húskarlar zeigen sich. Einer wischt sich noch Bierschaum von den Lippen. Unter ihnen nun auch Rorik Svendson, ihr Anführer, ein erfahrener Krieger.
»Was ist hier eigentlich los?«, schnauzt Olaf ihn an. »Wo sind deine Wachen? Ein ganzes Heer könnte einmarschieren, bevor ihr Kerle es merkt. Lass sofort die Wehrgänge besetzen.«
Rorik ist ein gutaussehender, selbstbewusster Kerl. Fast zu selbstbewusst für meinen Geschmack, denn er genießt das besondere Wohlwollen meiner Mutter. Aber jetzt schaut er verlegen drein. Es muss ihm mehr als peinlich sein, bei einer Nachlässigkeit erwischt worden zu sein, ausgerechnet vom König. Obwohl man zu seiner Entschuldigung sagen kann, dass es in der Gegend seit Jahren friedlich gewesen ist. Er muss sich also fragen, was in Olaf gefahren ist, die Wehrgänge zu besetzen. Erwartet er einen Angriff?
Rorik will etwas entgegnen, aber Olaf winkt ungeduldig ab und trägt einem seiner Gefährten auf, ein paar Männer auszuwählen, um die Wachen zu verstärken. Dann wendet er sich von beiden ab, denn er hat endlich mich entdeckt, der immer noch etwas linkisch und mit der langen Axt in der Hand neben dem Hackblock steht. Ein fröhliches Grinsen breitet sich auf seinem blondbärtigen Gesicht aus.
»Harald!«, ruft er und kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. »Komm, lass dich umarmen, Junge! Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Olaf ist jetzt knapp über dreißig Jahre alt. Er ist nicht der Größte, dafür aber breit und stämmig, mit einem Nacken wie ein Stier. Olaf der Dicke nennen ihn manche hinter seinem Rücken. Dabei ist kaum Fett an ihm, eher purer Muskel. Das bekomme ich gleich zu spüren, als er mich rauh an den Schultern packt und an seine Brust quetscht. Der Kettenpanzer drückt sich schmerzhaft in meine Haut, und ich rieche Olafs Schweiß und den seines Gauls. Er fährt mir durch die Haare und küsst mich auf die Stirn. Dann lässt er mich los und mustert mich mit einem schalkhaften Augenzwinkern.
»Was mühst du dich mit der Axt ab, Junge? Und dann auch noch halbnackt in dieser Kälte. Hat Mutter nicht genug Knechte, um für Brennholz zu sorgen?«
Außer zwei Goldreifen am Arm und dem goldverzierten Schwertknauf an der Seite unterscheidet ihn wenig von seinen Männern. Breitbeinig steht er vor mir mit diesem fröhlichen, leicht spöttischen Grinsen im Gesicht, selbstsicher und stark wie ein Eber, so unbekümmert, als könne ihm nichts in der Welt etwas anhaben oder gar seinen Platz streitig machen.
Ich grinse verlegen, während ich die Axt weglege. »Es ist nur eine Ertüchtigung, Olaf.«
»So, eine Ertüchtigung, sagst du.« Er mustert mich eingehend von oben bis unten. »Wie alt bist du jetzt, Harald?«
»Fast dreizehn.«
Er lacht. »Immer noch zwölf also, du Schlingel. Machst dich wohl gern älter, als du bist.« Er packt meinen rechten Oberarm, wie um die Muskeln zu prüfen. »Aber ich sehe, du bist kräftig geworden. Wenn man dich so anschaut, kommst du einem tatsächlich älter vor.« Er dreht sich um. »He, Sigvat! Komm mal her. Wie alt schätzt du den Bengel?«
Der Mann, den er Sigvat genannt hat, tritt näher. Er hat langes, helles Haar und wasserblaue Augen, die mich mit einem sanften Ausdruck betrachten. »Weiß nicht, Olaf. Sechzehn, würde ich sagen. Und gut gebaut dazu. Kommt das vom Holzhacken?« Er lacht gutmütig.
»Das ist Harald, mein Halbbruder. Und der Bursche ist erst knapp dreizehn. Aus dem wird mal ein guter Krieger, Sigvat.« Seine Hand ruht besitzergreifend auf meiner Schulter. »Du willst doch Krieger werden, Harald, oder nicht?«
Ich nicke, viel zu verlegen, um etwas zu erwidern.
Olaf nimmt den Helm ab und reicht ihn seinem Gefährten. Die blonden Haare kleben ihm schweißnass auf der Stirn. »Das hier ist mein Freund Sigvat Thordsson. Merk dir seinen Namen, denn er ist der beste Skalde, den es gibt. Eines Tages wird er auch deine Taten besingen, da bin ich mir sicher.« Er fährt mir durch die Haare.
Ich zucke mit den Schultern und grinse. »Wenn du meinst.«
»Klar meine ich das. Aber was quatsche ich die ganze Zeit, während du armer Kerl frierst.« Er reißt sich den Mantel von den Schultern und hängt ihn mir fürsorglich um. »Wir wollen doch nicht, dass du an Lungenfieber verreckst, bevor was aus dir wird.« Er lacht schallend, legt den gepanzerten Arm um meine Schultern und zieht mich mit zum Eingang der Halle, ohne den Blick von mir abzuwenden. In der Menge der húskarlar und Leibeigenen erkenne ich meinen Freund Thorkel, der mir zunickt, aber nicht wagt, sich zu nähern.
»Hör zu«, raunt Olaf mir zu, plötzlich ernst. »Ich bin hier, um Mutter zu besuchen und euch Lebewohl zu sagen.«
»Lebewohl? Aber wo gehst du denn hin?«
»Zuerst nach Schweden. Und dann übers Meer. Ins Land der Rus.«
Ich erschrecke. Von den Rus habe ich gehört, Garðarike heißt ihr Land. Ich kann mir aber nichts darunter vorstellen. Außer dass es dort Monster gibt und Auerochsen und ewigen Schnee.
»Aber was willst du denn da?«
»Das erklär ich dir später.« Er drückt mich kurz an sich. »Wo ist sie eigentlich, unsere gute Mutter? Warum begrüßt sie mich nicht?«
Ich deute auf den Eingang zur Halle. »Da steht sie doch.«
Tatsächlich ist zwischen den buntbemalten und mit geschnitzten Tierköpfen verzierten Türpfosten die hochgewachsene, schlanke Gestalt unserer Mutter, Åsta Gudbrandsdóttir, aufgetaucht. Trotz ihrer achtundvierzig Jahre und der sechs Kinder, die sie geboren hat, ist sie immer noch eine außergewöhnlich schöne Frau. Ihr helles, kaum von Silber durchzogenes Haar ist auf traditionelle Art hochgebunden und lässt Stirn und Nacken frei. Über den Schultern trägt sie einen kostbaren, von einer silbernen Spange gehaltenen Pelz. Darunter ein schlichtes Gewand. Sie lächelt kaum merklich, doch ihre Augen leuchten vor verhaltener Freude, während sie ihren ältesten Sohn betrachtet. Wie alle bei uns zu Hause wissen, ist Olaf ihr ganzer Stolz.
»Mutter!«, ruft er gutgelaunt und tritt rasch auf sie zu.
Mit einem halb unterdrückten Stöhnen küsst sie ihn innig und lässt dann den Kopf an seine Schulter sinken. So verharrt sie einige Augenblicke, als wollte sie die Umarmung noch ein wenig auskosten. Dann löst sie sich von ihm und tritt einen Schritt zurück, um auch meinen Geschwistern Gelegenheit zu geben, den Bruder willkommen zu heißen.
Da ist Guttorm, der inzwischen zwanzig ist und, wie die Leute behaupten, meinem Vater Sigurd nicht nur körperlich ähnelt; meine älteste Schwester Gunhild, groß und hager mit einem Blick wie ein Falke; mein Bruder Halfdan mit dem verschmitzten Grinsen, das er selten ablegt, und schließlich die sanfte Ingerid, nur zwei Jahre älter als ich selbst.
Åsta steht still lächelnd und mit feuchten Augen daneben, während Olaf sie alle begrüßt und umarmt. Auch meine Geschwister sind sichtlich erfreut und benehmen sich dennoch etwas unbeholfen und schüchtern. Schließlich ist er der König. Olaf aber gibt sich alle Mühe, ihnen die Befangenheit zu nehmen, und hat für jeden einen Scherz auf den Lippen oder ein freundliches Wort. Auch für jene Leibeigenen, die er noch von früher kennt und die sich nun ebenfalls näher drängen.
»Genug!«, stöhnt er schließlich. »Habt Erbarmen mit einem durstigen Mann. Ich brauche jetzt ein volles Horn von deinem Bier, Mutter.«
Doch Åsta hat einen Augenblick lang nicht zugehört, denn ihr prüfender Blick ist zu den Männern im Hof gewandert, zu Olafs Gefährten, und ihre Miene wird besorgt. Sie ist eine kluge Frau, meine Mutter, der nur wenig entgeht. Ihr ist bewusst geworden, was auch ich schon bemerkt habe. Dass es nicht zum Besten um Olaf steht. Ungeduldig schiebt sie eine alte Magd zur Seite, die mit Tränen in den Augen vor ihm steht und seine Hand hält.
»Warum bist du hier, Sohn?«, fragt sie. »Was ist passiert?« Ihre Stimme klingt plötzlich scharf.
Olaf, der sonst weder Tod noch Teufel fürchtet, wird unter ihrem strengen Blick verlegen wie ein kleiner Junge. »Nun, wir hatten Schwierigkeiten, Mutter«, sagt er leise.
Alle sehen ihn erschrocken an. Uns sind keine Einzelheiten seiner letzten Feldzüge bekannt, nur dass er seit Monaten mit dem großen Dänenkönig im Krieg liegt. Einen Augenblick lang herrscht angespannte Stille, während Mutter ihrem Ältesten forschend in die Augen blickt.
»Hat Knut dich besiegt?«, fragt sie fast tonlos, wobei es ihr nicht gelingt, ein Zittern in der Stimme zu unterdrücken.
Olaf lässt den Kopf sinken und starrt auf seine Füße. »Sieht ganz so aus, Mutter«, murmelt er. »Der verfluchte Bastard hat mir das Reich geraubt.«
Sein Eingeständnis sorgt für Entsetzen, macht uns zumindest sprachlos. Das hatte niemand erwartet. Wir stehen immer noch vor dem Eingang zur Halle und drängen uns mit besorgten Blicken um meinen Halbbruder, um mehr zu erfahren, obwohl es bereits dunkelt und der feuchtkalte Wind einem unangenehm unter die Kleider fährt. Der Dänenkönig soll ihm die Krone geraubt haben? Wie konnte das geschehen? Fragen prasseln auf ihn ein. Was kann das sein? Und was hat er nun vor?
Doch Åsta schneidet allen das Wort ab. »Das besprechen wir später«, ruft sie mit fester Stimme und wendet sich an meine Tante, die sich für gewöhnlich um Leib und Magen und um den Haushalt kümmert. »Olafs Männer haben Hunger, Guðrun. Und kümmere dich darum, dass sie gut untergebracht werden.«
Tante Guðrun macht immer noch einen völlig erschrockenen Eindruck. Sie fährt sich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie den Albtraum wegwischen, den Olafs Worte in ihr ausgelöst haben. Sie ist älter als meine Mutter, rundlicher und immer schnell aufgeregt. Doch Åstas ruhige, befehlsgewohnte Stimme tut Wirkung. Sie nickt bekümmert und verschwindet im Inneren des Hauses, Unverständliches murmelnd. Gleich darauf hört man sie nach den Mägden rufen.
Rorik erinnert sich plötzlich daran, was Olaf ihm aufgetragen hat, und er entfernt sich, um seine Männer auf den hölzernen Turm und auf die Wehrgänge zu verteilen. Ein Dutzend von Olafs Leuten steigen trotz ihrer Müdigkeit ebenfalls auf die Wälle. Solche Vorsichtsmaßnahmen sind wir gar nicht mehr gewohnt. Die Burg ist nicht leicht einzunehmen, denn sie ist auf drei Seiten durch den Fluss geschützt, der hier eine enge Schleife bildet. Das Tor sollen sie noch offen lassen, hat Olaf ihnen aufgetragen. Anscheinend erwartet er Nachzügler, zusammen mit seiner Gemahlin und den Kindern.
Im Inneren der von einer Palisade gekrönten Umwallung befinden sich Schuppen, Scheunen und Unterkünfte. Die meisten strohgedeckt. Da sind Heuschober und Kornspeicher, geräumige Ställe für die Pferde, für Zugochsen und Kühe, ein großer Schweinekoben und Pferche für Ziegen und Schafe, dazu ein Hühnerstall. Die húskarlar haben ihr eigenes geräumiges Haus, wie auch die Leibeigenen, die auf den Feldern arbeiten. Ansonsten gibt es noch Vorratsschuppen, zwei davon in der Erde versenkt, um Nahrungsmittel im Sommer kühl zu halten, eine kleine Schmiede, eine Sattlerei, ein Backhaus, in dem auch die Braukessel stehen, und Unterstände für Pflüge und Erntekarren. Nicht zuletzt auch ein Gästehaus, denn wir haben häufig Besucher auf der Burg. Oft kommen Gutsbesitzer oder reiche Bauern aus der Umgebung, um meine Mutter um Gefälligkeiten zu bitten, oder Reisende, die ein Nachtquartier benötigen. Leute von Rang schlafen im Gästehaus, andere in einer der Scheunen oder auf den Bänken in der Halle des mächtigen Haupthauses.
Letzteres ist ein langes, schindelgedecktes Gebäude, das alle anderen überragt und aussieht wie ein auf den Kopf gestellter Schiffsrumpf mit gebogenem Kiel als Dachfirst und bauchig ausladenden Seiten, die von kräftigen Bohlen gestützt werden. Die geräumige Halle beansprucht die vordere Hälfte des Hauses, dahinter liegen Küche und Wirtschaftsräume, gefolgt von den Schlafgemächern der Familie.
Diese sind, außer der Kammer meiner Mutter, eher beengt, denn einige der Hausdiener und Mägde, zu denen auch Æðelind gehört, haben hier ebenfalls ihr Nachtlager. Meine Brüder und ich, wir teilen uns einen der zur Mitte hin offenen Räume mit Schlafstellen an den Wänden. Mehr als einen Vorhang gibt es nicht, um uns vor Blicken zu schützen. Meine Schwestern schlafen in einer Kammer zusammen mit Tante Guðrun, die bei uns wohnt, seit sie Witwe geworden ist. Sie haben mehr Platz zur Verfügung und vor allem eine richtige Tür.
Mutter nimmt Olaf bei der Hand und führt ihn in die große Halle. Wir anderen drängen nach, um ja kein Wort zu verpassen. Es folgen Olafs engste Gefährten wie der Barde Sigvat Thordsson, die Brüder Finn und Thorberg Arnason und der junge Ragnwald Brusason. Männer, die mir fremd sind, aber offensichtlich Olafs Vertrauen genießen. Noch einer fällt mir auf, ein magerer Kerl mit einem großen Adamsapfel in seinem dünnen Hals, der wie ein Christenmönch gekleidet ist und sich in der großen Halle verstohlen umsieht.
Die Halle ist in der Tat ein Raum von beeindruckenden Ausmaßen, das Dach von Querbalken und gewaltigen Pfosten gestützt, an denen in eisernen Haltern Fackeln stecken und warmes Licht spenden. Außer der breiten Eingangstür, an der immer zwei Wachen stehen, und dem Rauchabzug hoch oben im Dach gibt es keine Öffnungen nach außen, damit die Wärme nicht entfliehen kann.
Der Boden besteht aus knochenhartem, festgestampftem Lehm, der mit frischem Stroh bedeckt ist. Ringsum sind Bänke verteilt, in den Ecken lagern Tafeln, die man zum Essen rasch aufbocken kann, und an den Wänden hängen Jagdtrophäen und Waffen. Mitten im Raum befindet sich das lange, in Stein gefasste Rechteck der Feuerstelle, in der die Flammen für gewöhnlich bis in die späten Abendstunden tanzen. Einer der Sklaven hat nichts anderes zu tun, als sich um Licht und Feuer zu kümmern. Wir verbrennen eine Menge Holz. Aber es gibt ja genug da draußen in den unendlichen Wäldern. Leider zieht der Rauch schlecht ab, wenn der Wind ungünstig steht, und im Winter reicht die Wärme nicht bis in alle Winkel der Halle. Deshalb sind die bevorzugten Plätze in der Nähe der Feuerstelle. Dort steht auch der bequeme und mit Fellen ausgelegte Hochsitz meines Vaters, den meine Mutter nun schon seit vielen Jahren beansprucht.
In Anerkennung seines Rangs bietet Åsta unserem Bruder Olaf den Hochsitz an, doch er schlägt die Einladung aus, stellt sich stattdessen vors Feuer und reibt sich die Hände. »Die Herrin von Hringaríke bist du, Mutter. Also gebührt dir der Ehrenstuhl in diesem Haus.«
Sie nickt dankend und will sich gerade darauf niederlassen, als draußen erneut Lärm zu vernehmen ist. Thorkel und ich rennen vor die Tür, um nachzuschauen. Diesmal handelt es sich um die Ankunft zweier schlammbedeckter und von Pferden gezogener Reisekarren, die in Begleitung weiterer Krieger durchs Tor gerumpelt kommen.
»Das wird Astrid sein«, sagt Olaf, als ich berichte. »Die verdammten Karren haben uns den ganzen Weg über aufgehalten.«
Kurz darauf betritt Astrid Olofsdóttir, seine Gemahlin und die Halbschwester des schwedischen Königs, die Halle. Sie ist in warme Pelze gehüllt und trägt eine Fellmütze auf dem Kopf. An der Hand ihre siebenjährige Tochter Wulfhild. Ich freue mich, Astrid wiederzusehen. Die Wangen in ihrem weichen, runden Gesicht sind vom Wind gerötet, und obwohl man ihr die Erschöpfung nach der langen Reise ansieht, bemüht sie sich um ein herzliches Lächeln, als unsere Mutter sie umarmt und willkommen heißt.
Astrid muss man sofort mögen. Trotz der Jahre an Olafs Seite hat sie ihren eigentümlichen, schwedischen Tonfall nicht verloren. Dass sie Tochter und Gemahlin von Königen ist, lässt sie sich nicht anmerken. Mit ihrer fröhlichen, unbeschwerten Art, die gut zu Olaf passt, der ebenso wenig Wert auf Pomp legt, hätte sie auch die junge Frau eines Großbauern sein können. Sie geht reihum, begrüßt meine Geschwister, küsst auch mich und ist erstaunt, dass ich sie inzwischen fast überrage. Dann zieht sie ihre Handschuhe aus, streift ohne Umstände den Pelzumhang von den Schultern und lässt sich auf einen bequemen Stuhl fallen, den man für sie nah ans Feuer gestellt hat. Stöhnend hebt sie die Füße auf eine Bank und bittet ihren Mann, ihr die Stiefel auszuziehen und die Füße zu wärmen.
Åsta ist derweil damit beschäftigt, ihre Enkelin Wulfhild zu herzen. Das Mädchen mit ihrem runden Gesichtchen scheint eine verkleinerte Ausgabe ihrer Mutter zu sein, auch wenn sie sich wesentlich schüchterner gibt und mit großen Augen um sich blickt.
»Wenn du schon dabei bist, Mutter«, sagt Olaf, »hier ist noch ein Enkel für dich.« Nicht ohne Stolz deutet er auf eine junge Frau, die ebenfalls in warmer, pelzbesetzter Kleidung, aber etwas verloren im Raum steht und einen Dreijährigen auf dem Arm trägt. »Das ist Magnus. Mein Sohn und Erbe.«
Mutters Augen leuchten, als sie der jungen Frau den Kleinen abnimmt. »Was für ein prächtiges Kerlchen«, gurrt sie und küsst das Kind, das die für ihn fremde Frau zuerst ängstlich anstarrt, aber dann zurücklächelt. »Meinen Glückwunsch, Astrid! Endlich ein Erbe.«
»Den Glückwunsch hab ich nicht verdient«, erwidert Astrid trocken, nicht ohne einen leichten Spott in der Stimme. Sie deutet auf die junge Frau, die den Kleinen hereingetragen hatte, während Olaf sich verlegen am Bart kratzt. »Olaf, vielleicht solltest du jetzt deiner Familie unsere gute Alfhild vorstellen.«
»Nun ja«, meint der und grinst für einen Augenblick verlegen. »Magnus’ Mutter ist nicht Astrid, sondern Alfhild.« Er legt dem Mädchen die Hand auf den Rücken und schiebt sie sanft ein paar Schritte vor. »Alfhild ist aus guter Familie«, beeilt er sich hinzuzufügen, wie um die pikante Enthüllung zu mildern.
Ich betrachte sie neugierig. Alfhild ist dunkelhaarig und recht hübsch, aber für meinen Geschmack entschieden zu mager. In der Beziehung gefällt mir Astrid besser. Ihre Rehaugen sind etwas ängstlich auf Åsta gerichtet, als befürchtete sie, meine Mutter würde ihr den Kopf abbeißen. Doch die nimmt überhaupt keine Notiz von ihr, sondern starrt mit erhobenen Brauen ihren Sohn an und wirft dann Astrid einen prüfenden Blick zu, zweifellos besorgt, wie ihre Schwiegertochter zu der Sache steht.
Aber die lacht nur. »Du kennst doch deinen Sohn, Mutter. Vor dem war noch nie ein Rock sicher.«
Es ist wahr. Das erzählt man sich von Olaf. Aber diese allgemein bekannte Tatsache scheint sie nicht weiter zu bekümmern. Während sich die Umstehenden noch von der Vorstellung eines Erben, der nicht Astrids Sohn ist, erholen müssen, erklärt Olaf, dass Alfhild Teil einer Kriegsbeute gewesen ist. Während eines seiner Raubzüge im Dänenland. Dabei war sie in seinem Bett gelandet und prompt schwanger geworden. Er erzählt dies freimütig und ohne Verlegenheit.
Doch meine Mutter, die den Kleinen immer noch auf dem Arm hält, fährt ihn bissig an: »Der Junge ist also ein Bastard.«
Das gefällt Olaf nicht. »Er ist kein Bastard, sondern mein Sohn und Erbe«, erwidert er hitzig. »Gewöhn dich dran!«
Åsta runzelt gereizt die Stirn und öffnet schon den Mund, um ihn zurechtzuweisen, doch da mischt sich Astrid ein. »Keine Sorge, Mutter. Du weißt, das Reich braucht einen Erben. Mir ist es bisher nicht vergönnt gewesen. Und was Alfhild betrifft, sie ist ein liebes Kind und inzwischen meine gute Freundin. Magnus könnte sich keine fürsorglichere Mutter wünschen. Ach, was sage ich, im Grunde hat er nun ja zwei.« Sie lacht wieder. »Und natürlich eine wundervolle Großmutter.« Åsta ist trotz der Schmeichelei nicht überzeugt, aber sagt nichts weiter, sondern reicht das Kind wortlos seiner Mutter zurück, ohne diese anzusehen. Olaf beugt sich zu seiner Gemahlin und gibt ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, den sie ihm mit einem Lächeln dankt.
Dass sie ihm die Nebenfrau nicht nachzutragen scheint, erstaunt mich schon sehr. Oder tut sie nur so? Unsere Mutter hätte sich mit so etwas nie abgefunden. Natürlich ist es kein Geheimnis, dass Olaf den Frauen besonders zugetan ist. Seine Weibergeschichten haben seit jeher die Runde gemacht. Im Grunde ist es ein Wunder, dass er nicht noch mehr Bastarde in die Welt gesetzt hat. Und es ist auch nicht so ungewöhnlich, dass ein Mann von Stand wie Olaf neben seiner Gemahlin auch ein paar Sklavinnen hat, die ihm gelegentlich das Bett wärmen. Was Astrid und Alfhild angeht, so scheint er jedenfalls genug Liebe für beide zu haben.
»Und wie bist du auf den seltsamen Namen gekommen?«, fragt meine Mutter etwas spitz, immer noch ungehalten. »Wer, bei Oðin, nennt seinen Sohn denn Magnus? Das habe ich ja noch nie gehört.«
»Daran bin ich schuld«, sagt der Barde Sigvat und tritt vor. Er ist ein großer Mann mit einer ruhigen, klangvollen Stimme. »Wir waren damals im Heerlager und hatten einen anstrengenden Tag hinter uns. Olaf zog sich zurück und wollte auf keinen Fall gestört werden. In der Nacht aber kam es zur Niederkunft, und Alfhild wäre dabei fast gestorben. Auch das Leben des Kleinen stand auf der Kippe. Grimkell hier« – er zeigt auf den Christenmönch – »beschwor mich, der Junge würde in die Hölle kommen, wenn er ungetauft stürbe.« Mit einem Grinsen hebt er entschuldigend die Schultern. »Was weiß ich denn schon von solchen Dingen? Vielleicht hat er ja recht.«
Dieser Grimkell nickt zu den Worten heftig und bekreuzigt sich.
»Also hab ich zugelassen, dass er ihn tauft«, fährt Sigvat fort. »Nur in der Aufregung kam ich so schnell auf keinen geeigneten Namen. Und Olaf wollten wir nicht stören. Da fiel mir ein, wie sehr er immer den großen Frankenkaiser bewundert hat, diesen Carolus Magnus. Ich hab mir gedacht, Magnus könnte doch wirklich gut passen. Oder etwa nicht?« Er zwinkert Olaf zu.
»Ich hab mich dran gewöhnt«, knurrt der in vorgetäuschtem Unmut, lacht aber gleich darauf und schlägt seinem Freund auf die Schulter. »Jetzt müssen wir nur noch einen großen Mann aus ihm machen, damit er den Namen auch verdient.«
Alles lächelt über den Scherz. Meine Mutter etwas säuerlich.
Doch gleich darauf verdüstert sich Olafs Gesicht, und er blickt drohend in die Runde. Auf einmal sieht er nicht mehr so gemütlich aus. »Damit das allen klar ist«, tönt er mit lauter Stimme. »Das Wort Bastard will ich nicht mehr hören. Von niemandem, habt ihr verstanden?« Unsere Mutter schaut er dabei nicht an, doch alle wissen, wer gemeint ist.
Rorik, der inzwischen seine Männer eingeteilt hat, betritt die Halle und setzt sich auf einen Hocker nahe Åstas Hochsitz. Es sei alles ruhig, lässt er verlauten. Meine Mutter dankt ihm mit einem Lächeln, in dem zu meinem Unmut mehr als Vertrautheit liegt. Es passt mir nicht, wie bevorzugt sie diesen Rorik behandelt.
Unsere Knechte haben unterdessen Tafeln aufgebockt, und Mägde gehen reihum, um Becher und Trinkhörner zu füllen. Olaf leert das seine auf einen Zug und lässt gleich nachfüllen. Dann lehnt er sich zurück, und Alfhild setzt ihm den kleinen Magnus aufs Knie. Er redet leise auf ihn ein und zeigt ihm die Halle und vor allem die geschnitzten Tierköpfe an den Pfosten und die Elchgeweihe an den Wänden. Zweifellos ist er dem Jungen sehr zugetan. Auch Magnus scheint sich bei seinem Vater wohl zu fühlen. Wulfhild hat sich zu ihrer Mutter gesetzt und fragt quengelnd, wann es denn etwas zu essen gebe.
»Gleich bekommst du was, mein Herz«, sagt Åsta, inzwischen wieder versöhnt. »Die Mägde sind dabei, etwas für dich vorzubereiten.« Und zu Olaf: »Ich hoffe doch, ihr bleibt ein Weilchen. Wir haben uns so lange nicht gesehen.«
Der schüttelt den Kopf. »Nur heute Nacht«, erwidert er ernst. »Gleich morgen in der Früh geht’s weiter.«
Damit ist man wieder bei der Frage angelangt, die uns die ganze Zeit im Kopf herumspukt. Ist Olaf etwa auf der Flucht vor diesem Dänenkönig? Was, bei Oðin, ist eigentlich geschehen? Mein großer Bruder war mir immer unbesiegbar vorgekommen. Ein Held. Ein Liebling der Götter. Und jetzt? Meine Welt scheint zu taumeln.
Auch Thorkel, der neben mir steht, machte ein besorgtes Gesicht. »Vielleicht müssen wir uns bald verteidigen«, flüstert er mir ins Ohr. »Sie sollten uns Waffen geben.«
Er hat recht, denke ich. Bisher haben wir nur selten mit scharfen Waffen geübt. Hrane erlaubt nur Holzschwerter und Eschenstäbe, damit wir uns nicht verletzen. Aber jetzt, da Olaf vor Knut auf dem Rückzug zu sein scheint, hat mich ein glühender Eifer gepackt, ihm beizuspringen und Norwegen mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Nach Thorkels entschlossenem Gesichtsausdruck zu urteilen, geht es ihm nicht anders.
»Schon morgen früh? Aber wohin?«, höre ich meine Mutter fragen.
»Er will nach Schweden«, rufe ich vorlaut dazwischen mit meiner noch nicht gefestigten Jungenstimme. »Und zu den Rus.« Es ist mir irgendwie rausgerutscht. Als mich alle anstarren, bin ich selbst erschrocken.
»Halt den Schnabel, Harald«, sagt Guttorm ungehalten. »Wer, bei Oðin, hat denn dich gefragt.«
Guttorm ist im Grunde ein gutmütiger Kerl, aber weil er der Älteste ist, meint er, mich wie ein Kleinkind behandeln zu müssen.
»Er hat es mir selbst gesagt«, verteidige ich mich trotzig.
Åstas Augen werden schmal. Sie beugt sich vor. »Ist das wahr, Olaf?«
Der zuckt mit den Schultern. »Kann gut sein, Mutter. Wir müssen davon ausgehen, dass sie hinter uns her sind. Dieser Scheißkerl Knut wird nicht eher ruhen, bis ich vor ihm auf den Knien rutsche. Das heißt, wenn er nicht vorhat, mich aufzuhängen.«
»Warum denn das?«, ruft Åsta erschrocken.
»Weil ich das Gleiche auch mit ihm tun würde, diesem betrügerischen Hurensohn.« Seine Stimme ist plötzlich voller Hass. »Und mit den verfluchten Bastarden im Trøndelag, die mich verraten haben, am liebsten auch gleich.«
»Von wem redest du da?«
»Na, von Erling Skjalgsson rede ich, von Thorer Hundr, Hárek von Tjøtta und wie sie alle heißen. Übergelaufen sind sie, haben das Gold dieses verfluchten Dänen genommen und mich im Stich gelassen.«
Nach diesem Ausbruch herrscht unter unseren Leuten entsetztes Schweigen. Denn die Namen, die er genannt hat, sind die Namen wohlbekannter Männer, bedeutender Jarls aus dem Westen und Norden. Selbst ich habe von ihnen gehört. Und die sind von ihm abgefallen, haben ihren König verraten? Ich kann es kaum glauben.
Olaf nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Trinkhorn, dann starrt er missmutig ins Feuer. Der kleine Magnus, der etwas von der Stimmung des Vaters mitbekommen haben muss, macht ein Gesicht, als ob er weinen will, rutscht von Olafs Knien und läuft zu Alfhild hinüber, die ihn auf den Schoß hebt und die Arme um ihn legt.
Ich nehme das nur am Rande wahr, denn mein Geist wehrt sich noch gegen den Gedanken, man könnte Olaf so schnöde verraten haben. Eine Schlacht zu verlieren, das kann vorkommen, aber Verrat in den eigenen Reihen?
Der alte Sklave, der sich ums Feuer kümmert, schleicht heran und legt ein paar Scheite nach. Das Knistern der Flammen, die gierig daran lecken, ist unnatürlich laut in der angespannten Stille.
»Sie sind also hinter euch her, glaubst du«, sagt Åsta. Tiefe Sorge steht in ihren Augen. Oder ist es Angst? Die schlechten Nachrichten haben sie sichtlich getroffen. Wie uns alle. »Und jetzt?«
»Keine Sorge, Schwiegermutter«, versucht Astrid zu beschwichtigen. »Mein Bruder Anund wird uns aufnehmen. Bei ihm sind wir sicher.«
»In Sithun?«
Astrid nickt.
»Und was ist mit uns hier in Hringaríke? Müssen wir uns Sorgen machen? Wird man uns angreifen? Sie könnten uns als Geiseln nehmen.«
Olaf schüttelt den Kopf. »Nein, das werden sie nicht tun. Solange ich mich nicht hier aufhalte, wird euch nichts geschehen.«
Woher er diese Gewissheit nimmt, erklärt er nicht.
»Sorgt Euch nicht, Herrin«, bekräftigt nun auch ein junger Mann, der zu Olafs Vertrauten gehört. Ragnwald Brusason ist sein Name, und er ist von den Orkneyjar, den Seehundsinseln. Das hat er jedenfalls bei seiner Vorstellung gesagt. »Vielleicht werden wir ja auch gar nicht verfolgt. Wir haben bisher keine Hinweise darauf. Und falls doch, dann nur, weil sie nach dem König suchen. Vergesst nicht, es sind Norweger wie wir alle. Sie werden euch nichts tun.«
Dieser Ragnwald hat eine dick verkrustete Wunde an der Stirn und den rechten Arm in der Schlinge, sieht ansonsten aber unversehrt aus. Er ist im Grunde ein hässlicher Bastard, und seine gebrochene Nase, die ihm schief im Gesicht steht, macht es nicht besser. Aber mir gefallen seine freundlichen Augen, die vertrauensvoll in die Welt blicken, und die ruhige, selbstsichere Art, mit der er das Wort führt. Ein Mann, auf den man sich verlassen kann.
Doch unsere Mutter ist nicht überzeugt. Sie schüttelt den Kopf, als könnte sie das Ganze immer noch nicht fassen. »Bei allen Göttern! Was für ein Unglück!«, murmelt sie. »Wenn ich mich sorge, dann bestimmt nicht um mich, sondern um meine Kinder, um die Kleinen hier, um Astrid und natürlich um Olaf.« Ihre Stimme bricht, und ich sehe, dass sie den Tränen nahe ist.
Wie muss sie sich fühlen? Bis hoch in den Himmel ist ihr Erstgeborener gestiegen, hat die Familie unendlich stolz gemacht, besonders unsere Mutter, die immer seine ehrgeizigen Ziele ermutigt und genährt hat, bemüht, ihm guten Rat zu erteilen. Und nun ist er tief gefallen. Der Verrat von Norwegern, von Männern, die ihm die Treue geschworen haben, das tut besonders weh. Das ist im Grunde auch das Schlimmste. Und nun ist er mit Familie und einer Handvoll Getreuen auf der Flucht, von Feinden verfolgt. Wie unerwartet übel einem das Schicksal doch mitspielen, wie schnell das Blatt sich wenden kann. Unbewusst spüre ich, das ist etwas, das ich mir merken sollte. Nichts im Leben ist für immer gegeben. Auf nichts darf man sich verlassen.
Im Hintergrund schluchzt jemand. Ich glaube, es ist meine Tante Guðrun. Vielleicht ist es dieser Laut, der Mutter aus ihrer hilflosen Bestürzung reißt. Man sieht ihr an, wie sie um Fassung und Stärke ringt. Nicht nachgeben, sich dem Schicksal nicht ergeben. Kerzengerade setzt sie sich auf, wischt sich über die Wangen und strafft die Schultern. Es ist deutlich, was in ihrem Kopf vorgeht. Hat sie nicht vieles schon ertragen müssen? Auch von diesem Unglück wird sie sich nicht niederdrücken lassen.
»Also gut«, sagt sie mit erzwungener Ruhe. »Was Nornen und Götter uns bescheren, können wir nicht ändern. Bleibt zu überlegen, was zu tun ist.« Sie schweigt einen Augenblick, dann wendet sie sich an Olaf. »Wenn ihr in Sithun angeblich so sicher seid, was willst du dann bei den Rus? Bleibt doch bei Anund, bis sich die Lage gebessert hat.«
Olaf schnaubt empört. »Denkst du, ich will untätig herumsitzen und meinem Schwager zur Last fallen? Glaub ja nicht, dass ich aufgebe! Du weißt, Astrids Schwester ist mit Jarisleif verheiratet. Der ist reich vom Pelzhandel mit Byzantinern und Arabern. Er wird mich unterstützen. Denn auch er muss Knut fürchten, falls der zu mächtig wird. Ich brauche genug Silber und Männer, um meinen Thron zurückzuerobern. Und um die Verräter zu bestrafen.«
»Natürlich«, erwidert sie. »Nichts anderes erwarte ich von dir. Und was ich selbst an Silber besitze, kannst du gern haben.«
Er erwidert: »Das fehlt mir gerade noch, meine Mutter anzubetteln. Nein, behalte dein Silber. Du wirst es brauchen.«
Als er sich nicht umstimmen lässt, sagt sie: »Aber wieso denkst du, das Nötige ausgerechnet bei den Rus zu finden?« Sie schüttelt ungläubig den Kopf. »Das ist ein einsames, wildes Land. Nichts als öde Weiten. Schreckliche Dinge hört man von dort. Menschen, die wie Tiere in Erdlöchern hausen. Besser, dass Anund dir hilft. Er ist schließlich König von Schweden. Noch dazu dein Schwager und Verbündeter.«
»Anund hat schon genug für mich getan. Eine Menge Schiffe hat er bei unserem Kampf verloren und zu viele von seinen Männern. Nun muss er das eigene Volk schützen. Ich werde ihm nicht länger als nötig zur Last fallen.«
»Also gut.« Åsta seufzt, als sie merkt, dass sie bei ihm nicht weiterkommt. »Dann erzähl uns erst mal, wie es zu alldem überhaupt gekommen ist. Und hinterher überlegen wir, wie du aus der Sache wieder herauskommst.«
»Was soll es da zu erzählen geben?«, brummt Olaf. »Seit Jahren wissen wir, dass Knut den Hals nicht vollkriegt. Er will ein Großreich gründen. Nachdem ihm mit viel Glück Englaland zugefallen ist, meint er, unser Land müsse ihm nun auch gehören. Nein, im Grunde denkt er, es gehört ihm bereits, und wir hätten es ihm gestohlen.«
Ich weiß, was er meint, denn Hrane hat uns solche Dinge schon oft erklärt. Olafs Vorgänger, König Olaf Tryggvason, war vor siebenundzwanzig Jahren bei einer Seeschlacht gegen Knuts Vater, dem Dänenkönig Svein Gabelbart, ums Leben gekommen, woraufhin die Dänen einige Jahre lang unser Land unter ihrer Herrschaft hielten. Bis mein Bruder die dänischen Statthalter verjagen und selbst die Krone nehmen konnte. Von daher leitet Knut wohl seinen Anspruch ab. Schon im letzten Jahr hatte er angeblich Männer mit Gold und großen Versprechungen nach Norden gesandt, um die Jarls und Klanältesten gegen Olaf aufzuwiegeln. Und da auch Anund von Schweden die Dänen fürchten musste, hatten er und Olaf sich verbündet und Knuts Abwesenheit in Englaland genutzt, um bei den Dänen einzufallen, an den Küsten zu plündern, Schiffe zu verbrennen und den Gegner zu schwächen.
Natürlich hatte uns auch die Kunde von der großen Seeschlacht im letzten Jahr erreicht. Das war in der Flussmündung der Helgeå in Südschweden gewesen, wo es den verbündeten Königen gelungen war, Knuts Flotte zwar nicht zu besiegen, ihr aber doch empfindliche Verluste beizubringen. Allerdings war es ihnen dabei nicht besser ergangen, und Anund hatte sich zurückziehen wollen, um mit dem dürftigen Rest seiner Heermacht das eigene Land zu verteidigen. Und da die Dänen mit neu erstarkter Flotte den Øresund blockiert hatten, war Olaf nichts anderes übriggeblieben, als seine Schiffe den Schweden anzuvertrauen und über Land heimzukehren, in der Hoffnung, an der Westküste eine neue Seemacht ausrüsten zu können.
Die Mägde haben inzwischen ein hastig zubereitetes Mahl aufgetischt, und Olaf knabbert an einem Hühnerknochen. »Während wir uns die Füße wund gelaufen haben«, erzählt er, »ist Knut in Westnorwegen gelandet, die Fjorde hinaufgesegelt und hat überall Things abgehalten und versucht, die Leute auf seine Seite zu ziehen. Trotzdem konnte ich das Schlimmste verhindern und die meisten Anführer daran erinnern, wem sie, verdammt nochmal, die Treue geschworen haben. Sicherlich keinem Dänen.«
»Eine Handvoll Schiffe und die nötigen Mannschaften konnten wir auf die Schnelle zusammenstellen«, fügt Ragnwald hinzu. Trotz seiner Jugend scheint er einer der engsten Vertrauten Olafs zu sein. Fast neide ich ihm diesen Platz.
»Ja. Es war ein Anfang«, knurrt Olaf. »Ich weiß nicht, wer alles Knuts Versprechungen geglaubt hatte, aber von Tag zu Tag kamen mehr in unser Lager. Wir konnten neue Hoffnung schöpfen.«
»Und dann?«
»Dann passierte das mit diesem Thorer Olversson.«
»Nie von dem gehört. Wer ist das?«, fragt meine Mutter.
Olaf nimmt einen tiefen Schluck von seinem Bier. Dann nickt er Sigvat zu. »Erzähl du. Du warst dabei.«
Sigvat räuspert sich und legt das Brot weg, an dem er gekaut hat. »Nun, dieser Thorer war ein junger Bursche, Sohn eines reichen Landbesitzers. Netter Kerl eigentlich. Hat uns eingeladen und ein Fest für Olaf gegeben und so getan, als wäre er sein bester Freund und treuester Diener. Dabei hatten die Dänen ihn längst gekauft. Der dicke Goldreif an seinem Arm, den er unter dem Ärmel zu verbergen suchte, hat ihn aber verraten. Er hat es dann zugegeben. Es ist nicht auszuschließen, dass er Olaf sogar in eine Falle locken wollte. Zum Glück hatte uns jemand rechtzeitig gewarnt.«
»Und?«
»Ich hab dem Verräter auf der Stelle den Kopf abschlagen lassen«, knurrt Olaf. »Und seinen Bruder, der uns daraufhin mit einer Bande Krieger überfallen wollte, den haben wir auch geschnappt und an eine Eiche gehängt.«
Leider hatte sich herausgestellt, dass die hingerichteten Brüder mit einflussreichen Jarls verwandt gewesen waren. Thorer Hundr selbst aus dem hohen Norden war ihr Onkel. Sofort liefen Gerüchte durchs Land, Olaf hätte die beiden kaltblütig ermordet. »Es ist wie immer«, fügt Sigvat hinzu, »die Leute glauben, was sie glauben wollen oder was andere ihnen einflüstern. Jedenfalls hat es nicht lang gedauert, bis der ganze Norden darüber in Aufruhr war. Einige der Krieger, die uns zugelaufen waren, verschwanden über Nacht wieder aus dem Lager. Versprochene Verstärkungen blieben aus.«
»Trotzdem«, fährt Olaf fort, »Anund war es gelungen, mir meine Schiffe zu schicken. Wir machten uns also daran, die Küste hinaufzusegeln, um für Ordnung zu sorgen. Da wurden wir auf einmal von einer ziemlich großen Flotte verfolgt. Es stellte sich heraus, es war Erling Skjalgsson, dem Knut die Herrschaft über ein großes Gebiet versprochen hatte, wenn es ihm gelänge, uns zu vertreiben. In einer Bucht griffen sie uns an, und wir mussten uns verteidigen.«
»Erling Skjalgsson?«, fragt Guttorm. »Der muss doch schon ein alter Mann sein, soviel ich weiß.«
Olaf nickt. »Ja. Schon ziemlich betagt. Aber immer noch ein guter Kriegsmann. Wir hatten alle Mühe, ihn und seine Männer zu überwinden. War ein verdammt blutiger Kampf, von Schiff zu Schiff. Wir hatten große Verluste, aber am Ende ist es uns doch gelungen.« Er schüttelt den Kopf, als ob die Erinnerung ihn noch immer quälte. »Erling hatte sich ergeben und die Waffen gestreckt. Und als er dann vor mir kniete, so ohne Helm, aus mehreren Wunden blutend und mit seinem weißen Haar, das im Wind wehte, da tat er mir fast leid. Du weißt, Mutter, wie beliebt und einflussreich dieser Erling ist. Überhaupt sein ganzer verdammter Klan. Ich brauchte den Mann und war bereit, mich mit ihm zu versöhnen. Leider konnte ich es mir nicht verkneifen, ihn zu beschimpfen und einen elenden Verräter zu nennen. Der er ja auch war.«
Während alle an seinen Lippen hängen, schweigt er eine Weile und starrt mit finsterem Blick ins Feuer, bevor er weiterspricht: »Einer meiner Männer, ein gewisser Aslak, hat meine Worte leider missdeutet und, eh ich es verhindern konnte, haut er dem alten Erling von hinten die Axt in den Schädel.«
Thorkel und ich hören mit offenen Mündern zu. Jetzt sieht Olaf gequält auf. Er hat Tränen in den Augen. »Der Alte war unbewaffnet, hatte sich ergeben. Er war bereit, mir wieder zu folgen. Und dann das! Was habe ich nicht geflucht! Aslak, hab ich dem Idioten gesagt, diesen unseligen Hieb kann ich dir nicht danken. Damit hast du mir Norwegen endgültig aus der Hand geschlagen.«
In der Halle ist es ganz still geworden. Selbst die Mägde halten inne und lauschen. Wir alle wissen, dass dies prophetische Worte sind, denn mit diesem, wenn auch ungewollten Mord an Erling Skjalgsson, einem von vielen Norwegern geachteten Mann, ist Olafs Schicksal als König fürs Erste besiegelt. Viele haben sich danach aus seinen Reihen geschlichen, haben ihren König endgültig verlassen und sich seinen Feinden zugewandt. Bei einem Scharmützel ist dieser Aslak dann später selbst zu Tode gekommen, doch sein Axthieb wird für alle Zeiten unvergessen bleiben, das ist jedem klar.
Irgendwo war Olaf dann mit den letzten Getreuen an Land gegangen, hatte trotz Verfolgung Astrid, Alfhild und die Kinder abgeholt, die sich auf einem Landgut aufgehalten hatten, bei den umliegenden Bauern genügend Pferde aufgetrieben und die Flucht angetreten. Zuerst über die Berge, dann durchs lange Gudbrandsdal bis hierher. Unterwegs hatte man sie nicht belästigt, ihnen aber auch keine Hilfe gewährt. Der traurige Rückzug eines stolzen Königs.
Lange herrscht bedrücktes Schweigen. Olaf lässt den Kopf hängen, und selbst die Kinder sind still. Sie scheinen die tiefe Niedergeschlagenheit zu spüren, die alle in der Halle erfasst hat.
Die Erste, die sich rührt, ist Åsta. »Es ist dein verdammtes Christentum, Olaf, das dir das Genick gebrochen hat«, murmelt sie.
Er hebt den Kopf und wirft ihr einen gequälten Blick zu. »Wie kannst du das sagen, Mutter? Du bist doch selbst Christin.«
»Weil Tryggvason deinen Stiefvater und mich getauft hat?« Sie lacht bitter auf. »Ganz recht. Wir haben hier sogar einen Christenschrein mit einem Kreuz darin. Aber nur, weil Tryggvason uns gezwungen hat. So wie auch du durchs Land gezogen bist und die Leute gezwungen hast, sich taufen zu lassen. Wer sich nicht fügen wollte, den hast du umgebracht. Ich habe die Gerüchte gehört. Sogar bis zu uns in Hringaríke sind die Klagen gedrungen.«
»Das war zum Besten des Landes«, erwidert Olaf müde.
Doch so leicht will Åsta ihn nicht davonkommen lassen. »Denkst du, ein verdammtes Wasserbad ändert die Menschen, lässt sie von heute auf morgen ihre Gebräuche, ihre Riten und ihre Götter vergessen? Zu denen sie ihr Leben lang gebetet haben? Du hast sie vor den Kopf gestoßen, Olaf, sie gezwungen, sich einem fremden Gott zu unterwerfen, dem die meisten – es tut mir leid, wenn ich es sage – nichts abgewinnen können. Denkst du, sie fürchten deine Christenhölle? Nicht im mindesten. Oðin ist es, den sie fürchten, und das finstere helheim und Thor und dass Freya ihre Äcker versauern lässt, dass Njördr auf offener See die Schiffe ihrer Söhne verschlingen könnte. Vor dem Fluch unserer eigenen Götter fürchten sie sich, weil du sie zwingen willst, sie aufzugeben. Und dafür, mein Sohn, haben sie sich an dir gerächt.«
Vielleicht hat sie recht, vielleicht auch nicht. Es waren jedenfalls harsche Worte. Und je länger sie sprach, umso lauter war ihre Stimme geworden, bis die ganze Halle davon erfüllt war. Nun hält sie inne und funkelt Olaf an, als wollte sie ihn herausfordern, ihr zu widersprechen. Aber der ist zu überrascht, um sich zu verteidigen.
Als die Stille anfängt, peinlich zu werden, tritt dieser schmächtige Mönch vor und verbeugt sich ehrerbietig vor meiner Mutter. »Edle Herrin, erlaubt mir, etwas dazu zu sagen.«
Sie sieht kurz zu ihm hinüber und fragt Olaf: »Wer ist der Kerl?«
»Das ist Bischof Grimkell aus Northumbria«, erwidert der trotzig. »Ein bedeutender Mann, auch wenn du nichts von Christen hältst. Er hat schon viele Kirchen errichtet und weise Lehrer ins Land geholt.«
»Weise Lehrer? Du glaubst also wirklich an diesen Spuk?«
Jetzt schießt Olaf das Blut ins Gesicht. Er hat genug von ihren Tiraden. Zornig steht er auf. Doch bevor er eine wütende Antwort geben kann, unterbricht Grimkell ihn. »Verzeiht, mein König, Ihr solltet Euch nicht aufregen. Eure Frau Mutter sagt nur, was viele denken, die der Herr noch nicht erleuchtet hat. Lasst mich der edlen Åsta antworten.«
Olaf murmelt etwas Unflätiges und setzt sich widerstrebend.
Grimkell wendet sich zum Hochsitz meiner Mutter und lächelt gewinnend. »Ihr habt wahre Worte gesprochen, Herrin, als Ihr von der Furcht der Menschen gesprochen habt. Denn zum Fürchten sind sie, die alten Götter. Da werdet Ihr mir zustimmen.«
»Worauf willst du hinaus«, fragt Åsta unwirsch.
»Sie sind zum Fürchten, weil sie Hass und Zwietracht säen. Sie bekriegen sich ja selbst gegenseitig. Asen gegen Riesen. Und sogar die Asen untereinander. Man betet sie an, um ihren Zorn zu beschwichtigen. Denn mit den Menschen spielen sie nach Gutdünken, erheben sie oder vernichten sie, gerade so, wie es ihnen passt. Im Grunde, Herrin, sind es Geister der Finsternis.«
Ich hatte ihn für ein mickriges Kerlchen gehalten, mit seinen schmalen Schultern, dem schütteren Haarkranz und klapprigen Knochen. Bisher hatte er sich ja auch bescheiden im Hintergrund gehalten. Aber nun steht er aufrecht da, scheint plötzlich um einen ganzen Fuß gewachsen zu sein und glüht vor Überzeugung. Seine klangvolle Stimme füllt die Halle, als er in die Runde blickt und den letzten Satz laut wiederholt.
»Geister der Finsternis. Nichts anderes.«
Ich hatte erwartet, dass Mutter ihm sofort das Wort abschneidet, doch als er sich ihr wieder mit sanfteren Worten zuwendet, lässt sie ihn weiterreden.