Land im Sturm - Ulf Schiewe - E-Book
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Land im Sturm E-Book

Ulf Schiewe

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Beschreibung

Eine Familie, tausend Jahre


Sie ziehen mit den Truppen Ottos des Großen bei Augsburg in die Entscheidungsschlacht gegen die Ungarn. Wagen sich noch in der Frühzeit der Hanse mit ihren Schiffen über die Ostsee bis ins Baltikum vor und schließen sich dem Zweiten Kreuzzug an, um die ungläubigen Wenden zu bekehren. Sie kämpfen im Dreißigjährigen Krieg gegen die eigenen Landsleute und keine zweihundert Jahre später im Befreiungskrieg gegen die französischen Besatzer unter Napoleon. Sie haben Erfolg. Sie leiden. Und rappeln sich immer wieder auf. Bis sie schließlich in der Deutschen Revolution erneut entscheiden müssen, auf wessen Seite sie stehen: auf der Seite der Fürsten oder auf der des für die Demokratie kämpfenden Volkes.


Tausend Jahre deutscher Geschichte, tausend Jahre Familiengeschichte. Meisterlich führt Ulf Schiewe seine Helden an entscheidende Wendepunkte und konfrontiert sie mit den Herausforderungen ihrer Zeit. Was ist uns wichtig? Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Was machen wir mit unseren Gaben und Talenten?

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Seitenzahl: 1255

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungTeil I – Die UngarnDie JohannisnachtDie Tochter des VogtsGottes ZornHedwigBischof UlrichDer MauersturmOttos SchlachtHedis DorfDas Meer sehenTeil II – Die WendenDie SöldnerErik der FischerAlles AscheLubekeDas weiße GoldDie brennende StadtSturm auf die WendenburgDer SamariterTeil III – Der große KriegFeldmarschall von WerthDer ÜberfallAuf der FluchtNächtlicher SchusswechselDie WegelagererOlgaNachtangriffTeil IV – Napoleon und PreußenDas geheime DinerDer unerwartete GastDer alte Zopf muss abDer Krieg kommt näherDas MuttersöhnchenDer BesuchDer Aufruf des KönigsTeil V – RevolutionEntlassungenRevolution in ParisBei den FischersDer EinbruchDie ungehorsame TochterAufstand in WienDer TanzabendRevolutionMit dem Rücken an der Wand

ÜBER DIESES BUCH

Bayern, AD 995: Weil er zu Unrecht eines Verbrechens beschuldigt wird, flieht der junge Schmied Arnulf vor seinen Verfolgern über die Berge. Mitten im Wald trifft er auf Hedwig, die von feindlichen Ungarn verschleppt wurde, aber entkommen konnte. Gemeinsam wandern sie nach Augsburg, wo sie in die Ereignisse um die große Ungarnschlacht König Ottos verwickelt werden. Dabei verlieben sie sich – und legen den Grundstein einer Familie, deren Nachkommen durch manchen Sturm gehen müssen, bevor sie fast tausend Jahre später die Staatsgründung des Deutschen Reiches miterleben …

Über den Autor

Ulf Schiewe wurde 1947 im Weserbergland geboren und wuchs in Münster auf. Er arbeitete lange als Software-Entwickler und Marketingmanager in führenden Positionen bei internationalen Unternehmen und lebte über zwanzig Jahre im Ausland, unter anderem in der französischen Schweiz, in Paris, Brasilien, Belgien und Schweden. Schon als Kind war Ulf Schiewe ein begeisterter Leser, zum Schreiben fand er mit Ende 50.

www.ulfschiewe.de

Ulf Schiewe

Land im Sturm

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als digitales Hörbuch erschienen.

  

Originalausgabe

  

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

  

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

  

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Einband-/Umschlagmotiv: © jocic/shutterstock.com (2); steve estvanik/shutterstock.com; David M. Schrader/shutterstock.com; © akg-images/Erich Lessing

Illustrationen im Innenteil: Jan Reuter, Äpfingen

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7325-6054-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

Für

Sandra

TEIL I

Die Ungarn

 

Der junge Arnulf, Sohn eines Hufschmieds im Welschen, ahnt an jenem Sommerabend des Jahres 955 noch nicht, was ihm bevorsteht. Schon bald wird er sich wünschen, die Tochter des Vogts hätte nie ein Auge auf ihn geworfen.

Wir befinden uns in den Alpen, genauer gesagt: im unteren Inntal, durch das die alte Römerstraße flussaufwärts bis Innsbruck führt, bevor sie sich dort nach Süden wendet und über den großen Pass den Weg nach Italien öffnet. Es ist die übliche Route deutscher Herrscher, die mit ihren Kriegern nach Süden ziehen, um ihre Macht über die Lombarden durchzusetzen. Arnulfs Heimatdorf liegt auf der Südseite des Inns und ist von welschen Bauern bewohnt, den Nachkommen romanisierter Kelten. Sie beherrschen die Sprache ihrer bajuwarischen Herren, aber untereinander ist immer noch das Romanische geläufig.

Es ist Ende Juni, die Heumahd ist eingebracht, das Getreide steht hoch. Man hofft auf gutes Wetter für die Weizenernte. An diesem Abend begeht die Dorfgemeinschaft wie jedes Jahr das Johannisfest. Auf den Höhen der nachtschwarzen Berge glühen die Feuer wie winzige Lichter zu Ehren des Heiligen, der den Christus ankündigt. Und gleichzeitig, auch wenn die Priester es nicht mögen, wird wie zu Urzeiten die Sommersonnenwende gefeiert, mit Singen, Tanzen, Bocksprüngen und allerlei Schabernack zum Austreiben der bösen Geister. Ein überschwängliches, fröhliches Fest.

Und damit beginnt die Geschichte.

DIE JOHANNISNACHT

Den ganzen Nachmittag über waren die Männer damit beschäftigt gewesen, nicht weit vom Flussufer Holz für ein gewaltiges Feuer zusammenzutragen und aufzuschichten. Alle im Dorf hatten dafür gespendet. Die Kinder hatten davorgestanden und ungeduldig gewartet, dass es dunkel wurde. Die Johannisnacht war für sie das aufregendste Ereignis des Jahres. Zum Glück blieb der Himmel klar. Das Wetter würde ihnen nicht den Spaß verderben.

Und nun war es endlich so weit. Flammen loderten in den Nachthimmel. Funken stoben davon wie winzige Glühwürmchen. Das brennende Holz zischte, knackte und knisterte. Alle hatten sich versammelt. Die Kinder tobten rund ums Feuer, Hunde bellten erregt, und die Mütter mussten immer wieder eingreifen und ihre Jüngsten ermahnen, sich nicht zu nahe ans Feuer zu wagen. In einem großen Kessel dampfte ein Gemüseeintopf. Jeder durfte seinen Napf füllen und sich ein Stück vom frischen Brot nehmen, das die Weiber ausgelegt hatten. An einem Tag wie diesem gab es sogar Fleisch. Spanferkel hingen am Spieß, und der Duft trieb einem den Speichel in den Mund. Auch Käse gab es und jede Menge frisch gebrautes Bier.

Nach dem Essen gaben Sackpfeife und Trommeln den Takt vor. Die jungen Leute fassten sich an den Händen und tanzten im Kreis, es wurde geklatscht und gesungen. Ab und zu trieben die Burschen ihren Spaß mit den Mägden. Dann unterbrach Johlen und Kreischen den Reigen. Schmunzelnd schauten die Alten zu, erinnerten sich an die eigene Jugend und ließen sich ihr Bier schmecken. Dabei taten sie, als merkten sie nicht, wenn sich heimlich ein Pärchen ins Dunkel der Büsche verzog. Schließlich war Johannisnacht, und überall in den Dörfern im Flusstal ging es ähnlich zu. Kein Wunder, wenn im Frühjahr nicht nur die Bäume ausschlugen, sondern auch die Säuglingsernte reichlicher ausfiel als sonst im Jahr.

Arnulf bückte sich, um einen angekohlten Scheit zurück in die Lohe zu werfen. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Als er sich umwandte, blickte er in die Augen eines jungen Mädchens. Hoch zu Ross, mit einigem Abstand zum Geschehen, sah sie dem wilden Treiben zu. Lange hielt sie seinen Blick, dann sah sie zur Seite. Es war die junge Dame Gisela. Dass sie ausgerechnet ihn anstarrte, erstaunte ihn und schmeichelte ihm. Aber es erfüllte ihn auch mit Unbehagen, denn der Mann an ihrer Seite war Vogt Eberlin, Herr über mehrere Dörfer diesseits des Flusses, und ihr Vater. Ein Blick auf die geringschätzige Miene, mit der er den Tänzen ums Feuer zusah, ließ ahnen, dass er es gewiss nicht leiden würde, wenn seine Tochter einen wie ihn überhaupt beachtete.

Die Spielleute stimmten ein neues Lied an, als eine der Mägde ihm zurief: »Was stehst du so rum, Arnulf?« Es war Lole, die Tochter eines leibeigenen Bauern. Dem hatte Gott keinen Sohn geschenkt, sondern ihn stattdessen mit vier Töchtern geschlagen. Lole war die jüngste und die wildeste, wie es hieß. So manche Gerüchte rankten sich um sie. Jetzt trat sie dicht an ihn heran, drückte ihm einen feuchten Kuss auf den Mund und packte ihn am Arm. »Komm, tanz mit uns!«

Lachend ließ er sich mitziehen und in die Kette der Frauen einreihen, die sich von Neuem gebildet hatte. Sie hüpften und tanzten und sangen die alten Lieder. Zwischendurch auch deftige Beschwörungen, bei denen sich der Bischof in Brixen vor Scham die Ohren zugehalten hätte, wäre er anwesend gewesen. Dann wieder hielten sie inne, stampften mit den nackten Füßen auf und brüllten Zaubersprüche in die Nacht zur Verbannung der bösen Geister, auf dass Mensch und Vieh gesund blieben und die Neugeborenen heil an Leib und Gliedern zur Welt kommen würden. So war es Brauch.

Unter fröhlichem Gekreische zogen sie noch mehr der jungen Männer in den Kreis. Auch Volkmar, Arnulfs Bruder, war darunter, obwohl er längst verheiratet und seine Frau hochschwanger war. Doch in der Johannisnacht galt das nicht. Da durften die Weiber – und nicht nur die ledigen – über die Stränge schlagen und sich ihre Tanzpartner suchen, wie sie es gerade mochten. Und mit etwas Glück tat eine hübsche Magd in dieser Nacht mehr, als einem schöne Augen zu machen.

Jedes Mal, wenn er im Kreis der tanzenden Weiber beim Umrunden des Feuers an der gleichen Stelle vorbeikam, sah er den Blick der Vogttochter auf sich gerichtet. Das machte ihn ganz zappelig. Oder war es das viele Bier, das er in sich hineingeschüttet hatte? Es nahm ihm die Hemmungen, machte ihn verwegen. Er löste sich aus dem Kreis und wanderte leicht schwankend zu den beiden Reitern hinüber.

Freundlich grinsend verneigte er sich vor dem Edelfräulein. »Herrin Gisela, warum steigt Ihr nicht vom Pferd und tanzt mit uns?«

Als der Pfeifer sah, mit wem Arnulf sprach, vergaß er vor Erstaunen, den Dudelsack zu pumpen, worauf die Melodie mit einem wehleidigen Ton erstarb. Auch der Trommler hörte auf. Und schon blieben die Tänzer stehen, starrten herüber, wunderten sich, warum die Musik verklungen war.

Das Fräulein Gisela hatte bei der unerwarteten Frage ein erschrockenes Gesicht gemacht mit kurzem Seitenblick zu ihrem Vater. Dann aber fasste sie sich und blickte hochmütig auf Arnulf hinab, bevor sie das Gesicht ganz abwandte und so tat, als habe sie ihn nicht gehört.

»Was zum Teufel fällt dir ein, du verdammter Lümmel?«, fuhr der Vogt ihn an. »Noch ein Wort, und ich lasse dich auspeitschen.« Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er sein Schwert ziehen, aber dann riss er am Zügel seines kostbaren Pferdes. »Komm, Tochter, es reicht jetzt. Wir haben uns diesen gottlosen Unsinn schon lang genug angesehen.«

Er wendete sein Pferd und ritt davon. Gisela folgte ihm. Bevor sie jedoch in der Dunkelheit verschwand, drehte sie sich noch einmal im Sattel um. Hatte sie gegrinst? Arnulf war sich nicht sicher.

Sein Bruder Volkmar packte ihn am Arm. »Bist du dämlich? Du kannst doch nicht den Vogt herausfordern.«

»Ich wollte nur freundlich sein.«

»Zu denen ist man nicht freundlich. Die verstehen das als Anmaßung.« Volkmar legte ihm den Arm um die Schultern. »Nimm dir lieber die kleine Lole vor. Die hat’s auf dich abgesehen.« Er lachte ausgelassen und winkte dem Pfeifer zu. »Was glotzt du so blöd? Spiel endlich weiter!«

Da begann die Musik aufs Neue.

Das Tanzen und Feiern hielt an bis in die frühen Morgenstunden, bis das Feuer fast ganz heruntergebrannt war. Die Alten waren schon vor einer Weile in ihren Hütten verschwunden, wo sie bierselig schnarchten. Auch die meisten Kinder schliefen längst in den Armen ihrer Mütter. Selbst den Älteren fielen die Augen zu. Die Familien zogen sich zurück, und nur die jungen Leute blieben, legten ein wenig Holz nach, erzählten sich Geschichten, lachten und scherzten noch lange in der Dunkelheit.

Schließlich wurde es still. Nur noch ein gelegentliches Flüstern und Kichern war zu hören und ein Rascheln in den Büschen. Einmal auch ein leises Stöhnen aus weiblicher Kehle, das die anderen mit unterdrücktem Gelächter quittierten. Alle waren sich einig, es war ein schönes Fest gewesen.

Arnulf schlief tief und fest, bis seine Mutter Jelscha ihn weckte. »Steh auf, du Faulpelz. Zeit für die Messe.«

Er fuhr hoch und wischte sich schlaftrunken mit der Hand übers Gesicht. Dann schob er das warme Schaffell beiseite und erhob sich. Sein Kopf schmerzte noch von dem vielen Bier. Dorela, Volkmars hochschwangeres Weib, beäugte seinen nackten Oberkörper.

»Zieh dir endlich dein Hemd über«, knurrte die Mutter.

Mit Mutter legte man sich am besten nicht an. Sie hatte eine scharfe Zunge und herrschte über Haus und Hof mit eiserner Hand. Arnulf trat vor die Tür, goss sich Wasser aus dem Viehtrog über den Kopf und zog sich das saubere Leinenhemd über, das seine Mutter ihm gereicht hatte.

Die Hütte der Familie war größer als die meisten anderen im Dorf, hatte aber trotzdem nur einen einzigen, großen Raum, in dem gekocht, gegessen und geschlafen wurde. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde, inzwischen hart wie Stein. Ein paar dicke Holzpfeiler und Querbalken trugen das strohgedeckte Dach. An denen hingen Pfannen und Töpfe und ganze Bündel von Kräutern zum Trocknen. Über der offenen Feuerstelle in der Mitte des Raumes war eine Öffnung im Dach, die als Rauchabzug diente. Darunter hingen ein paar Schinken vom Schlachtfest im letzten Herbst. An der Seite und im hinteren Bereich befanden sich Bettstellen – die meisten offen, denn für Prüderie war in der Wohnenge kein Platz. Im Winter schlief sogar der Knecht im Haus, ansonsten in der Scheune. Nur die Lagerstatt von Arnulfs Eltern war mit einem Vorhang vor neugierigen Blicken geschützt. In einer Ecke waren Bretter bis zum Dach angebracht, auf denen die Käselaibe reiften, die Jelscha an abwechselnden Tagen herstellte, an denen die Milch nicht für Butter oder anderes gebraucht wurde.

An einer Seite führte eine niedrige Tür in den Stall. Darin befand sich der ganze Reichtum der Familie – ein Maultier, zwei Milchkühe und ein Zugochse kauten dort an ihrem Heu. Daneben war ein Schweinekoben, in dem eine Sau ihre Ferkel säugte. Ein paar Ziegen besaßen sie auch, und im Hof pickten Hühner die Körner auf, die Jelscha ihnen hingeworfen hatte. Sie hatte schon die Kühe gemolken und die Tiere gefüttert. Auf der anderen Seite des Hofs befanden sich Vater Linards Schmiedewerkstatt, ein Geräteschuppen und die Scheune, frisch gefüllt mit dem duftenden Heu der ersten Mahd. Und neben dem Stall türmte sich der Mist, den sie im Herbst vor der Aussaat auf die Felder fahren würden. Ein alter Hirtenhund bewachte den Hof, aber in Wirklichkeit lag er meist faul im Schatten der Scheune.

Es gab im Inntal durchaus noch freie Bauern, aber die waren im Laufe der Zeit weniger geworden. Immer mehr hatten sich unter den Schutz der Kirche oder eines Adeligen gestellt – manche gezwungenermaßen nach Ernteausfällen oder weil ein Grundherr ihnen das Leben schwermachte, andere freiwillig. Sie besaßen ihr Land nicht länger, sondern pachteten es. Und natürlich gab es viele, die ihr Dasein als Leibeigene fristeten, ein Stückchen Land zur Eigenversorgung bestellten und ansonsten Frondienste zu leisten hatten.

Vater Linard war in jungen Jahren als freier Hufschmied ins Dorf gekommen und inzwischen der Dorfälteste. Auch er hatte etwas Land gepachtet, denn die Schmiede allein hätte die Familie nicht ernähren können. Dazu war das Dorf zu klein. Die meisten Bewohner waren leibeigene Bauern der Vogtei, die kaum etwas besaßen. Vor allem keine Pferde zum Beschlagen, höchstens einen Esel und vielleicht ein Maultier, um Lasten zu tragen und Karren zu ziehen. Und wenn sie zu ihm kamen, dann selten mit Silbermünzen. Leistungen wurden im Tauschgeschäft ausgehandelt.

Nein, gute Schmiedeaufträge kamen eher von der nahe gelegenen Burg der Vogtei, die zum Bistum Brixen gehörte. Die wurden wenigstens mit echtem Silber entlohnt. Die Krieger des Vogts brachten ihre Gäule, um die Hufeisen zu erneuern. Es gab Waffen auszubessern, Helme auszubeulen oder neue Speerspitzen zu schmieden. Manchmal wurde Linard auch zur Burg bestellt, wo es zwar eine kleine Schmiede gab, aber niemanden, der damit umgehen konnte.

Das Land, das die Familie pachtete, war nicht das beste, und es lag ein Stück weit entfernt auf höherem Grund, denn die saftigsten Äcker in den Auen behielt das Bistum für sich. Pächter mussten sich mit Hanglagen zufriedengeben, die schwerer zu pflügen waren, oder mit Feldern weiter oben am Wald, wo Wildschweine gern die Feldfrucht ausgruben. Wenigstens waren die höher gelegenen Äcker vor Überschwemmungen sicher. In Linards Jugend hatte es einmal ein schreckliches Hochwasser gegeben, das selbst das Dorf überflutet hatte, obwohl es etwas höher lag als die Uferauen.

Zusammen mit Arnulfs Onkel, der letztes Jahr verstorben war, und Jöri, dem alten Knecht, hatten sie in den Jahren genug erwirtschaftet, um nach den Abgaben an das Bistum und dem Einlagern des Saatguts immer noch alle Mäuler stopfen und Wintervorräte anlegen zu können. Sogar eine weitere Weide für das Vieh hatten sie vor ein paar Jahren gepachtet. Nein, im Gegensatz zu den Leibeigenen im Dorf, deren Kinder zerlumpt herumliefen und nicht selten hungrig zu Bett gingen, konnten sie nicht klagen.

Arnulfs Bruder Volkmar trug gerade etwas Feuerholz ins Haus. »Na, wie war’s mit Lole?«, feixte er.

»Wir haben getanzt, das ist alles.«

»Ach, Arnulf, was bist du doch für ein Träumer. Wenn sich eine Gelegenheit bietet, musst du zupacken.«

Arnulf grinste spöttisch. »So wie du mit Dorela?« Mit der Hand deutete er einen gewaltigen Bauch an. Beide wussten, dass die Heirat im letzten Winter nicht ganz freiwillig zustande gekommen war.

Volkmar lachte. »Na ja. Keiner ist vor Unfällen gefeit«, meinte er und verschwand im Haus.

Sein Bruder war ein paar Jahre älter als er und würde eines Tages das Land übernehmen, das die Familie bewirtschaftete. Er war ein handfester Kerl. Und immer in Bewegung. Manchmal konnte er aufbrausend sein, meist aber war er guter Dinge. Seine junge Frau, obwohl gerade schwer mit Kind, war eine gute Arbeiterin und geschickt im Spinnen und Nähen. Sie würde ihm eine tüchtige Hilfe sein. Vater Linard hatte versucht, dem Ältesten das Schmieden beizubringen, aber ohne Erfolg. Stundenlang am Amboss zu stehen, das war nichts für Volkmar. Mit seinem Los als Bauer dagegen war er zufrieden. Bei jedem Wetter war er unterwegs, packte gleich an, was zu tun war, und klagte nicht über die harte Arbeit.

Arnulf, gerade zwanzig geworden, schlug ganz nach seinem Vater. Nicht nur körperlich. Während sein Bruder von stämmigem Wuchs wie die Mutter war und auch deren rotblondes Haar geerbt hatte, war Arnulf dunkelhaarig wie Linard, hatte dessen hochgewachsene Statur und die gleichen blauen Augen. Und auch die stille, nachdenkliche Art. Natürlich musste er auf den Feldern helfen, aber weit mehr liebte er es, das heiße Eisen zu formen. Er mochte den Geruch der brennenden Holzkohle, die Hitze der Esse und den zischenden Dampf, der aufstieg, wenn sie den glühenden Stahl im Wassertrog abschreckten.

Arnulf war noch nicht ganz wach. Gedankenverloren beobachtete er die Hühner im Hof und blickte dann zum Himmel auf. Das schöne Wetter vom Vortag war einem verhangenen Himmel gewichen. Wenigstens regnete es nicht. Ein bisschen Regen würde dem Getreide nicht schaden. Nur wenn wie letztes Jahr das schlechte Wetter nicht aufhören wollte, dann sah es nicht gut aus für die Ernte.

Seine Schwester Braida steckte den Kopf aus der Hütte. »Kommst du endlich essen?«

Sie trug eine mürrische Miene zur Schau, wie meistens in letzter Zeit. Es muss das Alter sein, dachte Arnulf. Oder weil trotz ihrer sechzehn Jahre noch kein Bräutigam in Sicht war. Sie sei einfach zu hässlich, hatte sie ihm anvertraut mit einem Gesicht, als sei es das Ende der Welt. Wer will schon eine dürre Vogelscheuche heiraten?, hatte sie gejammert. Nicht einmal richtige Brüste habe sie, nicht so wie die anderen Mädchen. Und außerdem hasse sie die roten Haare und die Sommersprossen, die sie von der Mutter geerbt hatte.

Ein Glück, dass Braida vorsichtig genug war, so etwas nicht in Jelschas Gegenwart zu sagen, sonst hätte es Maulschellen gesetzt. Arnulf mochte seine kleine Schwester und fand sie überhaupt nicht hässlich. Im Gegenteil. Sie hatte etwas Elfenartiges. Wie eine Fee aus den Märchen. Doch was half es, ihr das immer wieder zu sagen, wenn sie es nicht glauben wollte?

Nach dem hastigen Morgenmahl – gekochter Hirsebrei mit etwas Honig, damit er nicht so scheußlich schmeckte – machten sie sich auf den Weg zur Messe. Die Frauen hatten ihre einzigen, aus grobem Leinen genähten Sonntagskleider angelegt, mit einem Wolltuch um Kopf und Schultern. Die Männer kamen im sauberen Hemd und mit Stiefeln an den Füßen statt der Holzschuhe, die sie bei der Feldarbeit trugen, die widerspenstigen Haare mit dem Holzkamm gebändigt und im Nacken zusammengebunden.

Nur Vater Linard fehlte. Er fühle sich nicht gut, hatte er gesagt, spüre eine Erkältung im Anzug und etwas Fieber. Das sei wohl eher dem vielen Bier zu verdanken, hatte Jelscha ungerührt gebrummt. Doch Arnulf machte sich Sorgen, denn sein Vater war keiner, der sich wegen einer Erkältung gleich ins Bett legte.

Ein kühler Wind strich übers Land. Die graue Wolkendecke, die über dem Tal hing, verbarg die Gebirgsgipfel zu beiden Seiten des Inns. Heute war der Gedenktag des heiligen Johannes. Die Welschen waren fromme Leute. Schon zu Römerzeiten waren sie Christen geworden. Und so nahm das ganze Dorf samt den Kindern an der Messe teil und versammelte sich vor der Kirche.

Den größeren Jungs musste man ein paarmal die Ohren lang ziehen, bevor sie still waren. Eine richtige Kirche war es nicht, nur eine kleine Kapelle. Im Grunde nicht mehr als ein überdachter Schrein mit einem geschnitzten Kruzifix im Inneren und ein paar brennenden Kerzen. Das für die Messe nötige Gerät brachte der geweihte Mönch für gewöhnlich mit. Der wohnte in der Vogtei und diente dort eigentlich als Schreiber. Für einen richtigen Pastor reichte es nicht in der Dorfgemeinde.

Dieser Mönch, ein dürrer Kerl mit einem gewaltigen Adamsapfel, stellte sich vor die Versammelten und hielt ihnen gleich zu Anfang eine lange Predigt über die Versuchungen des Teufels, über die Verruchtheit heidnischer Bräuche, über die Sünden der Ausschweifung und der fleischlichen Lust. Er rief sie auf, in sich zu gehen und Buße zu tun für die wilde Nacht, die sie durchfeiert hatten.

Einige machten düstere Gesichter. Ob aus Schuldbewusstsein oder weil ihnen noch der Kopf vom Bier dröhnte, war nicht ersichtlich. Aber die meisten nahmen die Predigt gleichmütig hin, wohlwissend, dass der gute Mann ihnen in den kommenden Wochen mit großem Genuss die Beichte abnehmen würde und sich alles, was sich in der Johannisnacht zugetragen hatte, haarklein würde erzählen lassen. Arnulf wusste von einigen, die sich einen Spaß daraus machten, die vermeintlichen Verfehlungen noch verruchter und gewürzter darzustellen, als sie wirklich gewesen waren.

Danach sprach der Mönch über den heiligen Johannes, dessen Festtag heute gefeiert wurde, und wie er Jesus Christus vorangegangen war, um ihn als das Licht der Welt zu verkünden. Zuletzt murmelte er ein paar auswendig gelernte Formeln auf Lateinisch, die niemand verstand, vielleicht nicht einmal er selbst. Dann beging er das heilige Sakrament des Abendmahls, legte Hostien auf die Zungen jener, die gerade nah genug standen, und trank den Wein in einem Zug aus. Zuletzt wurde das Vaterunser gebetet, dann packte er eiligst sein heiliges Gerät zusammen und machte sich davon.

Vater Linards Zustand hatte sich verschlechtert, als sie wieder daheim waren. Seine Stirn war heiß und die Stimme heiser. Jetzt machte sich Jelscha doch Sorgen um ihren Mann, packte ihn in warme Schaffelle und gab ihm einen Kräuteraufguss zu trinken. Plötzlich sah man ihm sein Alter an, das Grau an Bart und Schläfen, die Falten im Gesicht. Erschöpft und verbraucht sah er aus, obwohl nicht älter als fünfzig.

»Komm her, Arnulf. Ich muss mit dir reden«, sagte er.

Der nahm sich einen dreibeinigen Hocker und setzte sich zu ihm. Er konnte sich denken, worum es ging.

»Was ist bloß in dich gefahren, Junge, die Tochter des Vogts zum Tanz aufzufordern?« Linard schüttelte den Kopf und seufzte.

Arnulf schlug die Augen nieder. »Ich wollte nur freundlich sein, Vater. Außerdem hat sie mich die ganze Zeit angestarrt.«

»Denkst du etwa, Edelfräulein vergnügen sich mit Bauern beim Tanz? Wir sind nichts für diese Leute. Und dass sie dich angestarrt hat, hast du bestimmt nur missverstanden. Bilde dir bloß nichts ein. Das bringt Unglück für die ganze Familie.«

»Dieser Eberlin ist ein Schwein«, verteidigte Volkmar seinen jüngeren Bruder. Er mochte den Vogt nicht. Bei ihm war der Mann nie Vogt oder Herr, sondern immer nur der Eberlin oder der verdammte Eberlin. »Er musste unserem Arnulf nicht gleich mit der Peitsche drohen.«

»Sprich nicht so von deinem Herrn«, erwiderte Linard. Sie alle wussten, dass Volkmar ein Hitzkopf war, und fürchteten, dass er einmal zu viel sagen würde. Und das in falsche Ohren. »Unser Vogt betrachtet es als Herabsetzung, dass er sich hier um uns arme Bauern kümmern muss. Sein eigenes Land hat man ihm genommen.«

»Geschieht ihm recht«, knurrte Volkmar gehässig. »Aber woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es von den Händlern, die hier durchziehen. Die, die mir das Roheisen verkaufen.«

»Und was sagen die?«

»Ihr wisst, nach Herzog Bertholds Tod hat der König die Luitpoldinger übergangen und seinen Bruder Heinrich zum Herzog gemacht. Ausgerechnet einen Sachsen. Ihr könnt euch vorstellen, was da los war.«

»Na und?«, fragte Volkmar. »Was hat das mit Eberlin zu tun?«

Linard schloss einen Augenblick die Augen, als ob das Sprechen ihm Mühe bereitete. Doch dann legte er die Hand auf Volkmars Arm und wollte schon fortfahren, als Jelscha hinzutrat und ihrem Mann einen Becher mit Wasser reichte. »Lasst euren Vater in Ruhe«, sagte sie. »Ihr ermüdet ihn.«

Linard trank einen Schluck. »Ist schon gut, mein Herz. Es ist nur eine Erkältung. Mehr nicht.«

»Du willst mal wieder nicht auf mich hören«, brummte sie und ging zur Feuerstelle hinüber, wo sie Dorela half, das Mittagsmahl zu bereiten.

Linard blickte lächelnd auf ihren gebeugten Rücken, dann nahm er den Faden wieder auf. »Nun zu deiner Frage, mein Sohn. Der Eberlin ist ein Vetter der Luitpoldinger und hat den Unverstand gehabt, sich mit Heinrich anzulegen. Und der hat ihm kurzerhand alles genommen. Jetzt ist er nur noch Vogt von den paar Dörfern hier. Und er muss die Erträge, die wir ihm schulden, an den Bischof von Brixen abliefern. Deshalb hasst er uns. Wir erinnern ihn täglich an seine Niederlage.«

Arnulf wusste nicht viel von solchen Dingen. Nur, dass dieser König Otto hieß und aus fremden Landen stammte, aus dem fernen Norden. Er hatte ihn sogar einmal gesehen, vor vier Jahren, als er mit seinem Heer auf dem Weg nach Italien vorübergezogen war. Einige seiner Krieger hatten im Dorf Halt gemacht, um Proviant zu erstehen. Man hatte sie kaum verstehen können, so seltsam war ihre Sprache. Im Grunde war es gleichgültig, wer sich gerade König nannte. Es hatte keine Bedeutung für die Menschen hier am Inn.

»Was musste er sich auch gegen den Bruder eines Königs auflehnen?«, sagte Arnulf. »Nicht sehr klug, würde ich sagen.«

»Ach, weißt du«, erwiderte der Vater, »wenn einer wie Eberlin einem Luitpoldinger die Treue geschworen hat, so wie schon seine Vorfahren, dann muss es ihm arg gegen den Strich gehen, einem Fremden zu dienen, auch wenn der ein Bruder des Königs ist.«

»War das der Grund für den Aufstand gegen Otto?«, fragte Volkmar. »Dass er die Luitpoldinger abgesetzt hat?«

Linard nickte. »Zum Teil. Aber der eigentliche Aufrührer war sein Sohn Liudolf.«

»Der eigene Sohn wollte ihn absetzen?«

»Weil er Angst hatte, sein Erbe zu verlieren. Ihr seht, sogar in den Familien der Großen gibt es Streit«, sagte Linard mit einem Augenzwinkern. »Söhne gegen Väter.«

Volkmar lachte. »Vor uns brauchst du dich aber nicht zu fürchten.«

Linard lächelte matt. »Das will ich auch hoffen.«

»Lasst euren Vater endlich in Ruhe«, schimpfte Jelscha und strich ihrem Mann die verschwitzten Haare aus der Stirn. »Er soll schlafen, damit er schnell wieder gesund wird.«

»Nur eines noch, mein Herz.« Linard wandte sich noch einmal an Arnulf. »Es gibt Schmiedearbeit auf der Wehrburg. Sie erwarten mich morgen. Aber so, wie es mit mir steht, musst du an meiner Stelle gehen. Pack dir Werkzeug ein und melde dich gleich morgen früh beim Verwalter des Vogts. Er wird dir erklären, was zu tun ist.«

Arnulf nickte. »Geht in Ordnung, Vater.«

Er erhob sich und wollte die Hütte verlassen, als seine Mutter ihn beiseitenahm. »Sieh zu, dass du dieser Gisela aus dem Weg gehst. Überhaupt, halte dich von den Hochwohlgeborenen fern. Grüß schön höflich und halte die Augen niedergeschlagen. Hast du verstanden?« Sie tätschelte ihm liebevoll die Wangen.

»Keine Sorge, Mutter.«

Söhne gegen Väter. Dieses Gespräch fiel Arnulf wieder ein, als er in der Nacht in seinem Bett lag und auf den Schlaf wartete. Er verstand sich gut mit seinem Vater. Vielleicht weil sie beide gerne in der Werkstatt arbeiteten. Volkmar dagegen stritt sich gelegentlich mit Linard, besonders, was Pflügen, Aussaat und Ernte betraf. Sein Bruder hatte diese bestimmende Art, meinte alles besser zu wissen. Genau wie Mutter.

Nur kam er damit selten durch, denn seine hitzigen Ausbrüche prallten an Linards ruhigem Wesen ab. Linard war die stille Autorität, nicht nur in der Familie, auch im Dorf. Nur in Haus und Stall, da mischte er sich nicht ein. Das war Jelschas Reich. Und wehe, einer kam ihr dabei in die Quere.

Jelscha hatte es nie leicht gehabt. Von früher Jugend an hatte sie gearbeitet und zwischendurch Kinder geboren. Vier davon waren ihr weggestorben. Zwei schon gleich nach der Geburt, eines mit drei Jahren. Zuletzt war noch ein Nachzügler gekommen, ein Mädchen. Mierta hatten die Eltern sie genannt, und ein wahrer Engel war sie gewesen. Alle hatten sie geliebt. Aber auch Mierta war mit fünf Jahren einem schlimmen Fieber zum Opfer gefallen. Tags zuvor noch munter, drei Tage später war sie tot. Jelscha war untröstlich gewesen. Es hatte Arnulf im Herzen wehgetan, seine Mutter so weinen zu sehen.

Aber den anderen Familien ging es nicht besser. Arnulf fragte sich, warum. Alte Leute verschieden, junge wuchsen nach. Das war das Leben. Wenn die Ernte schlecht war, Hungersnot herrschte und die Leute aus Schwäche starben, das konnte man verstehen. Auch wenn einer auf der verbotenen Jagd verunglückte, von einem Felsen stürzte oder im Fluss ertrank. Dann hatte er eben nicht aufgepasst. Oder wenn in einem bösen Streit plötzlich die Messer blitzten. Warum aber starben so viele kleine, unschuldige Kinder? Die hatten doch Gottes besonderen Schutz verdient. Warum ließ er sie sterben?

Trotz allem hatte Jelscha sich nie unterkriegen lassen. Die Toten wurden beweint und begraben, das Leben ging weiter, es wartete nicht auf Trauernde. Auch sonst war jeder Rückschlag für sie ein neuer Ansporn. Sie schuftete von früh bis spät, molk die Kühe, fütterte die Tiere, kümmerte sich ums Essen, stellte Käse her, den sie gegen andere Notwendigkeiten tauschte, half auf den Feldern, nähte Kleider, flickte zerrissene Hosen, stopfte Socken. Zwischendurch verteilte sie Ohrfeigen oder heilte Wunden. Und hatte immer noch Zeit, sich die Kümmernisse ihrer Kinder anzuhören oder ihrem Linard Ratschläge zu erteilen, selbst wenn er sie nicht danach gefragt hatte. Untätig kannte Arnulf seine Mutter nur, wenn sie sich am Abend müde aufs Lager fallen ließ und im Nu ihr leises Schnarchen zu hören war.

Einst hatte das ganze Inntal dem keltischen Stamm der Breonen gehört. Sie hatten Eisenerz aus den Bergen geholt und waren Meister der Schmiedekunst gewesen. Für die römischen Legionen hatten sie Panzer und Schwerter geschmiedet. Das hatte Vater erzählt, damit sie ihre stolze Herkunft nicht vergaßen. Obwohl das Inntal schon lange zum Herzogtum Baiern gehörte, waren noch bis in die Zeiten ihrer Urgroßväter breonische Adelige führend gewesen. Doch inzwischen waren viele neue Rodungen entstanden und das Tal immer mehr von bajuwarischen Bauern durchsiedelt worden. Auch die Fürsten waren jetzt Baiern, obwohl ganze Landstriche, wie auch ihre Gegend, der Kirche gehörten.

Immerhin gab es noch viele Dörfer, in denen die Welschen überwogen. Welsche. So wurden sie etwas verächtlich von den Baiern genannt. Wenn ein Stück Vieh gestohlen oder ein Wild unerlaubt erlegt worden war, suchte man den Schuldigen gern bei den Welschen. Was blieb einem also übrig, als sich anzupassen? Im Dorf hielten die meisten noch an ihrer Sprache und den alten Namen fest, aber Vater Linard hatte darauf bestanden, seinen Söhnen bajuwarische Namen zu geben. Das würde für die Baiern nicht so fremd klingen und den beiden vielleicht das Leben erleichtern. Es war nicht auszuschließen, dass die romanische Sprache eines Tages ganz verschwinden würde, denn die Herren mochten es nicht, wenn man sich in einer Sprache unterhielt, die sie nicht verstanden.

Bevor Arnulf der Schlaf übermannte, kam ihm die Tochter des Vogts in den Sinn. Es war dumm gewesen, sie in seiner übermütigen Bierlaune anzusprechen, das sah er ein. Aber dass seine Eltern so in Sorge darüber waren, stachelte seine Neugierde eher noch weiter an. Sie war hübsch, diese Gisela, trug im Vergleich zu den Dörflern kostbare Kleider. Wie anders ihr Leben doch war. Gewiss hatte sie Mägde und Diener, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen. Obwohl der Turm, in dem der Vogt hauste, nicht wirklich wohnlich aussah. Besonders im Winter musste es in dem alten Gemäuer schrecklich zugig und kalt sein. Aber wahrscheinlich wohnte sie gar nicht im Turm, sondern im Haupthaus der Burg.

Früh am Morgen sah Arnulf nach seinem Vater. Die Mutter hatte es Linard bequem gemacht, aber seine Stirn war heiß, und er konnte kaum sprechen. Als Jelscha ihm ihren Kräuteraufguss einflößen wollte, winkte er ab. »Noch mehr von dem Zeug, und ich bin nur noch am Pinkeln«, krächzte er schwach und schloss die Augen.

Sie legte ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn, murmelte zärtliche Ermunterungen wie zu einem Kind und küsste ihn auf die Wange. Dann sah sie Arnulf an, und in ihren Augen stand tiefe Besorgnis. Sie wussten, dass ein solches Fieber nicht auf die leichte Schulter zu nehmen war.

Arnulf schlang hastig seinen Brei herunter, denn es war Zeit, dass er sich auf den Weg machte. Am Brunnen füllte er seine Feldflasche und lud das nötige Werkzeug in eine lederne Tasche. Auf der Wehrburg gab es zwar diese kleine Schmiede, aber niemand schien so recht dafür verantwortlich zu sein. Nicht, dass es ihm nachher an Werkzeugen fehlte.

Jelscha nötigte ihm einen Beutel mit Brot und Käse für seine Brotzeit auf. Dann schlang er sich den Tragriemen der schweren Tasche über die eine Schulter, warf sich eine dicke Lederschürze über die andere und nahm zur Sicherheit noch einen schweren Hammer mit.

So beladen marschierte er los. An den Füßen trug er heute seine einzigen Lederstiefel, denn auf der Wehrburg des Herrn wollte er nicht in den alten Holzschuhen herumtrampeln. Schließlich war er der Sohn des Dorfältesten.

Über den Bergen hingen immer noch dunkle Wolken. Das Gras war nass, denn in den frühen Morgenstunden hatte es kurz geregnet. Arnulf war nicht der Einzige, der den Weg zur Burg eingeschlagen hatte. Mehr als ein Dutzend Leibeigene waren schon unterwegs, um ihren Frondienst zu leisten. Allerdings nicht auf den Feldern. Stattdessen arbeiteten sie seit dem Frühjahr hart an der Erweiterung der Wehranlage. Ein tiefer Graben war ausgehoben und das Erdreich dahinter zu einem hohen Wall aufgeschichtet worden. Junge Baumstämme waren zu Pfählen gespitzt und auf den neuen Wall gepflanzt worden.

Es war eine Anordnung des Herzogs, seitdem die Ungarn im letzten Jahr wieder für Angst und Schrecken gesorgt hatten. Zum Glück waren sie nicht bis ins Inntal vorgedrungen. Der Vogt hatte nicht viele Krieger, aber mit Hilfe einer Schar wehrhafter Bauern und einer guten Befestigung würde er sich halten können, sollte es den Ungarn in den Sinn kommen, hier einzufallen.

»He, Arnulf, warte auf mich!« Es war Duri, der Flussfischer, der sich beeilte aufzuschließen. Er trug einen Weidenkorb über der Schulter. »Hast du auf der Burg zu tun?«

»Nägel schmieden oder so was. Mein Vater schickt mich. Und du? Bringst du ihnen deinen Fang?«

Duri nickte. »War nicht viel in der Reuse heute Morgen, nur ein paar Äschen, aber ich hatte Glück mit der Angel. Zwei schöne Forellen für die junge Dame. Die wird sich freuen.«

»Sie isst gern Fisch?«

»Das tut sie. Und sie entlohnt mich gut dafür.«

»Sag mal, glaubst du wirklich, die Ungarn kommen bis hierher? Hier gibt’s doch nichts zu holen.«

»Na ja, da ist immerhin Innsbruck. Und dann die Klöster. Die Kühe deiner Mutter kämen ihnen auch gelegen, würde ich sagen. Die essen gern blutig rohes Fleisch, hab ich gehört.«

»Der Vogt mit seinen paar Leuten wird sie wohl kaum aufhalten können.«

»Ich sag dir, Arnulf, die kann keiner aufhalten. Das sind Ausgeburten des Teufels. Die tragen sogar Hörner auf dem Kopf und haben Augen wie glühende Kohlen. Und kleine Kinder rösten sie am Feuer.«

»Ach, komm!«

»Ich schwör’s. Ich war im letzten Herbst mit den Flößen bis nach Regensburg. Da hab ich ’ne Menge Leute getroffen, die haben mir das erzählt. Keiner kann gegen diese Wilden bestehen. Die kommen in riesigen Scharen. Und wenn sie ihre Pfeile abschießen, verdunkelt sich der Himmel. Die ganze Arbeit, die wir uns hier mit der Wehrburg machen, das ist alles umsonst. Die reiten einfach drüber, sag ich dir.«

»Kein Pferd kann über Wall und Graben springen.«

»Die schon.«

Arnulf glaubte ihm nicht wirklich. Und doch … Man hörte schlimme Dinge von diesem Reitervolk. Unbesiegbar sollten sie sein. Schon seit mehr als fünfzig Jahren fielen sie ab und zu ins Reich ein und hinterließen jedes Mal eine Blutspur der Verwüstung. Wie die Heuschrecken in der Bibel, so wüteten sie. Zum sprichwörtlichen Schrecken der Kinder waren sie geworden. Wenn du nicht gehorchst, holen dich die Ungarn, sagten die Mütter. Dabei zitterten sie selbst vor Angst, denn die fremden Reiter hatten den Ruf, keine Frau ungeschändet zurückzulassen.

Als hätte er Arnulfs Gedanken erraten, sagte Duri: »Du weißt, was sie mit den Weibern machen, oder? Nach jedem ihrer Raubzüge werden im Jahr darauf tausende kleine Ungarn geboren. Wenn das so weitergeht, werden wir bald selbst zu Ungarn.«

Arnulf musste lachen. »Jetzt spinnst du aber.«

»Du wirst sehen«, sagte Duri. »Eines Tages.«

Inzwischen waren sie angekommen. Auf einer kleinen Anhöhe stand ein breiter steinerner Turm. Grau und verwittert hob er sich gegen das dunkle Grün des Tannenwaldes ab, der sich den Berghang hinaufzog. Eine Holztreppe, die man bei einem Angriff hochziehen konnte, führte in den ersten Stock. Im Inneren musste es ziemlich düster sein, denn statt Fenstern gab es nur die Schlitze einiger weniger Schießscharten. Unterhalb des Turms standen im Halbkreis ein paar strohgedeckte Holzhäuser – Ställe, Vorratsschuppen, Werkstätten und auch eine Backstube, wie Arnulf wusste. Eines dieser Häuser war höher und breiter als die anderen. Das war das Herrenhaus.

Wall und Graben rund um Turm und Gebäude waren jetzt wesentlich verstärkt und in ihrem Umfang erweitert worden, damit im Kriegsfall auch die Leute aus den umliegenden Dörfern hier Zuflucht finden konnten. Ob sie bei einem Ungarnangriff überhaupt die Zeit dazu haben würden, war eine andere Frage. Aber so lautete die Anordnung des Herzogs. Überall im Land waren auf ähnliche Weise solch einfache Wehrburgen entstanden.

Duri verabschiedete sich und ging zum Herrenhaus hinüber, während Arnulf im Rund der Einfriedung stehen blieb und sich umsah.

Die Flanken des Walls waren mit Grassoden gesichert, damit der Regen das Erdreich nicht wegschwemmen konnte. Überall waren die Leibeigenen bei der Arbeit. Hammerschläge dröhnten über den weiten Burghof, denn an einigen Stellen wurden noch die Latten aufgenagelt, die die Pfähle der Palisade zusammenhielten. Woanders war man schon dabei, Wehrgänge anzubringen, von denen aus der Feind mit Pfeilen beschossen werden konnte. Der Tordurchlass war in Stein gemauert. Darüber ragte ein hölzerner Turm mit Kampfplattform.

»Was stehst du rum und glotzt? Hast du nichts zu tun?«, fuhr ihn jemand auf bairisch an.

Arnulf erkannte den Mann als einen von Eberlins Kriegsknechten. Die kamen öfter ins Dorf, um Waffen ausbessern oder ihre Pferde beschlagen zu lassen. Nicht selten versuchten sie, mit den Mädchen anzubandeln. Es war nicht lange her, da hatte es Streit gegeben. Einer der Dörfler war niedergestochen worden. Nach einer Untersuchung hatte ausgerechnet die Familie des Toten eine Buße entrichten müssen. Das war es, was der Vogt unter Gerechtigkeit verstand.

»Linard, mein Vater, schickt mich. Es soll was zu schmieden geben.«

»Dann sprich am besten mit dem Waffenmeister. Das ist der große Kerl da drüben. Meinhard heißt er.«

»Ist der neu hier?«

»Seit dem Frühjahr. Wie auch ein paar andere Kameraden. Wir sind jetzt zwanzig Mann auf der Burg. Du kannst deinen Leuten sagen: Kein Jagen mehr in den Wäldern! Wir erwischen jeden.« Er grinste gehässig.

Das Wildern war ein ewiges Ärgernis für den Vogt, wie sie alle im Dorf wussten. Dabei half in schweren Zeiten ein Rebhuhn oder ein Hase im Topf, den Hunger zu stillen. Einen Hirsch zu erlegen war ohne Hundemeute ziemlich schwer. Trotzdem versuchten es einige immer wieder und riskierten dabei harte Strafen. Auch Volkmar und Arnulf hatten schon gewildert. Zum Glück konnte man sich darauf verlassen, dass im Dorf alle den Mund hielten.

»Bei uns wildert keiner«, erwiderte Arnulf.

»Und das soll ich dir glauben? Wir haben letztens wieder Blutspuren gefunden.«

»Muss ein Wolf gewesen sein oder ein Luchs.«

Arnulf ließ den Söldner stehen und ging zu der Stelle, wo dieser Meister Meinhard gerade Anweisungen gab. Es dauerte eine Weile, bis er Zeit für Arnulf hatte. Der Mann war schon etwas älter, aber kräftig gebaut mit Händen wie Schaufeln. Seine Haare hingen ihm wirr in die Stirn, und ein blonder Bart fiel ihm bis auf die breite Brust. Meinhards stahlgraue Augen musterten Arnulf argwöhnisch, als der sich vorstellte.

»Deinen Vater kenne ich«, brummte Meinhard. »Wieso kommt er nicht selbst?«

»Er ist krank, Herr, und schickt mich.«

»Du bist doch noch ein halbes Küken. Kannst du überhaupt schmieden?«

»Klar kann ich schmieden«, erwiderte Arnulf. »Das liegt unserer Familie im Blut. Meine Vorfahren haben schon für die Römer geschmiedet.«

»Ha! Der ist gut. Für die Römer geschmiedet …« Meister Meinhard lachte gutmütig, wobei Arnulf sah, dass ihm ein Zahn fehlte. »Wenn du so gut schmieden kannst, wie Sprüche klopfen, dann will ich es mit dir versuchen. Wir brauchen Nägel, dicke Nägel, und jede Menge davon. Da drüben in der Schmiede liegen noch einige rum, damit du siehst, was gebraucht wird. Also mach dich an die Arbeit.«

Arnulf ging zu der kleinen Schmiede hinüber, die an einer Seite offen und von einem wackeligen Dach gegen Regen geschützt war. Er legte seine Tasche ab und sah sich um. In einem Holzbottich fand er einige fertig geschmiedete Nägel, etwa drei Zoll lang und mit breitem Kopf. Überall lag angerostetes Roheisen in allen Größen und Formen herum. In einer Ecke fand er einen Haufen Stangeneisen, jedes mit regelmäßigen Einkerbungen. Das war sein Rohmaterial für die Nägel. Und der Amboss wies die nötigen Löcher dafür auf. So weit, so gut.

Holzkohle war genug vorhanden. Zumindest für einen Arbeitstag. Er machte sich daran, das Feuer in der Esse anzuzünden. Bald züngelten die Flammen, und er stellte die Luftzufuhr so, dass die Kohle gleichmäßig anbrennen konnte. Eigentlich hätte er es sich sparen können, Werkzeug mitzubringen. Es war alles vorhanden, was er brauchte.

Bald schon legte er noch etwas Kohle nach und betätigte den Blasebalg. Das Feuer war das Wichtigste. Nur eine gute Glut würde das Eisen so erhitzen, dass er es formen konnte. Als es so weit war, schob er ein paar Eisenstangen zwischen die glühenden Kohlen und arbeitete weiter mit dem Blasebalg, um die Hitze zu erhöhen.

Es wurde ihm langsam warm neben der Esse. Er entledigte sich seines Hemdes, band sich die Schürze um und zog seine dicken Lederhandschuhe an. Dann holte er eine der Stangen aus dem Feuer, legte sie auf den Amboss und begann das Ende mit dem Hammer zu bearbeiten, bis es zu einer konischen Spitze geformt war. Die trennte er an der Kerbe ab und steckte sie in eines der Nagellöcher. Die Stange kam zurück in die Glut. Mit ein paar Hammerschlägen stauchte er das überstehende Ende zu einem flachen Nagelkopf. Ein Schlag auf den Amboss ließ den fertigen Nagel aus dem Loch springen.

Auf diese Weise arbeitete er weiter und hatte bald schon den halben Bottich mit Nägeln gefüllt.

Wenn er gehofft hatte, die Tochter des Vogts würde sich zeigen, so wurde er enttäuscht. Auch von ihren Brüdern war nichts zu sehen – angeblich hatte der Vogt Söhne in Arnulfs Alter. Dafür ließ sich gegen Ende des Morgens der Vogt selbst im Burghof blicken. Er trug eine feine, knielange Tunika, Reitstiefel, sein Schwert an der Seite und ein Wolfsfell um die Schultern, denn es war ein kühler Tag.

Ohne die verdrießliche Miene, die ständig auf seinem Gesicht zu liegen schien, wäre er mit der hohen Stirn und der geraden Nase ein gutaussehender Mann gewesen. In Meinhards Begleitung machte Vogt Eberlin die Runde, um einen Blick auf die Arbeiten zu werfen, ließ hier und da eine Anmerkung fallen oder gab seinem Missfallen Ausdruck. Schließlich blieben sie auch vor der Schmiede stehen. Arnulf wagte kaum, den Blick zu heben. Der Vogt hatte ihn erkannt, so viel ließ sich aus der missbilligenden Miene entnehmen. Doch er sagte nichts, und gleich darauf gingen sie weiter.

Zur Mittagsstunde hielt Arnulf schweißgebadet inne, um sich auszuruhen und etwas zu essen. Er wollte schon weiterarbeiten, als Meister Meinhard kam, um seine Nägel zu begutachten. »Gute Arbeit. Ich sehe, du kannst tatsächlich schmieden. Übrigens, wenn es dir an Holzkohle fehlt, nimm dir ein Maultier aus dem Stall und hol dir vom Köhler im Wald, was du brauchst. Der rechnet dann mit uns ab. Du weißt, wo du ihn findest?«

»Natürlich.«

Sein Blick strich über Arnulfs Schultern und Oberarme. »Ich sehe, du bist ein kräftiger Bursche. Kannst du eigentlich mit Schild und Speer umgehen?«

Arnulf zögerte, dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Nein, Herr. Mit Waffen kenne ich mich nicht aus.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn er und Volkmar hatten wie andere Jungs mit stumpfen Speerschäften gespielt. Sogar kleine Schilde hatte Linard ihnen gemacht. Und Reiten hatten sie auf dem Maultier der Familie gelernt. Aber richtige Waffen besaßen sie natürlich nicht, das war den Bauern nicht erlaubt. Stattdessen waren aus dem Spiel später ernsthafte Übungen mit harten Kampfstäben geworden, denn in unsicheren Zeiten war es gut, wenn man Besitz und Familie zu verteidigen wusste. Arnulf war also nicht ungeübt. Er war sogar besser als sein älterer Bruder. Doch das musste der Waffenmeister ja nicht wissen. Auch dass er mit dem Bogen umgehen konnte, behielt er für sich. Denn Bogenschützen kamen schnell als Wilddiebe in Verdacht.

»Bist du sicher?« Meinhard sah ihn scharf an. »Wir könnten nämlich noch ein paar Kämpfer gebrauchen.«

Arnulf schüttelte erneut den Kopf. »Wir sind nur Bauern und Handwerker, Herr, keine Krieger.«

Er wollte sich nicht in die Gruppe der wehrhaften Bauern zwingen lassen, die neben den Söldnern die Burg zu verteidigen hatten. Die mussten regelmäßig den Kampf auf den Wällen oder in der Schildwand proben. Vorzugsweise wurden dazu freie Bauern und Pächter verpflichtet. Wahrscheinlich, weil sie ihr Land mit mehr Überzeugung verteidigten als Leibeigene. Nein, als Krieger sah er sich nicht. Außerdem würde ihm das zu viel von seiner Zeit in der Werkstatt stehlen.

Der Waffenmeister betrachtete ihn immer noch misstrauisch, aber dann fiel ihm etwas anderes ein. »Sag mal, kannst du eigentlich Speerköpfe schmieden?«

»Klar, warum nicht?« Arnulf hatte das zwar noch nie selbst versucht, aber dem Vater schon oft dabei zugesehen. »Wie viele braucht Ihr?«

»Nun, drei Dutzend haben wir in der Waffenkammer. Aber das würde ich gern verdoppeln. Und Beschläge für Schilde brauchen wir auch noch. Du oder dein Vater, wenn er wieder gesund ist, ihr werdet noch eine Weile zu tun haben.«

Arnulfs Augen leuchteten. Speerköpfe waren vielleicht eine Herausforderung, aber besser als das langweilige Nägelschmieden. »Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Meister Meinhard.«

»Sie müssen nicht schön aussehen, aber solide sollen sie sein. Nicht, dass sie beim ersten Stoß gegen Brünne oder Schild zerbrechen, hast du verstanden?«

Roheisen war brüchig und enthielt Schlacken vom Schmelzen des Erzes, die das Werkstück schwächten. Nur durch sorgfältiges Schmieden erhielt man so etwas wie brauchbaren Stahl. »Keine Sorge, Herr«, sagte Arnulf bestimmt. »Ich weiß, was zu tun ist.«

»Und nicht zu schwer sollen sie sein. Ich bring dir nachher einen Speer als Vorlage. Die nötigen Schäfte besorge ich dir auch.«

»Glaubt Ihr denn wirklich, dass die Ungarn kommen?«

»Das weiß keiner. Aber es ist besser, sich darauf vorzubereiten. Ansonsten bete zu Gott, dass sie uns verschonen.«

»Meint Ihr, der Vogt und Eure Männer, Ihr könnt sie aufhalten?«

Meinhard zuckte mit den Schultern. »Aufhalten wohl kaum. Dazu bräuchten wir ein ganzes Heer. Ich denke aber, die Burg werden sie umgehen und weiterreiten, um leichtere Ziele auszuplündern. Auf dem Rückweg aber, wenn sie schwer mit Beute beladen sind, dann sind sie verwundbar, dann können wir sie in einen Hinterhalt locken.«

»Das heißt, Ihr lasst sie einfach durchziehen und Dörfer verwüsten?«

»Weißt du was Besseres, Bürschchen?«, knurrte Meinhard gereizt. »Warum denkst du eigentlich, dass wir die Wehrburg erweitern?«

»Als Zuflucht.«

»Ganz recht. Im Notfall, immer vorausgesetzt, wir bekommen früh genug Wind von ihrem Kommen, sollen so viele von euch Bauern untergebracht werden wie möglich. Sicher auch deine Familie. Und alle Männer, auch du, werden helfen müssen, die Burg zu verteidigen. Hast du verstanden?«

Arnulf senkte den Blick und nickte. »Natürlich.«

»Und dafür brauche ich Speere. Also mach dich an die Arbeit!«

Nun, dagegen war nichts einzuwenden, im Gegenteil. Jede Speerspitze würde ein Silberstück bringen. Und vielleicht würde er dann doch noch die edle Gisela zu Gesicht bekommen.

DIE TOCHTER DES VOGTS

Als Arnulf verschwitzt und schmutzig von der Arbeit nach  Hause kam, dunkelte es bereits. Schon von Weitem beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Auf dem Hof war es ungewöhnlich still. Auf einer Bank vor der Hütte saß sein Bruder vornübergebeugt und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Arnulf erschrak. Das konnte nur eines bedeuten.

»Was ist los?«, fuhr er seinen Bruder an. »Vater ist doch nicht tot?«

Der sah auf und schüttelte den Kopf. »Nein, ist er nicht. Aber es geht ihm schlecht. Mutter macht sich große Sorgen.«

Arnulf war erleichtert und beklommen zugleich. Er betrat die Hütte. Im Inneren herrschte trübes Halbdunkel. Nur das Kochfeuer und ein Kienspan an der Schlafstatt der Eltern verbreiteten etwas Licht. Die schwangere Dorela stand am Feuer und rührte schweigend in einem Topf. Sie sah ihn an und hob hilflos die Schultern. Auf dem Lager lag Linard, nur mit einem Leinenhemd bekleidet. Braida und Jelscha hockten daneben. Seine Schwester warf ihm einen kurzen Blick zu, dann beugte sie sich vor und wischte dem Vater den Schweiß von der glühenden Stirn. Jelscha saß ganz still und hielt Linards Hand umklammert. Ihr Gesicht war nass von Tränen.

Arnulf hockte sich ans Fußende und betrachtete besorgt den Kranken. Linards Hemd war durchgeschwitzt. Die geschlossenen Augen lagen in dunklen Höhlen, die bärtigen Wangen waren so hohl, als habe das Fieber alles Fleisch weggebrannt. Das Atmen schien ihm große Mühe zu bereiten, denn in der Brust rasselte und pfiff es wie in einem alten Blasebalg. Einmal öffnete der Vater blinzelnd die Augen, nickte seinem Sohn zu, schloss sie wieder. Es war schrecklich, ihn so schwach zu sehen – Linard, der sonst nie krank war. Gerade deshalb fürchteten sie nun das Schlimmste.

Jelscha wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, seufzte und kam so mühsam auf die Beine, als trüge sie eine schwere Last. Mit zitternden Händen machte sie sich daran, die Wadenwickel zu erneuern, mit der sie das Fieber ihres Mannes zu senken hoffte. Arnulf hatte sie noch nie so mutlos und niedergeschlagen gesehen.

»Lass mich das machen, Mutter.« Er stand auf und nahm ihr das feuchte Tuch aus der Hand.

Sie klammerte sich an ihn und begann zu schluchzen. »Ich ertrage es nicht«, flüsterte sie. »Nicht das.«

Er legte die Arme um ihren weichen Leib. Sie roch nach Holzkohle, Kuhmilch und ranziger Butter. Dazu der ganz eigene, süßliche Geruch, der ihm seit frühester Kindheit vertraut war. Schwach und klein kam sie ihm auf einmal vor. Sie, die immer die Starke gewesen war. Nie hatte er an ihrer unbändigen Kraft gezweifelt. Aber vielleicht war sie auch nur so stark gewesen, weil immer ein Kerl wie Linard an ihrer Seite gestanden hatte. Nun war ihre Welt erschüttert und ins Wanken geraten.

Er wollte ihr sagen, sie solle sich nicht sorgen, hatte sie doch Söhne, die sich immer um sie kümmern würden. Doch dann hielt er die Worte zurück. Denn noch lebte der Vater, und an den Tod zu denken war, als würde man ihn heraufbeschwören.

»Vater ist unverwüstlich«, flüsterte er ihr zu. »Mehr als wir alle zusammen. Bald erholt er sich, du wirst sehen.«

Mit rotgeweinten Augen sah sie zu ihm auf und nickte. »Ich hoffe es.«

Volkmar betrat die Hütte. Auch er umarmte seine Mutter. Die Gegenwart ihrer Söhne schien sie ein wenig aufzumuntern. Sie fasste beide bei den Händen und zog sie hinüber zu Linards Bett. »Kommt. Wir wollen beten.«

Sie knieten auf dem Boden, auch Dorela, trotz ihres schweren Bauchs. Sie fassten sich an den Händen und flehten zu Gott, ihnen den Vater nicht zu nehmen. Jelscha versprach, noch am gleichen Abend eine Ziege zu schlachten und als Blutopfer darzubieten. Eine heidnische Tradition. Aber schaden würde es nicht, denn war nicht auch in der Bibel vom Opferlamm die Rede?

Die ganze Nacht über lösten sie sich ab, kühlten dem Vater die Stirn, wechselten die Wadenwickel, hoben seine Schultern, wenn er wieder einen dieser schrecklichen Hustenanfälle bekam, bei denen er fast zu ersticken drohte, und flößten ihm lauwarmen Kräuteraufguss ein, damit er nach all dem Schwitzen nicht austrocknete.

Am nächsten Morgen ging es Linard kaum besser, aber auch nicht schlechter. Das gab ihnen Hoffnung. Unausgeschlafen und mit Kummer im Herzen machte Arnulf sich auf den Weg zur Wehrburg. Er hätte daheimbleiben und der Mutter beistehen sollen, aber sie konnten es sich schlecht leisten, das Silber auszuschlagen, das seine Arbeit einbrachte, oder gar den Unmut des Vogts herauszufordern.

Das trübe Wetter der vergangenen Tage war davongezogen. Es war warm, und weiße Wölkchen segelten auf dem weiten Himmelsblau. Darunter prangten die Berge im lichten Grün des Laubwaldes oder im dunklen, fast schwarzen Grün der Tannen in den höheren Lagen. Ganz oben glitzerten die felsigen Spitzen des Gebirges in der Sonne. Ein wenig nagte das Schuldgefühl an ihm. Denn insgeheim war er froh, dem Krankenlager und den Sorgenmienen der Frauen entflohen zu sein und frische Luft zu atmen.

Unterwegs traf er auf Lole, die sich zu den Feldern der Vogtei begab, um ihren Frondienst zu leisten.

»Wo hast du gesteckt?«, fragte sie mit einem kecken Lächeln. »Hab dich seit der Johannisnacht nicht mehr gesehen.« Sie hatte wohlgeformte Waden und Brüste, die einen ständig zum Hinstarren verleiteten. Was ihn ärgerte, denn im Grunde lag ihm nichts an Lole.

»Ich arbeite auf der Burg. Muss Speerspitzen schmieden.«

Sie machte große Augen. »Wirklich? Erst weiten sie die Wehrburg aus, und jetzt sollst du Waffen schmieden? Dann ist es also wahr, dass die Ungarn kommen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

Sie fasste ihn am Arm. »Müssen wir Angst haben?«

»Falls sie kommen, lauft so schnell wie möglich zur Wehrburg. Da seid ihr in Sicherheit. Oder versteckt euch im Wald.«

Sie sah ihn zweifelnd an. »Ach, ich glaube nicht, dass sie kommen. Hier waren sie doch noch nie. Überhaupt, was sollten sie hier schon stehlen?«

»Deine Jungfräulichkeit«, entfuhr es Arnulf, ehe er sich zurückhalten konnte. Warum zum Teufel hatte er das gesagt? Natürlich hatte man Geschichten gehört, dass sie angeblich alle Weiber schändeten. Aber darüber machte man keine Scherze. Am liebsten hätte er sich die Zunge abgebissen. »Entschuldige, Lole.«

Aber es schien sie nicht sonderlich zu kümmern. Im Gegenteil. Mit einem anzüglichen Grinsen trat sie ganz dicht an ihn heran. »Wenn schon, dann lass ich sie mir lieber von dir stehlen, Arnulf.«

Ihre unverblümte Annäherung machte ihn verlegen, und er trat einen Schritt zurück.

»Hab ich dich jetzt erschreckt?«, fragte sie und lachte ausgelassen.

»Ich muss gehen, Lole. Keine Zeit zum Reden.« Er nickte ihr kurz zu und nahm seinen Weg wieder auf.

»Lass dich mal wieder sehen«, rief sie ihm hinterher. Ihre Stimme klang enttäuscht.

Er hob nur kurz die Hand, ohne sich umzusehen. Blöd kam er sich vor. Volkmar hätte das bestimmt ganz anders gemacht. Der hätte die Gelegenheit genutzt und sich einen Kuss gestohlen. Wenn nicht mehr. Aber Arnulf war nicht Volkmar. Er war zurückhaltender, was Mädchen anging. Überhaupt war er nicht so ein Heißsporn wie Volkmar, der oft loslegte, ohne nachzudenken.

Möchte wissen, warum die mir nachstellt, fragte er sich ärgerlich. Weiß sie denn nicht, dass es verboten ist, mit einer wie ihr zu liegen? Und eine Leibeigene zu heiraten kam schon gar nicht in Frage. Das ging nur mit Zustimmung ihres Herrn. In dem Fall würden auch die Kinder ihr Leben lang Leibeigene sein. Wer wollte denn so was?

Den ganzen Vormittag über war er nachdenklich und niedergeschlagen. Linard ging ihm nicht aus dem Sinn, wie er schweißgebadet auf dem Lager lag und sich die Seele aus dem Leib hustete. Mit seinem Vater hatte ihn schon immer viel verbunden. Mit ihm konnte er sich verständigen, ohne viel zu sagen. Sein Tod würde ein großes Loch in die Familie reißen. Und ohne Linard würden sie auch nicht die Arbeit schaffen, die Hof und Werkstatt ihnen abverlangten. Volkmar würde noch einen Knecht finden müssen, zumal Jöri langsam alt wurde.

Als Erstes schmiedete Arnulf noch mehr Nägel, denn die vom Vortag waren zur Hälfte aufgebraucht. Am frühen Nachmittag – er hatte nach seiner Brotzeit gerade wieder mit der Arbeit begonnen – bemerkte er, wie die junge Gisela ihr Pferd aus dem Stall zog. Ein hübscher Apfelschimmel, edel aufgezäumt. Einer der Pferdeknechte half ihr in den Sattel. Arnulf unterbrach für einen Augenblick die Arbeit. Sie musste ihn gesehen haben, schließlich machte sein Hämmern genug Lärm. Aber sie verschwendete keinen Blick an ihn und ritt ohne Begleitung zum Tor hinaus.

»Mach den Mund zu und starr dem Mädel nicht nach!«, knurrte plötzlich Meinhard neben ihm. »Wann fängst du endlich mit den Speerköpfen an? Wir brauchen jetzt keine Nägel mehr.«

»Sie reitet allein?«, fragte Arnulf. »Wohin?«

»Was weiß ich? Sie will ihr Pferd in Bewegung halten. Was geht’s dich an?«

»Nur so. Ach, übrigens: Ich muss Holzkohle besorgen.«

»Dann geh in den Stall und lass dir ein Maultier geben.«

Der Pferdeknecht half ihm, eines der Tiere aufzuzäumen und geflochtene Tragekörbe auf dessen Rücken zu schnallen. Damit zog er los. Zwei Leibeigene aus dem Dorf wechselten ein paar Worte mit ihm, dann schritt er durchs Tor. Das Maultier folgte brav.

Ein vielbegangener Pfad führte zum Meilerplatz, der tief im Wald lag, ein Stück weit den Berghang hinauf. Arnulf war schon oft dort gewesen, um Holzkohle für die heimische Werkstatt zu holen. Der Weg führte zunächst zwischen hohen Buchen hindurch. Hier lag der Wald still. Nur das Hämmern eines Spechts war zu hören, und die rauen Schreie einer Krähe, die sich gestört fühlte. Später wurde das Unterholz dichter und der Weg steiler. Insgeheim hoffte er, dem adeligen Fräulein zu begegnen, aber sie war nirgends zu sehen.

Der Meilerplatz lag auf ebenem Grund und mitten auf einer kleinen Lichtung, hinter der sich ein dunkler Tannenwald den Berg hinaufzog. Das Plätschern eines Bachs war zu hören. Rauch stieg aus dem mit Erdreich bedeckten Meiler. Innen schwelte das Feuer, um Holz in Kohle zu verwandeln.

Der Köhler war ein rauer Kerl unbestimmten Alters. Hinter einem grauen Gewirr von Haar und Bart konnte man das Gesicht kaum erkennen. Sein Hemd war verdreckt und voller Löcher, die Hände klobige Pranken. Er war gerade dabei, ein Holzstück mit dem Eisenkeil und einem wuchtigen Hammer zu spalten. Auf dem Boden lag eine viel genutzte Axt. Ein paar Schritte weiter aalte sich ein Hund in der Sonne, genauso struppig und ungepflegt wie sein Herr.

Der Köhler deutete auf den offenen Schuppen, wo die Holzkohle untergebracht war, neben dem Verschlag, in dem er schlief. »Nimm dir, was du brauchst«, sagte er. »Ist es für Linard?«

»Nein, für den Vogt.«

»Wie geht es deinem Vater?«

»Schlecht. Ein Lungenfieber hat ihn erwischt.«

Der Köhler brummte missmutig. »Daran ist schon mancher verreckt.« Er betrachtete Arnulf aus triefenden Augen. »Nicht, dass ich es ihm wünsche. Dein Alter ist ein guter Mann.« Damit machte er sich wieder an seine Arbeit.

Arnulf füllte die beiden Körbe mit Kohle und machte sich auf den Weg zurück zur Burg.

Kaum hatte er den Buchenwald verlassen, hörte er hinter sich das Geräusch von Pferdehufen. Es war Gisela, die ihn einholte und eilig an ihm vorübertrabte. Erdklumpen flogen von den Hufen. Das Maultier scheute und zerrte am Halfter. Eingebildete Ziege, dachte Arnulf.

Als hätte sie ihn gehört, zog sie plötzlich am Zügel und wendete ihren Gaul. »Ach, du bist’s«, rief sie und grinste. »Der freche Bauernlümmel vom Johannisfest.«

Arnulf blieb stehen. »Ich bin Schmied.«

»Das ist ja wohl kaum zu überhören, so viel Lärm, wie du machst.«

Ihm fiel keine Antwort ein. Überhaupt war seine Zunge wie gelähmt – jetzt, da er zum ersten Mal Gelegenheit hatte, sie richtig in Augenschein zu nehmen. Das Mädchen war eine himmlische Erscheinung. Schlank und feingliedrig, das Antlitz vom Reiten leicht gerötet, die blonden Haare zu einem langen Zopf geflochten, der ihr bis auf den Rücken fiel. Sie trug eine kurze Tunika aus feinem Gewebe über einer bauschigen Reithose. Die kleinen Füße steckten in kalbsledernen Stiefeln. In nichts glich sie auch nur im Entferntesten einer wie Lole.

Doch es war nicht das, was ihn unsicher machte, sondern der spöttische Blick aus blassblauen Augen, die wie Eis schimmerten. Plötzlich schämte er sich seiner schäbigen Kleider und der von der Kohle verdreckten Hände. Und es fiel ihm ein, dass er sich vor ihr hätte verbeugen sollen.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Arnulf, Herrin.«

»Und hast du noch lange zu tun auf der Burg?«

Er nickte. »Noch eine Weile.«