Herz aus Dornen - Anna Jane Greenville - E-Book

Herz aus Dornen E-Book

Anna Jane Greenville

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Beschreibung

"Berühre meine Hand und verrate mir, was du siehst." London, 1879. Über dem wohlhabenden Haussherrn John Coal liegt der finstere Schatten der Vergangenheit. Von einem Mädchen namens "Love" verlangt er, das rätselhafte Verschwinden seiner Gemahlin aufzuklären. Doch was kann schon eine junge Frau bewirken, die aufgrund ihrer besonderen Gabe für verrückt erklärt wurde? Sind ihre Visionen wirklich der Schlüssel zum Geheimnis von Coal Manor? Wenn sie nur die Liebe im Herzen des mysteriösen Gentlemans wiedererwecken könnte, würde die Dunkelheit, die ihn umgibt, vielleicht weichen...

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Seitenzahl: 340

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Herz aus Dornen

DAS GEHEIMNIS VON COAL MANOR

ANNA JANE GREENVILLE

Copyright © 2023 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Nicole Gozdek

Layout Ebook: Stephan Bellem

Titel des englischen Originals: Heart of Thorns

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-95991-479-6

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

1. Anstalt und Abnormität

2. Furcht und Voraussicht

3. Zusammensein und Zusammenhalt

4. Rausch und Rationalität

5. Verachtung und Verrat

6. Fremde und Feinde

7. Lügner und Liebende

8. Pflicht und Vertrauen

9. Gefühle und Geheimnisse

10. Tränen und Taten

11. Besitz und Bedürfnis

12. Vergangenheit und Vergebung

13. Wahrheit und Wertschätzung

14. Zeit und Zünder

15. Wahrheit und Wehmut

16. Allianz und Akzeptanz

17. Verfolgung und Fund

18. Hass und Hass

19. Verflucht und Vertraut

20. Wahn und Wahnsinn

21. Love und Liebe

Drachenpost

Für

Lisa, Daisy, Bita, Marie und Lilia

Anstalt und Abnormität

Grauer Rauch strömte unnachgiebig aus den Schornsteinen und vermischte sich mit der dichten Wolkendecke des leuchtend weißen Himmels. Darunter erstreckte sich ein unendliches Meer aus Dächern bis hin zum Horizont. Geschäftige Menschenmassen stürmten durch die breiten Straßen und engen Gassen, sie überquerten in Scharen die zahlreichen Brücken, die über die weitläufige Themse ragten. Getragen von sanften Wellen lagen viele Boote am Pier und spiegelten sich in der ruhigen Wasseroberfläche gemeinsam mit dem bunten Treiben an den Ufern.

Der Fluss offenbarte ein ganz anderes Bild Londons, als es das menschliche Auge wahrnahm. Und doch war auch die verzerrte Reflexion der Metropole in den Wellen der Themse eine Art von Realität. Ohnehin gab es verschiedene Auffassungen darüber, was real war und was nicht. So unterschied sich meine Wahrnehmung stark von der anderer Menschen. Ich fand nicht, dass das ein Vergehen war und doch hatte ich den Himmel genau deswegen seit Wochen, womöglich sogar seit Monaten nicht sehen dürfen. An meinem gegenwärtigen Wohnort gab es keine Fenster, kein Licht, keine Hoffnung. Stattdessen erfüllte Gestöhne der Verzweiflung die Luft, eingepfercht zwischen den feuchten Steinwänden und gefangen von kalten Ketten. Es war nicht der schlimmste Ort, an dem ich je gewesen war, und er machte mir keine Angst. Mein Aufenthalt war lediglich vorübergehend – alles war vorübergehend. Bis ich wieder frei war, stellte ich mir vor, wie Rauch und Wolkendecke über den Dächern miteinander verschmolzen und wie die Menschen lebhaft über die Brücken eilten und wie sich alles funkelnd in der Themse widerspiegelte. Meine Vorstellungskraft konnte mir keiner nehmen. Solange mein Geist frei war, war ich es ebenso.

»Folgen Sie mir, Sir«, erklang die krächzende Stimme des Wärters weit entfernt in den gewölbten Fluren und hallte durch den kargen Korridor vor meinen Gittern. Das Wehklagen nahm zu und vermischte sich mit Beleidigungen und ohrenbetäubendem Kreischen. Der Schritt des Besuchers blieb dennoch schwer und ruhig, weshalb ich davon ausging, dass er weder eingeschüchtert noch beeindruckt war von der Vorstellung der Insassen. Manche Leute verdienten ein Leben hinter Gittern nicht, während es für andere besser war, von der Außenwelt getrennt zu sein. Sowohl zu ihrem eigenen Wohl als auch zu dem anderer.

Die einzig natürliche Reaktion auf diese verrückte Welt war es, selbst verrückt zu werden. Jeder, der etwas anderes vorgab, war tatsächlich wahnsinnig und viel angsterregender als jene, die in der Irrenanstalt anzutreffen waren.

»Dort ist sie«, sagte der Wärter. Die vielen Eisenschlüssel an seinem großen Ring schlugen in gewohnter Melodie aneinander, als er nach einem bestimmten suchte. Diese Schlüssel waren der Ausdruck seiner Macht über diejenigen, die auf der anderen Seite der Gitter lebten, und er spazierte stets mit Stolz vor den Zellen, um seine Erhabenheit zu demonstrieren.

Der Wärter war ein kleiner und schmächtiger Mann, der seinen Mangel an Größe mit Gemeinheiten kompensierte. Jeder in der Anstalt hasste ihn – Insassen wie Mitarbeiter. Aus diesem Grund hatte er die Aufsicht über die Kellerzellen, denn hier residierte der größte Abschaum der Gesellschaft. In den oberen Stockwerken wohnten Patienten, deren Verwandte für ihre Behandlung aufkamen. Diese genossen relativen Komfort, mit Ausnahme der gelegentlichen Misshandlungen durch das Personal und der Experimente der Ärzte. Die Leute hier unten waren noch nicht einmal die Elektrizität der Schocktherapie wert, es gab keine Betten und das Essen, das diese Bezeichnung kaum verdiente, wurde alle zwei Tage gebracht. Nur wenn staatliche Inspektionen anstanden, ließ man uns für wenige Stunden in die lichtdurchfluteten Räume oberhalb der Erde und bestrafte uns streng, sollten wir erwähnen, unter welchen Bedingungen wir gehalten wurden.

Gegenüber den hiesigen Arbeitskräften hegte ich dennoch keinen Groll. Nichts, was ich dem Wärter an den Hals wünschen könnte, wäre in irgendeiner Weise schlimmer als das, was er bereits erlebt hatte. Von seinem trinkenden Vater im Alter von sieben Jahren verlassen, lebte er von da an auf der Straße und wurde Teil einer gefährlichen Gang, um nicht zu verhungern. Seine Gangbrüder hatten ihn schrecklich behandelt, über ihn gelacht und ihn dazu gezwungen, eine Vielzahl von Straftaten zu begehen. Mit 15 riss er sich von ihnen los und kämpfte sich mit dem Verrichten kleinerer Arbeiten durch, rutschte allerdings wieder in die Kriminalität ab. Bis er seine große Liebe fand und sie ihm einen besseren Weg zeigte, ihn reformierte und dann verließ, als der exzessive Alkoholkonsum begann. Heute, im Alter von 62, war sein Leben erfüllt von Alkohol, Glücksspiel und den Stunden, die er im Kellerverlies zubrachte, wo er entweder die Insassen verhöhnte oder seinen Rausch ausschlief. So eine traurige Gestalt konnte ich nicht hassen, genauso wenig wie sonst irgendjemanden, den ich bisher getroffen hatte. Unabhängig davon, wie schlecht man mich behandelt hatte. Wenn man die Geschichte jeder Person kannte, sobald man deren Hand berührte, konnte man keine Geringschätzung für irgendwen empfinden. Diese sogenannte »Gabe« war es, die Menschen wie den Herrn, der in diesem Augenblick meine Zelle betrat, anzog.

»Seien Sie vorsichtig, Sir, sie ist besonders boshaft«, rief der Wärter von der anderen Seite der Gitter. Er hatte schrecklich große Angst vor mir. Die Wahrheit war eine mächtige Waffe gegen jemanden, der sich von ihr abzuwenden versuchte.

Der Gast ignorierte die Warnung. In seinen Schritten war keine Furcht, er näherte sich mir mit derselben Gelassenheit, wie er den Korridor entlanggegangen war. Als er sich neben mir niederließ, hörte ich viele Kleidungsschichten rascheln. Ein Hinweis darauf, dass der Mann wohlhabend war. Er roch nach frischer Luft, nach der Außenwelt, nach Freiheit.

Als er meine Augenbinde herunterzog und weiches Leder meine Wange streifte, durchfuhr mich eine Eiseskälte. Ich blinzelte gegen das helle Licht der Lampe in seiner Hand, während er diese vorsichtig auf dem Boden abstellte. Sein Gesicht war hart und sein Haar so schwarz wie Rabenfedern. Stechende, hellblaue Augen unter dicken, länglichen Brauen schauten mit durchdringender Skepsis auf mich herab. Die Winkel seines harten Mundes waren nach unten gerichtet, während er mich mit zunehmender Missbilligung musterte. Wahrscheinlich hatte er in dieses Treffen nicht nur seine wertvolle Zeit investiert, sondern auch sein Geld, denn der Wärter ließ keine Gelegenheit verstreichen, an einen Schilling zu kommen. Doch alles, was der Gast nun vor sich hatte, war eine kleine, schmutzige Kreatur mit wildem Haar und zerfetztem Kleid, die verloren und mit gefesselten Händen und Füßen in der Ecke einer dunklen Zelle saß. Er fragte sich bestimmt, was für eine Gefahr ich darstellen konnte, wenn solch rigorose Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden mussten. Dieselbe Frage schwebte auch mir vor.

»Berühre meine Hand und verrate mir, was du siehst«, sagte er mit tiefer Stimme und verschleierte seine Neugierde nahezu perfekt in der Monotonie der gesprochenen Worte. Er legte seinen schwarzen Lederhandschuh ab. Darunter kam die weiche Haut seiner großen Hand zum Vorschein, als er mir diese entgegenstreckte.

Ich blieb reglos sitzen, denn meine eigenen Hände waren mit einem Tuch verbunden, um mich an der Berührung anderer zu hindern – wenn er zu dumm war, das zu erkennen, war er die Verschwendung meines Atems an ihn nicht wert. Auch wenn ich eingesperrt und in Ketten gelegt war, war ich kein Hund, der auf das erste Fingerschnippen hin Kunststücke vollführte.

Der Mann betrachtete mich geduldig. Er trug einen eleganten, schwarzen Anzug und ich musste zugeben, dass er ein stattliches Gesicht hatte. Allerdings war ich wahrscheinlich aufgrund meiner sonstigen Gesellschaft bereit, dasselbe über jeden Bettler zu sagen.

»Ah.« Er bemerkte das Problem. »Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte er emotionslos und zog an der Schnur, um meine Hände zu befreien. Erneut streckte er mir seine entgegen.

»Sir«, erwiderte ich in seine kalten Augen blickend. »Erwarten Sie tatsächlich von einer Frau, Ihre Hand zu berühren, wenn ihre eigene schmutzig und taub ist vom tagelangen Druck strammer Fesseln? Erwarten Sie, dass ich mich gelassen mit Ihnen unterhalte, wenn meine eigene Position beschämend gering ist?«

Der Mann zögerte einen Moment, erhob sich dann aber und schritt ruhig in Richtung des Ausgangs. Neben dem Wärter hielt er an.

»Gib der jungen Frau etwas zu essen und zu trinken und lass ihr ein Bad ein. Der Gestank hier unten ist unerträglich.« Obwohl er mit großer Gelassenheit sprach, wirkten seine Forderungen wie ein Befehl. »Anschließend können wir die Unterhaltung fortsetzen.« Er schaute bedeutungsvoll zu mir herüber.

Der Ausblick auf eine Mahlzeit und ein Bad ließen mein Herz höherschlagen und ich erhob mich langsam und ungeschickt vom Steinboden. Meine Gelenke waren steif und die schweren Hand- und Fußketten machten schnelle Bewegungen unmöglich. Die Glieder klirrten laut, als ich mich den Gittern näherte. Der Wärter sah mich auf sich zukommen, sprang auf und schwang seine Schlüssel nach mir, woraufhin ich zurückstolperte und das Gleichgewicht verlor. Umgehend schlug er die Tür zu und schloss ab.

»Was soll das?«, donnerte der große, dunkle Mann. Das Gestöhne aus den Nachbarzellen verstummte für einen Moment und wurde kurz darauf noch lauter und aggressiver. Die Irren begannen den Gast anzufeuern, den Wärter umzubringen, doch er schob die jämmerliche Kreatur lediglich zur Seite, drehte den Schlüssel und öffnete die Tür. Er trat ein und nahm meine Hände, um mir aufzuhelfen.

Das Pochen in meinem Kopf und der Hunger in meinem Magen verlangsamten meine Reaktion zu sehr, als dass ich mich der Berührung hätte entziehen können. Augenblicklich ging mein Geist eine Verbindung mit seinem ein. Mir schlugen eine Dunkelheit und Grausamkeit der bedrückendsten Art entgegen, dergleichen hatte ich noch nie gesehen. Sie übermannten mich dermaßen, dass ich nicht in der Lage war, an ihnen vorbeizublicken und in seine Kindheit zu schauen, wie ich es sonst ohne Probleme tat. Sein Herz war so schwarz und gnadenlos wie die Welt, die ich vor meinen verbundenen Augen gesehen hatte.

Mit einem Ruck riss ich mich von ihm los und stolperte zurück in meine Ecke und sank zu Boden. Meine Hände zitterten von seiner Berührung.

»Es tut mir leid, Sir. Ich besitze nicht die Kräfte, die Ihnen der Wärter versprochen hat«, gab ich kaum hörbar von mir. Die Vision hatte mich dermaßen aus der Fassung gebracht, dass es mir schwerfiel, dies zu verbergen. »Er verlangt stolze Preise für uns Irre und behauptet, wir hätten magische Fähigkeiten. In Wahrheit ist er aber nicht mehr als ein Betrüger und wir sind kaum etwas anderes als verrückt. Sie scheinen ein großherziger Mann zu sein, weshalb ich Ihnen eine solche Fehlinvestition und Zeitverschwendung ersparen möchte«, log ich, als ginge es um mein Leben – denn womöglich tat es genau das.

»Sie lügt!«, krächzte der Wärter hinter den Gittern, wo er sich sicher fühlte.

Der Mann musterte den aufgebrachten Aufseher und daraufhin mich. »Du würdest lieber hierbleiben, als mit mir zu kommen?«

»Ja, Sir«, sagte ich leise, während der Wärter verdrießlich grunzte und seine Faust gegen die Stäbe schlug. Er war mutig, solange eine Metallabsperrung zwischen uns war.

»In dem Fall können die Gerüchte nur stimmen«, raunte der wohlhabende Mann und lächelte zu mir herunter. Ein Zittern fuhr durch meinen Körper, als er sich niederkniete. »Verrate mir, was du gesehen hast.«

»Nichts, Sir.« Ich versuchte mich von ihm wegzubewegen, doch ich war bereits ganz in die Ecke gerückt.

Er griff nach meiner Hand.

»Nein, Sir, lassen Sie los!«

»Was siehst du?«

Ich kniff die Augen zu, doch das verstärkte die Vision nur, ich versuchte meine Hand wegzuziehen, doch er hielt viel zu stark fest.

»Schuldgefühle wiegen so schwer wie ein Felsen … Sie ist Ihre Frau, doch Sie können sie nicht erreichen … Trauer und Verzweiflung kulminieren in Hass, der zu Flammen entfacht und nichts als Schmerz und Kummer verbreitet. Sir, lassen Sie meine Hand los, bevor Brandwunden entstehen.« Die Tränen flossen meine Wangen hinab, als er mich endlich losließ.

»Wärter«, rief er dem bibbernden Mann zu, der meine Visionen mehr fürchtete als sonst jemand. »Gib mir den Schlüssel.«

»Sie haben mir 50 Pfund für das Mädchen versprochen.«

»Wenn du ihre Ketten selbst abnimmst, bekommst du das Doppelte, wenn du mir den Schlüssel zuwirfst, bekommst du bloß 20.«

Der Wärter dachte keine Sekunde über das Angebot nach und warf die Schlüssel von sich weg, als hätte der große Eisenring plötzlich Feuer gefangen. Der Mann vor mir fing ihn gekonnt und schmunzelte. Geduldig probierte er alle zwei Dutzend kleineren Schlüssel, bis er den richtigen fand. Als ich frei war von den Ketten, stand der Mann auf, doch ich tat es ihm nicht nach.

Manche Menschen waren schwerer zu lesen als andere, doch hatte mich noch keine Berührung so kraftlos zurückgelassen, nach nur einem kurzen Einblick in die Gedankenwelt. Ich wollte nicht mit ihm gehen. Im Vergleich zu seinem Herzen war die Anstalt ein Süßwarengeschäft.

»Bitte, Sir, ich kann Ihnen nicht helfen … Ich weiß nicht, wo die von Ihnen gesuchte Person sich aufhält«, argumentierte ich, doch wollte meine Stimme nicht lauter werden als ein Flüstern.

»Du wirst das schon machen«, erwiderte der Mann mit unerschütterlicher Überzeugung. »Kannst du laufen, oder soll ich dich tragen?«

»Nein!«

Falten legten sich über seine Stirn.

»Fassen Sie mich … Fassen Sie mich bitte nicht an, ich denke nicht, dass ich es ertragen kann.«

Mühsam zog ich mich an der Wand hoch. Bereits vor der Ankunft des Mannes war mein Körper geschwächt gewesen, doch nachdem ich seine Dunkelheit gespürt hatte, konnte ich meine Gliedmaßen kaum heben.

Der Mann gab dem Wärter 20 Pfund, als wäre die große Summe nichts, und wartete darauf, dass ich die Zelle verließ.

»Miss«, sagte der Wärter mit plötzlichem Respekt und kleinlauter Stimme, da ich in seinen Augen eine freie Person geworden war. Ich selbst empfand mich nun viel mehr als Gefangene als bisher. »Bitte verraten Sie niemandem, was Sie in meinem Herzen gesehen haben.« Seine dünnen Lippen standen leicht offen und zeigten seine gammelnden Zähne, während er mich mit schreckerfüllten, winzigen Augen ansah.

Ich konnte nicht anders, als ihm zuzulächeln. »Werde ich nicht.«

Obwohl ich mich nur langsam entlang der Wand fortbewegte, folgte mir John Coal geduldig. Mehr als diesen Namen und sein Geburtsdatum, das knapp 29 Jahre zurücklag, hatte ich in der düsteren Gedankenwelt des Mannes nicht erkennen können.

»Es regnet draußen, du solltest meinen Mantel nehmen«, bot er aus höflicher und respektvoller Distanz an.

»Sir, bitte verstehen Sie es nicht als Beleidigung, wenn ich sage, dass ich keines Ihrer Besitztümer an mich nehmen kann … Ich kann es einfach nicht«, sprach ich und schaute auf meine nackten Füße. Sie machten kleine Schritte auf dem Pflasterstein, als würde ich noch immer Fußketten tragen. Ich hörte, wie er leise lachte.

»Du bist alles, was ich mir erhofft hatte.«

Furcht und Voraussicht

Wie ist dein Name?«, fragte er, während wir an der London Bridge vorbeifuhren. Es war dunkel draußen. Durch das Fenster der Kutsche konnte ich den Fluss kaum vom Ufer unterscheiden, doch die winzigen, weit entfernten Lichter funkelten genauso wunderschön wie in meiner Erinnerung.

»Ich habe keinen, Sir«, antwortete ich und presste meine kalten Hände gegeneinander.

»Sicherlich haben dich die Leute irgendwie genannt.«

»Das haben sie, Sir, doch ihre Bezeichnungen würde ich ungern wiederholen.«

»Nun gut. Aber zumindest dein Alter musst du doch kennen?«

»21, Sir. Geboren wurde ich am 23. November 1858.«

Ich war stolz, endlich eine konkrete Antwort geben zu können, und fasste sogar den Mut, ihn anzuschauen, doch er blickte nur gelangweilt zum Fenster.

»Wie kannst du das Datum deiner Geburt kennen, aber keinen Namen haben?«

»Ich erinnere mich an den Tag meiner Geburt. Und an jede Minute meines darauffolgenden Lebens.«

Dazu sagte er nichts. Mir fiel es schwer, andere Menschen anzulügen, und ich bevorzugte es, die Wahrheit zu sprechen, doch wurde dieser meist mit Spott, Ungläubigkeit und letztendlich Wut begegnet. Ich hatte es längst aufgegeben, auf meinem Standpunkt zu beharren. Wenn meine Worte nicht gehört werden wollten, so machte mir das Schweigen nichts aus.

Kritisch musterte er mich. »Wenn du dich an alles erinnerst, musst du doch auch noch wissen, wie deine Mutter dich genannt hat?«

Ich drückte meine Hände fester zusammen. »Das tue ich, Sir. Aber wie bereits gesagt, würde ich es lieber nicht wiederholen – es waren grausame Dinge und niemals ein richtiger Name.«

»Deine eigene Mutter hat dich abgelehnt?«, fragte er misstrauisch.

»Mehr als irgendjemand sonst, Sir.« Ich wandte meinen Blick von dem wissbegierigen Fremden ab und schaute wieder hinaus zu den schwach glitzernden Wellen des breiten Flusses. »Sie dachte, ich sei die Strafe für ihre Sünden. Also ließ sie mich zurück, als ich noch sehr jung war. Obwohl ich sicher bin, noch nie jemandem geschadet zu haben, bleiben die Menschen mir lieber fern. Hin und wieder nimmt mich jemand bei sich auf, in der Hoffnung, einen Nutzen aus meiner Gabe schlagen zu können. Doch am Ende finde ich mich immer auf der Straße wieder. Die Anstalt hat sich als der sicherste Ort für mich entpuppt, und wenn auch Sie keinen Nutzen mehr für mich haben, würde ich Sie bitten, mich dorthin zurückzubringen. Mein Wahnsinn wirkt glaubhafter, wenn jemand anderes ihn bestätigt.«

»Wir werden sehen«, sagte er kühl. »Bis dieser Tag kommt, muss ich dich in irgendeiner Weise ansprechen. Such dir also einen Namen aus, der dir gefällt.«

»Love.«

»Wie bitte?«

Trotz der durchdringenden Kälte wurde mir kurz warm ums Herz, als ich an den Grund für meine Wahl dachte. »So hat mich einmal ein Mann auf der Straße angesprochen. Das war eine schöne Abwechslung zu all den sonstigen Gemeinheiten, die ich zu hören bekomme, und deswegen möchte ich nun immer so genannt werden«, verkündete ich zurückhaltend freudig.

Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Das geht nicht.«

»Weil es Sie an Ihre Frau erinnert?«

Ruckartig lehnte er sich vor und schlug seine Faust in die Rückenlehne neben meinem Gesicht. Ich zuckte zurück.

»Sprich niemals von meiner Frau, außer ich bitte ausdrücklich darum!«, donnerte er mit wütendem Blick. Jede Gelassenheit war aus seiner Haltung gewichen, mit einem Mal jagte er mir eine Heidenangst ein. Obwohl ich in sein Inneres geblickt hatte, konnte ich ihn nicht einschätzen und das machte ihn unberechenbar.

Die Fahrt setzten wir in mit Anschuldigungen geladener Stille fort. Ich mochte diese Art von Stille nicht, denn sie war das einschüchterndste aller Geräusche. Sie konnte jede Emotion transportieren und diese allein dadurch verstärken, dass man sie nicht ausdrückte. Ihre beklemmende Präsenz breitete sich in der Kutsche aus und lastete schwer auf meinen Schultern. Ich wäre viel lieber in der unruhigen Anstalt geblieben, umgeben von der akustischen Kulisse des Wahnsinns. Die Laute der Irren waren zwar nicht fröhlich, doch ihnen lag eine gewisse Unschuld zugrunde. Schreie mussten nicht unbedingt Gefahr vermitteln, sondern konnten als Ausdruck eines fragilen Gemütszustandes betrachtet werden. Gestöhne war ein Weg, sich selbst in der isolierten Dunkelheit Gesellschaft zu leisten. Todesdrohungen waren Wiederholungen aufgeschnappter Aussagen aus der Außenwelt und schöpften aus dem Unvermögen, sich gewandt auszudrücken. Sicherlich gab es auch Patienten, die bereits wissentlich etwas Schlimmes getan hatten, Essen gestohlen hatten oder in Schlägereien verwickelt gewesen waren – meistens gingen solche Taten allerdings mit Verzweiflung, Hunger und Selbstschutz einher. Wie ich mich vor John Coal schützen sollte, war mir ein Rätsel, doch eine Sache stand völlig außer Frage: Er war in der Lage, mich großer Gefahr auszusetzen.

Die bedrückende Stille wurde immer schwerer und so rutschte ich durch ihre Last noch tiefer in den dunklen Ledersitz. Dieser quietschte verräterisch unter mir. Vernichtend schaute John Coal zu mir auf. Mit finsterem Blick musterte er mein zerzaustes Haar und betrachtete mein zerfetztes, dreckiges Kleid. An meinen Handgelenken hielt er inne. Die blauen Flecken und Abschürfungen der Ketten waren darauf deutlich zu erkennen. In seinen Augen fand ich nichts als Verachtung. Er war das genaue Gegenteil von mir. Ein Gentleman, gekleidet in einen feinen schwarzen Anzug mit modischer Ascot-Krawatte und goldenen Manschettenknöpfen. Eine ebenfalls goldene Kette führte in seine Westentasche, wo er ganz bestimmt eine goldene Uhr trug. Sein dicker Wollmantel und der Zylinder lagen auf dem Sitz neben ihm. Seit er mir das Kleidungsstück angeboten hatte, hatte er es nicht angezogen, obwohl wir durch den Regen gelaufen waren. Seine Erziehung verbot es ihm wohl, einen Mantel anzulegen in Gegenwart einer Frau, die keinen hatte. Selbst wenn besagte Frau Lumpen trug.

Das Haus, vor dem die Kutsche nach langer Fahrt hielt, war ein großes Herrenhaus und erinnerte stark an seinen Besitzer. Auch wenn die Fassade kein hohes Maß an Verzierungen aufwies, wirkten die wenigen Ausschmückungen von höchster Qualität und Eleganz. Ein dicker Kranz verlief entlang des Daches, dort wo das Erdgeschoss aufhörte und das erste Stockwerk begann. Marmorstufen führten zu einer Doppeltür aus dunklem Holz und klarem Glas mit matten Ornamenten. Die unzähligen großen Fenster blickten genauso wertend auf mich herab wie John Coal, während er mir dabei zusah, wie ich barfuß aus der Kutsche in den Schlamm der breiten Einfahrt sprang.

Ein Dienstmädchen des Hauses brachte einen großen schwarzen Schirm. Unentschlossen schaute sie zwischen uns hin und her, bis ihr Blick schließlich auf mir verharrte.

»Nimm den Schirm weg«, fuhr Coal die junge Frau streng an, noch bevor sie mich erreichte. »Ihr Zustand kann wohl kaum noch schlimmer werden. Bereite ihr lieber ein Bad vor und kleide sie ordentlich. Ich ertrage ihren Anblick nicht.«

Das Dienstmädchen, das sich mir hastig als Mary vorstellte, gab den Schirm einem heraneilenden Butler. Dieser hielt ihn dann Coal hin, während Mary mich mit ins Haus nahm.

Die Fülle an Prunk und Glanz des Foyers ließ mich atemlos innehalten. Eine massive Marmortreppe mit graziler Balustrade wand sich über unsere Köpfe hinweg. Das Muster des polierten Marmorbodens variierte zwischen weißen und hellbraunen Verläufen und ein Gaskronleuchter aus Gold und Glas hing von der hohen Decke, welche ein blasses, aber wunderschönes Engelsfresko zierte.

In der Mitte des Eingangsbereiches erwartete uns bereits die Haushälterin, deren Kleidung aufgrund der fehlenden weißen Schürze wesentlich strenger und dunkler wirkte als Marys. Ihr Blick verfinsterte sich, als sie mich und die dreckigen Fußabdrücke sah, die ich auf dem blanken Boden hinterließ. Sie und Mary wechselten einen Blick und die ältere Frau schüttelte den Kopf, bevor sie mich mit einer stummen Handbewegung anwies, ihr zu folgen.

Anstatt die Marmorstufen hinaufzugehen, führte sie mich eine schmale, schier endlose Treppe hinunter. Auf unserem Weg begegneten wir weiterem Personal, das mich ebenso abschätzig musterte wie die Haushälterin. Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, was ihr Geflüster und ihre Blicke mich empfinden ließen.

Wir stiegen immer tiefer und tiefer und erreichten schließlich die fensterlose Küche, durchquerten diese und betraten den anliegenden Waschraum.

Das Wasser in der Metallwanne musste dreimal gewechselt werden, bevor es sich nach einer Berührung mit meiner Haut nicht mehr schwarz färbte. Die arme Mary dachte wohl, dass sie bis zum Morgengrauen Wasser tragen müsste, doch irgendwann verflüchtigte sich der Dreck und die Haushälterin erlaubte mir, aus dem schaumigen Bad aufzustehen. Als sie mir ein Tuch hinhielten, bemerkte ich, dass beide Frauen weiße Handschuhe trugen. Gern hätte ich eine ihrer Hände berührt, um herauszufinden, ob sie wussten, was Coal vorhatte. Das Personal hatte immer ein sehr verlässliches unterbewusstes Bild von seinem Arbeitgeber, doch anscheinend würde ich nicht ganz so leicht an diese Informationen kommen.

Die Haushälterin verließ den Waschraum und ich beobachtete durch einen Spalt in der Tür, wie sie mein verdrecktes Kleid ins offene Feuer des eisernen Ofens warf. Dann verschwand sie kurz aus meinem Sichtfeld und kehrte mit einem hübschen Kleid und allem, was dazugehörte, zurück. Allein die unbequem aussehenden Unterteile bestanden aus mehr Stoff als meine alte Kleidung.

Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, sie kniff bloß die Lippen zusammen. Das nunmehr verbrannte Kleid besaß für mich keinen sentimentalen Wert, ich hatte es mir bei meiner Ankunft in der Anstalt aus einem Haufen alter Fetzen ausgesucht. Doch die Tatsache, dass meine Habseligkeiten und somit ich selbst so geringschätzig behandelt wurden, ärgerte mich. Sie war in dem Irrglauben, ich könnte mich nicht wehren. Ich sah es als meine Pflicht an, sie eines Besseren zu belehren.

»Ist das ein Tornürenunterrock?«, fragte ich unschuldig.

Die Haushälterin schnaubte verächtlich, während Mary an ihrer statt freundlich antwortete: »So ist es, Ma’am.«

»Bitte verzeihen Sie mein Unwissen«, setzte ich meinen Gedanken fort, »aber dürfte ich erfahren, wie Sie gedenken, so einen breiten Unterrock unter ein Kleid mit nahezu flachem Rücken zu stopfen?«

Das Gesicht der älteren Dame färbte sich rot. Sowohl Mary als auch ich schauten sie neugierig an.

»Dieses Kleid wurde gemäß der Mode des 1878er Sommers gefertigt«, stellte ich mit absichtlich überheblichem Blick fest. »Diese Form des Unterrocks war jedoch um 1875 beliebt, deshalb erscheinen sie mir nicht zueinander passend. Allerdings war ich einige Wochen in einer Anstalt eingesperrt und habe unter Umständen entscheidende Entwicklungen der Mode verpasst.«

Beim Lesen anderer Leute Gedanken häufte ich wahnsinnig viel unnützes Wissen an, das sich in seltenen Fällen als hilfreich erwies.

Die Haushälterin stieß scharf Luft aus und war für einen genüsslichen Moment aus der Fassung gebracht, was mir die Gelegenheit bot, sie am Handgelenk zu packen. Auch wenn nicht im gleichen Maße wie Hände, so vermittelte jegliche Art von Haut vielerlei Details zu ihrem Besitzer. Ich konnte zwar nicht frei durch ihre Gedankenwelt wandern, doch Informationen wie Name und Alter in Erfahrung zu bringen, war auf diese Weise kein Problem.

»Fehler passieren den Besten von uns, Sybil. 53 Jahre alt, Tochter von Mr. und Mrs. Hunt aus Dorchester«, tröstete ich die arme Frau mit einem herausfordernden Lächeln.

Unbeherrscht riss sie sich von mir los und stolperte zurück. Fast wäre sie in den Wäschekorb hinter ihr gefallen, da ihr angsterfüllter Blick auf mich fixiert war. Mary neben mir war plötzlich gänzlich still.

»Wärst du so gut, mir die Unterwäsche in deinen Händen zu reichen?«, fragte ich und sah Mary freundlich an. »Es ist doch recht kalt so ganz ohne Kleidung.«

Das Dienstmädchen warf mir hastig das lange Hemd zu, dann verließ es den Waschraum – so schnell wie möglich und mit großem Abstand zu mir. Sybil folgte ihr, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich konnte mir ein kleines Kichern nicht verkneifen. Die meisten Menschen fürchteten meine Gabe. Häufig war sie aufgrund dessen ein Fluch, doch manchmal auch ungemein praktisch.

Ich hatte kaum Zeit, in das mir gebrachte Kleid zu schlüpfen, als vor der Tür auch schon schwere, eilige Schritte ertönten. Plötzlich stand der Hausherr vor mir. Sybil lungerte am Eingang zum Waschraum und blickte mich arrogant und herablassend an. Hinter dem Rücken ihres Arbeitgebers fühlte sie sich sicher. Doch wenn Coal mich tatsächlich länger bei sich behalten wollte, dann konnte er sich darauf gefasst machen, dass ich mir nicht alles gefallen lassen würde.

»Ganz schön schamlos von einem Mann aus gutem Hause, in ein Zimmer zu stürmen, in dem eine Frau womöglich nackt sein könnte«, sprach ich weniger besorgt, als es sich gehörte, und knöpfte den letzten Knopf an meinem Kragen zu. »Heute haben Sie in der Hinsicht wohl kein Glück, denn ich bin schon fertig angekleidet.«

»Berühre niemanden, außer ich gebe die Erlaubnis dazu«, befahl er erzürnt, ohne meinen schnippischen Kommentar zu beachten.

»Sie haben keine Macht über mich, Sir«, sagte ich mit aufgesetztem Stolz, obwohl ich sehr wohl eingeschüchtert war. »Und auch viel zu viel Personal, um jeden im Blick behalten zu können.«

Er verengte die Augen und machte einen Schritt auf mich zu.

»Nur zu, nehmen Sie meine Hand.« Herausfordernd hielt ich sie ihm hin. »Ich bin völlig kraftlos und vom Hunger geschwächt. Eine Ihrer Berührungen wird ausreichen, um mir das Bewusstsein, möglicherweise sogar das Leben, zu nehmen. Wer wird Ihnen dann helfen, Ihre Frau zu finden?«

Er zögerte einen Augenblick. Zügig schritt ich an ihm vorbei und auf Sybil zu, die erstarrte und ihren Rücken an die Wand drückte. Während sie die Augen zukniff, zog ich ihr die Handschuhe aus und stülpte den dünnen Stoff über meine eigenen Finger.

»Bei der Art und Weise, wie Sie sich in weiblicher Gesellschaft benehmen, Sir«, sagte ich standhaft und blickte in seine lodernden Augen, »würde es mich nicht wundern, wenn Ihre Frau schlichtweg vor Ihnen weggelaufen ist.«

Sein Blick schoss kurz zu mir hoch, bevor er an mir vorbei an die Wand zu starren begann. Falten zeichneten sich zwischen seinen Augenbrauen ab. Ein verletzter Ausdruck legte sich über sein Gesicht. So schmerzhaft schien die Erwähnung seiner Frau für ihn zu sein, dass er mir nichts entgegnete. Ich genoss das Leid in seinen Augen nicht. Hätte ich seine Hand in diesem Augenblick berührt, wäre ich wahrscheinlich gemeinsam mit ihm in einen tiefen Abgrund gestürzt. Dies war mir mehr als bewusst, zugleich verstand ich aber auch, dass ich besser daran tat, kein Mitleid für John Coal zu empfinden. Mitleid war es gewesen, das mich überhaupt in die Anstalt gebracht hatte. John Coal verdiente mein Bedauern auch nicht, er schien kein guter Mensch zu sein. Wenn ich ihn auch noch nicht gut kannte, so hatte ich genug gesehen, um mir dessen sicher zu sein. In ihm war eine Dunkelheit, die mir beinahe das Leben ausgesogen hätte.

Ich verlagerte das Gewicht von einem nackten Fuß auf den anderen, als die Kälte der Fliesen unter meine Haut drang – leider hatte ich Sybil zu quälen begonnen, bevor sie mir Schuhe besorgt hatte. Coal schaute weiterhin ins Nichts. Am liebsten hätte ich ihm Mut zugesprochen und versichert, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um ihm zu helfen, nur um seinen Gesichtsausdruck zu ändern. Doch ich tat es nicht. Er würde es mir nicht danken – niemand hatte das jemals. Menschen waren darauf bedacht, ihre Ziele zu erreichen. Sie versprachen ihren Helfern das Blaue vom Himmel, doch sobald ihre Wünsche erfüllt waren, vergaßen sie ihre Schwüre prompt und ihre Werte änderten sich. Verbündete wurden zu Bedrohungen, einfach weil sie zu viel wussten, und Bedrohungen mussten rücksichtslos aus dem Weg geräumt werden. Immer wenn ich versuchte, die Heldin zu sein, fand ich mich unweigerlich in der Rolle des Drachen wieder, den es zu vernichten galt.

»Sie ist doch nun schon eine ganze Weile fort. Sie können sich also getrost eine neue Gattin suchen«, sagte ich kaltherzig schnaubend. Mein eigener Magen drehte sich bei diesen ungnädigen Worten, doch sie genügten, um ihn aus seiner Trance zu befreien.

»Sybil, raus!«, rief er mit einem Mal.

Blitzschnell eilte die Frau aus dem Waschraum. Er schlug die Tür hinter ihr zu und trat ganz nah an mich heran, packte mich an den Oberarmen und drückte mich gegen die Wand. Die Kälte der rauen Steine durchdrang mich.

»Du kannst mich verhöhnen, du kannst mein Personal verspotten.« Er wurde lauter und zunehmend wütender. »Aber wage es nicht, auch nur ein weiteres faules Wort über meine Frau zu sagen. Wage es nicht, meine Erinnerung an sie durch den Dreck zu ziehen. Sei dir sicher, dass sie das Wertvollste auf der Welt für mich ist, dass ihr niemand gleicht und dass wir beide sie finden werden.« Die Intensität verließ seine Stimme. Die Finsternis wich aus seinem Gesichtsausdruck und es wirkte, als hätte die Luft seine Lungen verlassen. Tränen glänzten in seinen Augen und er ließ mich los, um sich wegzudrehen und diese wegzureiben.

Es war immer dasselbe – jedes Mal aufs Neue. Das Mitgefühl fand immer einen Weg, so sehr ich mich auch dagegen sträubte. Ich legte meine Hand mit dem weißen Handschuh auf seinen Rücken.

»Ich werde Ihnen helfen«, versprach ich. »Ich werde alles tun, was ich kann.«

Meine Worte hallten einsam von den kahlen Wänden des Waschraums, danach herrschte unerträgliche Stille, in der ich mein Versprechen zu bereuen begann.

Schließlich schnaubte er verächtlich. »Ich verstehe nun, warum du immer wieder auf der Straße landest, so launisch und anmaßend wie du bist«, sagte er, ohne mich anzuschauen.

»Ja«, flüsterte ich. »Wir passen wirklich gut zusammen.«

Zusammensein und Zusammenhalt

Innerhalb der kommenden Tage fragten mich die verschiedensten Angestellten des Hauses nach meinem Namen. Ich gab jedem von ihnen eine andere Antwort und freute mich schelmisch über ihre Verwirrung, als sie mich verschieden ansprachen. Es war John Coal, der mir den Spaß verdarb, als er eigenmächtig entschied, dass mein Name »Anne« sein sollte. Ich reagierte nie, wenn er mich so rief, daher hörte er schon bald wieder damit auf. Ich bestand darauf, dass es »Love« sein musste und sonst nichts, doch es war schwierig, ihn davon zu überzeugen.

Die Dienstmädchen gewöhnten sich schnell daran, mich mit »Miss Love« anzusprechen. Mary und zwei weitere Angestellte hatten die zweifelhafte Ehre, ihr Zimmer mit mir teilen zu müssen. Schon bald hatte ich den Mädchen genug Schrecken eingejagt, um die Hälfte des Raumes für mich zu beanspruchen, während sie alle gemeinsam in einer Ecke kauerten. Mary war die Erste und auch Einzige, die über ihre Angst vor mir hinwegkam. Sie hatte ein gutes und aufrichtiges Herz und als sie begriff, dass meine Gabe harmlos war, wenn man nichts zu verbergen hatte, machte ihr meine Berührung nichts mehr aus.

Obwohl, oder gerade weil ich meine Macht über sie verloren hatte, gewann sie mein Vertrauen. Menschen wie sie waren selten, denn sie war zufrieden mit ihrem Leben. Ihr einziges bescheidenes Streben bestand darin, eines Tages Haushälterin in einem großen Haus mit vielen Kindern zu werden. Sie selbst wollte gar nicht heiraten, denn ihr gefiel die Rolle der großherzigen Autoritätsperson, die für andere die Verantwortung übernahm. Mary war wie eine ältere Schwester für die jüngeren Mädchen. Ihre Anstellung auf John Coals Anwesen hatte wie die vieler anderer erst vor einigen Monaten begonnen. Dies kam mir eigenartig vor – alles, was ein Muster hatte, weckte Fragen. Alle von mir heimlich berührten Angestellten wussten kaum etwas über Coal oder seine Frau, außerdem trug jeder von ihnen Handschuhe. Am meisten fürchtete Sybil sich vor meiner Berührung und selbstverständlich war sie es, deren Hand ich am meisten zu fassen bekommen wollte. Doch jedes Mal, wenn ich sie fast hatte, tauchte wie aus dem Nichts der Hausherr auf und verhinderte es. Hinter alldem steckte mehr und mir wurden ganz eindeutig Informationen vorenthalten. Das machte meine Aufgabe, Mrs. Coal zu finden, nicht einfacher, und das teilte ich meinem sogenannten Gastgeber auch mit.

»Das braucht dich nicht zu kümmern«, sagte er, so als wäre ich es, die unbedingt mit meinem Angebeteten wiedervereint werden wollte. »Ruh dich aus, komm zu Kräften und iss so viel, wie es dir beliebt. Es hat keinen Sinn, wenn du vor deiner ersten Aufgabe kollabierst.«

Zu Kräften kam ich recht schnell. Tatsächlich konnte ich mich an keine Zeit erinnern, in der ich keinen ständigen Hunger verspürt hatte. Nun wurde dieser abgelöst von einem ständigen Sättigungs- und Wohlgefühl, dank Coals Küchenpersonal, das sich um jeden meiner Wünsche kümmerte – und davon gab es viele! Als ich ein wenig an Gewicht zunahm, bemerkte ich plötzlich, dass sich da doch tatsächlich Fleisch zwischen meiner Haut und den Knochen bildete. Das gefiel mir sehr.

Langsam gewöhnte ich mich an mein neues, faules Leben und den luxuriösen Komfort. So kam ich zu dem Entschluss, dass es doch keine so schlechte Idee gewesen war, die Anstalt zu verlassen. Andernfalls wäre ich nie dem leicht verdrießlichen Unterbutler namens Sebastian begegnet. Demnach zu urteilen, wie rot und wortkarg er in Gegenwart einer gewissen Mary wurde, schien er das Dienstmädchen sehr gern zu haben. Durch gewisse Andeutungen hatte ich ihm verdeutlicht, dass ich Bescheid wusste. Aufgrund seiner Furcht, dass Mary durch mich hinter sein Geheimnis kommen könnte, errötete er jedes Mal, wenn ich seinen Namen in einer Unterhaltung mit ihr erwähnte. Manchmal ließ er sogar etwas fallen. Der Arme hatte erst an meinen Verstand und anschließend an mein Gewissen appelliert und war nun so weit, milde Gewalt in Betracht zu ziehen. Es war urkomisch, wie er mich durch die Gänge jagte, bis seine Pflichten ihn wieder riefen und er mich griesgrämig entkommen ließ.

John Coal durchschaute mich sofort und wurde wütend darüber, dass ich seinen Befehl, niemanden anzufassen, missachtet hatte. Daraufhin argumentierte ich allerdings, dass eine Berührung nicht vonnöten war, um Sebastians Gefühle zu erkennen. Das Tragische daran war, dass Mary es auch wusste und ihn ebenfalls mochte, doch den Mann in seinen Hoffnungen nicht bestärken wollte. Ihre Zukunft war die einer Haushälterin und keiner Hausfrau, wie sie stets betonte. Armer Sebastian. Er war ein anständiger Kerl, immerhin hatte er mich noch nicht im Schlaf ermordet.

»Er ist mir samt Gabel und Poliertuch nachgelaufen und hat das Besteck beim Rennen weiter geputzt«, erzählte ich kichernd und entlockte John Coal mit meinem enthusiastischen Bericht beinahe ein Lächeln. Die Ruhe und Geduld und das seltsame Interesse, mit dem er mir lauschte, überraschten mich. Ich war bereits zehn Tage bei ihm und er hatte seine Frau seit meiner Ankunft mit keinem Wort mehr erwähnt. Es wirkte fast so, als hätte er unendlich viel Zeit, um sie zu finden. Vielleicht zog er auch meinen Vorschlag in Betracht, sich nach einer neuen Mrs. Coal umzuschauen und die alte zu vergessen.

»Ich möchte, dass du mit mir kommst«, eröffnete er, als ich während des Nachmittagstees meine Geschichten rund um Sebastian beendet hatte. Wenn ich auch bei den Angestellten unterkam, so wurde ich dennoch wie ein Gast behandelt und vollends verwöhnt mit Speisen, Desserts und unendlich vielen Kleidern. Ich hatte nun ganze drei in meinem Besitz! Drei Kleider waren mehr, als ich auf einmal tragen konnte, so viele Kleidungsstücke hatte ich noch nie besessen. Momentan trug ich ein korallenfarbiges mit feinem weißen Blumenmuster. Die Dreiviertelärmel umgab ein Saum aus weichen, weißen Rüschen. Als ich von dem cremefarbenen Sofa, dessen Polsterung in Diamantformen bestickt und mit in die Ecken eingelassen Knöpfen versehen war, aufstand und meine perlmutterne Tasse auf einem kleinen, runden Tisch abstellte, fühlte ich mich wie eine Prinzessin.

Er legte die Hände am Rücken zusammen, führte mich aus dem Wohnzimmer mit den hohen Fenstern, den geschmackvollen Sofas und Sesseln und den kleinen, elfenbeinfarbenen Tischen heraus und die Marmortreppe hinauf, den Flur entlang und bis hin zu einer Tür, die bisher abgeschlossen gewesen war. Das wusste ich so genau, weil ich in der ersten Nacht durch das Manor geschlichen war, um alle Türen auszuprobieren. Fast alle waren mir versperrt geblieben, doch diese hatte ganz besonderes Interesse in mir geweckt, weil sie als einzige im ganzen Haus aus dunkelrotem Rosenholz gezimmert war.

Diese Tür öffnete er nun und hielt einladend seine Hand in Richtung des Raums. Ohne meine Neugierde zu verstecken, marschierte ich schnurstracks durch den Eingang, blieb dann aber abrupt stehen und stolperte zurück in John Coals Arme. Er packte mich und verbot mir so, weiter zurückzuweichen.

»Nein«, brachte ich hervor. Panik ergriff Besitz von mir, doch er schob mich voran, bis wir in der Mitte des Raumes waren. Ich ertrug es nicht, mich darin aufzuhalten, hielt mit aller Kraft gegen ihn und vergrub mein Gesicht an seiner Brust.

»Bitte, lassen Sie mich hier raus!«, wimmerte ich atemlos in seine Weste.

»Es ist doch nur ein Raum«, merkte er an. In seiner Stimme hörte ich Belustigung.

»Ich kann nicht hierbleiben.« Anstatt weiter gegen ihn zu halten, versuchte ich mich an ihm vorbeizuwinden, aber er packte mich um die Taille und wie sehr ich auch zappelte, ich kam nicht los. Ich begann zu weinen und zu zittern, bis ich endlich in seine Umarmung sackte. »Bitte. Bitte, lassen Sie mich …«

»Sag mir, warum«, befahl er und ich bemerkte, dass er nicht überrascht war über meine Reaktion an sich, sondern über ihre Intensität. Der Hohn hatte seine Stimme verlassen und es war Besorgnis, die dessen Platz einnahm. Doch er sorgte sich bestimmt nicht um mich, vielmehr hegte er wahrscheinlich die Befürchtung, dass ich mehr sah, als er vermutet hatte.

»Das kann ich nicht verraten.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Warum?« Die Dringlichkeit in seinem Tonfall nahm zu.

Ich hob den Kopf, um an seinem Arm vorbeizuschauen. Sofort duckte ich mich wieder und vergrub mich in seinem Jackett.

»Warum?«, wiederholte er.

»Weil er uns beobachtet«, brachte ich hervor.

»Wer?«

»Der Mann in der Ecke«, wisperte ich tonlos.

John Coal drehte sich herum, um in die Ecke zu schauen. Sein Blick schweifte umher, doch es gelang ihm nicht, den Mann zu sehen, der ihn direkt anstarrte. Letzterer verharrte bewegungslos und ich war gezwungen, ihn dabei zu beobachten, weil John Coal sich wild umherwand, doch nichts entdeckte. Angst schnürte mir die Kehle zu beim Anblick der ungelenken, finsteren Gestalt.

Der leere Blick des ominösen Schattenmannes sank plötzlich herab und fixierte mich. Ich schrie vor Angst auf und grub meine Nägel in Coals Ärmel. Stirnrunzelnd betrachtete mich der Hausherr.