Herz, Schmerz und dies und das - Hubert Berger - E-Book

Herz, Schmerz und dies und das E-Book

Hubert Berger

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Beschreibung

Geschichten entstehen meist aus Zufällen, Überraschungen, Missgeschicken, oder anderen Begebenheiten. Schenkt man ihnen genügend Aufmerksamkeit, entwickeln sie oft eine besondere Eigendynamik. Einige der Geschichten in diesem Buch entspringen der Fantasie, andere erzählen von wahren Erlebnissen, aber alle haben eines gemeinsam. Sie sind skurril, herzergreifend, spannend nachdenklich und abenteuerlich .. so wie das Leben selbst!

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Seitenzahl: 167

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Inhaltsverzeichnis

Block Z, Reihe 5, Platz 14

Die Frage nach dem wahren Glück

Der Prozess

Der Kindersoldat

Von Null auf Vierzehn

Wehfünfzehn

Inhalt

Besondere Geschichten entstehen meist aus Zufällen, Überraschungen, Missgeschicken, oder anderen Begebenheiten. Schenkt man ihnen dann genügend Aufmerksamkeit, entwickeln sie meist eine besondere Eigendynamik. Einige entstehen aus der Fantasie, andere wurden leibhaftig erlebt. Neben skurrilen und herzergreifenden Erzählungen erwartet den Leser auch spannendes, nachdenkliches und abenteuerliches.

Block Z, Reihe 5, Platz 14

Fußball-Bundesliga Saison 2011-2012,

21. Spieltag

FC Augsburg–1.FC Nürnberg ausverkauft

Spontan wurde ich von meinem Freund Michael zu einem Bundesligaheimspiel des FC Augsburg eingeladen. Es war ein kalter Wintertag als ich mein erstes Bundesligaspiel (und auch mein letztes) live ansehen durfte. Das ich selbst einmal beim gastgebenden FC Augsburg (wenn auch nur von kurzer Dauer) vor Jahren in der 2. Bundesliga unter Vertrag stand, gab dem Ganzen noch einen besonderen Reiz. Als ich nach zwei Stunden das Stadion verließ war ich so geschockt, dass ich mich noch am selben Abend an den PC setzte und die nachfolgenden Worte schrieb!

Gespannt betrete ich mit Beginn des Spiels durch das Tor mit dem Buchstaben „Z“ die Arena. Durch die lauten Gesänge der beiden Fangruppen fühle ich mich wie ein Torero beim Stierkampf. Kurz bleibe ich auf der Empore stehen und versuche die ersten Eindrücke zu verarbeiten. Das Spiel hat noch nicht begonnen und trotzdem erreicht mich ein Gemisch aus Gesang, Geschrei, Pfiffe und Gejaule. Wehende Fahnen, in die Höhe gehaltene Transparente und ein nicht zu verstehender Stadionsprecher werden zusätzlich von mir wahr-genommen.

Ein kurzer Blick auf meine Eintrittskarte sagt mir, dass ich mich mehrere Treppen nach unten begeben muss, um meinen Platz zu erreichen. Die Augen auf die Markierungen gerichtet stapfe ich Stufe für Stufe hinab, bis ich bei der Reihe 5 zum Stehen komme. Ein Blick in die Reihe signalisiert mir, dass der Weg zu meinem Platz 14 versperrt ist. Nur schwer kann ich mich bei R5/S1 bemerkbar machen. R5/S1 hat in der linken Hand einen mit Bier gefüllten Plastikbecher, schwingt mit der rechten Hand eine Fahne und singt sehr inbrünstig das Augsburger Fan Lied.

Durch mehrmaliges Berühren seiner Hand, die immer noch einen Bierbecher umschließt, gelinkt es mir seine Aufmerksamkeit auf mich zu richten. Weiter singend und Fahnen schwingend signalisiert er mir mit einem eindeutigen Kopfnicken und einer leichten Bewegung zurück, dass ich ihn passieren kann. R5/S2 steht mir jetzt im Weg da er von dem Arrangement zwischen R5/S1 nicht mitbekommen hat. R5/S2 trägt ein weißes FCA Fantrikot mit dem Aufdruck „Carlsenbracker“ und beteiligt sich ebenfalls am Gesang.

Ohne ein Wort zu sagen komme ich gut an R5/S2 vorbei. Durch kurzes Warten zupfen am Ärmel und zeigen meiner Eintrittskarte komme ich schnell bis zu R5/S10 voran. Bei R5/S10 helfen meine zuvor angewandten Aktionen nichts. Jetzt bin ich sofort in ein Wortgefecht verwickelt. „Kannscht du net früher kommen du Heini“, kommt es mir entgegen. Endschuldigend und etwas demütig gebe ich mich reuig und so kann ich diese verbal schwierige Situation noch retten.

Zwei Minuten später ist es mir gelungen R5/S14 zu erreichen. Mit einem kurzen „Hallo“ begrüße ich R5/S13 und R5/S15. Nach der Anstrengung setzte ich mich auf meinem Platz. Die Augen jetzt nach vorne gerichtet kann ich erkennen, dass die Partie begonnen hat. Nürnberg in rot-Augsburg in Weiß. R5/S14 ist genau in der Mitte des Stadions und so sitze ich genau hinter dem Tor.

Es sind gerade mal 10 Meter, die mich vom Torhüter trennen. In großer schwarzer Schrift steht auf dem Rücken des Torwartes „Jentsch“. Simon Jentsch ist der Keeper des gastgebenden FC Augsburg. Durch ein lautes Skandieren „Simon, Simon, Simon“ wird er von meinem Umfeld, das fast ausschließlich aus Augsburger Fan besteht, frenetisch begrüßt. Durch ein Klatschen mit erhobenen Armen bedankt sich Simon Jentsch und so verstummt langsam der Sprechchor. Vor mir ein buntes Bild von roten und weißen Trikots, die sich schnell durcheinander bewegen.

Da sich die roten weit nach hinten zurückgezogen haben, spielen sich die Aktivitäten in der von mir weiter entfernten Hälfte ab. Leicht abgelenkt von den vielen spontanen und lauten Wortmeldungen meiner Nachbarn, beobachte ich mein Umfeld etwas genauer. R5/S13 hat in der rechten Hand einen bis zur Hälfte mit Bier gefüllten Kunststoffbecher. In der linken Hand hält er eine Zigarette, an der er in unregelmäßigen Abständen ein bis zwei heftige Züge nimmt und in sich hineinzieht.

Da sich das meiste Spielgeschehen weiter in der gegnerischen Hälfte aufhält, erkenne ich jetzt immer mehr Einzelheiten. R4/S12 schwingt eine rot grüne Fahne und unterstützt dies mit einem langanhaltenden Schrei: „Augschburg, Augschburg“! Wenig später schreit der ganze Block „Augschburg, Augschburg“!

Auf dem Spielfeld tut sich noch nichts und trotzdem schreit und feiert mein ganzes Umfeld. Leicht aufgeschreckt sehe ich auf die rechte Hand von R5/S13, wo sich immer noch der Plastik Becher mit Bier befindet. Der Schaum des Bieres hat den Becher bereits verlassen und beim nächsten „Augschburg, Augschburg“ schwappt der köstliche Gerstensaft über den Rand auf meinen linken Oberschenkel zu. Geistesgegenwärtig springe ich auf, um dieser unfreiwilligen Dusche zu entgehen. Gerade schaffe ich es mit einem Sprung nach vorne, trocken zu bleiben.

Ärgerlich schaue ich R5/S13 an. Doch R5/S13 ist so in seinem Element, dass er meine Verärgerung nicht erkennt und meine spontane Rettungsaktion als Anfeuerungsgeste deutet. Langsam wird es ruhiger. Jetzt erkenne ich immer größer werdend die roten und den weißen Trikot. Das Spielgeschehen hat sich verlagert und so kann ich Einzelheiten erkennen. Der Strafraum vor mir ist in Windeseile von mehreren Spielern gefüllt und der Ball wird mehrmals hoch vor das Tor geschlagen.

Jetzt erreicht ein Raunen meine Ohren und mit jeder weiteren Flanke wiederholt sich die Geräuschkulisse. R5/S15 sitzt ganz gebannt auf seinem Platz. Er beißt sich verkrampft auf die Lippen und sein ganzer Körper ist voller Spannung. Auch die Hände hat er zur Faust geballt. Genau in diese Beobachtungsphase höre ich von rechts hinten einen gewaltigen Chor der mit dem Refrain „Club, Club, Club endet. Jetzt erkenne ich ein rot schwarzes Fahnenmeer, das sich sehr lautstark in Szene setzt.

Wesentlich klarer und melodischer, als der „Augschburger Gesang“ rauscht der Klang des Fanchores über uns hinweg.

Vereinzelnde Konterattacken meines Augsburger Umfelds werden übertönt von der mächtigen Fränkischen Sanges Kraft. R4/S10 schreit ein „ihr windigen Nürnberger Würschtel“ dem Gäste Block entgegen und betont den verbalen Angriff noch mit dem mehrmaligen Zeigen seines Mittelfingers. Animiert von der spontanen Reaktion dreht sich von R1/S1 bis R5/S25 (außer mir) die ganze Anhängerschar Richtung „Nürnberger Meistersänger“ und versucht mit wilden Gesten und verschiedensten Schimpfwörtern dem Gesang Einhalt zu gebieten. Chancenlos wird wenig später die Störattacke beendet. Nur R3/S16 lässt sich nicht beirren und wettert weiter gegen den Gästefanblock. Die lautstarke Schimpfkanonade ist bestückt mit „Wixern und Hurensöhnen“! Nachdem er sein gesamtes Adrenalin aus geschüttet hat lässt er von dem Nürnberger Block ab und setzt sich auf seinen Platz, als ob nichts gewesen wäre.

In der Zwischenzeit hat sich R5/S13 einen neuen Becher mit Bier besorgt und so ist automatisch meine Aufmerksamkeit wieder Ihm gewidmet. Leicht wippend sitzt er neben mir und seine Augen sind zielgerichtet auf das Spielgeschehen fixiert.

Unglücklicherweise drängt der gastgebende FC Augsburg auf das Gästetor. Bei jeder Flanke, die in den Nürnberger Strafraum geschlagen wird, erhebt sich R5/S13 von seinem Sitz und hofft inbrünstig auf das erste Tor.

Um mich von dem in absehbarer Zeit aus dem Becher überschwappenden Bier zu schützen erhebe ich mich ebenfalls von meinem Sitz und schunkle im gleichen Rhythmus mit. Sekunden später trifft mich ein lauter Schrei von hinten R6/S14: „Hock di hie, du Hirsch i seh doch nix!“

Notgedrungen leiste ich der Anordnung Folge und setze mich. Durch den Befreiungsschlag eines Nürnberger Spielers, der den Ball auf die Tribüne drischt, nimmt sich R5/S13 endlich einen kräftigen Schluck aus seinem vollen Bierbecher. Erleichtert nehme ich zur Kenntnis das R5/S13 mit nur einem Zug seinen Becher fast geleert hat.

Ohne den Druck jederzeit von einer Bierdusche getroffen zu werden sehe ich entspann dem Treiben auf dem Rasen zu. Die Sprechgesänge im gesamten Stadion lassen langsam nach, da sich zwischen den beiden Bundesligisten nichts Erwähnens Wertes tut. Ein leichtes gribbeln meiner kalten Fußzehen erschwert das Beobachten im weiten Rund. Ein Blick auf den Thermometer, der minus 10 Grad anzeigt signalisiert mir, dass ich wohl bis zum Spielende mit dieser unliebsamen Begleiterscheinung leben werde.

Fast erlösend ertönt der Halbzeitpfiff des in gelben Trikot pfeifenden Schiedsrichters. Zeitgleich erheben sich über 30.000 Zuschauer von ihren Plätzen und versuchen die so heißbegehrten Ausgänge zu erreichen.

Ich fühle mich wie ein Pinguin, der im „Watschelgang“ zuerst von R5/S14 auf R5/S1 gelangt und wenig später 18 Treppen von einer Menschenmenge nach oben geschoben wird. Nach gefühlten 10 Minuten stehe ich wieder auf dem „Portal Block Z“! Sofort bilden sich unendlich lange Menschenschlangen, um die wenigen Verkaufsstände zu belagern und sich mit Essen und Trinken einzudecken.

Diese massenhafte Verköstigung reicht über die Halbzeitpause hinaus und so ist das Stadion bei Wiederbeginn zur Zweiten Halbzeit nicht ganz gefüllt. Diesmal sitze ich bereits auf R5/S14 als sich so langsam meine Mitstreiter wieder auf ihre Plätze begeben. Durch Aufstehen und leichtes nach hinten schieben, lasse ich von R5/S15 bis R5/S30 alle zu spät gekommenen gewähren.

Erleichtert nehme ich zur Kenntnis, dass sich R5/S13 noch nicht auf seinen Platz begeben hat. Mein Blick nach vorne auf das Spielfeld erkennt sofort das jetzt der FC Augsburg in weißer Spielkleidung auf unseren „Block Z“ angreift. Jetzt steht mit dem Nürnberger Torwart Raphael Schäfer der Keeper der Gäste unmittelbar vor uns.

Gab es in der Ersten Halbzeit meist nur aufmusternde Worte für den Augsburger Simon Jentsch so treffen jetzt ganz andere Wortkonserven an die Ohren von Raphael Schäfer. R4/S9, der die Nürnberger Gäste vor dem Wechsel nur mit „Wixer und Hurensöhne“ herabwürdigte, setzte mit „Du saudummer Frankenbeitel“ eine weitere Beleidigung hinterher.

Über mir fliegt ein weiterer Ausdruck mit “Schäfer du Arschloch“ auf den Nürnberger Torhüters zu. Ich vermute, dass es R7/S15 war. Nach der ersten Augsburger Anfangsoffensive verlagert sich das Spiel-geschehen wieder auf das gesamte Spielfeld. Mit dem Verlieren der spielerischen Linie bekommt der FC Augsburg keine gefährliche Strafraumszenen mehr zu Stande.

Dieser Sachverhalt ermuntert den nach wie vor singenden Nürnberger Fangesang wieder lauter zu werden. Dieser imposante Gesang dominiert momentan die SGL Arena in Augsburg. Dem „Steht auf, wenn ihr Club Fan seid“, folgen die im ganzen Stadion verstreut sitzenden Nürnberger Fans, indem sie lautstark mitsingen.

Zu unser aller Überraschung steht R3/S18 auf und beteiligt sich am Gesang der Gäste. Von nun an hat R3/S18 keine ruhige Minute mehr. Die bereits genannten Schimpfworte kommen im Sekundentakt aus dem gesamten „Block Z“ auf den eher unscheinbar wirkenden jungen Club Fan zu. Das Werfen von leeren Bierbechern und Sitzkissen auf R3/S18 begleitet die Schimpfkanonade. Die in gelben Warnwesten gekleideten Ordner beäugen die Situation mit kritischen Augen, müssen aber nicht mehr eingreifen da sich nach einer geraumen Zeit das ganze wieder beruhigt hat.

Links neben mir erkenne ich eine leichte Unruhe. R5/S13 versucht jetzt, Mitte der Zweiten Halbzeit auf seinen Platz zu gelangen. Es fällt ihm schwer. Diverse Wortgefechte zwischen sitzenden Zuschauern und ihm haben meist beleidigte Züge. Und nun steht er da.

Wie befürchtet, rechts sein gefüllter Becher mit Bier, links eine in eine Serviette gewickelte Riesenbrezel und im Mundwinkel eine Zigarette. Um auf seinen Platz sitzen zu können frägt er mich, ob ich seinen Becher Bier halten könne. Er ergänzt die Bitte mit dem Zusatz, „aber nicht Trinken“!

Beidem werde ich gerecht und so wechselt meine Aufmerksamkeit vom Spielfeld zum wiederholten Male auf R5/S13. Seine gesamte Konzentration benötigt er jetzt für sich selbst, da ihm zuerst die Riesenbrezel aus der Hand und wenig später die Zigarette aus dem Mundwinkel fallen. R4/S13 hat großes Glück da der Glimmstängel von seinem Rücken auf den Boden fällt und kein Loch in seine Winterjacke brennt.

Das aufsammeln desselben gelinkt R5/S13 nicht mehr. Verärgert tritt er mit den Schuhen auf ihn und lässt die Tabakreste liegen. R5/S13 wird immer ruhiger und es verlassen nur sporadisch einige Beleidigungen seinen Mund.

Das Spiel verflacht mit zunehmender Spielzeit. In den nächsten Minuten wird es im Stadion immer ruhiger.

Beide Mannschaften sind wohl mit dem Ergebnis zufrieden und so schleppt sich das Bundesligaspiel eher schlecht wie recht in die Schlussphase. R5/S13 schläft jetzt und so kann ich ihm den Bier Becher aus der Hand nehmen und unter seinen Sitzplatz stellen.

Selbst der Applaus zum Spielende kann R5/S13 nicht wecken und so bleibt er nach unten gerichtet in seiner Schlafstellung.

Ein aufschlussreicher Sonntagnachmittag geht in der SGL Arena für mich zu Ende, bei dem ich wenig vom Spielgeschehen der höchsten deutschen Fußballliga gesehen habe, dafür aber einen tiefen Einblick in die Fanszene bekommen habe.

P.S. Das Spiel zwischen dem FC Augsburg und dem 1.FC Nürnberg endete 0:0

Die Frage nach dem wahren Glück

Am Vorabend der Jahresabschlussfeier unseres Kulturvereins fehlte noch eine besinnliche und rührselige Weihnachtsgeschichte, um den Abend standesgemäß zu begehen. Spontan und ohne lange nachzudenken fing ich an zu schreiben. Nach drei Stunden war der Text fertig und ist jetzt so zu lesen.

Leicht frierend und etwas unsicher besteigt ein alter Mann in ärmlicher und abgegriffener Kleidung den Regionalzug von Salzburg nach München. Er ist über vierzig Jahre nicht mehr mit dem Zug gefahren. Und ohne Mithilfe eines Mitreisenden hätte er es heute wohl auch nicht geschafft. Beschwerlich war sein Weg von dem Bergbauernhof zum Bahnhof. Über fünfzig Meter stapfte er im meterhohen Schnee, bevor er die geräumte Straße erreichte, die ins Tal führte. Mit kleinen Schritten und gestützt auf einem Haselnussstecken bewegte er sich vorsichtig und langsam nach unten.

Mehrmals rutschten Ihm die Beine weg und so stürzte er auf die schneebedeckte Fahrbahn. Trotz dieser widrigen Umstände rappelte er sich immer wieder auf und setzte seinen Weg fort. Nach einer Stunde erreichte er etwas abgekämpft den Bahnhof. Die Sonne stand noch schräg am Himmel, als der Zug am späten Nachmittag in den Bahnhof von Freilassing einfährt.

Ein brauner, an den Rändern ausgefranster Filzhut bedeckt sein graues, lichtes Haar. So eine Kopfbedeckung tragen viele Menschen im Werdenfelser Land. Sein unrunder Gang wird von einem rustikalen Stock, den er in der rechten Hand hält, unterstützt. In der linken Hand trägt er fast schon etwas krampfhaft einen Karton, der mit zwei sich kreuzenden Hanfstricken zusammengehalten wird.

In der verbleichten und abgegriffenen Schachtel befindet sich eine Holzpuppe, die der Alte vor langer Zeit geschnitzt hat. Im Gefangenenlager in Sibirien hatte er trotz der unmenschlichen Behandlung und der schweren Arbeit immer wieder Zeit gefunden, aus einem Stück Holz ein persönliches Geschenk für seine Tochter zu schnitzen. Dass er aber ein ganzes Leben lang auf den Augenblick warten musste, konnte er damals nicht erahnen. Bevor der Zug den Bahnhof von Freilassung verlassen hat konnte er ein Abteil finden, in dem er allein ist. Nach dem Ablegen seines Lodenmantels setzt er sich fast schon prüfend auf den weich gefütterten Kunstledersitz. Mit seinen faltigen und von vielen Schwielen befallenen Händen wischt er einen dreißig Zentimeter großen Kreis der beschlagenen Scheibe frei.

Draußen ist es bereits dunkel und so kann der Alte die lautlos vorbei streichenden Lichter der Einsiedlerhöfe beobachten. Seinen Hut hat er immer noch auf dem Kopf. Es ist der Tag vor Weihnachten und der Zug bringt ihn heute noch nach München. Dort erwartet ihn seine Tochter, die er seit den Kriegswirren im Jahre 1945 nicht mehr gesehen hat. Damals evakuierten die Behörden in München viele kleine Kinder auf das Land, um sie vor den täglichen Bombenangriffen zu schützen.

Durch den Tod ihrer Mutter und der Kriegsgefangenschaft ihres Vaters wurde Magdalena dem roten Kreuz überstellt und kam dann zu Pflegeeltern, die dann bei Kriegsende nach Amerika auswanderten. Als der arme Leonhard, wie er im Dorf, von den Leuten genannt wurde, 1954 aus Russland von der Gefangenschaft zurückkam, erfuhr er vom Tod seiner Frau. Das Schicksal seiner Tochter war ihm nicht bekannt. Gerade deswegen hatte er den Traum aber nie aufgegeben, Magdalena noch einmal zu sehen. Diese Hoffnung war es, die ihn in der langen Zeit immer wieder die Kraft gab weiter zu Leben.

Leonhard arbeitete als Knecht auf einem einsamen Bergbauernhof. Seine schwere Arbeit und der Glaube an seine kleine Tochter, die er als dreijährige das letzte Mal gesehen hatte, prägten seinen täglichen Ablauf.

Was aber keiner wusste, war die Tatsache, dass sich Leonhard in der Stille der Bergwelt und dem Blumenzauber der Almen eine eigene Welt aufbauen konnte. Er war in der Lage seine Gedanken innerlich reell werden zu lassen. Und so verbrachte er tausende von Stunden in seiner wunderbaren, traumhaften Bergidylle, in der er seine Tochter mental immer bei sich hatte. Um aber ganz ehrlich zu sein, als er vor vier Wochen einen Brief aus Amerika erhielt, dachte er nicht an sie.

In dem handgeschriebenen herzergreifenden Schreiben, formulierte eine ihm eigentlich unbekannte Frau in einem gebrochenen Deutsch eine Lebensgeschichte, die er erst am Schluss verstehen konnte. Magdalena MC Namara hatte über Jahrzehnte recherchiert, um ihre Identität heraus-zu finden.

Glücklicherweise bekam sie über das internationale Rote Kreuz die Adresse ihres leiblichen Vaters. Und deswegen sitzt Leonhard heute in dem Zug nach München. In Gedanken und einer großen Vorfreude fährt er seinem Ziel entgegen.

In Bad Wiessee steigt ein junger Mann zu, der nobel und modern gekleidet ist. Nach einem kurzen Gruß setzt sich der Mitfahrer neben den alten Mann. Leonhard lässt sich nicht beirren und sinnierte so vor sich hin, als der aus einer besseren Gesellschaft stammende Mann das Wort ergreift. "Mein Name ist Richard Gier und ich hatte heute das Glück meines Lebens. Ich habe heute im Spielkasino 100.000 € gewonnen"! Mit den Worten will er seiner Geltung gerecht werden. Der Alte hört sich das an, ohne aber eine Regung zu zeigen. Sein junger Begleiter beobachtet den Alten, der keine Miene verzieht und nur so vor sich hinträumt.

Tiefe Furchen in seiner Haut die der Oberfläche eines Lederapfels sehr ähneln und die abgetragene Kleidung bestätigten dem Jungen seine Einschätzung, dass es sich hier um einen alten armen Menschen handelt. Er überlegt sich sogar, dem Alten ein bisschen Geld zu geben, lässt aber den Gedanken wieder fallen. Richard will sich gerade etwas entspannen, als er seine Augen schließt, um sich Gedanken über seinen heutigen Gewinn aus zu malen, als ganz plötzlich der Alte zu Sprechen beginnt.

"Ich werde heute noch einen Gewinn einfahren, der einhundert Mal so hoch ist wie der ihre!" Das macht den jungen schnell wieder hellhörig. "Was sagen sie?" Ja mein heutiger Gewinn ist, um ein Vielfaches höher einzuschätzen als der ihre."

Zuerst zögerlich, dann aber immer bestimmender erzählt der Alte dem Jungen seine Geschichte und je länger er spricht, desto mehr glänzen seine Augen, die aus zwei dunklen Vertiefungen herausleuchten.

Aber der Junge kann den Alten gar nicht verstehen, da es ihm an der nötigen Sensibilität fehlt. Sein Denken und Handeln sind nur auf Geld und Macht fixiert. Auf die Frage des Alten, wie er denn das Weihnachtsfest feiere, bekommt er eine überraschende Antwort. "Ich brauche diesen Heidenzauber Weihnachten nicht, und gehe deshalb heute Abend in eine Nobeldiskothek zum Abfeiern. Trotz der Antwort erzählt der Alte weiter über vergangene Festtage und bringt sein ganzes Herzblut ein, um Richard mit seinen Emotionen zu überschütten. Doch unter dem Erzählen erkennt der Alte, das Sein Gegenüber, der heute 100.000 € gewonnen hat, eigentlich ein ganz armer Mensch ist, da er keine Gefühle zeigen kann.

Bevor der Zug in den Hauptbahnhof in München einfährt, verabschieden sich die beiden. Richard Gier geht dieses Mal etwas nachdenklicher den Weg nach Hause.

Er kann das gesprochene Wort seines alten geheimnisvollen Mitfahrers nicht verstehen. Nur diese leuchtenden Augen lassen ihn heute nicht so schnell zur Ruhe kommen. Und zum ersten Mal hört er eine leise, klare Stimme in sich, die er nicht kennt. Unsicher dreht er sich im abendlichen Trubel der Maximilianstraße, um die Stimme deuten zu können. Es ist aber niemand da, dem er sie zu ordnen kann. Gedanklich verunsichert verliert sich wenig später seine Spur im weihnachtlichen Großstadtgetümmel. Der alte Leonhard, den seine Mitmenschen im Werdenfelser Land auch Träumer nennen, ist an diesem Abend einer der reichsten Menschen auf der Welt.