Deutschland - Der falsche Weg - Hubert Berger - E-Book

Deutschland - Der falsche Weg E-Book

Hubert Berger

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Beschreibung

In den letzten 70 Jahren haben sich die Menschen und unser Land enorm verändert. Die Kriegsjahre, verbunden mit Tod und Trauer, die Zeit des Wiederaufbaus, die Entstehung des Deutschen Wirtschaftswunders, die Teilung und Zusammenführung unseres Vaterlandes, die Entwicklung des Wohlstands bis zur heutigen Zeit mit all seinen guten und schlechten Seiten. Millionen von menschlichen Schicksalen haben sich in all den Jahren, meist im Verborgenen in unserer Gesellschaft abgespielt. Stellvertretend für das unzählig Erlebte möchten wir anhand von drei Beispielen die zeitlichen Epochen herausstellen und aufarbeiten. Da wäre zum Ersten Richard, 16 Jahre alt, der von der deutschen Krieg–Propaganda 1944 so manipuliert wird, dass er es als seine Pflicht ansieht, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Diese hochemotionale Schilderung eines heranwachsenden jungen Menschen spiegelt uns die Sinnlosigkeit und Brutalität auf eine Weise, die heute keiner versteht, damals aber als vorbildlich dargestellt wurde. Ein Kriegstagebuch mit ängstlich kindlichen Einträgen gab die Grundlage für den ergreifenden Roman. 30 Jahre später, unsere Nation hat sich längst erholt und gut entwickelt, befasst sich die zweite Geschichte um das Streben nach Erfolg, um jeden Preis. Selbst wenn die Grenzen der Legalität überschritten werden. Der sportliche Erfolg wird in den Siebziger Jahren von beiden deutschen Staaten als ein äußerst wichtiges politisches Indiz angesehen. Ähnlich wie Richard wird Sebastian im zweiten Teil von den Medien und der Gesellschaft gedrängt, im Namen des deutschen Volkes zu manipulieren. Doping in der Bundesrepublik wurde systematisch von Staatswegen gefördert und unterstützt, aber nur im Verborgenen. Dieser wachrüttelnde Roman lässt tief hinter die Kulissen unserer Gesellschaft blicken. Auch die heutige Zeit ist nicht frei von Abgründen, wie man im dritten Teil des Buches lesen kann. Die körperliche Belastung hat nachgelassen. Ein neues Phänomen ist aufgetreten. Die Psyche! Leider ist das Seelenleben nicht transparent und so wird es bei großer Belastung oft missbraucht. Mobbing ist das Krebsgeschwür der modernen Arbeitswelt. Nach außen nicht erkennbar, zersetzt es ganz lautlos die inneren Strukturen. Im dritten Teil kann der Leser ganz hautnah miterleben, wie krankhaft veranlagte Menschen anderen großes Leid zufügen, ohne dass sie körperliche Gewalt anwenden. Die Folgen sind meist irreparabel und werden dann der Allgemeinheit aufgebürdet.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1945 – DEUTSCHLAND KÄMPFT

Vorwort

18. März 1944, Lagerlechfeld

18. März 1944, amerikanische Air Base Nähe London

18. März 1944, Schwabmünchen

18. März 1944, Dinkelscherben

19. März 1944, Lagerlechfeld

20. März 1944, Schwabmüchen

4. Juli 1944, Harburg

2. August 1944, Augsburg

10. Oktober 1944, Lagerlechfeld

15. Dezember 1944, Dettendorf bei Rosenheim

10. Januar 1945, Regensburg

12. Januar 1945, Wenigentaft

23. Januar 1945, Lagerlechfeld

3. März 1945, Brandenburg

6. März 1945, Rosenheim

9. März 1945, Brennerpass

15. März 1945, Veldes

1. April 1945, Stein

28. April 1945, Loiblpass

2. Mai 1945, Loitsch

5. Mai 1945, Oberlaibach

8. Mai 1945, Sankt Veit

9. Mai 1945, Krainburg

12. Mai 1945, Loiblpass

13. Mai 1945, Drau-Brücke bei Klagenfurt

9. Oktober 1945, Tarent/Italien

11. Oktober 1945, Bad Aibling

11. Oktober 1945, Lagerlechfeld

Richards Biografie

1975 – DEUTSCHLAND DOPT

Vorwort

2015 – DEUTSCHLAND MOBBT

Vorwort

Gedanken

Einleitung

In den letzten 70 Jahren haben sich die Menschen und unser Land enorm verändert. Die Kriegsjahre, verbunden mit Tod und Trauer, die Zeit des Wiederaufbaus, die Entstehung des Deutschen Wirtschaftswunders, die Teilung und Zusammenführung unseres Vaterlandes, die Entwicklung des Wohlstands bis zur heutigen Zeit mit all seinen guten und schlechten Seiten. Millionen von menschlichen Schicksalen haben sich in all den Jahren, meist im Verborgenen in unserer Gesellschaft abgespielt. Stellvertretend für das unzählig Erlebte möchten wir an Hand von drei Beispielen die zeitlichen Epochen herausstellen und aufarbeiten.

Da wäre zum Ersten Richard, 16 Jahre alt, der von der deutschen Krieg–Propaganda 1944 so manipuliert wird, dass er es als seine Pflicht ansah, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Diese hochemotionale Schilderung eines heranwachsenden jungen Menschen spiegelt uns die Sinnlosigkeit und Brutalität auf eine Weise, die heute keiner versteht, damals aber als vorbildlich dargestellt wurde. Ein Kriegstagebuch mit ängstlich kindlichen Einträgen gab die Grundlage für den ergreifenden Roman.

30 Jahre später, unsere Nation hat sich längst erholt und gut entwickelt, befasst sich die zweite Geschichte um das Streben nach Erfolg, um jeden Preis. Selbst wenn die Grenzen der Legalität überschritten werden. Der sportliche Erfolg wird in den Siebziger Jahren von beiden deutschen Staaten als ein äußerst wichtiges politisches Indiz angesehen. Ähnlich wie Richard wird Sebastian im zweiten Teil von den Medien und der Gesellschaft gedrängt, im Namen des deutschen Volkes zu manipulieren. Doping in der Bundesrepublik wurde systematisch von Staatswegen gefördert und unterstützt, aber nur im Verborgenen. Dieser wachrüttelnde Roman lässt tief hinter die Kulissen unserer Gesellschaft blicken.

Auch die heutige Zeit ist nicht frei von Abgründen, wie man im dritten Teil des Buches lesen kann. Die körperliche Belastung hat nachgelassen. Ein neues Phänomen ist aufgetreten. Die Psyche! Leider ist das Seelenleben nicht transparent und so wird es bei großer Belastung oft missbraucht. Mobbing ist das Krebsgeschwür der modernen Arbeitswelt. Nach außen nicht erkennbar, zersetzt es ganz lautlos die inneren Strukturen. Im dritten Teil kann der Leser ganz hautnah miterleben, wie krankhaft veranlagte Menschen anderen großes Leid zufügen ohne dass sie körperliche Gewalt anwenden. Die Folgen sind meist irreparabel und werden dann der Allgemeinheit aufgebürdet.

1945 – DEUTSCHLAND KÄMPFT

Richard. Sechzehn. Panzerjäger.

Vorwort

Bei einer Veranstaltung im Jahr 2008, in deren Mittelpunkt die Geschichte unseres Ortes Lagerlechfeld stand, kam ich mit Richard ins Gespräch. Wir beide kennen uns schon viele Jahre und sind gut miteinander befreundet. Auf meine belanglose Frage, wie er denn den Krieg als Jugendlicher in Lagerlechfelder lebt habe, begann er zum ersten Mal davon zu sprechen. Seine bewegende Erzählung fesselte mich immer mehr und so lief es mir im weiteren Verlauf des Gesprächs eiskalt den Rücken hinunter. Als er nach einer Stunde seine Kriegserlebnisse mit dem Satz „So viel Glück wie ich gehabt habe, kann sich niemand vorstellen“ beendete, hatten wir beide feuchte Augen.

Das Gespräch ließ mich nicht mehr los. Spontan entschloss ich mich, seine Kriegserlebnisse, die er als 16-Jähriger durchgemacht hatte, zu Papier zu bringen. Geholfen haben mir zwei Tagebüchlein, die Richard auf eine besondere Art über den gesamten Kriegsverlauf mit Kommentaren versehen hatte. In der Folgezeit trafen wir uns mehrmals und verinnerlichten den Stoff. Die Geschichte von Richard stimmt genau mit den Aufschreibungen seines Tagebuches überein.

18. März 1944, Lagerlechfeld

„Hinlegen, die Ohren zuhalten und den Mund weit öffnen!“, diese Aufforderung wiederholt der Pilot einer Fw 200 Condor immer wieder. Parallel dazu höre ich die Bombeneinschläge immer näher kommen. Auch der waldige Moosboden vibriert mittlerweile so stark durch die zahlreichen Einschläge um mich herum, dass es mir richtig unheimlich ist. Gesteigert wird mein Empfinden noch durch disharmonische Geräusche, die durch die herabfallenden Splitter- und Sprengbomben verursacht werden. Der nun kaum auszuhaltende Lärm verstärkt sich noch durch den Beschuss der 8,8-cm-FlaK-Geschütze zu einem ohrenbetäubenden Geräusch, das sich wie das schlimmste Inferno anhört. Durch den direkten Bodenkontakt meines Körpers spüre ich das dumpfe Dröhnen der Einschläge immer intensiver und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis eine der gewaltigen Sprengbomben meinen jugendlichen Körper in tausend Fetzen zerreißen wird. In dem absoluten Chaos wiederholt Hauptmann Schmittmann immer wieder und jetzt schon sehr verzweifelt seine Anweisungen, sich flach an den Waldboden zu pressen und die Ohren mit den Handflächen fest zu umschließen. Auch die Aufforderung zum Öffnen des Mundes erneuert er bei jeder weiteren Anweisung, um die Druckwellen, die durch das Zerbersten der ersten Bäume in unserer unmittelbaren Nähe schon sehr stark wahrzunehmen sind, auszugleichen. In Erwartung des sicheren Todes stammle ich trotz meines halb geöffneten Mundes ein weiteres Gebet zum Himmel. Ein fürchterlicher Gestank verbreitet sich in Windeseile über uns. Dieser resultiert aus mehreren gewaltigen Explosionen, die sich in unserer unmittelbaren Nähe ereignen. Schwarz-grauer Rauch erschwert das Atmen jetzt noch mehr, ich versinke in eine kurze und befreiende Ohnmacht, die aber nicht aus körperlichen Schmerzen, sondern aus einer großen Panik und der absoluten Todesangst entsteht.

Durch ein Rütteln an meiner Schulter werde ich wieder in diese schreckliche Welt zurückgeholt. Hauptmann Schmittmann und seine fünf Besatzungsmitglieder schleppen sich mit mir durch einen kleinen Wald, der vor Jahren als Windfang gepflanzt worden ist, weiter nach Süden. Die Besatzung wird von dem ersten Bombenangriff auf Lagerlechfeld genauso überrascht wie ich und kann gerade noch vor den herannahenden amerikanischen Bombenverbänden mit ihrem Aufklärungsflugzeug, einer Fw 200 Condor, zur Landung ansetzen. Obwohl einige Sprengbomben die Landebahn schon erreicht haben, gelingt es dem jungen Piloten, sein Flugzeug sicher zu landen. Der einzige Schutz, der am Rande der Rollbahn zu sehen ist, ist dieser kleine Wald, in dem wir gerade um unser Leben kämpfen. Der Windschutz, der einige hundert Meter von der ausgerollten Maschine entfernt ist, wird von der Besatzung im Laufschritt erreicht, bevor der Bombenteppich ihre Aufklärungsmaschine in Schutt und Asche legt.

Ich, Richard, fünfzehn Jahre alt und Schreinerlehrling, fahre an diesem Samstag mit meinem Fahrrad aus der Arbeit kommend nach Hause, um mit meinen Eltern zu Mittag zu essen, als mich dieser Angriff der amerikanischen Air Force auf der Straße von Klosterlechfeld nach Lagerlechfeld genauso überrascht wie die Besatzung des Aufklärungsflugzeugs Fw 200 Condor. Der schützende Wald liegt gute zweihundert Meter von der Ortsverbindungsstraße entfernt, als ich am Himmel die gut sichtbaren silberfarbenen fliegenden Festungen der amerikanischen Air Force sehe, wie sie bereits in einiger Entfernung ihre tödliche Fracht entladen. Das ist für mich das Zeichen, um mein Fahrrad in den Straßengraben zu werfen und schnellstens Richtung Wald zu laufen. Dort treffe ich auf die gerade gelandete Besatzung, die ich noch von meinem Rad aus beim Landeanflug beobachten konnte. Der beißende Geruch, die zerborstenen Bäume, die vielen Bombentrichter und das Abwehrfeuer der im Umkreis platzierten FlaK-Batterien deuten noch nicht auf ein Ende des Bombenhagels hin. Im Gegenteil! Hauptmann Schmittmann versucht die Situation richtig einzuschätzen und uns zu beruhigen. Er, gerade zwanzig Jahre alt, zittert genauso wie alle anderen vor Angst am ganzen Körper, und versucht nur aufgrund seines militärischen Rangs weitere Anweisungen zu geben. Der Schock, der immer noch in ihm sitzt, verhindert ein befreiendes Weinen. Mit zittriger Stimme und weichen Knien führt er uns weiter durch das Chaos. Das beherzte Schießen der umliegenden FlaK-Batterien, die im Umkreis des Flugplatzes Lagerlechfeld stehen, kündet den nächsten Pulk der amerikanischen Bomber an. Nur: In welche Richtung sollen wir laufen? Der Drang, möglichst schnell den Ort des Grauens zu verlassen, steckt zu diesem Zeitpunkt in jedem von uns, ein zweites Mal laufen wir um unser Leben, um dem Bombenterror endgültig zu entkommen. Die Entscheidung, nach Süden zu laufen, beschert uns aber in den nächsten Minuten weitere schlimme Momente. Der zweite Bomberpulk, bestehend aus sechzehn fliegenden Festungen des Typs Boeing B-17 Flying Fortress, platziert seine todbringende Fracht genau über uns. Das vor Minuten Erlebte bricht ein zweites Mal über uns herein. Die gleichen Anweisungen und Kommandos erreichen meine Ohren, doch die aufsteigende Panik lässt mich entgegen aller Anweisungen einfach weiterlaufen, ohne auf irgendwelche Gefahren zu achten. Meine nicht mehr auszuhaltende Angst vor dem Tod entwickelt in mir den Drang, vor der Gefahr wegzulaufen. Und so bin ich nicht mehr zu halten. Über mir öffnen sechzehn amerikanische Bomber ihre Schächte, um ihre tödliche Fracht über dem Flugplatz Lagerlechfeld abzuwerfen. Genau viertausend Meter unter den in der Sonne silbern leuchtenden fliegenden Festungen beginnt nun mein zweiter Wettlauf mit dem Tod. Das Pfeifen der immer näher einschlagenden Bomben und das harte, dumpfe Abwehrfeuer der im Umkreis platzierten FlaK-Batterien flankieren den beherzten Lauf um mein Leben.

Das eben Erlebte noch vor Augen laufe ich unter Schock so schnell ich nur kann. Von den in unmittelbarer Nähe einschlagenden Sprengbomben werde ich mehrmals zu Boden gerissen und von umfallenden Bäumen fast erschlagen. Selbst diese lebensgefährlichen Bedrohungen werden von mir ignoriert, panisch laufe ich weiter durch die vor Sekunden entstandenen Bombentrichter, die zwei bis fünf Meter tief und im Durchmesser meist zehn Meter breit sind. Gliedmaßen, viele menschliche Körperteile säumen mittlerweile den Weg meines Laufs gegen das Sterben. Der Schock in mir verdrängt diese grausamen Anblicke und so laufe, robbe und hangle ich mich immer weiter. „Weg, nur weg hier“, mache ich mir Mut, um meinem Schicksal doch noch zu entrinnen.

Minuten später werde ich von einem herabfallenden Ast an der Schulter getroffen und erneut zu Boden gerissen. Unfähig aufzustehen, spüre ich meine Erschöpfung und nehme ganz bewusst meine Umgebung wahr. Die Blitze in der Luft und der hochspritzende Schmutz lassen langsam nach, und so ist nur noch das verzweifelte Feuern der FlaK-Batterien zu hören. In dieser kurzen Ruhepause bemerke ich neben meinem rasenden Herzen nur noch das Zittern meiner Hände, die unkontrolliert mit hoher Frequenz an einen Stein klopfen. Von der Besatzung des Aufklärungsflugzeugs Fw 200 Condor höre ich momentan nichts mehr. „Wo bin ich?“ Mit der Frage, die ich an mich selbst richte, will ich wieder in die Normalität zurückkehren. Es gelingt mir nicht. Allmählich meldet sich mein Körper, der mich an die letzten Minuten erinnert, in denen ich doch die eine oder andere Blessur abbekommen haben muss. Eine Platzwunde am Kopf, Abschürfungen an den Händen, die Hose an mehreren Stellen aufgerissen, und selbst die Schnürsenkel sind kaputt.

Mit der Einschätzung meiner Situation bin ich noch nicht ganz fertig, als der Boden wieder anfängt zu beben. Der dritte Pulk der ersten Bombergruppe ist jetzt an der Reihe, um seine Arbeit zu verrichten. Gefangen in einem Bombentrichter und eingeklemmt unter einem großen Ast, bete ich unter Tränen, die jetzt endlich meinen Schockzustand etwas auflösen. Meine Verletzung am Kopf schmerzt. Und die dritte Welle hat es in sich. Neben den Sprengbomben kommen diesmal auch Splitterbomben zum Einsatz, die alles in ihrer Nähe vernichten und bei Menschen schlimmste Wunden hinterlassen.

Mit geschlossenen Augen und der Hoffnung, auch diese dritte Attacke gut zu überstehen, klammere ich mich ein weiteres Mal an mein noch so junges Leben. Das Vibrieren der Erde und das Hochspritzen von Erdfontänen kommen diesmal nicht so nah an mich heran, deshalb kann ich mich nach kurzer Zeit aus der Spannung etwas lösen. Ein weiterer Angriff des vierten Pulks, der glücklicherweise etwas weiter entfernt seine tödliche Fracht abwirft, beendet diesen so brutalen Angriff auf Lagerlechfeld um 14 Uhr 19.

Dabei hatte der heutige Morgen doch ganz gut angefangen. Meine Mutter hat um 5 Uhr 30 das Feuer im Herd entfacht, und so war es schon ein bisschen warm in der Stube, als ich mich kurze Zeit später an den Küchentisch setzte. Die Schale mit warmer Milch schmeckte an dem Morgen wie immer und die frisch gebackene Nudel gab meinem Magen eine gute Grundlage. Neben meiner Mutter Maria saß noch mein Vater Peter am Tisch. Er war auf dem nahe gelegenen Flugplatz als Zivilangestellter beschäftigt. Mein Vater erzählte, dass durch die Bombardierung der Augsburger Messerschmitt-Werke deren Versuchsabteilung auf das Lechfeld verlegt wurde. Das hatte zur Folge, dass die Sicherheitsvorschriften auf dem Flugplatz noch einmal verstärkt wurden. Pünktlich um 6 Uhr 30 musste ich an meinem Ausbildungsplatz sein, deshalb musste ich mich sputen, um mich nicht zu verspäten. Als ich die Haustür öffnete, erschrak ich auf einmal. Es hatte über Nacht richtig geschneit. Die Schneedecke hatte eine Höhe von über zwanzig Zentimetern, und ich hatte große Mühe, mit meinem Fahrrad durch die frühmorgendlichen Straßen von Lagerlechfeld zu fahren. Ohne Licht am Fahrrad musste ich verdammt aufpassen, dass es zu keinen Zusammenstößen mit mir entgegenkommenden Radfahrern kam. Da sehr viele Menschen aus Schwabmünchen auf dem Flugplatz Lagerlechfeld arbeiteten, kamen mir mehrere Radler ohne Beleuchtung entgegen. Glücklicherweise schepperte bei meinem bereits in die Jahre gekommenen Gefährt das Schutzblech so laut, dass mich jeder, der mir entgegenkam, bereits aus sicherer Entfernung hörte. Nach zehn Minuten erreichte ich Graben, einen Ort, der zwei Kilometer westlich von Lagerlechfeld liegt. Bevor ich am Ende des Ortes eine leichte Steigung erklimmen musste, kam wie jeden Tag eine weitere Prüfung auf mich zu. Beim Anwesen der Familie Renner wartete ein Hund auf mich, um mich täglich aufs Neue zu verfolgen. War der Weg trocken, konnte ich den weißen Spitz jedes Mal abhängen, doch bei dieser Schneelage wurden die Karten noch einmal neu gemischt. An diesem Morgen gelang es dem sprungfreudigen Vierbeiner tatsächlich, mich in die Wade zu zwicken. Nur durch einen Schlag mit meiner Ledertasche auf seine Schnauze konnte ich mir das Tier noch vom Leibe halten und meinen Weg fortsetzen. Nach geraumer Zeit konnte ich kurz nach dem Sonnenaufgang die Umrisse von Schwabmünchen erkennen. Keine Wolke war an diesem Morgen am Himmel zu sehen, und so freute ich mich schon auf den freien Nachmittag, weil ich mit meinen Eltern mit dem Zug nach Augsburg fahren wollte, um mir eine neue Hose zu kaufen. Bei der Polizeistation fuhr ich auf die Hauptstraße Richtung Süden und erreichte nach zweihundert Metern die Apothekergasse, an deren Ende damals die Schreinerei Schrott stand.

Gerade hatte ich mein Rad hinter dem Gebäude abgestellt, als der Schweighart Ludwig, mein Ausbildungsgeselle, mich in die Schreinerei beorderte. In der Vorkriegszeit fertigte das Geschäft Möbel in jeder Form und war mit dieser Arbeit voll ausgelastet. Seit Kriegsbeginn mussten spezielle Möbelteile für den Ernstfall hergestellt werden. Durch die Angriffe auf Augsburg und München in den vorangegangenen Wochen hatte sich der Schrecken sehr schnell an die Heimatfront verlagert. Bei den überraschenden und überflüssigen Attacken auf die Zivilbevölkerung in den Städten gab es unzählige Opfer, wodurch es notwendig wurde, vermehrt Särge und Grabkreuze herzustellen. Verstärkt wurde der Bedarf auch durch die immer größere Zahl gefallener Soldaten aus Schwabmünchen, die auf der ganzen Welt an jeder Front kämpfen. Und so gehörte es zu meinen Aufgaben, mit einem Handwagen, auf dem ein leerer Sarg befestigt war, zu den Anwesen zu fahren, um mit meinem Gesellen, dem Schweighart Ludwig, Verstorbene abzuholen und ins Leichenhaus zu bringen. Uns war es strengstens untersagt, neugierigen Schwabmünchnern die Identität der Toten preiszugeben. An jenem Samstagmorgen hatten mein Geselle und ich den Auftrag, einen 60-jährigen Bauern vom Unteren Markt ins Leichenhaus zu transportieren, der bei einem Fliegerangriff von einer Spitfire auf dem Feld so schwer verletzt wurde, dass er ein paar Tage später verstarb. Diese Art der willkürlichen Attacke verunsicherte die Schwabmünchner Bevölkerung zunehmend. Das Leid in den Familien bekam ich fast täglich zu spüren, und so war ich heilfroh, als ich eine Stunde später mit dem Handwagen wieder in der Schreinerei ankam. Durch diese Tätigkeit wurde ich immer mehr mit den Grausamkeiten des Krieges konfrontiert. In der Schreinerei gab es neben dem Schweighart Ludwig und mir noch zwei weitere Gesellen, die sich mit ähnlichen Tätigkeiten zu beschäftigen hatten.

Nach der Brotzeit, die ich auf der Werkbank im Schneidersitz verbrachte, widmete ich mich wieder meiner Tätigkeit, die für den heutigen Samstag noch das Anfertigen von Grabkreuzen vorsah. Da sich diese Tätigkeit in letzter Zeit immer mehr anhäufte, fertigen wir immer zehn Kreuze. In die Arbeit versunken, erkannte ich auf der großen Uhr über der Hobelbank, dass es bereits kurz vor ein Uhr mittags war, und ich meine heutige Arbeit allmählich beenden konnte. Am Ende eines jeden Arbeitstages mussten alle Werkzeuge an die dafür vorgesehenen Haken gehängt werden, die Späne werden in den Sägemehlschacht gekippt, und auch die Fenster werden mit einem feuchten Lappen abgewischt. Froh gestimmt meldete ich mich nach den Aufräumarbeiten beim Meister, damit er mein wöchentliches Putzen noch einmal nachkontrollierte und mich dann ins Wochenende ziehen ließ. Um seine Autorität weiter aufrechtzuerhalten, fand Herr Schrott wie fast jeden Samstag auch heute wieder ein paar Späne im Hobelschacht. Nach dem Beheben der Mängel zog ich die Jacke über, setzte die Mütze auf und verließ meinen Arbeitsplatz, um schnellstens nach Hause zu radeln. Weil sich die Temperaturen mittlerweile in Plusgrade umgewandelt hatten, war es für mich nicht mehr möglich, denselben Weg nach Hause zu fahren. Die einzige geteerte Straße führte über Untermeitingen, und so musste ich einen Umweg von zwei Kilometern in Kauf nehmen.

18. März 1944, amerikanische Air Base Nähe London

Am Morgen des gleichen Tages, nur über eintausend Kilometer entfernt, starten auf einem Feldflugplatz in der Nähe von London siebenhundertachtunddreißig viermotorige Bomber der 8. amerikanischen Air Force. Die 1. Division soll mit einhundertzwanzig B-17-Bombern den Flugplatz Lagerlechfeld bombardieren. Die 2. und 3. Division hat ähnliche Ziele in Süddeutschland zu vernichten. Zum Schutz begleiten einhundertzwanzig Lockheed P-38 Lightnings und zweihundertfünfzig Mustang-Jäger den gewaltigen Verband auf das Festland. Sie kommen gemeinsam über Frankreich zum Schwarzwald, wo sich die Divisionen trennen. Die vierhundertneunzig fliegenden Festungen werden von achtzig Jägern begleitet, die deutsche Abfangjäger von dem Verband fernhalten sollen. Über Straßburg wird der gewaltige todbringende Verband zum ersten Mal von einer deutschen Jägereinheit angegriffen und in starke Flügelkämpfe verwickelt. Aus der Bomberformation werden zwölf B-17-Bomber durch die deutsche Jägerstaffel herausgeschossen, und nur durch verstärkten Einsatz der Mustangs und Lightnings gelingt es dem Verband, den todbringenden Kurs zu halten. Geführt wird die 1. Division von Major Donald Painter, der am frühen Morgen bei der Einsatzbesprechung den Befehl bekam, den Flugplatz Lagerlechfeld anzugreifen. Der Flugplatz war bis zu diesem Zeitpunkt kein Angriffsziel für die amerikanischen Streitmächte gewesen, da dort nur Piloten für den Feindflug ausgebildet worden waren. Das änderte sich jedoch schlagartig, als die deutsche Luftwaffe die Erprobung des Wunderflugzeugs, der Me 262, nach Lagerlechfeld verlegte. Vor diesem Flugzeug haben die amerikanischen Luftwaffenoffiziere großen Respekt, und so wird vom Geheimdienst bereits der Flugplatz Lagerlechfeld durch Aufklärungsflugzeuge und spezielle Spionagetrupps besonders überwacht. Die Me 262 galt als das erste Düsenflugzeug, das in der Lage wäre, die amerikanische Übermacht aufzuhalten. Dieser Sachverhalt steht an diesem Morgen im Mittelpunkt des taktischen Angriffsziels. Major Donald Painter gilt als einer der erfahrensten Bomberpiloten der Air Force, und durch seine besonnene Art versprechen sich die Kommandanten selbst bei großen Verlusten einen erfolgreichen Einsatz. Ihm folgt Captain Joshua Sudderland, der den zweiten Pulk anführt. Der dritte und vierte Pulk, die ebenfalls je dreißig Bomber vom Typ B-17 in ihren Reihen haben, werden von den Captains Lance Mattmuller und Mike Landers in den Führungsmaschinen geflogen. In der morgendlichen Besprechung, bei der neben Donald Painter noch die drei Captains anwesend sind, wird der Flugplatz Lagerlechfeld zum Hauptziel erklärt. Von der militärischen Führung wird insgeheim mit großen Verlusten gerechnet, da die deutsche Abwehr mit ihren Jagdfliegern und Jägern noch sehr präsent ist. Und so erfahren die Piloten, dass es am Rhein zum ersten Aufeinandertreffen mit den Jägern kommen könnte. FlaK-Beschuss wird aus den Ballungsräumen Stuttgart und Freiburg erwartet. Mit dieser schweren Bürde macht sich die erste Besatzung der amerikanischen Air Force zwei Stunden später auf den Weg. Zwischen 8 Uhr 35 und 10 Uhr 10 startet das amerikanische Bomberkommando mit einer schier unendlichen Anzahl von Bombern nach Deutschland. Die schützenden Jäger, die Lightnings und die P-51 Mustangs, stoßen etwas später zu den gigantischen fliegenden Festungen und schwenken gegen elf Uhr in Richtung Frankreich ein. Zu diesemm Zeitpunkt fliegen noch alle siebenhundertachtunddreißig Bomber in einem Verband. Dieser gigantische Block trennt sich über Frankreich in mehrere Gruppen und so beginnt für Major Donald Painter die schwierige Phase des Unternehmens. Seinen vier Pulks unterstehen noch fünfundvierzig Jäger, die sich schützend um die schwerfälligen fliegenden Festungen verteilen. In jedem B-17-Bomber sitzen sechs Bordschützen, die in ihren Kanzeln bei extrem wenig Platz wohl den kräftezehrendsten Job zu verrichten haben. An dem wunderbaren Samstagvormittag ist keine Wolke am Himmel, als die Gruppe um Major Donald Painter in den deutschen Luftraum einfliegt. Die zwölf Bomber, die über Straßburg aus ihrem Verband herausgeschossen wurden, schwächen die 1. amerikanische Division nur bedingt, und so fliegt der ganze Tross unbeirrt weiter Richtung Bodensee und schwenkt kurz vor den Alpen in Richtung Füssen ein. Der erste Pulk um Major Donald Painter bekommt kurz nach dem Richtungswechsel erneut mit den deutschen Jägern Kontakt. Schwere Luftkämpfe entwickeln sich zwischen den Mustangs und der deutschen Messerschmitt Bf 109. Da diese Maschinen fast leistungsgleich sind, gibt hier nur das fliegerische Können den Ausschlag über Leben und Tod. Hektischer Funkverkehr entwickelt sich durch die sofortige Kampfaufnahme, und der Bordfunk bringt die ganze Hektik und das verzweifelte Schreien und Stöhnen an das Ohr von Major Painter. Donald versucht mit Durchhalteparolen seinen Flügelmännern Mut zuzusprechen und fordert permanent das strikte Einhalten des Kurses, der sie zum Flugplatz nach Lagerlechfeld bringen soll. Über seinen Kopfhörer vernimmt er verzweifelte Hilferufe. Links und rechts sieht der Major, wie seine Bomberpiloten mit ihren schweren Maschinen in unkontrollierten Sturzflügen auf die Erde zusteuern und wenig später mit einer enormen Stichflamme am Boden zerschellen. Jede fliegende Festung ist mit sechzehn Mann besetzt. Und bei jedem Bodenblitz ist das Schicksal der Besatzung besiegelt. Der erleichterte Blick auf die weißen Fallschirme ist an diesem Tag nur selten, und so ist dieser Angriff der deutschen Jäger für den amerikanischen Verband sehr schmerzhaft. Obwohl sich die Mustangs mit der Bf 109 packende Kämpfe liefern, kommen immer mehr deutsche Jäger an die schweren Maschinen der Air Force heran und schießen mit ihren Bordwaffen unerbittlich Lücken in den fliegenden Verband. Sergeant Paul Mustang feuert mit seinem MG, das sich unter dem Rumpf des silberfarbenen Bombers in einer engen Glaskugel befindet, wie ein Verrückter auf alles, was sich in unmittelbarer Nähe befindet. Sein Problem ist, dass er sich in einem Hängekorsett kopfüber den angreifenden Jägern stellen muss. Gerade die Führungsmaschine ist als Kommandostand der Angreifer ein begehrtes Ziel der Deutschen. Deshalb hat Major Donald Painter die besten Bordschützen in seiner Führungsmaschine versammelt, um die todbringende Fracht auch im Zielgebiet unterbringen zu können. Mit diesem massiven Widerstand hat er nicht gerechnet, und so stellt er seinen geheimen Auftrag immer mehr infrage. In der Phase, als die schrecklichen und verzweifelnden Schreie seiner Besatzung im Verband immer intensiver sein Gemüt belasten, versinkt er für kurze Zeit in die Vergangenheit.

Diese schrecklichen Schreie wecken in ihm Erinnerungen an ein Erlebnis, bei dem er als 15-jähriger Schüler als erster an ein brennendes Haus kam, in dem sich noch kleine Kinder befanden, die sich nicht selbst in Sicherheit bringen konnten. In seinen Gedanken sieht er sich noch einmal beherzt eingreifen, indem er die Tür eintritt und mit einem feuchten Tuch, das er sich vor dem Mund hält, das lichterloh brennende Gebäude entschlossen stürmt, mit letzter Energie vier kleine Kinder vor dem sicheren Flammentod rettet und dann anschließend in das nahe gelegene Krankenhaus miteingeliefert wird. Die Ärzte diagnostizierten bei ihm eine schwere Rauchvergiftung.

Blitzschnell ist er durch diesen Gedanken wieder in der Realität. Ein beißender Rauch entwickelt sich schnell in der Pilotenkanzel, die durch einen Treffer der Messerschmitt Bf 109 in den Versorgungsschacht verursacht wurde. Kopilot Walter Landers versucht mit allen Mitteln, den Schwelbrand zu löschen. Der Handfeuerlöscher ist bereits vollständig geleert, als er mit seiner Pilotenjacke das letzte Glimmen erstickt. Nur langsam verflüchtigt sich die nebelartige und beißend riechende Luft aus der Pilotenkanzel, und so verliert sich zumindest für kurze Zeit die entstandene Panik. Major Donald Painter muss jetzt handeln und den vorgesehenen Kurs schnellstens verlassen, um die Verluste noch in Grenzen halten zu können. Achttausend Meter unter ihnen plätschert die Iller, ein Fluss, der in den Alpen entspringt und einhundert Kilometer weiter in die Donau fließt. Diese optische Wahrnehmung macht sich der Major zu eigen, um irgendwie aus dem Inferno zu entfliehen. Sehr schwerfällig kommen seine Piloten der Bomberdivision seinem Befehl nach, da sie sich durch die beherzten Angriffe der deutschen Jäger immer weiter von ihm entfernt haben. Des Weiteren hat keiner der Pulks mehr seine Anfangsformation. Das ist die größte Gefahr für jeden fliegenden Verband, wenn einzelne Bomber, die in einer V-Formation fliegen, Lücken aufweisen. Und so erweist sich der Befehl als schweres Unterfangen, da sich der mittlerweile weit auseinandergezogene Bomberverband nicht schnell schließen kann. Der dreißig Minuten anhaltende Luftkampf und die Kurskorrektur nach Norden zwingen die deutschen Abfangjäger so allmählich zum Landen, da ihre Spritreserven langsam aufgebraucht sind. Kurz bevor die Iller in die Donau mündet, können sich in achttausend Metern Höhe die fliegenden amerikanischen Bomber wieder einigermaßen organisieren und nach den großen Schadensmeldungen neu formieren. Von den einhundertzwanzig gestarteten B-17-Bombern sind zu diesem Zeitpunkt nur noch einhundertundsechs einsatzfähig. Abgeschossen oder notgelandet, angeschossen und wieder zurück nach England, oder so weit abgedrängt, dass ein Aufschließen zum Bomberverband unmöglich ist. Das große Glück für den Verband ist die Tatsache, dass keine der vier Führungsmaschinen getroffen wurde und so zumindest das richtige Anfliegen auf den Flugplatz in Lagerlechfeld weiter gewährleistet ist.

18. März 1944, Schwabmünchen

Im Sonnenschein und mit leichtem Rückenwind fuhr ich zur gleichen Zeit mit meinem Fahrrad die Bahnhofstraße in Schwabmünchen stadtauswärts. Die gut ausgebaute Straße brachte mich schnell zur Kreuzung Bahnhof, Malzfabrik und Hochfeldstraße. Auf Höhe der Hochfeldstraße sah ich mehrere Militärlaster fahren, die in die Einfahrt der Spinnerei und Weberei Holzhey einbogen. Ganz genau wusste ich es nicht, aber in der Bevölkerung tuschelte man von einer zusätzlichen Produktion der Firma Messerschmitt aus Augsburg. Die Firma Messerschmitt ist eine der größten Rüstungsfabriken im süddeutschen Raum. Bekannt geworden ist der Konzern durch die schnellen Kampfflugzeuge, die in der ganzen Welt im Einsatz sind. Die Schwabmünchner Bevölkerung ist über die Entscheidung der Gauleitung nicht gerade glücklich, da immer mehr Rüstungsbetriebe im Umkreis von den feindlichen Bomberverbänden angegriffen werden. Und so war es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Schwabmünchen als Angriffsziel der feindlichen Verbände feststand.

In Gedanken verstrickt verließ ich nun Schwabmünchen und fuhr Richtung Untermeitingen. Man konnte fast sagen, dass ich sehr unrund fuhr, da meine Fahrradreifen von vielen Gummistreifen belegt sind, die das Fahren zu einer recht unruhigen Angelegenheit machen. Trotzdem war ich froh, noch so einen fahrenden Untersatz zu haben. Nach drei Kilometern kam ich an eine leichte Linkskurve, in deren Nähe schon seit einigen Wochen eine FlaK-Batterie mit sechs Geschützen im Boden verankert war. Heute war sie zum ersten Mal mit mehreren Soldaten belegt, die in voller Kampfausrüstung ein hektisches Treiben veranstalteten. Mich interessierte das natürlich und so stieg ich von meinem Rad ab und wollte mir das Ganze aus der Nähe ansehen. Doch nach kurzer Zeit scheuchte mich ein Feldwebel mit kurzen harten Worten von der Anlage weg. Durch diesen Sachverhalt und das Knurren meines Magens willigte ich in die Aufforderung ein und stieg wieder auf mein Rad, um meinen Nachhauseweg fortzusetzen.

Als ich fünf Minuten später Untermeitingen erreichte, erkannte ich auch dort ein hektisches Treiben. Dieses wurde noch verstärkt, als die Sirene, die auf dem Schulgebäude befestigt ist, mit lauten und schrillen Tönen einen Luftangriff ankündigte. Nicht beunruhigt, aber etwas nachdenklich setzte ich meine Fahrt nach Lagerlechfeld fort. Nach weiteren fünf Minuten erreichte ich Klosterlechfeld. Jetzt wurde ich auch ein bisschen unruhig, da ich aus Norden kommend eine ganze Wagenkolonne sah, die sich in Windeseile vom Flugplatz Lagerlechfeld wegbewegte. Mein Problem lag darin, dass ich genau in diese Richtung fahren musste, um in Kürze mit meinen Eltern das Mittagessen einnehmen zu können. Der Verkehr an der Kreuzung in Klosterlechfeld wurde von Herrn Gulden geregelt, der mir gut bekannt und außerdem noch als Feuerwehrkommandant tätig war. Er riet mir dringend von einer Weiterfahrt nach Lagerlechfeld ab, da der gesamte Flugplatz bereits geräumt worden war. Er hatte mich auch schon fast überzeugt gehabt, als ich über dem Waldstück, das nördlich des Flugplatzes liegt, eine Fw 200 Condor im Landeanflug erkennen konnte. „Herr Gulden, Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass bei einem Bombenangriff auf den Lagerlechfelder Flugplatz noch deutsche Flugzeuge zum Landeanflug ansetzen?“ Mit dieser schlagfertigen Antwort hatte er nicht gerechnet, und so ließ er mich schweren Herzens gewähren und rief mir noch nach, dass ich mich auf dem schnellsten Weg nach Hause begeben solle.

Ab jetzt trat ich etwas fester in die Pedale und kaum hatte ich mich von Herrn Gulden entfernt, hörte ich schon die ersten Flugzeuge über mir mit ihrem monotonen Dröhnen. Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, war die Tatsache, dass dies die 8. Bomberdivision war, die nicht Lagerlechfeld als Angriffsziel hatte, sondern die Dornier-Werke in Oberpfaffenhofen. Meine Heimfahrt gestaltete sich schwerer als erwartet. Da der Flugplatz geräumt wurde, kamen mir laufend Militärlastwagen entgegen, und deshalb musste ich die Straße für kurze Zeit immer dann verlassen, wenn mich gerade ein Lkw passierte. Als ich auf Höhe der Tutscheckstraße war, sah ich westlich der Bahnlinie die ersten Schmutzfontänen, die nach den Einschlägen der Sprengbomben meterhoch in die Luft spritzten. Das war für mich jetzt endgültig ein Zeichen, die Straße zu verlassen und Richtung Osten in ein Waldstück zu laufen, das als Windschutz dient. Die Fontänen kamen immer näher, und ich rannte so schnell ich nur konnte. Auch der Geruch von frischer Erde erreichte meine Nase und so war ich heilfroh, als ich die ersten Bäume des Waldes erreichte. Aus Richtung Flugplatz sah ich, wie die Besatzung des soeben gelandeten Aufklärungsflugzeugs im Laufschritt zeitgleich auf mich zukam und ebenfalls noch rechtzeitig das Waldgelände erreichte. „Hinlegen, den Mund öffnen und die Ohren zuhalten!“

18. März 1944, Dinkelscherben

Zur gleichen Zeit visiert die 1. Bomberdivision unter dem Kommando von Major Donald Painter, dicht gefolgt von der 8. Bomberdivision, mit seinen verbliebenen einhundertundsechs B-17-Bombern sein Angriffsziel an, den Flugplatz Lagerlechfeld. Beim Uhrenvergleich der vier Führungsmaschinen, achttausend Meter über Dinkelscherben, stehen alle Pilotenuhren auf 14 Uhr. Nach den Berechnungen des ersten Bordoffiziers Handerson müsste die erste Bombe exakt um 14 Uhr 5 den Flugplatz Lagerlechfeld erreichen. Nach dieser Festlegung leitet der Major den Großangriff auf den Flugplatz Lagerlechfeld ein. Mit laut aufheulenden Motoren erreichen sie schnell die für sie vorgesehenen Angriffshöhen, und von nun an lässt sich die todbringende Fracht nicht mehr aufhalten. Major Donald Painter sinkt mit seinen verbliebenen Piloten, die dem ersten Pulk angehören, auf fünftausendsechshundert Meter, um dann genau um 14 Uhr 1 mit einem Rauchzeichen alle weiteren Mechanismen einzuleiten, die den Angriff zum Erfolg führen sollen. Genau um 14 Uhr 2 kommen die fliegenden Festungen der 1. amerikanischen Bomberdivision in den FlaK-Bereich des Flugplatzes Lagerlechfeld. Die im großen Bogen um den Flugplatz verteilten Abwehrstellungen beginnen, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Abwehrgranaten zu feuern. Parallel dazu wird vom Führungsflugzeug eine Unmenge von lamettaähnlichen Streifen abgeworfen, die alle deutschen Höhenmessgeräte in die Irre führen sollen. Dieses Täuschungsmanöver verfehlt seine Wirkung zumindest bei der Führungsmaschine. Eine FlaK-Granate explodiert in unmittelbarer Nähe, durchschlägt die Scheibe und verletzt Donald Painter schwer an der linken Schulter. Hektisch und schnell wird die Wunde vom Funker Mike Fuller notdürftig versorgt. Und auch der kalte, böige Wind, der jetzt frontal durch das zerborstene Frontfenster die Gesichter der Piloten erreicht, macht das weitere Unterfangen nicht gerade leichter. Unabhängig von dieser Aktion öffnet Daniel Smith, erster Bombenschütze, punktgenau die Halterungen der fünfhundert Kilogramm schweren Sprengbomben, um sie ihrer schmerzhaften Verwendung zu überlassen. Dies geschieht genau über Kleinaitingen, ein Dorf, das zwei Kilometer Luftlinie vom nördlichen Teil des Flugplatzes Lagerlechfeld entfernt liegt und durch Einbeziehung des Windes als Ausgangspunkt gewählt wurde. Alle anderen Bombenschützen des ersten Pulks verrichten ihren Job nach dem gleichen Muster, und so legt sich der Bombenteppich in einer Breite von tausend Metern über den nördlichen Teil des Flugplatzes. Die Mischung aus Spreng- und Splitterbomben hat verheerende Folgen für alle am Flugplatz Verbliebenen. Genau eine Minute versetzt und in einer Höhe von sechstausend Metern beginnen die Bombenschützen des zweiten Pulks mit dem Öffnen der Bombenschächte und lassen ihre tödliche Fracht einen Kilometer südlicher auf den bereits nach der ersten Bombenwelle erheblich beschädigten Flugplatz nieder. Der dritte und vierte Pulk verrichten ihren Job genauso professionell und platzieren ihre Vernichtungswaffen immer um eintausend Meter versetzt nach Süden punktgenau auf ihre vorgegeben Ziele.

Um 14 Uhr 19 des 18. März 1944 liege ich immer noch benommen in einem nach frischer Erde riechenden Bombentrichter und zittere noch von dem Eindruck der schrecklichen Geschehnisse in den letzten Minuten, die ich über mich ergehen lassen musste.

In der zugigen Pilotenkanzel kämpfen die Sanitäter um das Leben von Donald Painter, dessen linker Arm nicht mehr zu retten ist. Dem Tode sehr nah, erreicht die überforderte Besatzung fünf Stunden später ihren Heimatflughafen, westlich von London. Schwer verletzt überlebt der Major diesen Feindflug und wird Monate später aus der US-Air Force in den vorzeitigen Ruhestand entlassen. Donald und Richard kannten sich nicht und keiner wusste etwas vom anderen. Beide hatten zur selben Zeit am selben Ort ein grauenhaftes Erlebnis, das wohl keiner jemals vergessen wird.

Von Schmutz, Ästen und Metallsplittern übersäht komme ich langsam zu mir. Um mich herum riecht es nach Verbranntem. Die Luft ist mit Rauch und Staub vermengt und gibt mir gerade so viel Sauerstoff, um noch atmen zu können. Langsam rapple ich mich auf und versuche aus dem Bombentrichter zu entkommen. Mein Taschenmesser hilft mir bei der Befreiungsaktion. Mit ihm kann ich einen zehn Zentimeter dicken Ast durch wiederholtes Einkerben zum Brechen bringen und so rutsche ich aus der Bodenmulde, die mich in den letzten Minuten gefangen gehalten hatte. Ich bleibe noch ein paar Minuten am Boden sitzen und versuche das gerade Geschehene zu verstehen. Ganz allmählich höre ich wieder Geräusche um mich herum. Sanitäter, Feuerwehrleute und einige Soldaten hetzen an mir vorbei und versuchen, Verletzten zu helfen. Laute Schreie und leises Wimmern erreichen meine Ohren. Meine Platzwunde am Kopf versorge ich selbst, indem ich mein Halstuch sehr fest mehrmals um den Kopf wickle. Die Abschürfungen am Schienbein und am Knie sind nur oberflächlich. Das Schlimmere ist der große Fetzen, der mir aus der Hose herausgerissen wurde. Auch die Jacke wurde in Mitleidenschaft gezogen und so stehe ich in Lumpen gehüllt vor einer Kraterlandschaft, aus der ich mich nur mit viel Glück befreien kann. Schwarz-grauer Rauch weht von Osten kommend fast gespenstisch über uns hinweg und bringt so eine beängstigende Stimmung über mich. Auf der vierhundert Meter entfernten Verbindungsstraße zwischen Klosterlechfeld und Lagerlechfeld erkenne ich die ersten Militärfahrzeuge, die sich wieder dem Flugplatz nähern. Ich will mich gerade auf den Weg machen um mein Fahrrad zu suchen, als mich ein Uniformierter mit einem roten Kreuz am Ärmel anspricht und mich auf meinen notdürftig gestalteten Verband aufmerksam macht, der sich mit Blut gefüllt hat. Binnen Minuten bekomme ich einen Druckverband angelegt, der die starke Blutung zum Stillstand bringt. Dort, wo ich mein Fahrrad vermute, liegt es nicht mehr. Mehrere Meter weiter sehe ich meinen Drahtesel, der wohl von einem Bombensplitter getroffen wurde und sehr deformiert ist. Ausgerechnet die Nabe aus dem Vorderrad wurde herausgeschossen, und so trage ich die Reste neben der Straße nach Hause. Direkt auf dieser zu gehen wäre viel zu gefährlich, denn alle Fahrzeuge, die vor dem Angriff den Flugplatz Richtung Klosterlechfeld verlassen haben, kehren wieder zurück, und bilden eine lange Schlange verschiedenster Gerätschaften.

Nachdem die Gedanken langsam klarer werden, versuche ich diese zu sammeln und erhole ich mich von meinem Schock. Das Schicksal meiner Eltern ist von großer Unsicherheit geprägt. Unsere Wohnung im Alten Lazarett liegt mitten in Lagerlechfeld, und da die anfliegenden Verbände aus Westen kommend ihre Bombenlast fallen gelassen hatten, war gerade dieses Haus im Mittelpunkt des Geschehens. Auf meinem Weg dahin überquere ich die Eisenbahnlinie etwas nördlich vom Reschhaus und erschrecke sehr, als ich die zerbombten Eisenbahnschienen sehe, die zum Teil senkrecht in die Luft ragen. Der Rauch verdeckt immer noch weite Teile des Orts und so erkenne ich auf Höhe des Hauses Höchtl, dass zwischen dem Café Weyand und dem Kolonialladen Kirchmeier eine größere Menschenansammlung hektisch auf der Straße Verwundete versorgt. Der Weg ist mit Splittern, heruntergerissenen Ästen und anderem Unrat übersäht.

Ich bin noch fünfzig Meter entfernt, als mir mein Schulfreund, der Wagner Ernst, entgegenkommt und mich stürmisch begrüßt. Hektisch und schnell erzählt er mir das Geschehene und begleitet mich zum Unfallort. Ich übergebe dem Ernst mein deformiertes Rad und haste im Dauerlauf um die Menschenansammlung herum, um mein Elternhaus zu sehen. Es steht, es ist nicht getroffen worden. Wahnsinnig erleichtert laufe ich wieder zum Ernst zurück, der immer noch am Unfallort steht. Getroffen wurden zwei Gäste des Café Weyand, die genauso von dem Angriff überrascht wurden wie ich. Es wird schnell die Schwere der Verletzungen erkannt und so wird Herr Füchsle beauftragt, die beiden mit seinem Pferdefuhrwerk ins Lazarett zu bringen. Sofort werden die Betroffenen auf einen Pritschenwagen gelegt und notdürftig gesichert. Mit einem lauten Peitschenknall und schneller Fahrt verlässt das Gespann den Unfallort in Richtung Kaserne, als uns allen der Atem stockt. In voller Fahrt fährt, oder man konnte schon fast sagen, fliegt der Wagen über eine scharfe Bombe, die noch auf der Straße liegt. Ein lautes metallisches Geräusch begleitet das Gespann mit der Granate unter einem der Räder, das dann aber endlich nach mehreren Metern von der Straße geschleudert wird und im Straßengraben landet. Nachdem ich das gesehen habe, bin ich mit meinen Gedanken sofort wieder bei meinem Martyrium, das ich erst vor Minuten hinter mich gebracht habe.

Ernst und ich bringen mein zerbrochenes Rad nach Hause und gehen dann anschließend im Ort auf Erkundungstour. Mein ursprünglicher Ausflug mit meinen Eltern nach Augsburg fällt heute aus, da die Bahnlinie mehrmals getroffen wurde. Ernst erzählt mir seine Geschichte von dem aufregenden Samstagmittag. Er war nach dem Fliegeralarm mit den meisten Leuten von der Straße in den Bunker gegangen, der für den Ernstfall vor Jahren gebaut wurde. Er erzählt mir, dass er ganz schön Angst hatte, als er das Geräusch und die dumpfen Einschläge im Bunker mitbekommen hat. Ich will ihm mehrmals meinen unvorstellbaren Kampf um mein junges Leben erzählen, aber er ist so aufgekratzt, dass er mich gar nicht zum Reden kommen lässt. Nachdem wir die Schäden im gesamten Gebiet inspiziert haben, kehren wir wieder in unsere Straße zurück. Bevor wir uns verabschieden, merke ich in mir einen enormen Druck, der wohl meinen bis jetzt andauernden Schock beendet. Als mich dann der Ernst noch fragt, wo denn ich den Angriff miterlebt habe, bricht es aus mir heraus. Unter Tränen und lautstark schreie ich ihn an. Ich kann mich nicht bremsen. Wellenartig platzt es aus mir heraus. Ich schildere ihm in den nächsten Minuten mein Erlebtes und sinke dann kurze Zeit später in seine Arme und weine bitterlich. Zu diesem Zeitpunkt weinten große Buben nicht und so ist der Ernst sehr überrascht, als er mich so sieht. „Bin ich ein Idiot“, kommt es aus ihm heraus, „du hast doch eine blutige Kopfwunde und deine Hose und Jacke sind total zerrissen!“ Er ist durch die Art, wie ich meinen Überlebenskampf geschildert habe, sehr geschockt, nur mir tut es gut. Mir tut es verdammt gut, denn so kann ich zumindest mein erstes Kriegserlebnis verarbeiten.

Meine Schilderung zu Hause bei meinen Eltern fällt dann schon etwas gemäßigter aus. Aber auch hier fließen ein paar Tränen und mir tut es gut, als mich meine Mutter in den Arm nimmt und mir über die Haare streicht. Da wir am Samstagabend immer unseren Badetag haben, erkennen meine Eltern meine Wunden und so wird auch ihnen schnell bewusst, dass ihr Filius heute doch einiges mehr erlebt haben muss als ursprünglich gedacht. Die Platzwunde am Kopf ist drei Zentimeter lang und klafft immer wieder auf. Selbst die Schrammen an meinen Füßen haben eine besorgniserregende Tiefe, die meinen Vater dazu bewegt, mich am nächsten Tag ins Lazarett zu schicken. Beim anschließenden gemeinsamen Abendessen fallen mir mehrmals die Augen zu und so ist es nicht verwunderlich, dass ich mich so langsam auf mein Zimmer verziehe und ins Bett gehe. Die vorhandene Müdigkeit hat aber keine Chance gegen die innere Unruhe in mir. Durch meine Zugehörigkeit bei der Hitlerjugend habe ich in den letzten Jahren eine harte Erziehung genossen, bei der man sich keine Blöße geben darf. Und gerade diese Blöße habe ich heute gezeigt, als ich in Ernsts Armen zu weinen begonnen habe. „Das ist peinlich, Richard“, höre ich meine innere Stimme sprechen, und dementsprechend schäme ich mich jetzt. Dass ich heute mehrmals um mein Leben gekämpft habe, wird von mir verdrängt und so sehe ich mich schon als „Weichei“ vor meinen Kameraden stehen. „Hoffentlich verpetzt mich der Ernst morgen nicht“, mit dem Gedankengang versuche ich mich zu stabilisieren. Mit dem Wunschgedanken fallen mir so langsam die Augen zu, und so kann ich tatsächlich schlafen. „Hinlegen, die Ohren zuhalten und den Mund öffnen!“ Dieses laute Kommando schreckt mich Minuten später wieder auf. Zudem bemerke ich meinen nassgeschwitzten Schlafanzug, der sich nach kurzer Zeit sehr klamm anfühlt und einen kalten Schauer, der mir noch einmal den Rücken hinunterläuft, noch unterstützt. Was ist aus den Soldaten geworden, die mit mir heute um ihr Leben gekämpft hatten? Leben sie noch? Ich weiß es nicht! Dieses Nichtwissen zehrt zusätzlich an meiner Psyche und so ist an ein Weiterschlafen momentan nicht zu denken.

Meine Gedanken schwenken ein bisschen in die Vergangenheit und lassen mich den Glauben an unsere Wehrmacht nicht infrage stellen. Wie toll waren die Veranstaltungen im Fliegerhorst vor dem Krieg. Riesige Sportfeste mit sensationellen Darbietungen begeisterten uns junge Buben so sehr, dass wir den Sportlern gerne nacheifern wollten. Auch die mächtigen Aufmärsche signalisierten uns eine unwahrscheinliche Sicherheit und wir genossen das Protzen mit dem Machtgehabe in vollen Zügen. Ja, der Standort Lagerlechfeld ist schon etwas Besonderes. Viele prominente Menschen kommen auf das Lechfeld, um sich mit den Größen des Militärs sehen zu lassen. Politiker, Filmschauspieler, Nationalspieler und Helden aus dem Ersten Weltkrieg kommen sehr gerne zu uns. Dieses Flanieren der Berühmtheiten gibt unserem Ort einen Hauch von der großen Welt. Ich hätte mir niemals vorstellen können, einmal in so ein Inferno hineingezogen zu werden, wie es mir heute widerfahren ist. Der Krieg ist doch so weit weg. Das Erlebnis des letzten Tages – es ist bereits nach Mitternacht – bringt bei mir einen Umdenkprozess ins Rollen. Ich bin jetzt gefordert und will mich gleich am Montag früh als Freiwilliger registrieren lassen. Wir haben doch alle in diesen Jahren gesagt bekommen, dass wir die Herrenrasse sind und dass nur wir in der Lage seien, die Welt zu regieren. Durch den innerlichen Zwist, den ich jetzt mit mir aushecke, werde ich wieder richtig wach und kann durch mein leicht geöffnetes Zimmerfenster unseren Wasserturm mit seiner Randbeleuchtung gut erkennen. Dieses imposante Bauwerk hat den verheerenden Fliegerangriff ohne Blessuren überstanden. Das ähnelt fast einem Wunder, denn alles andere um ihn herum ist zu Schutt und Asche gebombt. Dieser in den Trümmern stehende Koloss festigt in mir noch einmal den Entschluss, mich in Kürze als Freiwilliger zum Kriegsdienst zu melden. Mit weiteren positiven Gedanken bekräftige ich meinen gefassten Entschluss und versinke zum zweiten Mal in den Schlaf.

Aber auch die zweite Schlafphase dauert nicht so lange, und wieder kommt es durch die Kommandos des Condor-Piloten zum schreckhaften Erwachen. Jedes weitere Einschlafen wird in dieser Nacht mit einem schreckhaften Aufwachen beendet.

19. März 1944, Lagerlechfeld

Als der Tag sich bei mir durch die Sonne, die durchs Fenster scheint, bemerkbar macht, habe ich einen richtigen Brummschädel. Die gestrige Attacke war stärker, als ich mir selbst eingestehen will. Selbst mein Vater hat das erste Mal ein Einsehen mit mir, und so brauche ich an dem Sonntag nicht in das drei Kilometer entfernte Klosterlechfeld zu laufen, um dort als Ministrant die Heilige Messe mitzugestalten. Diesen Umstand nutze ich am Vormittag, um mein Fahrrad, das mir gestern die amerikanischen Bomber auseinandergeschossen haben, zu inspizieren. „Die Schweine“, sage ich laut zu mir, als ich den Schaden begutachte. Die Achse des Vorderrads wurde genau getroffen und so flogen alle Speichen aus der Felge und es war somit an Fahrradfahren in nächster Zeit nicht zu denken. „Aber lieber die Vorderradachse als ich.“ Dieser Gedanke erinnert mich noch einmal an mein unvorstellbares Glück, das mir gestern widerfahren ist. Gerne würde ich heute noch einmal meine Neugier befriedigen und erneut durch den zerbombten Ort ziehen, um mir alle Zerstörungen anzusehen. Doch das starke Kopfweh und die schmerzenden Beine bringen mich nach kurzer Zeit wieder in mein Bett zurück.

Ein Fliegerjournal vom Fliegerhorst durchstreife ich anschließend, um meine Gedanken ein wenig zu zerstreuen, als meine Mutter ins Zimmer kommt und mich in den Arm nimmt und fragt, ob ich nicht die ganze Geschichte von gestern noch einmal in Ruhe erzählen will. Sie hat natürlich als Mutter erkannt, dass ich den starken Jungen nur gespielt habe. Meine Sensibilität ist ihr bekannt und so nutzt sie den Zeitpunkt, als mein Vater in der Kirche ist, um mich aus einer unsichtbaren Fessel zu befreien. Es tut mir gut, als sie sich auf mein Bett setzt, meinen Kopf in ihren Schoß legt und diesen leicht streichelt. Im Geborgenen liegend lasse ich noch einmal jede einzelne Bombe um mich herum fallen und schildere noch einmal sehr emotional meine gestrigen Erlebnisse. Vom Verlassen meiner Lehrwerkstatt in Schwabmünchen über das Vorbeifahren an den FlaK-Batterien, die Diskussion mit Herrn Gulden und dann das Erkennen der ersten Bombeneinschläge westlich von Lagerlechfeld. Der Lauf zum schützenden Windfang, der aus großen Fichtenbäumen besteht, wird von mir schon erregter berichtet, und als die ersten Einschläge um mich herum die Erde aufwirbeln, schießen die Tränen nur noch so aus mir heraus. Im weiteren Verlauf meiner Schilderung tropfen mir die Tränen meiner Mutter auf die Stirn. Als ich nach geschätzten zehn Minuten mit meiner emotionalen Berichterstattung am Ende bin, spüre ich den Arm meiner Mutter stark um meinen Körper geschlungen. Ihr ist das Ganze sehr nahe gegangen und sie will mich gar nicht mehr loslassen, um mich nicht doch noch zu verlieren. Das Gespräch gibt mir wieder mehr Kraft, um das Vergangene besser verarbeiten zu können.

Das anschließende Mittagessen, bei dem mein Vater wieder zu Hause ist, verläuft wie all die anderen ganz normal. Nachdem meine Mutter am Sonntagnachmittag meine Hose und meine Jacke in mühevoller Arbeit wieder zusammengeschneidert hat, kann ich am morgigen Montag wieder in die Arbeit fahren.

20. März 1944, Schwabmüchen

Mein Vater leiht mir sein Rad, und so stehe ich am Montag früh um sechs Uhr dreißig wieder in der Schreinerwerkstatt Schrott in Schwabmünchen. Natürlich muss ich mir einige dumme Kommentare anhören, die sich auf meinen „Kopfschmuck“ beziehen. Da ich aber seit meinem Gespräch mit meiner Mutter wieder gefestigt bin, kann ich den Provokationen gut aus dem Weg gehen und mich wieder ganz normal meiner Arbeit widmen. Aber irgendwie ist es jetzt nicht mehr so, wie es einmal war. Der Flugplatz von Lagerlechfeld galt bei mir als völlig sicher, und so muss ich mich korrigieren und auch die Versprechungen, dass Deutschland nie angegriffen werden kann, sind jetzt nicht mehr zu halten. Die Zeitungen sprechen von einem heimtückischen Angriff auf den Heimatflughafen Lagerlechfeld. Auch im Radio wird der Angriff als feige und hinterlistig angesehen. Da uns als Hitlerjungen immer wieder eingetrichtert wurde, dass der Krieg die Heimatfront nie nie erreichen würde, stellen sich bei mir die ersten Fragen, ob die Einschätzung des Gruppenführers wohl noch richtig sei. Im Ortsbild von Schwabmünchen sehe ich zu dieser Zeit vermehrt Soldaten, die eine Gliedmaße verloren haben. Diese sitzen oft im Goldenen Engel, einer Gastwirtschaft mitten im Ort, in der ich täglich mein Mittagessen einnehme. Mein Vater zahlt einmal im Monat meine Zeche. Geführt wird das Gasthaus von der Resi und ihrer Schwester. Da der Mann von der Resi an der Ostfront kämpft, bleibt ihr nichts anderes übrig, als selbst das Haus zu führen. Mir schmeckt es dort immer gut und die halbe Bier dazu bringt mich dem „Erwachsenwerden“ auch ein Stück näher. Der Krieg zeigt ganz offen seine grausame Seite an den jungen Soldaten, die an den Fronten gekämpft haben und jetzt als Krüppel wieder in ihre Heimat zurückkommen. Junge Männer in den besten Jahren sind durch ihre Verletzungen gezwungen, auf vieles zu verzichten, und so zeigt sich das Leben von seiner grausamen Seite. Mein verzweifelter Kampf um mein Leben und der Anblick der jungen Soldaten mit ihren Verstümmelungen entfacht in mir eine Wut gegen unsere Feinde. Insgeheim beschließe ich wieder, mich nach meiner Lehre freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Diesen Gedanken muss ich aber noch für mich behalten. Denn weder meine Eltern noch mein Lehrherr wären begeistert, wenn ihr Sohn und Geselle an die Front ziehen würde.

4. Juli 1944, Harburg

Gerade in meiner neuen Findungsphase bekomme ich als Hitlerjunge eine Einladung, für vier Wochen in das Wehrertüchtigungslager nach Harburg zu gehen. Durch die Dominanz des Militärs muss mich mein Lehrherr freistellen. Zwei Wochen später fahre ich mit dem Zug und einem Koffer in der Hand nach Harburg. Am Bahnhof werden wir bereits von einem Feldwebel erwartet. Kurze Zeit später marschieren wir bereits durch Harburg zur hoch gelegenen Burg. Für mich ist es schon sehr beeindruckend, in welch geschichtsträchtigen Räumen wir uns da aufhalten dürfen. Selbst die Stallungen, die für uns umgebaut wurden, haben wunderbare Gewölbe aufzuweisen. In Stockbetten schlafen über einhundert Jungen in meinem Alter. Der Speiseraum ist im denkwürdigen Rittersaal untergebracht und so wird jedes Essen zu einem Erlebnis. Die schweren Eichentische, die Stühle mit den hohen Lehnen und das Geschirr mit dem Besteck sind sehr edel und wertvoll. Was aber das Ganze noch krönt, ist das Essen selbst. Wenn man aus einem Haushalt kommt, der nur durch rationiertes Einkaufen das Essen zubereiten kann, ist der tägliche Essensgang schon etwas Besonderes. Am nächsten Tag werden wir eingekleidet, bekommen einen großen Rucksack, in dem wir die ganzen Sachen verstauen und tags darauf geht es zum ersten Unterricht.

Rund einhundert 15- bis 16-Jährige sitzen auf ihren Stühlen im Schulungsraum, als die schwere Eichentür aufgeht und ein General der Reserve den Raum betritt. Mir wird es ganz schön warm, als ich den mit vielen Auszeichnungen behängten General so nah vor mir sehe. In Lagerlechfeld hatte ich schon mal Kontakt mit einem Hauptmann oder einem Oberst. Doch jetzt so einen berühmten Menschen vor mir zu haben, das beeindruckt mich schon sehr. Nach seiner Begrüßungsrede werden wir in vier Gruppen aufgeteilt und den Scharführern übergeben. Die Scharführer sind Offiziere, die an der Front verletzt wurden, und nach einem Lazarettaufenthalt noch einen Genesungsurlaub in der Heimat vor sich haben. Wir werden im Schießen, im Morsen, im Umgang mit dem Kompass und im Erkennen von Feindflugzeugen ausgebildet. Diese verdeckte Grundausbildung, die sich hinter dem Wehrertüchtigungslager versteckt, wird von uns jungen Burschen mit vollem Eifer und Ehrgeiz bestritten. Nimmt man das gute Essen noch dazu, so ist dies zumindest für mich meine intensivste Jugendzeit. Natürlich hat jeder Scharführer einiges von der Front zu erzählen. Jeder auf seine Art, aber alle mit dem Ziel, uns junge Burschen für das Kämpfen an der Front zu begeistern. Lange brauchen sie nicht, denn nach kurzer Zeit werden freiwillige Aufnahmescheine verteilt, die in kürzester Zeit von uns allen unterschrieben werden. Das Schöne daran ist, dass jeder die Möglichkeit hat, sich bei seiner Wunscheinheit zu verpflichten. Durch meine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend erhalte ich gelegentlich Zeitungen, in denen deutsche Eliteeinheiten vorgestellt werden. Schon vor Jahren liebäugelte ich mit der Panzerdivision Großdeutschland. So ist es für mich klar, dass ich mich den anderen anschließe und mich freiwillig melde. Ich kann meinen Jugendtraum erfüllen und zu einem späteren Zeitpunkt zu meiner Wunscheinheit einrücken. Das Gute daran ist, dass meine Eltern sehr weit von mir entfernt sind und von meiner kühnen Entscheidung nichts mitbekommen.

Das tägliche Kriegstraining wird von mir mit großer Begeisterung wahrgenommen, wie zum Beispiel das Schießen im Schießgarten, bei dem man mit einem Gewehr durch einen unübersichtlichen Parcours geschickt wird, und in dem schwierigen Gelände erheben sich blitzschnell bewegliche Ziele, die aus Pappsoldaten bestehen. Unsere Aufgabe liegt darin, diese Soldatenattrappen schnellstmöglich zu erkennen und sie sofort mit unserer Farbmarkierung zu treffen. Der einhundert Meter lange und sechzig Meter breite Parcours hat es in sich. Hat man einen übersehen, so wird man ebenfalls mit Farbe besprüht. Jeder Farbpunkt auf unserem Arbeitsanzug würde im Krieg für uns den Tod bedeuten. Die meisten von uns jugendlichen Kriegern haben mehr als zehn Markierungen erhalten. Mein Lauf durch den Kriegsschauplatz gelingt mir sehr gut. Mit nur drei Farbtupfern gehöre ich zu den Besten.

Dieses gute Abschneiden führe ich auf unsere Schießübungen in Lagerlechfeld zurück. Dort hatten wir Buben einen alten Karabiner gefunden, mit dem wir in den Schützengräben Richtung Graben mehrmals unsere Nachmittage verbrachten, um Schießübungen zu veranstalten. Da bei dem Gewehrfund noch eine volle Patronenkiste dabei war, hatten wir viele Möglichkeiten, auf Blechdosen, Flaschen oder Holzbretter zu zielen. Ob der Schrott Lenz, der Graf Schorsch, der Wagner Ernst oder ich geschossen haben, spielte keine Rolle, die Hauptsache lag in dem Neuen, das unserem Freizeitablauf einen neuen Kick gab.

Aufgrund der besonderen Vorbereitung kann ich in den Wäldern um Harburg eine gute Figur abgeben. Auch beim Laufen nach Kompass in der Nacht stelle ich mich geschickt an, und so erreichen wir als erste Gruppe das Ziel. Ich erkenne bei mir sehr schnell, dass ich mich in einer Gesellschaft sehr gut bewegen kann. Dieses Gefühl bestätigt mich noch mehr in meiner Entscheidung, als Freiwilliger in den Krieg zu ziehen. Zudem habe ich noch persönliche Gründe, gegen den Feind zu kämpfen. Mein persönliches Erlebnis bei dem schlimmen Fliegerangriff auf Lagerlechfeld hat mich noch nicht in Ruhe gelassen und so kämpfe ich nachts noch öfters meinen Kampf ums Überleben, wie mir meine Kameraden am darauffolgenden Morgen bestätigen. Diese Höllenqualen und diese Ausbildung erwecken immer mehr den Soldaten in mir, der unser deutsches Vaterland zu beschützen hat.

Als es nach vier Wochen wieder nach Hause gehen soll, habe ich trotz vieler körperlicher Anstrengungen über sechs Kilogramm zugenommen. Dies führe ich auf das wunderbare Essen zurück, das wir tagtäglich bekommen haben. Beim Abschlussappell, der wieder von dem General a.D. gehalten wird, entwickelt sich noch einmal bei uns Buben ein enormer Drang, Deutschland zu verteidigen. Die Durchhalteparolen, die jetzt im Sommer 1944 immer öfters im Volksempfänger zu hören und auf Plakaten zu lesen sind, rütteln bei uns die „Jetzt erst Recht!“-Mentalität wach. Ich sehe mich schon gedanklich in einem Panzer der Division Großdeutschland sitzen und kämpfe gegen die Eindringlinge an der Ostfront, die Russen. Die Soldaten der Sowjetunion werden uns als grausame Barbaren geschildert, die nur verbrannte Dörfer zurücklassen. Doch bevor ich meine Traumvorstellung verwirklichen kann, gibt es noch eine tolle Überraschung. Alle einhundert Buben bekommen von den Scharführern neue Uniformen. Wunderbare Kleidungsstücke zieren unsere jungen Körper, und jeder von uns strahlt nur noch. Diese überraschende Einkleidung wird nur an eine Bedingung geknüpft: Unser kompletter Zug wird mit mehreren Lastwagen nach Augsburg gefahren, wo eine riesige Demonstration stattfindet.

2. August 1944, Augsburg

Als wir am Stadttheater ankommen, trauen wir unseren Augen nicht. Die Prachtstraße vom Stadttheater bis zum Adolf-Hitler-Platz ist mit Tribünen bestückt, die von einer nicht endenden Menschenzahl besetzt ist. Auf einer Empore stehen Fanfarenbläser mit schneidigen Uniformen, die uns mit ihrer Art der Darbietung durch Mark und Bein gehen. Unser Zug vom Wehrertüchtigungslager Harburg steht an den Treppen des Kulturtempels, und wir erleben das erste Mal eine Veranstaltung der deutschen Wehrmacht hautnah mit. In unseren Gesichtern spiegelt sich die Zuversicht und Entschlossenheit, die vom Gauleiter der Augsburger NSDAP in seiner Rede von allen Anwesenden gefordert wird. Parallel zu seiner feurigen Rede fahren gepanzerte Fahrzeuge die Prachtstraße ab. Unter dem Beifall der geschätzten zwanzigtausend Menschen entwickelt sich eine nicht erwartete Euphorie, die den Schluss der Propagandarede mit minutenlangen „Heil Hitler“-Rufen skandieren. In der ganzen Zeit suchen SS-Soldaten in der Menge nach jungen Burschen, um sie zu rekrutieren. Meterlange Schlangen stehen an den offenen Mannschaftswagen der SS, um sich ebenfalls rekrutieren zu lassen. Nach der Veranstaltung müssen wir unsere Prachtuniformen wieder abgeben und so gehe ich in den alten Sachen schon etwas enttäuscht auf den Bahnhof von Augsburg, um mit der Lechfeldbahn meine Heimreise nach Lagerlechfeld anzutreten.

Bei der Fahrt bleibt mir natürlich nicht verborgen, dass in den Orten Inningen, Bobingen und Oberottmarshausen Gebäude durch Fliegerangriffe beschädigt worden sind. Als ich in Lagerlechfeld aussteige, fallen mir die vielen uniformierten Soldaten auf, die wohl den Bahnhof vor Zerstörung schützen. In Harburg wurden wir mehrmals belehrt, dass die Engländer verstärkt Einzelkämpfer einsetzen, um strategische Einrichtungen in die Luft zu sprengen. Der fünfminütige Nachhauseweg mit dem großen Rucksack auf meinem Rücken fällt mir sehr schwer, da ich jetzt schon über achtzehn Stunden auf den Beinen bin. Die Begrüßung meiner Familie ist sehr herzlich, denn in den vier Wochen durften wir keinen Kontakt mit unserem Zuhause pflegen. Meine Schwester, meine Mutter und mein Vater freuen sich so sehr, dass zum ersten Mal Tränen bei einer Begrüßung fließen. Das Drücken und in den Arm nehmen bringt auch meine Gefühle zum Schwanken. Mein Aufenthalt in Harburg im Rittersaal war sehr aufregend und spannend, aber jetzt zu Hause kommt wieder das Gefühl, das Heimat heißt, zum Vorschein, und das ist mit Abstand das Schönste, was ein Mensch empfinden kann.

Obwohl ich hundemüde bin, kann ich an dem Abend meinen Mund nicht halten und erzähle alle abenteuerlichen Geschichten, die ich in den Wäldern von Harburg erlebt habe. In der noch verbleibenden kurzen Nacht schlafe ich ohne Unterbrechung bis zum nächsten Tag um zehn Uhr. Das gemeinsame Frühstück am Sonntagmorgen verpasse ich, da mein Vater Messner in der Wallfahrtskirche Maria Hilf in Klosterlechfeld ist und deshalb bereits gegen sieben Uhr unser Haus verlässt. Meine Mutter sorgt sich schon ein bisschen um mich, da sie mich in den letzten Wochen nicht zu Gesicht bekommen hat. Spiegeleier, Schinken, frisches Brot, das sie wegen mir am Morgen gebacken hat, stehen auf dem mit einer schönen Tischdecke gedeckten Tisch bereit, als ich verschlafen in der Küche erscheine. Wir unterhalten uns sehr angeregt und in unserem Gespräch kann ich leicht ängstliche Untertöne meiner Mutter heraushören. Die Berichte, die täglich vom Volksempfänger gesendet werden, haben sich verändert. Wurden früher immer die Erfolge von Eroberungen euphorisch dargestellt, so kommen in der letzten Zeit eher Berichte von Niederlagen der tapfer kämpfenden deutschen Truppen. Auch das Ausrufen des totalen Krieges, das Goebbels dem deutschen Volk über den Volksempfänger in jede Stube bringt, verunsichert meine sensible Mutter zusehends. Sie bittet mich innigst, mich auf gar keinen Fall freiwillig zur Wehrmacht zu melden. Der Ausspruch ist nicht ganz unbegründet, da sich die Todesmeldungen von vielen jungen Menschen, die auf dem Lechfeld wohnen, immer mehr häufen. Die Bitte verbindet sie noch mit einer Umarmung und einigen Tränen, die langsam über ihre Wangen laufen. Da liege ich nun in den Armen meiner Mutter und fühle mich als der Retter der Deutschen und muss jetzt klein beigeben. In dieser Phase kann ich auf gar keinen Fall mein Geheimnis lüften, da meine Mutter wohl einen Nervenzusammenbruch erleiden würde. Nach dem Abwischen der Tränen auf ihren Wangen nimmt sie die Tageszeitung in die Hand und zeigt auf die vielen jungen Menschen, deren Bild vom gestrigen Aufmarsch in Augsburg groß zu sehen ist. Schnell versuche ich meine Mutter auf ein anderes Thema zu bringen, da ich natürlich auch auf dem Foto bin, das die erste Seite der Augsburger Allgemeinen mit einer übergroßen Aufnahme ziert.