Herzbube sucht Herzdame - Barbara Cartland - E-Book

Herzbube sucht Herzdame E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Ravella Shane ist das sehr junge und sehr hübsche Mündel des Herzogs von Melcombe und lebt in einer Schule auf dem Land. Der Lebensstil des reichen und attraktiven Herzogs ist nicht bei allen gut angesehen ist, da er die Feste, Frauen und Wettkämpfe liebt. Er wird der Herzbube genannt, da ihm alle Frauenherzen zu fliegen. Ravella erbt das Vermögen eines entfernten Verwandten und zieht deswegen viele Mitgiftjäger an, da ihr das Erbe entweder am 21. Geburtstag oder bei einer Heirat ausgezahlt wird. Um sie vor diesen jungen Männern zu schützen bringt der Herzog sie in sein Haus in London, und auch seine Schwester zieht zu ihm, so dass Ravella eine weibliche Gefährtin hat. Ravella wird in die Londoner Gesellschaft eingeführt und erwirbt sich durch ihre offene und ehrliche Art die Sympathien vieler. Seňorita Deleta, eine temperamentvolle Sängerin und eine Geliebte des Herzogs wird jedoch eifersüchtig und möchte Rache an Ravella nehmen, indem sie sie entführen lässt und sie an ein Freudenhaus verkauft. Kann Ravella aus ihrer gefährlichen Lage und den gewaltsamen Entführern entkommen? Wird der Herzog ihr zu Hilfe kommen? Und kann sie den Herzog aus anderen misslichen Lagen retten? Wird der Herzbube seine Herzdame finden und sich ihrer würdig erweisen?

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DE HAUPTPERSONEN DIESES ROMANS

Ravella Shane

ein sanftes, schüchternes Mädchen, dessen Reichtum alle Schürzenjäger Londons anlockt.

Herzog von Melcombe

für seine amourösen Abenteuer stadtbekannt, gerät unversehens in eine äußerst pikante Lage, als zwei schöne Frauen um seine Gunst kämpfen.

Seňorita Deleta

eine temperamentvolle Sängerin, scheut auch vor Gewalt nicht zurück, wenn es darum geht, eine unliebsame Rivalin zu vertreiben.

Die Autorin über diesen Roman

Nur mit Zögern habe ich in diesem Roman Zigeuner ins Spiel gebracht. Denn selten ist ein Volk über Jahrhunderte hinweg so in Verruf geraten, verfolgt und vertrieben worden. Und ich möchte weder Vorurteilen Vorschub leisten noch etwas verherrlichen.

Wer kennt nicht die gegensätzlichen Meinungen, wenn das Wort ‚Zigeuner‘ fällt. Die einen sehen die malerischen Gestalten in der Literatur, Oper und Operette. Manche erinnern sich, im Spanien-Urlaub ihren wehmütigen Liedern gelauscht und die feurige Tänzerin beim Flamenco bewundert zu haben. Und spüren noch den Hauch von Freiheit und Abenteuer. Während andere wiederum das Bild von Gaunern, Gauklern und Dieben zeichnen.

Aber kommt all das der Wahrheit über diese Menschen wirklich nahe?

Erstes Kapitel

Der Herzog von Melcombe nahm seine Karten auf. Aber noch ehe er einen Blick in das Blatt werfen konnte, präsentierte ihm ein Lakai einen Brief auf einem silbernen Tablett.

Dazu flüsterte er: „Sehr dringlich, Euer Gnaden.“

Der Herzog schüttelte ungeduldig abwehrend den Kopf, er kannte die Handschrift auf dem Umschlag und sagte: „Ich bin nicht im Klub.“

„Aber Euer Gnaden . . .“

Der Herzog betrachtete seine Karten. „Du hast gehört, was ich gesagt habe.“

Der Tonfall genügte, um den Diener gehorsamst erstarren zu lassen.

„Zu Befehl, Euer Gnaden.“

Lord Brora, ein auffallender Dandy in mittleren Jahren, hatte den Kartenspielern zugeschaut und ging nun ans Fenster.

„Lieber Himmel, Melcombe, diese wundervollen Braunen dort unten vor dem Wagen! Ihre neue Freundin muss ja eine wahre Zauberin sein, wenn sie Ihnen ein Paar Vollblüter abgeschmeichelt hat, die gut und gern einen Tausender wert sind.“

„Sie irren sich, Brora, ich habe weder für mich noch für irgend jemand sonst Braune angeschafft.“

Lord Brora betrachtete nun durch sein von Juwelen umrandetes Lorgnon, wie der Lakai den Brief zurückbrachte. Er erkannte auch das Wappen am Wagenschlag und die Livreen des Kutschers und der Diener.

Der Wagen gehörte keiner neuen Freundin, und der Herzog hatte nicht gelogen, als er die Anschaffung der Braunen verneinte. Für eine Dame der ersten Kreise war es jedoch ein unglaublicher Verstoß, in einem Herrenklub zu erscheinen.

Tief schockiert sah Lord Brora den Wagen die St. James Street hinunterfahren und wandte sich dann wieder dem Herzog zu, der gleichgültig seine Karten betrachtete. Er hatte etwas an sich, das alle Frauen, die tugendhaften wie die weniger tugendhaften, zu gewagten oder sehr törichten Handlungen veranlasste.

Bis zum Abend würde das ganze elegante London über den kühnen Schritt einer reizenden, aber sehr unbedachten Schönheit im Bilde sein. Es handelte sich um eine entfernte Verwandte Broras. Er hatte sie vor Melcombe gewarnt. Vergebens! Wie viele andere Frauen vor ihr hatte sie sich Hals über Kopf in einen Mann verliebt, der einen denkbar schlechten Ruf hatte.

Jeder andere wäre aus der Gesellschaft ausgestoßen worden, aber Melcombes Persönlichkeit war so stark, dass man seine ständigen Skandale hinnahm. Freilich hatten ihm einige Gastgeberinnen ihr Haus verschlossen, und Mütter schützten ihre Töchter, Ehemänner ihre jungen Frauen vor ihm. Wahrscheinlich verdankte der Herzog seine Erfolge bei Frauen weniger seinem Reichtum und seiner blendenden Erscheinung als seinem Zynismus und seiner Arroganz. Sie bildeten eine Herausforderung, der keine Frau widerstand.

Jetzt warf der Partner des Herzogs wütend die Karten auf den Tisch. Er hatte verloren. In diesem Augenblick erschien ein neuer Besucher in der Tür, zögerte, als er den Herzog sah, ging dann aber schnell zu einem Stuhl am Fenster und kehrte den anderen den Rücken zu.

Der Herzog stand auf und sagte zu Brora und zwei anderen Herren, die das Spiel beobachtet hatten: „Haben Sie schon das Neueste erfahren? Die Bestimmungen aus Wroxhams Testament?“

Er hatte dabei die Stimme nicht erhoben, aber der Mann, der ihnen den Rücken zukehrte, verstand jedes Wort.

„Was hat der Geizhals hinterlassen?“ fragte Lord Brora. „Doch wohl ein hübsches Sümmchen?“

„Allerdings, gegen 250 000. Ich bin sein Testamentsvollstrecker.“

„Der Witz ist zu gut, als dass ich ihn glauben könnte, Melcombe“, sagte Lord Brora. „Wroxhams Geld in Ihrer Hand? Der alte Knabe war doch so frömmlerisch, dass er seine Lippen nicht einmal mit Ihrem Namen besudelt hätte.“

„Ja, und darum finde ich es außerordentlich komisch, dass sein Vermögen so lange in meiner Obhut bleibt, bis seine Nichte, die mein Mündel ist, volljährig wird.“

„Großer Gott, ich verstehe überhaupt nichts mehr!“ rief Lord Brora, während der Herzog schon zur Tür schritt. Dort wandte er sich noch einmal zurück.

„Was ich sagte, stimmt, aber wenn Sie mehr erfahren wollen, wenden Sie sich am besten an einen engen Verwandten des Verstorbenen, an den neuen Grafen.“

Dabei fasste er den Mann ins Auge, der der Gruppe den Rücken zugewendet hatte, und verließ den Raum.

„Ich sah Sie hereinkommen, Alister“, sagte Lord Brora zum Grafen. „Erklären Sie uns doch bitte, was los ist.“

Der Angeredete sprang wütend auf. „Verdammt! Möge er in der Hölle braten!“ rief er hinter dem Herzog her.

„Er hat hier alles ausposaunt, um mich zu provozieren. Das sieht diesem Teufel ähnlich.“

„Halt, halt, Alister, setzen Sie sich und erzählen Sie!“

Aber der neue Graf von Wroxham hörte nicht darauf und fluchte weiter. „Verdammt soll er sein, dieser Bube!“

Lord Brora seufzte und nahm am Tisch die Karten auf, die Melcombe hingeworfen hatte.

„Ein Bube ist er vielleicht, Alister, aber niemand wird leugnen, dass er der Herzbube ist.“

*

In Melcombe-Haus wartete Lady Elinor Renhold auf ihren Bruder.

„Ach, Sebastian, ich musste einfach kommen“, sagte sie mit einem Zittern in der Stimme. „Du weißt wohl, warum. Ich habe George nicht erzählt, dass ich dich aufsuchen wollte. Er hätte es mir verboten.“

Lady Elinor war früher einmal eine blasse, aristokratische Schönheit gewesen, aber nun sah sie nur noch müde und traurig aus.

„Du wirst dich wohl erinnern, Sebastian, dass ich Amy Shane sehr lieb gehabt habe“, fing sie an.

„Ja, und?“

„Ich komme ihrer Tochter wegen zu dir. Ich hörte erst heute Morgen, dass Wroxham dem Mädchen sein Geld vererbt hat und dass du der Vormund bist. Wie ist es dazu gekommen?“

„Amys Tochter, Ravella, ist schon seit sechs Monaten mein Mündel, genauer gesagt, seit Patrick Shanes Tod.“

„Ich hatte keine Ahnung, dass ihr Vater gestorben ist. Und wo ist das Mädchen?“

„Auf einer Schule, die Hawthom, mein Rechtsberater, ausgesucht hat.“

„Aber die ganze Angelegenheit ist doch lächerlich, Sebastian. Wie kannst du der Vormund eines unschuldigen Mädchens sein?“

„Ich habe gewusst, dass das Wort ,unschuldig’ früher oder später in unserem Gespräch auftauchen würde", sagte der Herzog ironisch. „Ich versichere dir, meine liebe Elinor, dass ich die Sache nicht arrangiert habe, aber nun will ich deine Neugierde befriedigen."

Er berichtete seiner aufmerksam lauschenden Schwester von einem verrückten Spaß, den sich einige Herren vor zehn Jahren in Weinlaune geleistet hatten. Jeder machte damals sein Testament, und Patrick Shane ernannte in diesem Zusammenhang den jungen Melcombe zum Vormund seiner kleinen Tochter. Dieses Testament war noch gültig.

„Aber was hat der gerade verstorbene Wroxham damit zu tun?" wollte Lady Elinor wissen.

Melcombe erklärte ihr, dass Wroxham als Onkel von Amy Shane seiner Nichte Ravella sein ganzes Vermögen vermacht und auf diese Weise seinen ungeliebten Sohn Alister enterbt hatte. Die Familie Shane war wenig vermögend gewesen.

„Jetzt muss etwas geschehen, Sebastian", sagte Lady Elinor. „Ich schlage vor, dass du mir Ravella übergibst. George ist damit einverstanden."

„Dein Mann? Wir wollen uns nichts vormachen, Elinor. Er wird dir äußerst krass vor Augen geführt haben, wie ungeeignet ich als Vormund eines jungen und natürlich unschuldigen Mädchens bin. Ich frage mich nur, ob George auch vor einer Woche so besorgt um Ravella gewesen wäre. Jetzt weiß er nämlich, dass hinter dem Mädchen ein bedeutendes Vermögen steht, und er ist und bleibt nun einmal ein Pfennigfuchser."

Lady Elinor merkte, dass jeder weitere Versuch vergeblich war. Der Herzog wollte sich von seinem Schwager nichts vorschreiben lassen. Er stand auf und zog an einer Klingelschnur.

„Verzeihung, Elinor, aber dieses Gespräch führt uns nicht weiter. Ich verspreche dir nur, dass ich deinen gutgemeinten Vorschlag nochmals überdenken will.“

Zum herbeigerufenen Diener gewandt, sagte er: „Den Wagen für die gnädige Frau! Schick einen Boten zu Mr. Hawthorns Büro. Er möchte sofort herkommen. Auch möchte ich mit Captain Carlyon sprechen. Falls sich Sir Renhold meldet, bin ich nicht zu Hause.“

„Sehr wohl, Euer Gnaden.“

Der Herzog traf Captain Hugh Carlyon in der Bibliothek. Dieser Vetter zweiten Grades war sein Sekretär und Bibliothekar. Vor der Schlacht von Waterloo war Hugh Carlyon ein gutaussehender junger Mann gewesen, jetzt war er grausam entstellt. Er hatte einen Arm und ein Auge verloren, und die Hälfte seines Gesichts war von tiefen Narben durchzogen. Er hielt sich in Melcombe-Haus verborgen und mied jeden Umgang mit anderen Menschen.

„Du hast nach mir gefragt, Sebastian?“ sagte er.

„Ja, und zwar handelt es sich um Ravella Shane.“

„Das habe ich mir gedacht, denn ganz London wird bald über den Fall reden.“

„Es ist schon so weit. Elinor war hier. George und Elinor wollen das Mädchen bei sich aufnehmen und anständig erziehen.“

Hugh Carlyon fand das vorzüglich, aber sein Vetter war anderer Meinung.

„Ich denke nicht daran, George Renholds Geldgier Vorschub zu leisten. Sein Interesse für mein Mündel ist reine Heuchelei.“

„Gut, aber hast du einen anderen Vorschlag?“

„Ich werde mir noch etwas einfallen lassen.“

Nach einem Augenblick der Stille sagte der Captain: „Die Marquise von Ivel ist am Nachmittag vorbeigekommen. Sie hatte einen Brief für dich, wollte ihn aber nicht hierlassen.“

„Sie hat den Brief im White's Klub abgeben lassen“, sagte der Herzog.

„Im Klub? Sie selbst? Sie muss verrückt sein!“ rief Hugh.

„Nein, das ist sie nicht, nur aufdringlich, und darum geht sie mir auf die Nerven.“

„Du bist also fertig mit ihr, Sebastian? Die arme Frau, es wird ihr weh tun. Ich erinnere mich an ihr erstes Auftreten in der Londoner Gesellschaft. Sie war sehr schön.“

„Das sind viele Frauen, aber es ist erstaunlich, wie man sogar einer vollkommenen Schönheit gegenüber gleichgültig wird.“

„Sebastian, wann wirst du aufhören, so zynisch zu sein? Alles langweilt dich. Dabei liegt dir die Welt zu Füßen. Du hast einen hohen Rang, bist der Besitzer von Lynke, dem schönsten Landgut Englands. Dennoch genießt du dein Leben überhaupt nicht. Die Frauen lieben dich, aber ich denke oft, du hasst sie.“

Der Herzog zog seine Schnupftabakdose aus der Tasche und besah sie von allen Seiten. „Manchmal bist du wirklich scharfsichtig, Hugh.“

„Du hasst sie also? Ist das dein Geheimnis? Hast du deshalb manchmal eine diabolische Freude daran, die zu kränken, die dich lieben?“

„Nenn es doch nicht Liebe!“ Der Herzog lachte bitter. „Was Frauen mir geben und von mir erwarten, ist nicht Liebe, sondern nur Begierde, Fleischeslust. Das ist die Wahrheit, die sich bei Frauen oft hinter schönen Lügen versteckt.“

Das Gespräch der Vettern wurde durch die Ankunft des Rechtsberaters unterbrochen. Mr. Hawthorn war ein älterer Mann, der erkünstelte Heiterkeit an den Tag legte und sich im Übrigen äußerst servil benahm.

„Guten Tag, Mr. Hawthorn. Ich brauche Ihren Rat“, sagte der Herzog. „Es betrifft Miss Ravella Shane.“

„Für diese vom Glück gesegnete junge Dame haben sich heute schon verschiedene Personen interessiert, Euer Gnaden.“

„Wer?“

„Sir George Renhold fragte heute Nachmittag an.“

„Habgier!“

„Vor einer halben Stunde kam Lord Brora in Begleitung eines anderen Herrn vorbei. “

„Neugier!“

„Gerade als ich fortgehen wollte, traf der junge Graf Wroxham ein und fragte mich nach einigen persönlichen Umständen betreffs Miss Shane.“

„Welche?“

„Das Alter der Dame.“

„Falls sich Seine Lordschaft dafür interessiert: es wird noch viel Zeit verstreichen, bis sie 21 ist und über ihr Vermögen verfügen kann.“

„Haben Euer Gnaden vergessen, dass Miss Shane sofort über ihr Vermögen verfügen kann, wenn sie heiratet?“

„Das hatte ich nicht bedacht. Sie ist doch noch ein Kind.“

„Miss Shane ist vor zwei Wochen 17 geworden.“

„Ach so. Was wollte Lord Wroxham noch wissen?“

„Auf welcher Schule Miss Shane ist. Ich nannte Miss Primington’s Akademie für junge Damen in Mildew.“

Der Herzog horchte auf. „Wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, liegt dieser Ort in der Nähe meines Landsitzes Lynke.“

Er sprang auf und zog die Klingelschnur.

„Was hast du vor?“ fragte Hugh, der dem Gespräch gefolgt war.

„Ich bestelle meinen Wagen. Heute Abend werde ich in Lynke schlafen und morgen mache ich mich vielleicht mit Miss Ravella Shane bekannt.“

Der Herzog hatte sich länger als erwartet in Lynke aufgehalten, und nun blieb sein Wagen auf dem Weg nach Mildew auch noch stecken. Auf der verschlammten Straße hatte das Leitpferd ein Hufeisen verloren. Melcombe stieg aus und befahl, den Schaden an Ort und Stelle zu beheben und das Leitpferd gegen eines der Begleitpferde auszutauschen.

Unterdes sah sich der Herzog um. Aus dem flachen Land erhob sich ein einziger alter, früher einmal vom Blitz getroffener Baum. Als er darauf zuging, redete ihn ein zerlumpter, etwa zwölfjähriger Junge an.

„Hallo, Herr! Sind Sie nicht der Mann, der eine Botschaft von einer Dame erwartet? Sie hat mir gesagt, dass ich Sie hier beim Baum treffen soll und Sie mir dafür etwas in die Hand drücken würden.“

Damit reichte er dem Herzog ein zerknittertes Stückchen Papier. Dann drängte er zur Eile. Er müsse zurück zur Schule, Miss Ravella warte.

Sofort glättete der Herzog den Zettel und las: „Ich werde um neun Uhr am Birnbaum sein.“

„Wo ist dieser Birnbaum, Junge?“

„An der Südmauer des Schulhofs. Junge Damen klettern an ihm rauf und runter.“

Der Herzog faltete das Papier ruhig wieder zusammen und gab es mit der Frage zurück: „Willst du ein Goldstück verdienen?“

Der Junge nickte begeistert.

„Dann hör gut zu. Du hast mich nie gesehen. Stattdessen wartest du hier und gibst den Zettel dem Herrn, für den er bestimmt ist. Verstanden?“

Dabei warf er ein Goldstück in die Luft, das der Junge auffing. Es biss sofort hinein, um zu sehen, ob es echt war.

Um die Zeit bis neun Uhr hinzubringen, fuhr der Herzog zu einer ländlichen Gaststätte. Dort bestellte er ein Abendessen mit Wein und ließ es sich schmecken. Kurz nach neun Uhr brach er auf.

Draußen war es bei aufgehendem Mond und klarem Sternenhimmel nicht allzu dunkel. Der Wagen gelangte schnell zu der Stelle, die der Junge bezeichnet und wohin der Herzog einen Diener zur Beobachtung geschickt hatte. Der trat an den Wagenschlag und berichtete.

„Kurz vor neun hielt hier ein Herr mit seinem Wagen. Die junge Dame wartete oben im Baum auf ihn. Sie sprachen kurz miteinander. Dann ließ sie sich herabgleiten und stieg ein. Sie fuhren nach Norden. “

„Hast du die Wagenachse geprüft?"

„Ja. Wie Euer Gnaden befahlen, hat man sie heimlich angesägt. Mit seinen drei ziemlich schlappen Gäulen kann der Wagen nicht weit gekommen sein."

Die Verfolgung dauerte knapp eine halbe Stunde, dann sah der Herzog, was er erwartet hatte. Am Straßenrand war ein Wagen im Graben gelandet und stand gefährlich schräg. Die Reitknechte zerrten an den Zügeln der scheuenden Pferde.

„Können wir Ihnen helfen?" rief der Kutscher des Herzogs.

Ein dunkelhaariger Mann steckte seinen Kopf zum Wagenfenster heraus. „Natürlich! Los, Sie Dummkopf!"

Gemächlich stieg der Herzog aus, während der Sprecher mit Mühe die Tür des verunglückten Wagens öffnete und herauskam. Dann stand er wie vom Donner gerührt.

„Mein lieber Wroxham!" rief der Herzog liebenswürdig. „Welches Pech! Wie gut, dass ich Ihnen zufällig helfen kann."

„Treffe ich Sie denn überall, Melcombe? Was in Teufels Namen tun Sie hier?"

„Dasselbe könnte ich Sie fragen, mein lieber Junge. Die Landstraßen sind für jeden da. Ich finde Ihre Antwort auf mein Hilfsangebot recht grob.“

„Danke, aber ich brauche Ihre Hilfe nicht. Einer meiner Reitknechte wird mir einen anderen Wagen besorgen. Bitte, machen Sie sich keine Umstände und setzen Sie Ihre Reise fort."

„Aber das braucht doch alles Zeit! Steigen Sie in meinen Wagen ein. Er ist groß, und ich bin allein.“

„Ich brauche Ihre Hilfe wirklich nicht“, wiederholte Wroxham ärgerlich. „Fahren Sie bitte weiter!“

In diesem Augenblick erschien ein Gesicht hinter dem Wagenfenster, und eine Stimme rief: „Bitte, bitte, helfen Sie mir!“

Der Wagenschlag wurde geöffnet, und eine junge Dame sprang leichtfüßig auf die Straße.

„Mein Kleid hatte sich eingeklemmt“, sagte sie. „Ich konnte nicht raus. Drinnen hörte ich, wie Sie einen Platz in Ihrem Wagen angeboten haben. Bitte, nehmen Sie mich mit!“

„Mein Wagen steht zu Ihrer Verfügung, Madam. Wohin möchten Sie gebracht werden?“

„Nein!“ Ford Wroxham hielt die Dame am Arm fest. „Sie kommen mit mir. Auf die Gastfreundschaft dieses Herrn sind wir nicht angewiesen.“

Sie schüttelte ihn ab und streckte dem Herzog bittend beide Hände entgegen. „Nehmen Sie mich mit, Sir!“

Das war ein Hilferuf, den er sofort verstand.

„Sie haben die Dame erschreckt, Wroxham“, sagte er tadelnd. „Können Sie mir eine Erklärung dafür geben? Sie schweigen? Dann sind Sie vielleicht so freundlich, mich meinem Mündel vorzustellen.“

„Ihr Mündel!“ rief die Dame. „Sind Sie der Herzog von Melcombe?“

„Zu Ihren Diensten, Miss Shane.“

„Sie sind mein Vormund. Gott sei Dank. Nehmen Sie mich bitte sofort mit.“

Sie drängte sich beinahe an ihn, und Wroxham ging fluchend weg. Im Dunklen konnte der Herzog nur sehen, dass Miss Shane klein war und einen schlichten Schutenhut trug. Ihre Stimme war hell und sanft.

„Haben Sie kein Gepäck?“ fragte er.

„Nur ein Bündel.“

Ein Diener holte es, und der Herzog setzte sich neben sie in den Wagen. Der Kutscher nahm den Weg nach Lynke.

„Da ich tatsächlich Ihr Vormund bin, sind Sie vielleicht so gütig, mir eine Erklärung zu geben“, fing der Herzog an. „Was hatten Sie im Wagen von Lord Wroxham zu suchen?“

„Ich war auf dem Weg zu Ihnen“, sagte Ravella. „Lord Wroxham erklärte mir, dass er mein Vetter sei und mich zu Ihnen nach London bringen wolle. Als wir später im Wagen saßen . . .“

Da der Herzog auf seiner Frage beharrte, schlug sie die Hände vors Gesicht und bekämpfte ihre aufsteigenden Tränen.

„Ich glaube, er ist verrückt. Er wollte mich heiraten.“

„Sie hatten ihm geglaubt, dass er Sie zu mir nach London bringen wollte?“

„Natürlich. Ich wollte ihm nur zu gern glauben, denn ich dachte, ich käme sonst nie aus dieser entsetzlichen Schule weg. Davon hatte ich Ihnen in mehreren Briefen geschrieben.“

Jetzt erinnerte sich der Herzog daran, dass er Hawthorn verboten hatte, ihn mit Miss Shanes Angelegenheiten zu belästigen.

„Ich fühlte mich wie im Gefängnis“, fuhr Ravella fort. „Früher, bei meinem Vater, war ich so frei gewesen. Ich hasste sie alle, die Lehrerinnen und die ständig dumm kichernden jungen Mädchen.“

„Hawthorn war wohl nicht sehr klug bei seiner Auswahl gewesen“, gab der Herzog zu. „Jetzt ist die Lage anders, wie Sie wohl schon gehört haben.“

Das war nicht der Fall. Vermutlich würde Hawthorns Brief erst morgen in Miss Primingtons Akademie für junge Damen ankommen.

„Hat Ihnen Wroxham nicht sein plötzliches Interesse für Sie erklärt?“ forschte der Herzog weiter.

„Nein. Er sagte nur, dass er mich auf jeden Fall heiraten wollte. Dann küsste er mich.“

Das klang so angewidert, dass der Herzog lächeln musste.

„Sie mögen nicht, dass man Sie küsst.“

„Ich fand es grässlich. Mir wurde ganz übel. Er ist ein Tier. Wäre ich ein Mann, dann hätte ich ihn umgebracht.“

Nach diesem leidenschaftlichen Protest tastete Ravella im dunklen Wagen nach der Hand des Herzogs und flüsterte: „Es waren nicht nur seine Küsse! Was er mir sagte . . . und dann seine Hände! Er war sehr kräftig, und ich hatte solche Angst.“

„Waren Sie froh, als ich auftauchte?“

„Das ist gar kein Wort dafür. Ich hatte Sie mir so oft vorgestellt, hatte gewusst, dass Sie gut zu mir sein würden. Nun kamen Sie gerade, als ich Sie am dringendsten brauchte. Dafür werde ich Ihnen immer danken und brauche mich jetzt nie mehr zu fürchten.“

Der Herzog ging nicht weiter darauf ein. „Abgesehen von meiner Vormundschaft muss ich Ihnen den Wechsel erklären. Sie sind eine Erbin. Ihr Onkel, der Vater des jungen Lord Wroxham, hat Ihnen sein Vermögen hinterlassen.“

„Soll das ein Scherz sein?“ ’

„Gewiss nicht.“

„Aber warum?“

„Er wollte nicht, dass sein Sohn Alister erbte.“

„Aber die Wroxhams haben nie etwas von uns wissen wollen. Sie verargten meiner Mutter die Heirat mit einem Mann, der nicht reich war und keinen hohen Titel besaß. Ich will das Geld nicht, das uns vorenthalten wurde, als wir es am dringendsten brauchten.“

Der Herzog traute seinen Ohren nicht, sagte aber milde: „So ehrenwert Ihre Absicht ist, kann ich Ihnen als Vormund die Verfügung über Ihr Geld erst gestatten, wenn Sie 21 sind oder heiraten wollen.“

Ravella dachte nach. „Deshalb hat Lord Wroxham . . .“

„Genau. Und andere werden es auch versuchen.“

„Bitte, bitte, erlauben Sie, dass ich bei Ihnen bleibe“, flehte Ravella. „Ich habe so oft an Sie gedacht und habe doch sonst niemanden auf der Welt. Warum sollte ich nun als Erbin neue Bekanntschaften suchen, da ich Sie habe, der sich um mich kümmert.“

Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben verschlug es dem Herzog die Sprache. Sie näherten sich Lynke. Er erklärte ihr, dass es sich um sein Gut in Hertfordshire handele. Vor Ravellas erstauntem Blick lag im Mondschein ein riesiges, prächtiges Gebäude.

Diener eilten herbei. Der Herzog und Ravella stiegen aus und betraten gemeinsam die berühmte, prunkvoll ausgestattete Halle von Lynke. Im Schimmer der Kerzen sah der Herzog, wie klein und zierlich sein Mündel war, wie groß ihre blauen Augen waren und wie goldblond sich die Locken ringelten. Als sie lachte, zeigten sich zwei Grübchen.

Auch Ravella sah sich den Herzog an und rief entzückt: „Oh, Sie sehen genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte.“

Zweites Kapitel

In Melcombe-Haus hatte der Herzog zum Souper eingeladen. Dreißig Gäste saßen auf vergoldeten Stühlen an der Tafel. Hinter jedem Gast wartete ein livrierter Lakai auf. Schmeichelnde Tischmusik, eine Überfülle an Blumen, kostbares Geschirr und zahllose Kerzen in Kristall-Lüstern erhöhten die festliche Stimmung.

Die männlichen Gäste trugen große Namen; allerdings stand der eine oder andere unter ihnen nicht im besten Ruf. Die weiblichen Gäste zeichneten sich nicht durch Herkunft, sondern durch Charme aus. Die meisten waren Tänzerinnen von der Oper.

An der Schmalseite der Tafel saß der Herzog, und Lotti rechts von ihm. Sie war Solistin im Ballett. Der Herzog war vor zwei Jahren einige Monate lang ihr Gönner gewesen. Das hatte genügt, um ihr bei den männlichen Opernbesuchern großes Ansehen zu verleihen. Als der Herzog sie verließ, hatte sie andere Gönner gefunden, aber sie konnte ihn trotzdem nicht vergessen. Sie hätte alles darum gegeben, ihn wieder zu erobern.

Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er Liebesbeteuerungen hasste. Deshalb hatte sie sich an diesem Abend vorgenommen, sich zu verstellen und Gleichgültigkeit an den Tag zu legen.

Eine Rivalin saß ihr gegenüber an der anderen Seite des Herzogs. Oriel war ein Neuling an der Oper. Sie war klein, so zierlich wie ein Vögelchen und verstand sich noch nicht auf die erotische Herausforderung, die für die meisten Tänzerinnen charakteristisch war.

Mehrere Herren der Gesellschaft hatten Oriel schon umworben, aber sie hatte noch keinen erhört. Lotti wusste genau, dass der Herzog nur den kleinen Finger zu rühren brauchte, damit Oriel ihm verfiel. Sie versuchte, den Herzog durch witzige Unterhaltung zu fesseln, merkte aber, dass sein Blick auf Oriels blendend weißen Schultern ruhte.

An diesem Tafelende ging es gesittet zu, am anderen sehr viel weniger. Der Wein tat schon seine Wirkung. Die Stimmen wurden schrill, das Lachen wurde lauter. Obgleich Lotti wenig getrunken hatte, fühlte sie sich zunehmend freier.

Sie wandte sich dem Herzog zu und sagte leise: „Sie haben sich überhaupt nicht verändert.“

„Nein?“

„Sie sehen noch immer wie ein Gott aus, den die Anbetung der Gläubigen langweilt. Nach wie vor betrachten Sie das Leben aus der Proszeniumsloge. Denken Sie manchmal an mich?“

„Meine liebe Lotti, was für eine Frage? Wären Sie sonst heute Abend hier?“

„Ich meine es anders. Ich bin älter geworden und habe in diesen beiden Jahren viel hinzugelernt. Darf ich Ihnen verraten, dass ich mich jetzt für reizvoller halte als damals, als ich Sie kennenlernte?“

„Daran zweifle ich nicht, Lotti.“

„Also dann . . .?“

Atemlos wartete sie auf seine Antwort, denn was sie mit ihrer kurzen Frage gemeint hatte, konnte er von ihrem Gesicht ablesen.

Sie wurden jedoch durch Lärm und Gelächter am anderen Ende der Tafel unterbrochen. Lord Rupert Davenport hob die Dame neben sich hoch und ließ sie auf den Tisch steigen. Er hatte mit einem anderen Herrn gewettet, dass seine Tischdame imstande sei, auf einem umgekehrten Weinglas zu tanzen.