Herzverwandt - Jennifer Hauff - E-Book

Herzverwandt E-Book

Jennifer Hauff

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Beschreibung

Charlie ist erst 17 Jahre alt, als sie erfährt, dass die Sprünge, die ihr Herz in Flinns Gegenwart macht, alles andere als normal sind: Das Mädchen leidet an einer tödlichen Krankheit und braucht ein Spenderorgan. Für Charlie beginnen mit dieser Diagnose schmerzhafte Monate, in denen vor allem ihre Schwester Miriam und ihr Freund Flinn an ihrem Krankenbett wachen. Doch irgendein Geheimnis umgibt Flinn, das spürt Charlie. Sind sie und ihr Traumjunge vielleicht doch nicht nur seelen-, sondern auch herzverwandt? Jennifer und Jessica Hauff erzählen glaubhaft und voller Wärme die Geschichte eines Mädchens, das sich schon früh mit dem Tod auseinandersetzen muss. Dabei hat ihr tragisch-romantisches Debüt Nebenwirkungen: Es gibt den Glauben an die Kraft der Liebe und an die engen Bande zwischen Geschwistern zurück.

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Seitenzahl: 303

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Jennifer & Jessica Hauff

Herzverwandt

Roman

INHALT

Liebe Leserin, lieber Leser,

wir hoffen, dass du dich genauso in unsere Geschichte verliebst, wie wir es getan haben.

Viel Spaß beim Lesen.

Jenny & Jessy

Prolog

So schnell ich konnte, rannte ich die verlassene Straße entlang. Das Kratzen in meinem Hals erschwerte mir das Atmen, doch ich versuchte, nicht darauf zu achten. Der Wunsch, so schnell wie möglich meine beste Freundin zu sehen, trieb mich voran. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass ich schon bald zu weit weg wohnen würde, um sie zu Fuß zu besuchen.

Als ich um die nächste Ecke bog, erkannte ich am Ende des kurzen Schotterwegs Karins Zuhause. Den Anblick dieses lauschigen Fachwerkhäuschens würde ich vermissen. Alles hier würde ich vermissen.

Die Rollläden im engen Dachgeschoss waren geschlossen, sie schlief also noch. Nachdem mich ihr kleiner Bruder gähnend an der Tür empfangen hatte, stapfte ich keuchend die Holzleiter zu ihrem Zimmer hinauf. Ich nahm mir die oberste Zeitschrift von einem Stapel auf dem Schreibtisch nahe der Falltür und ließ mich an ihr Bett gelehnt auf den Fußboden sinken. Ich zog die Nase hoch und steckte mir ein Hustenbonbon aus meiner Hosentasche in den Mund. Wie sehr ich es hasste, erkältet zu sein!

Es dauerte nicht lange, bis eine genervt klingende Stimme aus dem Bett die Stille durchbrach: »Warum schniefst du? Ich meine, ich weiß ja von der Sache mit deinen Eltern. Aber dass es so schlimm ist …«

»Liebe Karin«, begann ich vorwurfsvoll und legte die Zeitschrift weg, »dürfte ich mir die Bemerkung erlauben, dass ich gerade wie eine Geisteskranke durch den Ort gesprintet bin, nur um dich so früh wie möglich wecken zu können? Außerdem ist meine Nase noch zu, da würdest du auch nicht leiser atmen.«

Karin schnaubte und drehte sich in meine Richtung. »Und ob! Gegen dich ist eine Elefantenherde gar nichts.«

Sie grinste über das ganze Gesicht und setzte sich auf. Ich schnitt ihr eine Grimasse und sie streckte mir die Zunge raus. »Übrigens nett, dass du mich geweckt hast.« Widerwillig versuchte sie, aus dem Bett zu kriechen, wobei sie sich in ihrer Decke verhedderte und beinahe über mich stolperte.

Jetzt musste ich lachen. »Kein Ding, immer wieder gerne!«

Karin zog sich in Windeseile um und wir stiegen nacheinander die schmale Treppe hinunter. Ihre Mutter, die gerade Teller abwusch, fragte beiläufig, wohin wir wollten, doch Karin war schon mit einem leichten Klaps auf den Hinterkopf ihres Bruders und einem »Bin weg …« aus der Küche gehastet.

Ich zuckte nur mit den Schultern und schaute ihr nach.

Schwindelgefühl

»Ich finde ja, die mündlichen Leistungen werden völlig unterbewertet, was die Zeugnisnoten angeht!«

Ich seufzte, um ein lautes Stöhnen zu unterdrücken. Auf dem ganzen Schulweg hatte sie mir mit ihrem besserwisserischen Geschwafel in den Ohren gelegen. Anette war das einzige Mädchen in Hattersheim, das etwas mit mir zu tun haben wollte.

Wie sehr ich meine Mutter dafür hasste, dass sie nach der Scheidung von meinem Vater diese Brautkleiderboutique hatte eröffnen müssen! So hatte ich schon seit dem ersten Tag den Ruf des verwöhnten Designertöchterchens weg. Im Grunde genommen konnte ich es meinen Mitschülern nicht verdenken, denn in unserer Straße stach Mamas Laden direkt ins Auge. Übertrieben protzig und mit einem überdimensionalen Schild über der breiten Glastür, auf dem es in fetten, geschwungenen Goldlettern hieß: »Brigittes Modeboutique für den besonderen Anlass.«

Somit war meine einzige Freundin die nervige Streberin mit der bunten Lieblingsstrickjacke und den schiefen Zähnen. Bei dem Versuch, ihr höflich eine Zahnspange zu empfehlen, hatte ich mir einen stundenlangen Vortrag darüber anhören müssen, wie hässlich sie dann aussehen würde, und ob mir denn nicht klar wäre, wie schlecht Zahnspangen bei dem anderen Geschlecht ankämen.

Die scharfe Antwort darauf hatte ich mir verkniffen. Ich hatte nichts mehr zu dieser Person zu sagen, ich hasste ihre neunmalklugen Bemerkungen, und ihre künstliche Zuneigung konnte sie sich sonst wohin stecken. Aber mir war nichts anderes übrig geblieben, als mich an ihre Anwesenheit zu gewöhnen. Sie war nur mit mir befreundet, weil ich genauso unbeliebt war wie sie. So wie ich war sie immer die Letzte, die im Sportunterricht in die Mannschaft gewählt wurde.

Früher war ich gut im Sport gewesen, aber das war lange her. Meine Kondition ähnelte der einer Nacktschnecke, ich war ständig außer Atem. Meine Sportnoten litten entsprechend. Ich war sogar schon einmal beim Arzt gewesen – meine Mutter hatte mich hingeschleppt, als sie mich nach dem Sportunterricht mit Atemnot hatte abholen müssen. Damals hatte sie sich wohl noch Sorgen um mich gemacht, wobei ich auch zu dieser Zeit bereits das Gefühl gehabt hatte, eher eine Belastung für sie zu sein. Ein Klotz am Bein, der sie bremste und daran hinderte, sich um die wichtigen Dinge in ihrem Leben zu kümmern.

Aber unser Hausarzt hatte nichts Außergewöhnliches festgestellt. Ich sei nun mal in einem kritischen Alter und im Wachstum wären solche Beschwerden keine Seltenheit. Er hatte mir empfohlen, mehr Sport zu treiben und auf meine Ernährung zu achten.

Als wir an der Schule ankamen, fiel mir ein Stein vom Herzen: Endlich war ich Anette los! Trotzdem stellte die Schule keine wesentlich bessere Alternative dar. Ich besuchte zwar das Gymnasium, aber so richtig begabt war ich nicht. Besonders zurzeit behagte mir der popelige, überfüllte Klassenraum nicht.

Mein gesamter Jahrgang war völlig aus dem Häuschen, weil wir nach den Ferien in Kurse eingeteilt werden würden und darüber hinaus alle total gespannt waren auf den angekündigten Neuling von außerhalb. Doch mich ließ das Ganze ziemlich kalt. Die Hoffnung auf einen Menschen meines Alters, mit dem ich auch nur einigermaßen normal reden konnte, hatte ich aufgegeben.

Trotzdem war es schrecklich, keine Freunde zu haben. Das wurde mir immer besonders dann bewusst, wenn ich mich in den Pausen, von Anette genervt, in eine einsame Ecke verzog. Dort machte ich Hausaufgaben oder kritzelte einfach nur in meinem Block herum. Schule ohne Freunde war wie Wassereis ohne Stiel. In meinem alten Zuhause hatte ich immer jemanden zum Reden gehabt, wenn es schwierig wurde. Aber nun fehlte mir der nötige Halt.

Seit unserem Umzug waren bereits drei Jahre vergangen. Drei lange Jahre, in denen ich mich immer noch nicht an Karins Abwesenheit gewöhnt hatte. Unser Abschied war der reinste Katzenjammer gewesen und seitdem war kein Tag vergangen, an dem ich nicht – wenigstens in den einsamen Schulpausen – an sie gedacht hatte. Besuchen konnte ich sie leider nur selten, da das ländliche Wenzigerode ungefähr zwei Stunden von unserem neuen Zuhause entfernt lag.

*

Nach drei langen Schulstunden, in denen ich gedankenverloren aus dem Fenster gestarrt hatte, holte mich die Ausgabe unserer Jahreszeugnisse zurück in die Wirklichkeit. Ich war nicht besonders scharf darauf, meins meiner Mutter vorzulegen. Sie hätte sowieso etwas zu meckern gefunden, auch wenn es besser gewesen wäre. Deshalb lief ich nach der Schule direkt zu Miriam. So konnte ich auch schneller Anette abwimmeln, die sich unbedingt über ihre glänzenden Zensuren unterhalten wollte und darüber, wie wenig die Lehrer ihren Eifer zu schätzen wussten.

Meine Schwester Miri war in diesem Ort meine einzige und allerbeste Freundin. Da mir das Getue meiner Mutter um ihre Boutique ohnehin auf den Geist ging, übernachtete ich immer häufiger bei ihr. Mittlerweile war aus uns eine Art Wohngemeinschaft geworden und ich schlief nur noch an zwei oder drei Tagen in der Woche zu Hause.

Es war wundervoll, die Schule hinter mir zu lassen – für ganze sechs Wochen! Meine Vorfreude auf den anstehenden Urlaub war riesengroß. Ich würde alle meine alten Freunde wiedersehen und wir würden zwei Wochen am Gardasee zelten. Aufgeregt, wie ich war, hatte ich natürlich viel zu früh gepackt. Meine überdimensionale Reisetasche stand bereits seit über einer Woche vollgestopft hinter der Tür meines Zimmers.

Doch bis zu unserer Reise würde ich mich noch einen Monat gedulden müssen. Vier Wochen, die mir schon jetzt wie eine Ewigkeit vorkamen. Mir war bewusst, dass ich mich zu Tode langweilen würde. Besonders weil Miri jeden Tag mindestens acht Stunden auf der Arbeit verbrachte. Sie arbeitete in einem Hotel ganz in der Nähe und gab sich meiner Meinung nach viel zu viel Mühe, ihren Chefs alles recht zu machen. Überstunden und viel Stress sind in der Gastronomie zwar keine Seltenheit, aber am Abend musste ich dann ihre miese Laune über mich ergehen lassen.

Zerstreut schlenderte ich durch die Straßen, bis mir auffiel, dass ich zwei Blöcke zu weit gegangen war. Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief jetzt etwas schneller in die entgegengesetzte Richtung. Auf der anderen Straßenseite sah mir eine ältere Dame belustigt nach. Aber wirklich peinlich war es mir nicht. Im Vergleich zu alldem, was mir für gewöhnlich passierte, war heute ein guter Tag: Meine Socken hatten die gleiche Farbe, die Naht meines Pullovers zeigte nach innen und ich war pünktlich zur Schule gekommen. Ich hatte genug Zeit, zu Fuß zu gehen, und war somit nicht einmal Gefahr gelaufen, verpeilt in den Bus der falschen Linie einzusteigen.

Als ich durch den Vorgarten des Reihenhäuschens ging, stürmte mir meine Schwester entgegen. Ich konnte nicht verstehen, was die Leute immer hatten – wir sahen uns doch gar nicht ähnlich! Oder höchstens ein kleines bisschen. Ihre goldblonden, glatten Haare gingen ihr fast bis zum Bauchnabel, meine dagegen waren wellig, von einem strähnigen, nussigen Blond, und fielen mir locker über die Schultern. Sie hatte ein viel schöneres, irgendwie zarteres Gesicht und ihre Augen waren eher hellblau als grüngrau. Aber vielleicht hatten wir ähnliche Münder. Ja, das musste es sein, wir hatten beide sehr volle Lippen.

Miriam sah ziemlich gestresst aus. »Charlie! Ich muss noch einkaufen gehen. Dank meiner Kochkünste sieht das Putensteak wieder einmal aus wie eine schwarze Schuhsohle und stinkt. Ich brauch ein neues! Geh doch schon mal hoch.«

Ich blinzelte, wie immer hatte sie sehr, sehr schnell gesprochen. »Eh ja … oder nein, ich komm mit, ich stell nur eben die Tasche in den Flur.«

Ich musste ihr nachspurten, als ich wieder aus dem Haus kam. »Warum so eilig, Fräulein Rudolph?«, fragte ich scherzhaft. Sie warf mir einen flüchtigen Blick zu. Ich musste mich anstrengen, um Schritt zu halten.

»Ich habe seit gestern Nachmittag nichts gegessen«, erwiderte sie. »Wie ich diese Diät hasse! Nach sechs soll ich nichts mehr essen, steht auf dem Plan, und heute Morgen hatte ich keine Zeit, mir etwas zu machen.«

Ich verdrehte die Augen. Wie oft hatte sie schon versucht abzunehmen, dabei hatte sie es doch gar nicht nötig!

Zum Supermarkt war es nicht weit und er war völlig leer. Nur eine einsame Verkäuferin saß an der Kasse und tippte wild auf ihrem Handy herum. Miri eilte geradewegs auf das Tiefkühlregal zu, während ich mich im vorderen Teil des Ladens aufhielt. Gelangweilt drehte ich ein Päckchen Kaugummi zwischen den Fingern und wartete. Endlich kam jemand um die Ecke. Ich schaute auf, aber es war nicht Miriam.

Ich hatte diesen Jungen noch nie gesehen und irgendwie konnte ich nicht anders, als ihn anzustarren. Er war unglaublich schön. Seine Gesichtsfarbe sah um einiges gesünder aus als meine, seine Haut schimmerte beinahe olivfarben. Die kurzen schokobraunen Haare waren zottelig gegelt und passten gut zu seinen Augen. Waren sie dunkelblau oder grün? So genau konnte ich es nicht erkennen. Jedenfalls strahlten sie mir entgegen und mir stockte der Atem, als ich merkte, dass er auf mich zukam. Erst jetzt fiel mir auf, dass er ein ganzes Stück größer war als ich mit meinen einsneunundsiebzig. Das kam selten vor, für ein Mädchen fand ich mich viel zu groß. Jetzt stand er genau vor mir. Ich richtete mich etwas auf, wobei sich meine Gelenke ganz steif anfühlten. Er roch fantastisch. Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen. »Darf ich?« Oh mein Gott! Ich stand direkt vor der Kasse und blockierte seinen Weg. Hastig drehte ich mich um und legte die Kaugummis aufs Fließband. Ich griff nach dem Warentrennstab, doch er hatte wohl die gleiche Absicht. Als sich unsere Hände berührten, fühlte es sich an wie ein kleiner Stromschlag. Ich starrte in sein überraschtes Gesicht. Erst als die genervte Stimme der Verkäuferin zu mir durchdrang, kehrte ich wieder zurück in die Wirklichkeit. »Hallo! Junge Dame? Das macht dann einsneunundzwanzig.«

Umständlich kramte ich etwas Kleingeld aus meiner Hosentasche und drückte es ihr in die Hand. Nun hatte ich keine andere Wahl, als den Laden zu verlassen, wobei ich beinahe vergaß, die Kaugummis mitzunehmen. Ohne mich umzudrehen, lief ich auf die Straße und um die nächste Ecke. Wie peinlich war das denn? So etwas konnte auch nur mir passieren! Dabei hätte ich doch einfach nur einen Schritt zur Seite machen müssen.

Kurz darauf bog der Junge in dieselbe Straße ein, glücklicherweise aber in die andere Richtung. Als er weit genug weg war, atmete ich tief durch. Ich drehte mich um und spähte vorsichtig um die Ecke, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Miri aus dem Supermarkt kam. »Mensch, wo warst du denn?«, fragte sie, als sie mich entdeckte.

*

Der erste Ferientag musste natürlich gefeiert werden! Also packten wir gleich nach dem Essen unsere Sachen und ließen es uns in unserem Lieblings-Wellnessbad so richtig gut gehen. Ausnahmsweise spendierte mir Miri sogar eine Massage mit heißen Steinen und beruhigender Musik. Danach tranken wir noch einen Cocktail an der Bar und überlegten, ob wir so spät noch beim Mexikaner zu Abend essen sollten. Aber meine Schwester lag mir ohnehin mit ihren Diätplänen in den Ohren, also traten wir den Heimweg an.

Das restliche Wochenende verbrachte ich bei Miriam. Als ich danach wieder in mein eigentliches »Zuhause« zurückkehrte, ging es mit meiner Laune bergab. Ich hatte einfach gar nichts zu tun! Mein Schädel brummte vor Langeweile. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, fernzusehen, zu schlafen oder den Kühlschrank zu plündern. Bis mich wieder einmal der Tatendrang packte und ich mich in meine Jogginghose schmiss, um ein paar Runden um den Block zu drehen. Nach kaum mehr als fünfMinuten musste ich jedoch heftig nach Luft ringen und gab auf. Sport und ich – das passte einfach nicht zusammen. Fortan würde ich nur noch spazieren gehen, wenn mich die Wohnung zu sehr einengte.

Bis auf die abendlichen Telefonate mit Miriam und das Zähneputzen hatte mein Tagesablauf überhaupt keine Struktur mehr. Ich aß, wenn ich Hunger hatte, schlief, wenn ich müde war, und ging duschen, wenn ich es gerade für nötig hielt. Ab und an setzte ich mich an meinen Schreibtisch und versuchte, ein bisschen zu zeichnen. An die Leinwand wagte ich mich erst gar nicht heran, weil ich wusste, dass ich mich nicht richtig konzentrieren konnte.

Bereits nach fünf Tagen beschloss ich, die restlichen Wochen bis zu unserem Urlaub bei Miri zu verbringen. Natürlich hatte sie nichts dagegen, schließlich wohnte sie auch nicht sonderlich gern allein. Wenn sie auf der Arbeit war, versuchte ich, mich im Haushalt nützlich zu machen, oder ging einkaufen. Ansonsten faulenzte ich auf dem Sofa. Miri freute sich jeden Tag über ein frisch gekochtes Essen. Manchmal verbrachten wir einen Abend in der Therme, gingen ins Kino oder schauten uns einfach gemütlich eine DVD an.

Ohne Frage war es toll, nicht zur Schule zu müssen. Aber während Miris Arbeitszeiten tat ich kaum etwas anderes als zu schlafen, zu essen und im Haushalt zu helfen. Ich kam mir wahnsinnig nutzlos vor. Ich liebte es, Zeit mit ihr zu verbringen, und ich fühlte mich wirklich wohl in ihrer Wohnung. Doch die Stunden, in denen ich allein war, wurden zur Geduldsprobe. Schließlich bastelte ich mir einen Kalender, auf dem ich bis zum Urlaub jeden Tag ein Kästchen wegstrich. Das war furchtbar albern, aber bei dieser ständigen Langeweile wäre wohl jeder auf blöde Ideen gekommen. Es war höchste Zeit, dass es endlich losging.

*

Am Tag vor der Abreise wachte ich um sieben Uhr dreißig auf. Ich war schon jetzt zu nervös, um mich noch einmal hinzulegen. Also lief ich ins Wohnzimmer, nahm mir eine Mandarine aus der Obstschale und schaltete den Fernseher ein. Als es endlich Zeit war, meine Schwester zu wecken – wenn man sie an ihrem freien Tag zu früh aus dem Bett holte, wurde sie ziemlich schnell grantig –, schlich ich mich ins Schlafzimmer.

Sie hatte an diesem Tag eigentlich vorgehabt, mir für Italien neue Badesachen zu kaufen. Aber ich hatte keine Lust, ins Einkaufszentrum zu fahren, also schauten wir uns ihre Lieblingsserie an und sie erklärte mir, wie ich mich im Urlaub zu verhalten hatte. Schließlich würden ja keine Erwachsenen dabei sein und somit wäre ich verpflichtet, besonders vorsichtig und vernünftig zu sein, und das sollte ich auch von meinen Freunden verlangen. »Lauf bloß nie allein irgendwo rum!«, sagte sie. »Sei vorsichtig im Dunkeln!«, »Besauf dich nicht!« und »Lass dich bloß auf nichts Gefährliches ein!«

Ich nickte nur und tat, als würde ich ihr zuhören, während ich der Seifenoper zu folgen versuchte. Diese Sendung war wahnsinnig primitiv, aber wir hatten es uns nun einmal zur Gewohnheit gemacht, sie jeden Nachmittag anzuschauen.

Da ich noch ein paar Kleinigkeiten in meine ohnehin schon überfüllte Reisetasche packen musste, war klar, dass ich die letzte Nacht vor dem Urlaub zu Hause verbringen würde. Ich kam erst gegen halb zehn heim und meine Mutter schaute nicht mal von ihrem Laptop auf, als ich in ihr Zimmer trat.

»Hi Mama, ich bin wieder da.«

Sie saß in ihrem rosa Nachthemd im Bett und arbeitete offenbar noch. »Hallo Liebes, im Ofen steht Auflauf, falls du Hunger hast.«

»Nee, ich hab schon gegessen.«

Sie sagte lange nichts. Immer noch ohne aufzublicken, murmelte sie: »Na dann, schlaf schön.«

»Du auch.« Ich war mir nicht sicher, ob sie das gehört hatte, aber es war mir egal. Ich war müde und freute mich wahnsinnig auf mein Zimmer und besonders auf mein Bett.

Doch als ich meine weiße Holztür aufstieß, musste ich feststellen, dass jemand aufgeräumt hatte. Die fliederfarbene Tagesdecke lag glatt gestrichen auf meinem großen Bett, der weiße, runde Teppich, der auf meinem hellen Parkettboden lag, war gesaugt worden und der Schreibtisch unter meinem Fenster war, bis auf meinen Laptop, vollkommen leer. Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass ich ihn mit jeder Menge Krimskrams bedeckt hinterlassen hatte. Ärgerlich verzog ich das Gesicht. Ich hasste es, wenn mein Zimmer allzu ordentlich war. Es kam mir dann immer viel zu groß und kahl vor. Achtlos riss ich die Tagesdecke von meinem Bett und ließ mich in die Kissen fallen.

*

Als mich die grelle Morgensonne blendete, drehte ich mich verstört zur Seite. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, was heute für ein Tag war. Sobald ich die Kraft aufbrachte, mich aufzusetzen, überkam mich die Aufregung.

In diesem Moment trat Miri in mein Zimmer. Sie trug schwarze Shorts und ein rotes Trägertop. Sie warf ihre Jeansjacke auf die Couch und setzte sich auf den Rand meines Bettes. »Morgen.«

Ich grummelte und rieb mir die Augen. »Wie spät ist es?«

Miriam drehte meinen kleinen Wecker in ihre Richtung. »Halb zehn.«

»Was?« Ich stieß die Decke weg und hastete auf meinen Kleiderschrank zu. Kaum hatte ich ihn erreicht, war mir ungeheuer schwindelig. Mein Zimmer drehte sich so schnell, dass es vor meinen Augen verschwamm. Ich lehnte mich an den Schrank.

Als ich wieder sicher stand, sah ich Miriams Gesichtsausdruck. Verwundert schien sie nicht, nur ein wenig besorgt. »Du solltest nicht so schnell aufstehen.«

Ich nickte kurz und wandte mich meinen Kleidern zu. Mein Schrank war ziemlich leer, immerhin hatte ich ein Drittel meiner Sachen in die überfüllte Reisetasche gequetscht. Also entschied ich mich für die hellgraue Jeans vom Vortag. Es würde zwar ein bisschen heiß werden, aber wenigstens musste ich keinen Rock tragen. Ich hasste Röcke. Widerwillig zwängte ich mich in ein gelbes T-Shirt. Es war für meinen Geschmack viel zu grell und die Aufschrift »squeeze me« machte es auch nicht gerade unauffälliger. Ich vermutete, dass ich es mir bei meinem letzten Besuch bei Karin ausgeliehen hatte, weil mir zwischendurch die Wäsche ausgegangen war. Freiwillig hätte ich so etwas nie getragen. Ich bevorzugte blasse Farben wie Hellrosa, Lavendel oder Blau, eigentlich hatte ich auch nichts gegen helles Gelb, aber das hier war mir zu auffällig.

Beim Frühstück sprach mich meine Mutter auf den Flyer an, den ich nach Ferienbeginn auf die Ablage in der Küche gelegt hatte. Es war eine Einladung zur Jahresabschlussfeier meiner Schule. Das Fest am Ende der Ferien sollte zum Zusammentreffen von alten und neuen Schülern werden und laut meiner Mutter hatte ich es nötig, daran teilzunehmen. »Da gehen sicher nicht nur die neuen Fünftklässler hin, Charlie. Du musst dich endlich ein bisschen einbringen, sonst findest du niemals neue Freunde, Kind!«

Ich wusste, dass jeder Widerstand zwecklos war, auch wenn mir nicht ganz klar war, ob es ihr wirklich um mich ging. Um so kurz vor dem Urlaub einer Diskussion aus dem Weg zu gehen, entschied ich mich, das Thema bis zu meiner Rückkehr ruhen zu lassen. Vielleicht würde sie es ja bis zum Ende der Ferien vergessen haben. Mein Schweigen schien sie als Zustimmung zu deuten und so wandte sie sich gleich wieder ihrer Zeitung zu. Offensichtlich interessierte sie sich viel mehr für dieses Klatschblatt als dafür, dass ihre jüngste Tochter gleich zum ersten Mal ohne elterliche Aufsicht verreisen würde. Warum tat sie bloß immer an den falschen Stellen so, als würde sie meine Existenz überhaupt nicht wahrnehmen? Wieso war sie nicht aufgeregt? Wieso gab sie mir keine Ratschläge? Wieso freute sie sich nicht für mich? Und weshalb sagte sie mir nicht, dass sie mich vermissen würde? Eine seltsame Mischung aus Wut und Gleichgültigkeit überflutete mich. Nie hätte ich gedacht, dass man beides gleichzeitig empfinden könnte. Miriam verdrehte die Augen, als sich unsere Blicke trafen, und ich wandte mich wieder meinem Rührei zu.

Nach dem Frühstück verabschiedete ich mich nur mit einer flüchtigen Umarmung von meiner Mutter. Als ich endlich neben Miriam im Auto saß, war ich beinahe erleichtert. Meine Nerven waren jetzt zum Zerreißen gespannt. Den Schlüsselanhänger, den ich für Karin gekauft hatte, zwirbelte ich zwischen den Fingern. Es war ein kleiner Winnie Pooh – für Winnie Pooh hatte sie seltsamerweise eine Vorliebe.

»Charlie?«

Erschrocken sah ich auf. Ich hatte ganz vergessen, wo ich war. »Was denn?«

Miri sah schon wieder besorgt aus. »Ich möchte, dass du mich anrufst, wenn es dir nicht gut geht.«

Mir war klar, worauf sie anspielte. Einerseits wusste sie, dass ich das Gefühl haben würde, nicht mehr richtig dazuzugehören, weil ich so lange von meinen Freunden getrennt gewesen war. Und dann war da noch die Sache mit meinem … na ja … körperlichen Befinden. In letzter Zeit war ich immer schnell erschöpft und der kleine Schwindelanfall am Morgen war nicht mein erster gewesen. Eigentlich machte ich mir keine Sorgen deshalb. Während des Wachstums waren solche Phasen völlig normal. Aber Miri hatte die Angewohnheit, übervorsichtig zu sein. Sie war die Einzige, die sich Sorgen um mich machte, oft unnötigerweise, aber es machte sie noch liebenswerter, als sie ohnehin schon war.

»Ja, klar«, grinste ich sie an. »Ich werde dich wahrscheinlich auch so anrufen, also wunder dich nicht.«

Sie lächelte und warf mir einen flüchtigen Blick zu. Die kleinen Sorgenfältchen auf ihrer Stirn gefielen mir nicht. »Ich werde dich ganz schön vermissen«, seufzte sie.

»Ich dich auch, und wie.«

*

Die Fahrt dauerte nicht lange, höchstens eine und eine Dreiviertelstunde. Miriam hatte ganz schön auf die Tube gedrückt. Mit jedem Meter war meine Vorfreude gewachsen und mir wurde warm, als wir an den ersten vertrauten Häuschen vorbeikamen. Dann sausten Felder an meinem offenen Fenster vorbei und schließlich mein geliebtes kleines Waldstück. Dort hatten wir früher oft den Jungs dabei zugesehen, wie sie versucht hatten, Baumhäuser zu bauen, oder Pfadfinder spielten.

Miriam grinste mich an und drehte das Radio lauter. Wir fuhren bergauf in das winzige Örtchen, das ich so vermisst hatte. Es gab nicht einmal einen Bäcker hier, geschweige denn einen Supermarkt, aber ich liebte es. Es war so ruhig und friedlich und alle kannten sich.

Ich konnte kaum an mich halten, um nicht laut loszuschreien, als Karins Haus in Sicht kam. Stattdessen rutschte ich nervös auf meinem Sitz hin und her. Endlich hielt Miriam an. Ich sprang aus dem Wagen und rannte um die Motorhaube herum. Sie gab mir ihre Hand und ich zerrte sie zur Tür.

»Ist ja gut. Schon gut! Ich komm doch.«

Wir lachten beide, während ich klingelte und herumzappelte, als hätte ich Karin noch niemals zuvor gesehen. Dann ging die Tür auf. Ich nahm nur kurz wahr, dass sie ihre dunkelbraunen Haare jetzt kinnlang trug. Dann stimmte ich in ihr hysterisches Gekreische ein und wir fielen einander in die Arme.

»Mann, Karin, ich hab dich so vermisst!«

»Ich dich auch, Charlie! Ich hab dir so viel zu erzählen!«

»Deine Haare sind ja so kurz«, sagte ich anerkennend, es sah klasse aus.

»Was?« Sie schaute mich verdattert an. »Ach so! Das … Ja.«

Ich lachte mit ihr, dann wandte sie sich Miriam zu. »Miri, wir haben uns ja auch eine Ewigkeit nicht gesehen.«

»Stimmt.«

Sie umarmten sich flüchtig.

»Möchtest du zum Kaffee bleiben?«

Miriam sah mich an, als wollte sie sagen: »Ich will mich nicht aufdrängen«, aber ich grinste und sie nahm die Einladung an.

Karin erzählte mir den ganzen Tag von unseren Freunden, den neusten Ereignissen im Ort und von einem Jungen, den sie in der letzten Woche auf einer Geburtstagsfeier kennengelernt hatte. Natürlich freute ich mich, sie wiederzusehen, aber irgendwie hatte ich ein mulmiges Gefühl, als ich am Abend unter die Decke des ausklappbaren Gästebettes schlüpfte. Ich hatte schon so oft hier übernachtet, aber diesmal war einiges anders, alles kam mir fremd vor. Unsere Freundschaft war eingerostet, damit musste ich leben. Ich hoffte nur, dass wir uns nicht zu sehr auseinandergelebt hatten.

In dieser Nacht bekam keine von uns viel Schlaf. Das schrille Piepen von Karins Wecker riss uns früh aus unseren Träumen. Nach einigen Minuten hektischer Aufbruchsstimmung ging es endlich los. Als wir aus der Haustür traten, stand da schon der grüne VW-Bus von Patricks Vater, der uns bis zum Campingplatz bringen würde.

Alle meine Freunde waren nett zu mir, aber der Einzige, der sich anscheinend wirklich freute, mich zu sehen, war Oli. Er stürmte auf mich zu, und kaum hatte ich das Hoftor hinter mir geschlossen, verlor ich den Boden unter den Füßen. Er hob mich hoch und schleuderte mich im Kreis herum, dann hielt er mich ein bisschen von sich weg, um mich von oben bis unten zu mustern. »Hi, Charlie«, sagte er schließlich.

Ich sah ihn erstaunt an. Er war hübsch, anders hübsch als vor zwei Jahren, irgendwie sah er erwachsener aus.

»Du bist ja noch größer geworden«, sagte er und wirkte mindestens genauso erstaunt wie ich.

»Oh ja, stimmt.« Ich kicherte und er ließ mich los. Ich war bestimmt drei Zentimeter größer als er, aber das erschreckte mich nicht, schließlich war ich immer größer gewesen als alle meine Freunde, nichts Besonderes also. Oli murmelte Karin ein knappes »Hallo« zu und half mir dann mit meiner Tasche.

*

Der Campingplatz war wirklich wunderschön. Ein Netz aus Sandwegen erstreckte sich über das ganze Gelände, mit einer Tennis- und Minigolfanlage im Zentrum. Was mich am meisten begeisterte, waren jedoch der ewig lange Sandstrand und vor allem das süße Lokal aus Naturstein. Es war ziemlich bewachsen und die verschiedensten Blumenarten schmückten die großzügige Terrasse.

Der Urlaub begann anstrengend für mich. Nach der langen Autofahrt war ich müde und heilfroh, endlich mit einem kühlen Getränk vor dem aufgebauten Zelt zu sitzen. Als meine Freunde plötzlich der Überzeugung waren, ein nächtliches Bad wäre am ersten Abend mehr als angebracht, schleifte mich Kevin gegen meinen Willen ins Wasser. Jeder Widerstand war zwecklos, Kevin war nun mal um einiges stärker als ich und ich war ohnehin am Ende meiner Kräfte. Für den nächsten Tag hatte sich die Truppe einen Bummel über den nahe gelegenen Flohmarkt vorgenommen. Müde, wie ich war, hatte ich keine Chance, dagegen anzukommen. Die ganze Zeit schlich ich hinter ihnen her. Ich konnte einfach nicht Schritt halten, weil ich zu träge war und meine Gelenke sich unangenehm steif anfühlten.

Als wir endlich wieder zurück waren, wollten die Jungs unbedingt noch Tennis spielen. Karin und Franzi begleiteten sie und ließen mich allein. Im Zelt war es unglaublich heiß, aber in die pralle Mittagssonne wollte ich mich auch nicht legen. Ich bekam keine Luft, an Schlaf war nicht zu denken, auch wenn ich erschöpft war.

Offen gestanden war ich ein bisschen enttäuscht, dass niemand bei mir geblieben war. Mir kam sofort meine Schwester in den Sinn, mit ihr wäre mir das nicht passiert. Ich vermisste sie schon jetzt und es würde mir guttun, mit ihr zu reden. Also griff ich zu meinem Handy.

»Hallo?«, ertönte ihre etwas gelangweilt klingende Stimme.

»Hey, Miri! Wie geht’s dir?«

Ich schien sie überrascht zu haben. »Oh, Charlie! Hi! Geht’s dir gut? Ist was passiert?«

Ich musste lächeln. »Nein, gar nicht. Mir geht’s gut, es ist sehr schön hier. Ich ruf nur an, weil mir langweilig ist. Die anderen sind auf dem Sportplatz und ich hab mich ein bisschen hingelegt.«

»Okay! Gut. Ich hab schon gedacht, es wäre was passiert.« Jetzt wurde sie munterer und quasselte drauflos, ohne Punkt und Komma. »Oh Charlie, ich beneide dich so! Ich möchte auch ans Meer! Es ist so kalt hier.«

»Es ist ein See, der Gardasee ist ein ...«, warf ich ein, aber Miriam schnitt mir das Wort ab: »Wie auch immer! Bei euch scheint die Sonne. Ich hab für dich den Wetterbericht gelesen. Sonne, Sonne, Sonne! Die ganze nächste Woche! Du glaubst nicht, wie langweilig es hier ohne dich ist. Und ich muss arbeiten! Die Gäste werden immer unhöflicher, kann ich dir sagen. Ich bin’s echt leid. Ich will auch mal wieder einfach nur Gast sein. Weißt du, was ich mir überlegt habe? Also, ohne mich aufdrängen zu wollen …«

»Was denn?«

»Ich hab mir überlegt – also, wenn’s euch nichts ausmacht … Ich könnte mir ein paar Tage freinehmen und euch besuchen. Vielleicht kann ich sogar mit dem Wagen von Olis Eltern kommen. Ich habe heute Mittag mit seinem Vater telefoniert. Entschuldige, ich wollte dir nicht nachspionieren, ich bin nur so neugierig und wollte wissen, ob ihr gut angekommen seid. Ja und da hat er gesagt, er hätte auf der Rückfahrt noch ziemlich lange im Stau gestanden. Eigentlich hat er gar keine große Lust, euch wieder abzuholen. Also dachte ich mir: Da kann ich doch theoretisch ein, zwei Tage Urlaub machen und gleichzeitig einen überforderten Mann mittleren Alters entlasten!«

Endlich holte sie wieder Luft. So schnell, wie sie gesprochen hatte, hatte ich mir wahrhaftig Sorgen um ihre Atmung gemacht. Ich freute mich riesig. Dass Miri hierherkommen würde, waren wunderbare Aussichten! »Du kannst sicher bei Karin und mir im Zelt schlafen«, bot ich an, »wir bräuchten vielleicht nur noch eine Matratze.«

Miriam lachte. »Na ja, die Matratze ist das kleinste Problem, aber du solltest erst mal mit deinen Freunden darüber reden.«

»Mach ich, sobald sie zurückkommen.«

»Okay.«

Danach ging es in unserem Gespräch vor allem darum, wie wir unseren ersten Tag hier verbracht hatten. Ich berichtete ihr, wie anstrengend das alles für mich war, aber das bereute ich sofort wieder. Ich hätte doch wissen müssen, dass sich Miriam Sorgen machen würde. Sie schlug sogar vor, mich sofort abzuholen, aber das kam nicht infrage. Schließlich war das hier mein erster Urlaub ohne Eltern, den würde ich mir nicht kaputt machen lassen, schon gar nicht von meiner abnormalen Trägheit.

Sogar das Telefonieren wurde jetzt anstrengend für mich, ich war schon wieder schrecklich müde. Einen Großteil von dem, was Miriam mir erzählte, bekam ich kaum mit. Später meinte ich, mich vage daran erinnern zu können, dass sie von einem Freund gesprochen hatte. Sie hatte mit ihm zusammen ihre Ausbildung gemacht. Danach hatte er ein Angebot von einem großen Hotel in Hamburg bekommen, dem er gefolgt war. Seitdem hatten sie sich regelmäßig E-Mails geschrieben. Wir hatten nicht oft über diesen Erik gesprochen, aber an diesem Nachmittag hatte sie mir wohl die Neuigkeit des Jahrtausends mitteilen wollen. Ich war schon eine miese Schwester, ich brachte nicht einmal die Kraft auf, anständig zuzuhören. Noch bevor sie die ganze Geschichte erzählt hatte, begannen meine Augenlider zu flattern. In diesem stickigen Zelt bekam ich keine Luft, also kroch ich mit dem Handy am Ohr zum Ausgang, riss den Reißverschluss auf und ließ mich vornüber in das frische Gras fallen.

»Miriam, es tut mir echt leid, aber ich kann nicht mehr. Kannst du mir das vielleicht ein anderes Mal erzählen?«, murmelte ich. Miri brummte beleidigt. Aber sogar das war mir jetzt egal und das Knacken in der Leitung nahm ich schon gar nicht mehr wahr. Halb im Zelt, halb auf der Wiese liegend schlief ich ein und jeder, der über diese außergewöhnliche Stellung lachte, konnte mir gestohlen bleiben.

*

Ich war noch den ganzen Abend erschöpft, was es mir ziemlich schwer machte, ihn zu genießen. Beim Essen sprach ich die Sache mit Miriam an und glücklicherweise hatte keiner etwas dagegen einzuwenden. Warum auch? Wir waren ja alle im selben Örtchen aufgewachsen, da kannte nun mal jeder jeden. Und Miriam hatten ohnehin alle in ihr Herz geschlossen, besonders meine Freunde.

Als es später wurde, machten wir ein Lagerfeuer. Die anderen redeten und redeten, während es mir immer schwerer fiel, meine Müdigkeit zu verbergen. Die meiste Zeit unterhielten sie sich über Geschehnisse, von denen ich sowieso nichts verstand, weil sie während meiner Abwesenheit stattgefunden hatten. Langsam musste ich mir eingestehen, dass ich mich mehr und mehr überflüssig fühlte. Ich saß in meinen Schlafsack eingemummelt zwischen Karin und Oli und folgte der Unterhaltung schon lange nicht mehr. Den Versuch, mich irgendwie in das Gespräch einzubringen, hatte ich längst aufgegeben. Ich sah nur noch dem knisternden Feuer zu, wie es sich tänzelnd zum sternenübersäten Himmel emporreckte.

Obwohl ich mir ein bisschen wie eine Außenseiterin vorkam, war es doch schön, meine beiden besten Freunde um mich zu haben. Ich hatte sie sehr vermisst. Besonders Oli, zu dem ich so lange keinen Kontakt gehabt hatte. Dabei war er doch wie ein Bruder für mich, mein kleiner, großer Bruder. Wir kannten uns schon so lange und irgendwie hatte er immer auf mich aufgepasst, obwohl er ein gutes halbes Jahr jünger war als ich. Zwar hatte ich auch viele Sticheleien hinnehmen müssen, aber er war immer für mich da gewesen.

Allmählich sank mein Kopf auf meine angewinkelten Knie und ich lehnte mich an ihn. Ich war dankbar, dass ich mich nicht mehr aufrecht halten musste, und döste friedlich vor mich hin. Kevin saß uns gegenüber. Ich blinzelte durch die Flammen und konnte sehen, dass Franzi ihren Kopf in seinen Schoß gelegt hatte. Er fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Patrick beäugte die beiden misstrauisch. Die Vorstellung, Kevin und seine kleine Schwester könnten ein Paar werden, behagte ihm nicht, das war nicht zu übersehen. Ich dagegen fand, dass sie ein schönes Paar abgaben. Sie klebten ständig aneinander, das war mir schon auf der langen Autofahrt aufgefallen. Außerdem hatte mir Karin beim Spülen erzählt, dass sie am Mittag auf dem Sportplatz beobachtet hatte, wie sich die beiden küssten. Sie schienen wirklich glücklich zu sein und ich freute mich für sie.

Gegen Mitternacht, als es an unserem Lagerfeuer wie auch auf dem ganzen Campingplatz ruhiger geworden war, holte Patrick seine Gitarre aus dem Zelt. Es wurde immer gemütlicher. Ich lehnte immer noch an Olis Schulter, als er sich plötzlich bewegte. Schlaftrunken rollte ich mich in meinem Schlafsack zusammen und dachte an den Sternenhimmel. Er war so schön heute Nacht, ich wollte ihn noch einmal sehen. Also drehte ich meinen Kopf und zwang mich, die Augen zu öffnen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, den Himmel jemals so gesehen zu haben: Die Sterne waren so hell, dass meine müden Augen sie beinahe für bunt hielten. Länger als ein paar Sekunden konnte ich sie nicht offen halten, aber es war genug, um eine kleine Sternschnuppe vom Himmel fallen zu sehen. Ich lächelte müde in mich hinein und drehte mich auf die Seite. Bestimmt würde ich auch irgendwann das Glück haben, jemanden zu treffen, der mich liebte, so wie Kevin seine Franzi.

*

Das Wetter am nächsten Tag war wunderbar, und obwohl meine ständig anhaltende Müdigkeit keinesfalls nachließ, hatten wir ziemlich viel Spaß. Das freute besonders Miriam, der ich abends am Telefon alles erzählte. Ich war erleichtert, dass sie nicht sauer war, weil ich unser letztes Gespräch so abrupt beendet hatte. Im Gegenteil, sie plapperte munter drauflos: »Also, liebe Charlotte, halt dich fest! Erik hat mir am Montag geschrieben, dass er sich mit zwei Freunden ein Landhaus gekauft hat, mit zwei Gästezimmern, riesigen Fenstern und einer umwerfenden Aussicht. Sie ziehen schon in zwei Wochen ein! Ist das nicht der Hammer?«