Traumstimmen - Jennifer Hauff - E-Book

Traumstimmen E-Book

Jennifer Hauff

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Beschreibung

Hanna wünscht sich nichts sehnlicher als ein normales Leben. Doch schon seit Jahren läuft sie von einem Psychologen zum nächsten. Der Grund: Immer wieder träumt sie von derselben Frau und spricht im Schlaf – und zwar mit einer fremden Stimme. Aus Angst, dass ihre Mitschüler ihr Geheimnis lüften, bleibt die 17-Jährige lieber allein. Selbst Joshua, in den sie sich unsterblich verliebt hat, hält sie auf Abstand. Dabei setzt der alles daran, ihr näherzukommen. Nur mit Mühe lässt sie sich von ihren Eltern überreden, eine Traumexpertin aufzusuchen. Und tatsächlich, Frau Martin hat sofort eine Erklärung für das, was Hanna im Schlaf erlebt: Sie vermutet, dass das Mädchen von einer Verstorbenen heimgesucht wird, die noch etwas im Diesseits zu klären hat. Hanna glaubt Frau Martin kein Wort und flüchtet aus der Praxis. Erst als sie Joshuas Einladung folgt und dabei eine unheimliche Begegnung in seinem Haus macht, ahnt sie, dass ihre neue Therapeutin recht haben könnte …

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Seitenzahl: 288

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Jennifer Hauff

TRAUMSTIMMEN

Roman

Für Daniel,

weil uns das Leben manchmal Hürden aufzeigt,

die wir nicht allein bewältigen können.

Ich danke dir.

Prolog

Als Hanna in dieser Nacht aufwachte, saß ihre Mutter am Bett und zitterte am ganzen Körper. Sie war leichenblass und starrte Hanna mit weit aufgerissenen Augen an. Hanna hatte noch niemals zuvor einen Menschen so sehr zittern sehen.

»Was ist denn los, Mama? Geht’s dir nicht gut?«

Hanna packte ihre Mutter an den Schultern und schüttelte sie, doch es dauerte eine Weile, bis sie antworten konnte: »Du hast im Schlaf gesprochen, Johanna!« Die Stimme ihrer Mutter bebte vor Entsetzen.

Nur selten nannte sie Hanna bei ihrem richtigen Vornamen. Darum wusste Hanna, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. Aber was war denn dabei, im Schlaf zu sprechen? Hanna schlief manchmal unruhig. Ab und zu schlafwandelte sie sogar.

Die Sache mit dem Schlafwandeln hatte angefangen, als Hanna noch ganz klein gewesen war. Als Vierjährige hatte sie sich mal mitten in der Nacht ausgesperrt, bis ihre Eltern sie irgendwann laut weinend im Hof gefunden hatten. Seitdem schlossen sie nachts immer die Haustür ab. Ein anderes Mal hatte ihre Mutter morgens einige Kochtöpfe in Hannas Zimmer gefunden. Die musste sie sich nachts aus der Küche geholt haben. Manchmal lief Hanna aber auch einfach nur durchs Haus und murmelte unverständliches Zeug vor sich hin.

An all diese Dinge konnte sie sich am nächsten Morgen natürlich nie erinnern.

Hanna hatte sich mit dieser Angewohnheit längst abgefunden. Sie war im Schlaf eben ein wenig aktiver als andere, na und? Außerdem wusste sie von ihren Eltern, dass es viele Menschen gab, die schlafwandelten.

Warum regte sich ihre Mutter also so auf? Sie atmete sogar ganz schnell! Sollte Hanna vielleicht besser nach ihrem Vater rufen? Langsam geriet sie selbst in Panik.

Als ihre Mutter plötzlich zu sprechen begann, wurde Hanna aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart geholt.

»Es war nicht deine Stimme, mit der du gesprochen hast«, sagte ihre Mutter plötzlich.

Hanna wusste nicht, was ihre Mutter damit meinte – noch nicht.

Einsamkeit

Muss ich wirklich mitkommen, Mama? Ganz ehrlich, ich kenne Kai doch eigentlich gar nicht. Und es wird bestimmt niemandem auffallen, wenn ich nicht da bin.« Hanna setzte ihren besten Hundeblick auf.

»Hanna, ich kann dich schon verstehen. Aber wir sind ein Teil dieser Familie und da gehören Familienfeste nun mal dazu. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass dein Großonkel noch ganz genau weiß, dass sein Neffe eine Tochter hat.« Ihre Mutter lächelte sie an und stupste ihr neckisch mit dem Zeigefinger auf die Nase.

»Aber er hat bestimmt zwölf Neffen und Nichten und einige davon haben Kinder. Um die alle auseinanderhalten zu können, ist er nun wirklich etwas zu alt. Mensch Mama, bitte! Außerdem hab ich für eine Konfirmation gar nichts zum Anziehen.«

»Du findest bestimmt etwas halbwegs Schickes in deinem Kleiderschrank. Und nicht übertreiben, wir müssen ja in die Kirche.«

Mit diesen Worten wandte Hannas Mutter sich ab und widmete sich wieder ihrer Frisur.

Schmollend stapfte Hanna über den Flur und in ihr Zimmer. Noch war es etwas kühl draußen, doch laut dem Wetterbericht sollte es ein warmer Herbsttag werden. Hanna probierte eine Stoffhose nach der anderen an, aber in keiner fühlte sie sich wirklich wohl. Und in den alten Blazer, den sie damals zu ihrer eigenen Konfirmation tragen musste, würde sie kein Mensch hineinbekommen. Jeans und T-Shirt waren für diesen Anlass allerdings auch nicht angemessen.

Das einzige Kleidungsstück im Schrank, das ihr annähernd passend erschien, war ein knielanges schwarzes Sommerkleid. Hanna zog eine dicke Strumpfhose darunter und entschied sich für eine Strickjacke, um ihre freien Schultern zu bedecken.

Ein ganzer Tag unter vielen Menschen, die Hanna nicht nur lange kannten, sondern mit denen sie auch noch verwandt war – allein der Gedanke daran reichte für ein komisches Kribbeln in der Magengegend.

Hanna war eine Einzelgängerin. In der Schule gab sie sich alle Mühe, nicht aufzufallen. Sie trug unauffällige Klamotten, verhielt sich unauffällig und scheute den Kontakt zu ihren Mitschülern. Das war nicht immer leicht, aber es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Wer übersehen wird, wird auch nicht schief von der Seite angeschaut.

Doch an diesem Tag würde sie den skeptischen, neugierigen Blicken ihrer Verwandten standhalten müssen. Viele von ihnen fragten sich schon seit Jahren, was mit Hanna nicht stimmte. Sie alle erinnerten sich noch gut an das aufgeweckte, dunkelhaarige Mädchen mit den großen leuchtenden Augen und wunderten sich darüber, dass dieses Kind sich so verändert hatte.

»Hübsch siehst du aus, Kleines.« Das grinsende Gesicht ihres Vaters erschien im Türspalt.

»Papa, bist du auch der Meinung, dass ich unbedingt mitkommen muss?«, fragte Hanna in flehendem Tonfall. »Ich weiß ja, du und Mama, ihr müsst immer einer Meinung sein … Erziehungsregel Nummer eins und so …« Sie verdrehte die Augen. »Aber ich möchte wirklich lieber hier bleiben. Ich putze auch Fenster oder mache irgendwas anderes Nützliches. Ich verspreche euch, dass ich nicht den ganzen Tag mit Malen ›vertrödeln‹ werde.« Hanna malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Ihr könnt mir auch Aufgaben geben, die garantiert erledigt sind, bis ihr wiederkommt.«

Sie merkte sofort, dass keine Tricks funktionierten.

»Du wirst mitkommen, Hanna. Es wird schon nicht so schlimm werden. Carolin kommt doch auch.«

Hanna verzog den Mund, schnappte sich ihre Tasche und folgte ihrem Vater nach unten. Ihre Mutter wartete schon auf sie. Bei ihrem Anblick konnte sich Hanna ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Die Angst, dass sie schon wieder zu spät kommen könnten, stand ihrer Mutter förmlich ins Gesicht geschrieben.

Freunde und Verwandte waren bereits daran gewöhnt, dass Familie Friedrich immer zuletzt auftauchte, und Hannas Mutter war das ganz besonders peinlich. Darum schwindelte sie inzwischen auch bei allen erdenklichen Anlässen, was die vereinbarte Ankunftszeit betraf. Waren die Friedrichs für halb vier zum Kaffee eingeladen, behauptete Hannas Mutter, sie seien um drei verabredet, um eine halbe Stunde Notfallpuffer zu haben. Doch Hanna und ihr Vater hatten diese simple Taktik natürlich bald durchschaut. Und selbst wenn sie noch so pünktlich das Haus verließen, kannte Hannas Vater eine neue Abkürzung, die dann direkt in einem Stau endete, oder sie mussten noch tanken und waren am Ende wieder zu spät. Das gehörte in dieser Familie einfach dazu.

Die Aussicht darauf, dass Carolin auch auf der Feier sein würde, beruhigte Hanna etwas. Caro war eine Freundin der Familie. Eine freundliche Singlefrau Anfang fünfzig, mit einer verständnisvollen und ausgeglichenen Ausstrahlung. Sie war Malerin und damit genauso kunstbegeistert wie Hanna. Mit ihr konnte Hanna stundenlang über ihre Bilder, verschiedene Maltechniken oder sogar den Sinn des Lebens philosophieren. Natürlich war auch Caro Hannas Veränderung in den letzten Jahren nicht entgangen. Sie gehörte ja praktisch schon zur Familie, seit Hanna ganz klein war. Doch Caro war – im Gegensatz zu anderen – sensibel genug, um zu merken, dass Hanna allzu forsche Nachfragen unangenehm waren. Sie akzeptierte Hannas starkes Bedürfnis, sich zurückzuziehen, und wenn sie sich mit Hanna austauschte, dann nicht aus boshafter Neugier, sondern aus aufrichtigem Interesse.

Wie immer kamen Friedrichs auch an diesem Tag in letzter Minute. Vor der Kirche trafen sie Caro, die auch nie besonders pünktlich war. Selbst am heutigen Tag trug Caro ihren bunten, klappernden Schmuck und ein sonnengelbes Haarband. Hanna wusste, dass Caro düstere Farben nicht ausstehen konnte. Darum sah sie in ihrem dunkelgrauen Hosenanzug auch sehr ungewohnt aus.

»Na, du wirst ja auch mit jedem Mal hübscher! Wie lange wir uns nicht mehr gesehen haben, Hanna!« Caros Augen strahlten eine solche Wärme und Freundlichkeit aus, dass sich der beklemmende Knoten in Hannas Magen etwas löste.

»Caro, es ist so schön, dich zu sehen!«, rief Hanna und fiel ihrer Freundin um den Hals. Doch nach einer kurzen Umarmung mussten sie sich wirklich sputen.

»Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir schon wieder zu spät sind! Und das in der Kirche!«, zischte Hannas Mutter.

Doch im Gegensatz zu ihr freute sich Hanna im Stillen darüber, dass der größte Teil der Familie bereits in der Kirche Platz genommen hatte. Das ersparte ihr zumindest vorerst unangenehme Unterhaltungen.

Auch wenn Hanna kein großer Fan von Kirchen war, hatte sie hier wenigstens ihre Ruhe.

Im Anschluss an den Gottesdienst begrüßten Hanna und ihre Eltern die anderen Gäste, gratulierten Kai und überreichten ihm einen Briefumschlag. Hanna war sich nicht einmal sicher, ob er wusste, wer sie waren. Wenig später machte sich die ganze Gesellschaft zu Fuß auf den Weg zu einem kleinen Festsaal, in dem die Feier stattfinden sollte.

Hanna staunte nicht schlecht, als sie den Raum betraten. Kais Eltern hatten sich mit der Ausrichtung der Feier wirklich große Mühe gegeben: Auf jedem der runden, weiß eingedeckten Tische stand ein liebevoll arrangiertes Blumengesteck.

Die meisten Gäste kannte Hanna vom Sehen, doch es waren auch einige unbekannte Gesichter darunter. Sofort kam sich Hanna wieder beobachtet vor. Und tatsächlich trafen sie hier und dort neugierige Blicke. Täuschte sie sich, oder tuschelten die Leute über sie?

Ihre Eltern hatten sich zusammen mit Carolin bereits an einem der kleineren Tische im hinteren Teil des Raumes niedergelassen. Zielstrebig machte sich Hanna auf den Weg dorthin.

Einfach den Kopf einziehen und nicht auffallen, dachte sie sich gerade noch, als es auch schon krachte. Klirrend fielen einige Gläser auf den Boden. Plötzlich waren alle Blicke auf Hanna gerichtet. Sie hatte den Kellner angerempelt. Sofort merkte sie, dass ihre Wangen heiß wurden, und bückte sich schnell, um ihm zu helfen, die Scherben aufzusammeln.

»Tschu-tschuldigung!«, stammelte sie.

Der Kellner lächelte ihr nur verschmitzt zu. »Hi, ich bin Tim!«

Sein auffordernder Blick verriet ihr, dass er auf eine Antwort wartete.

»Äh, ich bin Hanna«, stotterte sie verwirrt, legte ihm die aufgesammelten Scherben auf das Tablett und huschte zum Tisch ihrer Eltern.

Ihr Vater grinste sie an. »Gelungener Auftritt, Kleines.«

»Haha!«, schnaubte Hanna nur.

Als alle Gäste ihre Unterhaltungen wieder aufgenommen hatten, kühlten sich Hannas Wangen ab und ihre Gesichtsfarbe normalisierte sich langsam. Doch dieser Junge schaute immer wieder zu ihr herüber.

Im Laufe des Abends kam Tim häufig an ihren Tisch, um neue Getränke zu bringen oder das Geschirr abzuräumen. Jedes Mal trafen sich ihre Blicke und Hanna musste sich eingestehen, dass er ihr gefiel, vor allem seine leuchtend blauen Augen. Dennoch brachte sie es nicht über sich, auch nur ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln. Die Aktion mit den Gläsern war ihr einfach zu peinlich. Stattdessen schenkte sie Caro ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Es war wunderbar, mit ihr über das Malen zu sprechen, und Hanna konnte noch so viel von ihr lernen! Sie hing wie gebannt an Caros Lippen, als diese von ihrer letzten Ausstellung erzählte.

»Beim nächsten Mal sagst du mir Bescheid, ja?«, sagte Hanna euphorisch. »Dann komme ich auch. Ich würde mir so gern mal eine richtige Ausstellung mit deinen Bildern ansehen. Auch wenn ich mir natürlich keins davon leisten kann. Aber du sagst Bescheid, ja?«

Caro war sichtlich geschmeichelt von der Begeisterung, die Hanna ihr entgegenbrachte.

Es war bereits dunkel, als sich die ersten Gäste verabschiedeten. Hanna und ihre Eltern nutzten die Aufbruchsstimmung und machten sich bereit zum Gehen.

Nachdem sich Hanna lange und herzlich von Caro verabschiedet hatte, tippte ihr plötzlich jemand auf die Schulter.

»Hanna, ich dachte, vielleicht ist das meine letzte Chance, dich doch noch kennenzulernen.« Mit geröteten Wangen stand Tim vor ihr und schaute sie fragend an.

Hanna spürte, wie auch ihr Gesicht wieder ganz heiß wurde. Tim streckte die Hand aus und hielt ihr einen kleinen zusammengefalteten Zettel hin.

»Ich würde mich wirklich freuen!«

Wortlos nahm sie das Papier entgegen und wollte es gerade auseinanderfalten, da drehte Tim sich auch schon um und verschwand wieder in Richtung Küche.

Kopfschüttelnd sah sie ihm nach und steckte seine Telefonnummer in ihre Jackentasche. Sie würde ihn natürlich nicht anrufen, sondern den Zettel einfach zerreißen. Auch wenn Tim wirklich süß war – in ihrem Leben war kein Platz für Jungs.

*

Die nächste Woche begann mit einem ganz normalen Schultag. Niemand schenkte Hanna in irgendeiner Weise besondere Aufmerksamkeit. Sie war einfach da, saß auf ihrem Platz und war eben Hanna. Johanna Friedrich, die unauffällige, schweigsame Außenseiterin. Hanna hatte sich in der Schule schon immer unwohl gefühlt. Die vollen Gänge, auf denen man ständig angerempelt wurde; die verächtlichen Blicke von besonders coolen Schülern, falls man nicht die richtigen Klamotten trug; die alten Kaugummis, die nicht nur unter Tischen und Stühlen klebten, sondern einfach überall – ihr wurde mulmig zumute, wenn sie nur daran dachte.

Hannas Schultage hatten inzwischen einen fast mechanischen Ablauf. So besuchte sie auch heute wie auf Autopilot ihre Kurse und erledigte in der einzigen Freistunde des Tages ihre Hausaufgaben. Als es zur Pause klingelte, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz. Am Rande des eingezäunten Schulgeländes stand ein Baum und hinter dem Baum war eine kleine Bank. Ihre Bank. Hier war sie für gewöhnlich ungestört und verbrachte darum ihre Pausen am allerliebsten an diesem Ort.

Sie stellte ihren Rucksack auf der Bank ab und schaute sich traurig um. Joshua war heute in Mathe nicht da gewesen und auch auf dem Schulhof war er nirgends zu sehen. Der Junge mit den dunklen Locken und dem sanften Lächeln. Der einzige Mensch in Hannas Umgebung, der hartnäckig versuchte, Hanna kennenzulernen, und der sich von ihrem verschlossenen Wesen nicht abschrecken ließ.

Vielleicht war er krank. Oder würde er vielleicht doch noch auftauchen? Hanna stellte fest, dass ihr ein Schultag ohne ein nettes Wort von Joshua viel länger vorkam als andere Tage an diesem schrecklichen Ort.

Aber so war das ja immer: Wenn man auf etwas wartete oder etwas Unangenehmes hinter sich bringen musste, verging die Zeit im Schneckentempo. Hanna dachte daran, dass sie ihren Eltern heute noch beichten musste, dass sie die blöden Medikamente, die ihr ihre Psychiaterin verschrieben hatte, auf eigene Faust abgesetzt hatte. Und sie würde ihnen erklären müssen, dass sie die Therapie bei dieser Ärztin unter keinen Umständen fortsetzen wollte.

Allein bei dem Gedanken daran machte sich Nervosität in ihrer Magengegend breit. Hanna ließ sich seufzend auf die Bank fallen und biss lustlos in ihr Sandwich.

*

Als sie nach Hause kam, stieg Hanna bereits der Essensduft in die Nase. Der Tisch war schon gedeckt.

»Hi Mama. Was gibt’s denn Feines?«

»Hallo Hanna, du kommst genau richtig. Ich hab einen Nudelauflauf gemacht. Gehst du schnell hoch und weckst Papa? Der schläft noch, hat ja heute Nachtschicht.«

»Klar, mach ich.«

Als alle am Tisch saßen, begutachtete Hanna die Lage. Ihre Eltern schienen gut drauf zu sein, jedenfalls plapperte ihre Mutter in einem fort und ihr Vater freute sich wie ein kleiner Junge, dass es Nudeln gab. Das war Hannas Chance. Sie war fest entschlossen, sich nicht von ihrer Meinung abbringen zu lassen.

»Ich wollte mal mit euch reden. Wegen der Therapie«, begann sie.

Augenblicklich war die gute Stimmung verflogen, aber Hanna wusste, dass sie jetzt keinen Rückzieher machen durfte, wenn sie ihre Eltern von ihren Plänen überzeugen wollte.

»Wir hatten uns ja darauf geeinigt, dass ich diese Medikamente noch einmal ausprobiere«, fuhr sie fort. »Aber ich habe sie nicht genommen. Und ich will sie auch nicht mehr nehmen. Ich vertraue Frau Doktor Bergmann nicht und ich werde nicht wieder mit ihr sprechen.«

Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Keiner dachte mehr an das Essen.

»Hanna, du weißt, wie lange wir nach einem neuen Therapieplatz gesucht haben. Das kannst du doch jetzt nicht einfach wieder hinschmeißen.«

Ihr Vater versuchte, ruhig zu klingen, aber das Zittern in seiner Stimme verriet, wie aufgebracht er war. Hanna wusste, dass er sich Sorgen um sie machte.

»Sie hält mich für verrückt und ich bin nicht verrückt! Es ist nicht richtig, mit ihr über meine Träume zu sprechen, das spüre ich einfach. Ich werde da nicht mehr hingehen. Tut mir leid!«

Hanna konnte sich gut vorstellen, was sie ihren Eltern damit antat. Immerhin war die Odyssee von einem Therapeuten zum nächsten für alle anstrengend gewesen. Aber sie musste jetzt an sich denken und auf ihr Gefühl hören.

Ihre Mutter sagte immer noch kein Wort, sondern starrte nur auf ihren Teller. Dann knallte ihr Vater seine Gabel auf den Tisch.

»Verdammt noch mal, Hanna, so geht das nicht! Du wirst diese Therapie nicht abbrechen! Es war schwer genug, eine neue Therapeutin zu finden, und auf mich macht Frau Doktor Bergmann einen durchaus fähigen Eindruck«, polterte er los. »Also reiß dich gefälligst zusammen!« Damit war das Thema für ihn offensichtlich erledigt.

Hanna spürte, wie ihr die Tränen kamen, und plötzlich stieg Wut in ihr auf. Warum nahmen ihre Eltern sie nicht ernst?

»Ich fasse es einfach nicht! Meint ihr, mir macht es Spaß, von einem Therapeuten zum nächsten zu rennen? Und wieso vertraut ihr mir nicht, wenn ich euch sage, dass mir die Sitzungen bei Frau Doktor Bergmann nichts bringen? Ich bin nicht verrückt! Verdammt noch mal, wie oft soll ich euch das eigentlich noch sagen?« Verzweifelt wandte sie sich an ihre Mutter: »Ich möchte nicht mehr dahin! Bitte Mama, sie glaubt mir doch sowieso nicht.«

Ihrer Mutter lief eine Träne über die Wange, doch Hanna hatte kein Mitleid mit ihr. Sie war viel zu sauer und enttäuscht von ihren Eltern, um Mitgefühl zu empfinden.

»Wir glauben doch gar nicht, dass du verrückt bist. Das solltest du auch endlich verstehen«, sagte ihr Vater, dieses Mal sanfter.

»Aber etwas stimmt nicht mit dir. Die Träume, die du hast, sind nicht normal. Das weißt du selbst, Kleines. Und du leidest schon viel zu lange darunter. Wir alle leiden schon viel zu lange. Und wir wollen, dass du Hilfe bekommst.«

Hanna wusste, wie sehr es ihren Eltern zu schaffen machte, dass sie nicht mehr das ausgelassene, unbeschwerte Mädchen von früher war. Aber das war doch nicht ihre Schuld!

»Tut mir leid, dass ich nicht so bin, wie ihr mich gern hättet! Tut mir leid, dass ich euch das Leben schwer mache!« Hanna spürte, wie sich ihr Brustkorb unangenehm zusammenzog. Sie hielt es in diesem Haus einfach nicht mehr aus.

»Wisst ihr was? Bald bin ich achtzehn. Dann könnt ihr mich nicht mehr zwingen, zu dieser Frau zu gehen!«

Hanna sprang auf und warf dabei ihren Stuhl um, der mit einem lauten Knall zu Boden fiel. »Ich hab keinen Hunger mehr!«, schrie sie und stürmte aus der Küche.

Die Wut pochte in ihren Ohren, wilde Gedanken strömten durch ihren Kopf, als Hanna über die Terrasse auf die Wiese rannte. Ihr Vater rief ihr noch irgendetwas hinterher, aber Hanna hörte schon gar nicht mehr hin.

Hanna war sich sicher, dass ihre Eltern sie liebten, aber sie war sich auch sicher, dass sie lieber ein ganz normales Kind gehabt hätten. Eines, das Freunde hatte, das auch mal bei einer Freundin übernachten könnte, wie andere Mädchen in ihrem Alter. Sie wollten die alte Hanna zurück, das fröhliche Mädchen, das sie mal gewesen war – vor diesen Träumen.

Hanna dachte wieder an die Nacht zurück, in der ihre Mutter verzweifelt an ihrem Bett gesessen hatte. Die Nacht, in der eine fremde Stimme aus ihr gesprochen hatte. Das war inzwischen schon über vier Jahre her. Nicht einmal Hanna selbst war klar, wann sie angefangen hatte, von dieser Frau zu träumen – dieser Frau, deren Gesicht ihr so oft erschienen war, dass sie es inzwischen in- und auswendig kannte. Augenblicklich sah sie es wieder vor sich: die zarten, blassen Wangen, das dunkle Muttermal am Kinn, das blonde, lange Haar.

Genau genommen wünschte sich Hanna dasselbe wie ihre Eltern: Auch sie wollte lieber ein ganz normales Mädchen sein. Sie wollte Freundinnen haben, einen Freund – irgendwann – und einfach ganz normal erwachsen werden dürfen.

Hanna war in den Wald gelaufen, der hinter der Wiese begann. Hierhin zog sie sich immer zurück, wenn sie unglücklich war. Sie lehnte sich an den großen alten Baum und atmete tief ein. Vielleicht war dieser Baum ihr einziger richtiger Freund. Wie oft schon hatte er sich ihre verzweifelten Selbstgespräche anhören müssen? Wie oft waren ihre Tränen zwischen seinen Wurzeln versickert? Und wie oft hatte sie ihre ganze Wut mit Stöcken an seiner dicken Rinde ausgelassen? Trotzdem strahlte dieser uralte Baum eine unglaubliche Ruhe aus.

Sie musste dringend ihre Gedanken sortieren.

Konzentrier dich, Hanna, komm schon!, sagte sie sich immer wieder. Ich bin Johanna Friedrich. Und ich bin nicht verrückt!

Nach einer Weile hörte sie auf zu zittern und die größte Wut war verflogen. Ihre Eltern meinten es nur gut mit ihr. Darum würden sie früher oder später auch verstehen, warum sie nicht mehr zu dieser Frau Doktor Bergmann gehen wollte. Sie würden es akzeptieren, so wie sie es bisher jedes Mal getan hatten.

Doktor Bergmann war in Hannas Augen eine Ärztin, die sich nur auf ihre Medikamente verließ. Üblich war es jedenfalls nicht, dass ein Arzt so schnell Medikamente verordnete, das wusste Hanna aus ihrer Erfahrung mit anderen Psychiatern. Wenn ihr jemand nach dem ersten Kennenlernen ein Fläschchen mit Tropfen hinstellte, dann hatte dieser Mensch Hannas Vertrauen verloren, noch ehe es sich überhaupt aufgebaut hatte. Auch wenn sie in der Vergangenheit noch nicht allzu häufig Medikamente verordnet bekommen hatte – es war meist bei Gesprächstherapien geblieben –, wusste Hanna genau: Mit Medikamenten konnte man vielleicht ihre Sinne betäuben, aber in Bezug auf ihre Träume waren sie nutzlos. Diese Frau Bergmann würde kein Wort mehr aus Hanna herausbekommen, so viel stand fest.

Hanna kam sich inzwischen regelrecht bewacht vor, wenn sie schlafen ging. Ihr war vollkommen klar, dass ihre Eltern sie nachts belauschten. Vielleicht hofften sie, dass Hanna irgendwann von selbst aufhören würde zu träumen. Dass sie sich dann keine Sorgen mehr um sie machen müssten. Dass der Albtraum, den diese Familie seit Jahren durchlebte, endlich vorbei sein würde.

Hanna hätte gern ihr Zimmer abgeschlossen, um ihre Eltern daran zu hindern, sie nachts zu beobachten. Doch das Privileg eines Zimmerschlüssels, um ihre Tür auf »normale« Art und Weise zu versperren, war ihr nie gewährt worden. An manchen Abenden schob sie darum vor dem Schlafengehen den Schreibtisch vor die Tür, doch das gab am nächsten Morgen immer riesige Diskussionen. Außerdem dachte sie bei dem Anblick der blockierten Tür jedes Mal: Was ist eigentlich noch »normal« in dieser Familie?

Manchmal stellte sich Hanna sogar vor, ihre Eltern könnten heimlich Kameras in ihrem Zimmer angebracht haben. Wie in einem Schlaflabor. So wäre Hanna niemals unbeobachtet gewesen, nicht einmal in ihrem eigenen Zimmer.

Der schlimmste Augenblick in Hannas Leben war gewesen, als sie sich zum ersten Mal selbst beim Schlafen zusehen musste. Die Erinnerung an diesen Tag war so lebendig, dass Hanna bei dem Gedanken daran den Schmerz der Erkenntnis immer noch spüren konnte.

Sie war noch keine vierzehn Jahre alt gewesen, als ihre Eltern sie tatsächlich einmal auf Video aufgenommen hatten. Sie hatte sich die Aufnahme zusammen mit ihren Eltern bei dem Schulpsychologen ansehen müssen.

Hanna saß damals zwischen ihren Eltern auf der Couch, als der Fernseher anging und sie sich selbst in ihrem Kinderzimmer sah: Sie schlief unruhig, drehte sich von einer Seite zur anderen, murmelte unverständliches Zeug und schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie sich gegen etwas wehren. Doch dann passierte etwas, was sie selbst niemals für möglich gehalten hätte: Sie öffnete den Mund und fing an zu sprechen. Doch die Stimme klang rau, zittrig und etwas verzerrt. Sie klang ganz und gar nicht wie Hannas eigene Stimme. Es war nicht die Stimme eines jungen Mädchens. Sie klang alt, unglaublich alt. Älter noch als die Stimme ihrer eigenen Großmutter.

»Wie geht es dir, Kleines?«, sagte die Stimme, mehr war nicht zu verstehen.

Die Panik, die in diesem Moment ihren ganzen Körper erfüllte, war nicht zu beschreiben. Wie konnte so etwas möglich sein? Was war nur mit ihr los? An diesem Tag war Hanna klar geworden, dass sie krank sein musste. Einfach verrückt. Absolut bekloppt.

War es der Gedanke an jenen Tag, der ihr diese Gänsehaut bescherte? Oder war es im Herbst einfach schon zu kalt, um ohne Mantel auf dem Waldboden zu sitzen? Hanna schüttelte die Gedanken an diesen furchtbaren Tag ab und lief zurück zum Haus.

*

Am nächsten Schultag saß Hanna in der Pause wieder auf ihrer Lieblingsbank und blätterte gedankenverloren in einem Magazin.

»Hey Hanna, warum warst du nicht in Deutsch?«

Sie fuhr vor Schreck zusammen, doch als sie sich umdrehte, breitete sich sofort eine angenehm warme Gänsehaut über ihren Nacken aus. Es war Joshua. Er hatte sich auf die Lehne der Bank gesetzt. So dicht neben sie, dass sein rechtes Bein ihren Rücken berührte.

»Mensch Joshua, du hast mich zu Tode erschreckt!«

»Also ›erschreckend‹ siehst wohl eher du aus. Was ist denn los mit dir?« Als er sah, dass seine Worte sie kränkten, setzte er hastig ein unbeholfenes »… nicht, dass du nicht trotzdem schön bist!« hinzu.

Hanna wurde ein kleines bisschen rot, fing sich aber ganz schnell wieder. Was dachte sich dieser Junge eigentlich? Wie konnte er so tun, als wäre es vollkommen normal, ihr zu sagen, sie sei schön? Sie schaute ihn immer noch verdattert an. Machte er sich etwa lustig über sie? Nein, sein Gesichtsausdruck war total ernst. Aber Hanna hatte absolut keine Ahnung, wieso ihn interessieren könnte, wie es ihr ging.

Als Hanna ihre Gedanken sortiert hatte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass er sie immer noch anschaute – und sie noch immer keinen Ton gesagt hatte.

»Äh, ja, ähm … ich hab nur ein bisschen schlecht geschlafen … Darum war ich auch nicht in Deutsch. Bin wohl noch mal eingeschlafen, nachdem ich den Wecker ausgemacht hatte. War Frau Bernhard sehr sauer?«

Joshua grinste sie zufrieden an. Als würde er sich darüber freuen, den schüchternen Freak in ein Gespräch verwickelt zu haben.

»Ach Quatsch! Ich bin mir nicht mal sicher, ob es ihr überhaupt aufgefallen ist. Die war wieder einmal so beschäftigt mit sich selbst und ihrer komischen Brille, dass sie die Anwesenheitsliste gar nicht durchgegangen ist.«

Bei dem Gedanken an die Deutschlehrerin musste auch Hanna ein wenig grinsen. Frau Bernhard trug eine dunkelrote Hornbrille, aus der immer wieder ein Glas herausfiel. Hanna war sich sicher, dass die Brille einen unschätzbaren Wert für sie haben musste. Warum sonst kaufte sie sich nicht einfach endlich eine neue? Früher oder später würde dieses Ding sie noch in den Wahnsinn treiben. Vielleicht war die Brille aber auch eine Art Glücksbringer. Auf alle Fälle passte sie perfekt zu Frau Bernhards bunten Strickpullovern und dem Holzschmuck, den sie immer trug. Eigentlich fand Hanna es traurig, dass sich alle wegen der Brille über diese Frau lustig machten. Sie mochte Frau Bernhard. Sie schien ein wirklich guter Mensch zu sein.

»Hast du schlecht geträumt?«, fragte Joshua unvermittelt.

Augenblicklich begann Hannas Puls zu rasen. Bevor sie über ihr Handeln nachdenken konnte, war sie aufgesprungen. Panisch rannte sie über den Schulhof ins Hauptgebäude und zur Mädchentoilette. Sie schloss sich ein und starrte die Toilettentür an. Als sie wieder zu Atem gekommen war, konnte sie auch wieder einigermaßen klar denken. Was war das denn bitte schon wieder für eine Aktion gewesen? Nun führte sie sich auch noch Joshua gegenüber auf wie eine Geisteskranke. Er hatte ihr eine vermeintlich normale Frage gestellt und sie rannte davon wie von der Tarantel gestochen. Dabei wusste er doch gar nichts von ihren Träumen. Er konnte gar nichts davon wissen. Was würde er nun bloß von ihr denken? Wie sollte sie das denn jemals erklären?

Tränen strömten über ihre heißen Wangen, ihre Schultern bebten. Sie war so schrecklich verzweifelt und wusste nicht einmal genau weshalb, was ihre Verzweiflung nur noch größer machte. Es war ihr doch immer relativ egal gewesen, was die anderen von ihr dachten. Zumindest hatte sie sich damit abgefunden, dass es ihr gleichgültig sein musste. Eigentlich kam es ihr sogar recht gelegen, dass keiner etwas mit ihr zu tun haben wollte. Sie hätte ohnehin niemanden näher an sich herangelassen.

Kurz nach dem ersten Termin beim Schulpsychologen hatte sie sich strikt geweigert, das Gelände ihrer alten Schule jemals wieder zu betreten. Alle hatten längst mitbekommen, dass mit ihr etwas nicht stimmte, und sich über Hanna lustig gemacht. Hanna hatte so sehr unter dem Spott und der Ausgrenzung gelitten, dass sie ihre Eltern schließlich von einem Schulwechsel überzeugen konnte. Seit diesem Tag war ihr oberstes Ziel, nie wieder jemandem von ihren Träumen zu erzählen. Was leider auch bedeutete, dass sie niemand an der neuen Schule wirklich kennenlernen durfte.

Hanna machte ihre Sache diesbezüglich recht gut. Für ihre Mitschüler war sie einfach nur »der Freak«. Eine Außenseiterin. Zumindest war Hanna fest davon überzeugt, dass alle so von ihr dachten. Wieso machte es ihr also etwas aus, dass Joshua nun endlich auch zu dieser Überzeugung gelangt sein musste? Sie fragte sich, was so schlimm daran war, dass er von nun an auch einen großen Bogen um sie machen würde. Und wieso, verdammt noch mal, heulte sie auch noch deswegen?

Als Hanna sich ein wenig beruhigt hatte, spritzte sie sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete für einen Moment ihr Spiegelbild. Nachdem ihre Wangen wieder eine halbwegs normale Farbe angenommen hatten, machte sie sich auf den Weg zum nächsten Kurs. Sie hatte Englisch und war heilfroh, dass es einer der Kurse war, die Joshua nicht belegte. So blieb ihr noch ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken, wie sie sich verhalten würde, wenn sie ihm zum nächsten Mal über den Weg lief.

Nach der letzten Schulstunde stieß Hanna auf dem Flur beinahe mit Joshua zusammen. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Joshua hob die Hände und warf sich zur Seite, um ihr auszuweichen.

Das darf doch nicht wahr sein!, war Hannas einziger Gedanke.

»Na, du hast es ja schon wieder so eilig!«, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

Und nun? Eine Weile starrte sie einfach beschämt auf ihre Füße. »Sorry wegen vorhin. Ich war … mir war … schlecht, ich weiß auch nicht. Es tut mir jedenfalls wirklich leid, dass ich dich einfach so sitzen lassen habe«, stammelte sie dann. »Bist du mir sehr böse?«

Als er sie angrinste und ihr spielerisch den Arm um die Schultern legte, fiel Hanna ein riesiger Stein vom Herzen.

»Ist schon okay«, sagte Joshua. »War zugegebenermaßen eine komische Reaktion, aber ich bin nicht nachtragend. Ich geh mal davon aus, dass du mir nicht erzählen möchtest, was los war. Aber das musst du auch nicht, ich wünsche dir trotzdem noch einen schönen Tag.«

Mit dem Zeigefinger streichelte er ihr kurz über die Wange, drehte sich um und verschwand hinter der nächsten Ecke. Hanna blieb noch einen Moment stehen und schaute den immer leerer werdenden Flur hinunter. Dann huschte ihr ein Grinsen übers Gesicht und sie machte sich auf den Weg zum Ausgang.

Wegen des Beinahe-Zusammenstoßes mit Joshua hatte sie natürlich den Bus verpasst. Doch statt sich darüber zu ärgern oder eine Ewigkeit auf den nächsten Bus zu warten, beschloss sie kurzerhand, sich zu Fuß auf den Heimweg zu machen und die frische Luft zu genießen. Die bunten Blätter an den Bäumen und der Geruch nach Laub zauberten ihr ein Lächeln auf die Lippen. Wie schön das Leben doch sein konnte! Immer wieder musste sie an Joshuas Lächeln denken, an die kleinen Lachfältchen um seine wunderschönen braunen Augen und an die niedlichen Grübchen in seinen Wangen. Sein Gesicht ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Was war nur mit ihr los? Kopfschüttelnd beschloss Hanna, das Glücksgefühl einfach zuzulassen. Es zu genießen und nicht darüber nachzudenken. Das war ihr Plan für den Rest des Tages.

So schwebte Hanna den ganzen Weg nach Hause, an ihrer Mutter vorbei und nach oben in ihr Zimmer. Glücklich ließ sie sich in ihre fliederfarbenen Kissen fallen. Ihr Blick schweifte durch ihr Zimmer und sie verzog etwas grimmig den Mund, als sie den riesigen Stapel schmutziger Wäsche sah, der sich inzwischen auf ihrem Schreibtischstuhl auftürmte. Hanna liebte ihr Zimmer, da sie es sich zu ihrem letzten Geburtstag ganz neu und nach ihrem Geschmack hatte einrichten dürfen. Ihre hellen Möbel passten perfekt zu dem dunklen Boden und dem hellen Beige an den Wänden. Allerdings war es mal wieder höchste Zeit aufzuräumen.

An diesem Abend schlief Hanna seelenruhig und mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Zuerst träumte sie sogar von Joshua. Doch als sie in der Nacht schweißgebadet aufwachte, hatte sie das Gesicht der Frau vor Augen. Offenbar hatte sie schon wieder von ihr geträumt.

Sofort erfüllte Hanna die Angst, sie könnte wieder im Schlaf gesprochen haben. Ihr ganzer Körper zitterte. Es war ein schreckliches Gefühl, sich vor sich selbst zu fürchten und nicht einmal sagen zu können, was einem eigentlich solche Angst machte.

Es war nicht die Frau selbst, die Hanna Angst machte. An ihr war nichts Bedrohliches. Ganz im Gegenteil. Ihr Blick flößte Hanna Vertrauen ein, in ihm lagen Herzlichkeit, Zuneigung und Liebe. Doch diese Liebe konnte ja eigentlich unmöglich Hanna gelten. Sie wusste ja nicht einmal, wer diese Frau war.

Wie es der Zufall so wollte, hatte sie ausgerechnet an diesem Abend vergessen, ihre Tür mit dem Tisch zu versperren. Leise stieg sie aus dem Bett und ging zur Tür, um diese vorsichtig einen Spaltbreit zu öffnen. Doch im Haus war alles ruhig. Ihre Eltern schienen zu schlafen. Keiner hatte es bemerkt. Dieses Mal hatte sie Glück gehabt. Aus Angst vor einem weiteren Traum entschied sich Hanna, einfach wach zu bleiben. Erst in drei Stunden würde ihr Wecker klingeln, also klappte sie ein Buch auf und fing an zu lesen. Es fiel ihr sehr schwer, sich zu konzentrieren. Sie war so müde, dass die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Außerdem musste sie immer wieder an die blonde Frau mit dem Muttermal denken. Und daran, dass diese Träume wohl niemals einfach so verschwinden würden. Nachdem Hanna quälende drei Stunden gegen den Schlaf angekämpft hatte, gab ihr Wecker schließlich den ersehnten Piepton von sich.

*

Dass die letzte Nacht nicht gerade erholsam für sie gewesen war, merkte Hanna im Matheunterricht. Den Kopf in die Hand gestützt, fielen ihr immer wieder die Augen zu, bis sie sich irgendwann nicht mehr dagegen wehrte. Als Nächstes spürte sie nur noch, wie ihr Ellbogen wegrutschte. Sie schreckte hoch. Um ein Haar wäre sie mit dem Kopf auf die Tischplatte geknallt! Von allen Seiten hörte sie Flüstern und Kichern. Sofort drehte sich Hanna nach Joshua um, doch als sie seinen Blick einfing, war dieser keineswegs schadenfroh. Eher mitleidig oder ratlos. Würde er sie in der nächsten Pause wieder fragen, wieso sie heute so müde war? Sollte sie ihm dann schon wieder erzählen, sie habe Schlafprobleme? In gewisser Weise stimmte das ja sogar …

Hanna war es schrecklich peinlich, dass Joshua diese Szene mitbekommen hatte. Bestimmt würde er sich jetzt von ihr abwenden. Hanna verstand ohnehin nicht, wieso er die ganze Zeit so nett zu ihr gewesen war. Er hatte mehr als genug Freunde, alle mochten ihn. Als regelrechte Sportskanone hatte er den Respekt der Jungs. Und die Mädels flogen sowieso auf ihn. Sicherlich nicht zuletzt wegen der süßen Grübchen und der haselnussbraunen Augen, an die auch Hanna ständig denken musste. Doch obwohl alle weiblichen Wesen dieser Schule für ihn schwärmten – was unschwer an ihrem vorpubertären Verhalten erkennbar war –, sah man Joshua niemals mit einer Freundin.

»Johanna, was sagst du dazu?«