Heterogenität in der Pflegeausbildung - Jochen Martin - E-Book

Heterogenität in der Pflegeausbildung E-Book

Jochen Martin

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Beschreibung

Die Pflegeausbildung verändert sich in einem atemberaubenden Tempo. Während die inhaltliche Ausrichtung des Pflegeberufegesetzes generalistisch geworden ist, wird die Gruppe der Auszubildenden zunehmend heterogener: Die hohe Zahl der Menschen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen führt zwar zu einer kulturellen Vielfalt, nicht selten aber auch zu Sprachproblemen. Gleichzeitig werden die Unterschiede unter den Auszubildenden hinsichtlich des Leistungsniveaus, der sozialen Herkunft und der Generationenzugehörigkeit immer größer. Heterogenität ist eine Herausforderung, da es für pädagogisch Tätige schwieriger wird, einheitliche Lehr- oder Ausbildungsmethoden anzuwenden. Je verschiedener die Mitglieder einer Lerngruppe sind, desto individueller muss die Praxisanleitung oder der Theorieunterricht auf sie ausgerichtet sein. Und Manches, was als Heterogenität wahrgenommen wird, ist für die Betroffenen auch eine Hürde auf dem Weg zum Examen. Dieses Buch soll ein Leitfaden für Lehrende und Praxisanleitende sein, um mit den Problemen der Heterogenität umgehen zu können und gleichzeitig die Chancen der Vielfalt zu nutzen. Dies wird durch fundiertes Hintergrundwissen sowie praktische Beispiele und Übungen unterstützt.

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Der Autor

Jochen Martin, Dipl.-Pflegepädagoge, M. A. Erwachsenenbildung, Leitung Fort- und Weiterbildung am Evangelischen Bildungszentrum für Gesundheitsberufe Stuttgart gGmbH.

Jochen Martin

Heterogenität in der Pflegeausbildung

Ein Leitfaden für Praxisanleitende und Lehrende

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-044315-0

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-044316-7

epub:     ISBN 978-3-17-044317-4

Vorwort

Ursprünglich wollte ich Altenpfleger werden. Ich arbeitete nach dem Schulabschluss in einem Pflegeheim und war von der Tätigkeit fasziniert. Allerdings musste man damals an Altenpflegeschulen noch Schulgeld bezahlen und deswegen bewarb ich mich um einen Ausbildungsplatz an einer Krankenpflegeschule. Ich bekam diesen Platz nur, weil sich die Leiterin des Pflegeheims für mich einsetzte, denn der Kurs war, wie damals üblich, voll belegt.

Meine MitschülerInnen hießen Petra, Bettina, Claudia und so weiter und ich war der einzige Mann. Es gab auch eine Schülerin, Tiziana, deren Eltern aus Italien stammten. Sie sprach akzentfreies Deutsch und brachte uns manchmal Lasagne mit. Etwa jede Dritte im Kurs hatte Abitur, die anderen MitschülerInnen hatten einen guten mittleren Bildungsabschluss. Sie waren überwiegend Kinder von FacharbeiterInnen in der Maschinen- und Autoindustrie, die in unserer Gegend den industriellen Schwerpunkt bildeten, HandwerkerInnen, LehrerInnen und FreiberuflerInnen. Das Examen bestanden wir alle, auch deswegen, weil es damals eher unüblich war, eine 5 in der Abschlussprüfung zu vergeben.

Ich wechselte nach der Ausbildung das Krankenhaus, arbeitete einige Jahre als Pfleger und Praxisanleiter, später als verantwortlicher Praxiskoordinator, bevor ich Pflegepädagogik studierte. Natürlich veränderte sich in dieser Zeit im Krankenhaus und auch im Pflegeberuf viel, unter anderem nahm der ökonomische Druck zu. Was sich aber in meiner Erinnerung kaum veränderte, waren die Auszubildenden. Auch später, als ich Lehrer an einer Krankenpflegeschule arbeitete, fielen mir zunächst keine großen Veränderungen auf. Das änderte sich aber vor einigen Jahren. Die Ausbildungsklassen sind heute wesentlich vielgestaltiger als früher. Besonders augenfällig ist, dass die Zahl der Lernenden mit Migrationshintergrund deutlich zugenommen hat. Natürlich waren Auszubildende in der Pflege immer schon unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlichem Leistungsvermögen, unterschiedlichen Begabungen, Interessen und Erfahrungen. Trotzdem ist es augenfällig: Die Verschiedenheit der Auszubildenden, ihre Heterogenität, prägt die Ausbildung in der Schule oder in der Praxis heute mehr als in der Vergangenheit.

Heterogenität ist eine Herausforderung, weil es für pädagogisch Tätige schwieriger wird, einheitliche Lehr- oder Ausbildungsmethoden anzuwenden. Je verschiedenartiger die Mitglieder einer Lerngruppe sind, desto individueller muss die Praxisanleitung oder der Theorieunterricht auf sie ausgerichtet sein. Und Manches, was wir als Heterogenität wahrnehmen, ist für die Betroffenen auch eine Hürde auf dem Weg zum Examen.

Meine Krankenpflegeschule gibt es schon lange nicht mehr und auch das Kreiskrankenhaus, in dem ich in der Praxis eingesetzt war, ist längst Teil eines großen Klinikverbundes. Das Pflegeheim, in dem ich meine Berufskarriere begonnen habe, ist heute eine Flüchtlingsunterkunft. Das Krankenpflegegesetz ist vom Pflegeberufegesetz abgelöst worden, die getrennten Ausbildungsgänge in der Pflege von der generalistischen Ausbildung.

Alle Veränderungen haben negative und positive Seiten. Die Vielgestaltigkeit in der Pflegeausbildung ist gleichzeitig eine Herausforderung und eine Chance. PraxisanleiterInnen und LehrerInnen, aber auch das Management der Schulen und Pflegeeinrichtungen und die Politik sind aufgefordert, Konzepte zu entwickeln und die Rahmenbedingungen zu gestalten, damit auf die Herausforderungen der Heterogenität angemessen reagiert werden kann. Und gleichzeitig sollten sich alle Beteiligten auch immer vor Augen führen, was Heterogenität auch sein kann:

Eine Möglichkeit, voneinander zu lernen.

Ich hoffe, dass diese Haltung im vorliegenden Buch zum Ausdruck kommt.

Jochen Martin

Januar 2024

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1          Heterogenität in der Pflegeausbildung

1.1        Was ist Heterogenität?

1.2        Die Merkmale pflegerischen Handelns

1.3        Was müssen Auszubildende in der Pflege lernen?

1.4        Gesetze und Verordnungen: Erwartungen an die Ausbildung

1.5        Der Deutsche Qualifikationsrahmen als Vergleichsmaßstab

1.6        Zusammenfassung

2          Dimensionen der Heterogenität in der Pflegeausbildung

2.1        Sprache

2.1.1      Sprachformen

2.1.2      Wie lernt man eine Sprache?

2.1.3      Sprachniveaus

2.1.4      Zusammenfassung

2.2        Kulturelle Heterogenität

2.2.1      Kulturgeprägte Kommunikation

2.2.2      Autorität und Macht

2.2.3      Geschlechterrollen

2.2.4      Raum, persönliche Distanz, Zeit

2.2.5      Individualismus, Autonomie und Kollektivismus

2.2.6      Die Sicht der MigrantInnen

2.2.7      Zusammenfassung

2.3        Soziale Schicht und Milieu

2.3.1      Wie kann soziale Heterogenität beschrieben werden?

2.3.2      Typische Verhaltensweisen im Milieu: Der Habitus

2.3.3      Soziale Milieus, Bildungstypen und Verhalten in der Ausbildung

2.3.4      Zusammenfassung

2.4        Alter und Generationenzugehörigkeit

2.4.1      Die Babyboomer

2.4.2      Die Generation X

2.4.3      Die Generation Y

2.4.4      Die Generation Z

2.4.5      Problemfelder: Konflikte zwischen den Generationen

2.4.6      Zusammenfassung

2.5        Intelligenz

2.5.1      Was ist Intelligenz?

2.5.2      Intelligenz und Lernen

2.5.3      Emotionale Intelligenz – Emotionale Kompetenz

2.5.4      Praktische Intelligenz- Praktische Kompetenz

2.5.5      Zusammenfassung

3          Der Umgang mit Heterogenität in der Pflegeausbildung

3.1        Lernen

3.1.1      Lerntechniken zur Informationsverarbeitung

3.1.2      Wissen aufbauen: Die Verarbeitung von Informationen

3.2        Sprache fördern

3.2.1      Sprachdiagnostik

3.2.2      Maßnahmen zur Sprachförderung

3.2.3      Zusammenfassung

3.3        Unterschiedliche Kulturen im Unterricht und in der Praxisanleitung zum Thema machen

3.3.1      Die eigene Kultur und die der anderen

3.3.2      Interkulturelle Kommunikation

3.3.3      Zusammenfassung

3.4        Verschiedene soziale Schichten in der Pflegeausbildung fördern

3.4.1      Die Lehrenden und Praxisanleitenden: Den eigenen Habitus reflektieren

3.4.2      Der Habitus der Auszubildenden

3.4.3      Lernen in der Pflegepraxis

3.4.4      Lernangebote differenzieren

3.4.5      Zusammenfassung

3.5        Verschiedene Generationen in der Pflegeausbildung fördern

3.5.1      Prüfungsrelevanz im Fokus

3.5.2      Praxisrelevanz

3.5.3      Vielseitigkeit und Abwechslung

3.5.4      Handlungsspielraum oder Kompetenzüberschreitung

3.5.5      Erwartungen an Praxisanleitende und Lehrende

3.5.6      Sich wohl fühlen – Nestwärme

3.5.7      Konflikte

3.5.8      Zusammenfassung

3.6        Mit unterschiedlichen Voraussetzungen umgehen: Kognitive Leistungsfähigkeit

3.6.1      Diagnostik der Leistungsunterschiede

3.6.2      Adaptive Lehrkompetenz – Kompetenzen der Lehrenden

3.6.3      Umgang mit leistungsbezogener Heterogenität

3.6.4      Innere Differenzierung, Binnendifferenzierung

3.6.5      Selbststeuerung oder Fremdsteuerung?

3.6.6      Lernportfolio

3.6.7      Kooperatives Lernen – Gruppenunterricht

3.6.8      Stationenlernen

3.6.9      Individuelle Förderung

3.6.10    Zusammenfassung

3.7        Förderung von Empathie als Element der emotionalen Intelligenz

3.8        Förderung der praktischen Kompetenz

4          Persönlichkeit als Heterogenitätsmerkmal – Grenzen in der Pädagogik

4.1        Das Big-Five-Modell

4.2        Anforderungen des Pflegeberufs

4.3        Möglichkeiten und Grenzen der Intervention

5          Umgang mit Heterogenität – eine Überforderung?

Literatur

Einleitung

Heterogenität beschreibt in der Pädagogik die Verschiedenartigkeit der Lernenden. Dabei geht es besonders darum, diese Unterschiedlichkeit als Voraussetzung des Lernens in den Blick zu nehmen.

Die Heterogenität der Auszubildenden kann für PflegelehrerInnen und PraxisanleiterInnen ein Problem darstellen. In einem durch Zeitknappheit geprägten Berufsalltag fällt es oft schwer, sich immer wieder auf ganz unterschiedliche Menschen einzustellen. Die Anleitungsmethodik, die für einen jungen Auszubildenden mit Migrationshintergrund effektiv ist, eignet sich für eine dual studierende Auszubildende mittleren Alters vielleicht nicht. Der Unterricht in einer Klasse mit unterschiedlichen Sprachkompetenzen ist inhaltlich wie methodisch herausfordernder als in einer homogenen Gruppe.

Andererseits kann die Vielseitigkeit der Auszubildenden eine Bereicherung sowohl für die praktische Anleitung als auch für das Unterrichtsgeschehen sein. Von einem Flüchtling aus Syrien, der mit aller Kraft versucht, die Ausbildung trotz Sprachproblemen, sozialer Isolation und finanziellen Schwierigkeiten erfolgreich zu bewältigen, kann man sehr viel lernen. Ebenso von einer eigenwilligen Auszubildenden, die Mut zum Widerspruch aufbringt und sich nichts gefallen lässt.

Die Heterogenität der Auszubildenden spielt für die schulische Pflegeausbildung ebenso eine Rolle wie für die Praxisanleitung im Arbeitsfeld. Und es kommt sehr darauf an, welche Einstellung die pädagogisch Tätigen zu diesem Phänomen haben. Sowohl ein unangemessener Pessimismus als auch ein durchgängig romantisches Gleichsetzen von Heterogenität mit »Buntheit« (Budde, 2023, S. 24) ist hier unangemessen. Vielmehr ist ein realistischer Blick sinnvoll, der Chancen und Probleme sieht und aktiv angeht.

In diesem Buch sollen wichtige Themen, diskutiert werden, die im Zusammenhang mit dem Phänomen Heterogenität stehen:

Was ist Heterogenität und wie lässt sich der Begriff in die aktuelle pädagogische und pflegepädagogische Diskussion einordnen? Inwieweit erleichtern oder erschweren die individuellen Besonderheiten der Auszubildenden die Lernprozesse für die Einzelnen oder die Lerngruppen?

Um diese Frage beantworten zu können, muss darüber nachgedacht werden, was in der Pflegeausbildung erreicht werden soll, welche Ziele die Pflegeschulen und die Praxisanleitung anstreben. Diese Fragen sind Gegenstand des ersten Kapitels (Kap. 1).

Welche Dimensionen spielen eine Rolle, wenn man von Heterogenität spricht? Zum Beispiel die Sprachkompetenz, kulturbedingte Besonderheiten, das soziale Milieu, Haltungen oder Lernstrategien der verschiedenen Generationen oder auch die kognitive, emotionale oder praktische Leistungsfähigkeit. Wie kann man dies Dimensionen gegebenenfalls diagnostizieren? Das sind Themen des zweiten Kapitels (Kap. 2).

Im dritten Kapitel (Kap. 3) wird es darum gehen, was PraxisanleiterInnen und LehrerInnen tun können, um problematischen Folgen der Heterogenität zu begegnen. Thematisiert wird hier zum Beispiel, wie die Sprachfertigkeit verbessert werden kann, wie kulturbedingte Besonderheiten in der Pädagogik berücksichtigt werden können, wie der Unterricht in leistungsheterogenen Gruppen oder in der Praxisanleitung aussehen kann usw.

Im vierten Kapitel (Kap. 4) geht es um das Heterogenitätsmerkmal Persönlichkeit und das Modell der Big Five, das Persönlichkeitsfaktoren benennt. Spätestens bei der Beschäftigung mit diesen sehr individuellen Merkmalen werden die Grenzen der Einflussnahme durch PädagogInnen oder PraxisanleiterInnen deutlich.

Im letzten Kapitel (Kap. 5) wird die Frage gestellt, ob die Rahmenbedingungen für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen vorhanden sind und LehrerInnen und PraxisanleiterInnen die Chance haben, die vorhandenen Ideen umzusetzen.

Die Themen dieses Buches sollen soweit möglich auf wissenschaftlicher Grundlage dargestellt werden. Leider gibt es noch einige Lücken sowohl was die Phänomenbeschreibungen als auch die pädagogischen Strategien anbelangt. Selbst die Statistik liefert oft nicht alle notwendigen Daten.

Das Buch ist als Leitfaden für Lehrende in Schulen und Anleitende in der Pflegepraxis gedacht. Die Thematik ist dabei im ständigen Wandel begriffen, und es gilt Erfahrungen zu sammeln und, wo nötig, Korrekturen anzubringen, wie es die Pädagogik immer schon tun musste.

Ich verwende im Buch authentische, aber anonymisierte Fallbeispiele, die zentrale Elemente der Kapitel aufgreifen.

Bei der Auseinandersetzung mit den Dimensionen von Heterogenität, zum Beispiel mit kulturbedingten oder leistungsbezogenen Unterschieden, besteht immer die Gefahr der Stigmatisierung. Sensibilität ist deswegen im Umgang mit diesen Themen unabdingbar. Gleichzeitig müssen aber relevante Problemfelder angesprochen werden, will man die Herausforderungen der Pflegeausbildung meistern. LehrerInnen und PraxisanleiterInnen in der Pflege müssen ExpertInnen beim Thema Heterogenität sein. Es handelt sich um eine zentrale pädagogische Kompetenz, ohne die die Pflegeausbildung nicht erfolgreich sein kann.

1          Heterogenität in der Pflegeausbildung

1.1        Was ist Heterogenität?

Fallbeispiel

Es ist der erste Blocktag für die neuen Auszubildenden der generalistischen Pflegeausbildung in der Schule. Die verantwortliche Klassenlehrerin hat alles vorbereitet. Zunächst plant sie ein Spiel, um sich gegenseitig kennenzulernen. Dann möchte sie die Auszubildenden motivieren, Wünsche und Erwartungen an die Ausbildung zu formulieren. Im Anschluss sollen Regeln für den Kurs aufgestellt werden, wie in der Schule miteinander umgegangen werden soll.

Sie weiß, welche Auszubildenden im Kurs sein werden. Von den 25 KursteilnehmerInnen haben nur acht einen Namen, der deutsch klingt, aber das sagt noch nicht viel aus. Sie hat die verschiedenen Nationalitäten aus den Bewerbungsunterlagen zusammengestellt: Syrien, Türkei, Georgien, Russland, Griechenland, Kamerun, Eritrea, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Vietnam, Albanien und Kosovo. Die Schulabschlüsse sind ebenfalls bunt gemischt: sechs Auszubildende haben Abitur oder eine andere Hochschulzugangsberechtigung, 14 haben einen mittleren Bildungsabschluss, fünf einen Hauptschulabschluss und eine Pflegehelferausbildung.

Die meisten Auszubildenden sind zwischen 17 und 22 Jahren alt. Dazu kommen sechs ältere Auszubildende: 50, 45 und 39 Jahre und drei Auszubildende, die 30 Jahre alt sind.

Ob die Planung für die ersten Stunden so funktionieren wird? Die Lehrerin ist sich unsicher.

Dass Auszubildende in der Pflege unterschiedliche Menschen sind, die sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden, ist eine Binsenweisheit. Zu den Unterscheidungsmerkmalen gehört zum Beispiel das Alter und das Geschlecht oder auch das Leistungsvermögen. Dabei sind es einerseits soziale und kulturelle und andererseits individuelle Unterschiede, die eine Rolle spielen.

Der Begriff Heterogenität benennt diese Vielfalt der Prägungen, Eigenschaften, Verhaltensweisen und Kompetenzen in einer Lerngruppe. Ein wichtiger Bezugspunkt ist dabei das Ausbildungsziel: Inwieweit fördern oder erschweren die verschiedenen Merkmale der Auszubildenden das Lernen?

Der Heterogenität wird in den letzten Jahren in der Pädagogik eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das hat verschiedene Gründe:

•  Die Heterogenität in den allgemeinbildenden Schulen und in den beruflichen Ausbildungseinrichtungen nimmt seit einigen Jahren zu. Mitverantwortlich sind dafür auch die großen Flüchtlingsbewegungen infolge des Syrien- und Ukrainekriegs. Die unterschiedlichen Merkmale der Lernenden wirken sich stärker auf das Unterrichtsgeschehen und den Ausbildungserfolg aus.

•  Die Ergebnisse der PISA-Studie (OECD, 2023) waren für das deutsche Bildungssystem ernüchternd. Die deutschen Schulen, so die Schlussfolgerungen, verstärken die soziale Ungleichheit der Schüler, statt sie zu reduzieren. Wer aus einem armen Elternhaus stammt, erreicht eher einen niedrigen Bildungsabschluss. Die sozialen Unterschiede wurden dadurch in den Fokus gerückt. Gleichzeitig geriet das in Deutschland übliche dreigliedrige Schulsystem in die Kritik. Pädagogische Strategie war hier traditionell, möglichst homogene, leistungsähnliche Klassen zu bilden. Im Vergleich zu anderen Ländern, die auf eine frühe leistungsbezogene Differenzierung verzichteten, schnitten die deutschen Schulen schlechter ab. Die Schlussfolgerung lag nahe, dass der eingeschlagene Weg, Homogenität statt Heterogenität, falsch war.

•  Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-Behindertenrechtskonvention o. J.) ratifiziert und sich dadurch verpflichtet, mit behinderten Menschen inklusiv umzugehen. Dadurch wurde ein Merkmal der Heterogenität in der Pädagogik breit diskutiert und praktisch in Angriff genommen.

Viele Reformen in den allgemeinbildenden Schulen, neben der Förderung der Inklusion zum Beispiel auch die Abschaffung der Hauptschulen zugunsten der Gemeinschaftsschulen, können als Reaktion auf diese Entwicklungen gedeutet werden.

Für die Pflegeausbildung ist die Heterogenität der Auszubildenden ein lange bekanntes Phänomen. Es hat sich allerdings mit der Zunahme des Personalmangels in allen Pflegebereichen deutlich verstärkt.

Pflegeauszubildende waren noch nie eine einheitliche, homogene Gruppe. Vielmehr haben sich bereits die SchwesternschülerInnen in den Mutterhäusern kirchlicher Gemeinschaften in ihrer sozialen Herkunft ebenso unterschieden, wie in ihren Persönlichkeitsmerkmalen und ihren Lernvoraussetzungen. Allerdings nahmen die Institutionen diese Verschiedenartigkeit erst dann zur Kenntnis, als der Widerstand der Pflegenden und Auszubildenden gegen die bisherige Normierung in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht mehr zu übersehen war. Es war besonders der Wunsch nach Individualität (Kittel, 2004, S. 108), der diesen Prozess in Gang setzte. Verbunden war diese Entwicklung mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen einerseits und einem »berufsspezifischen« Problem andererseits: Die drastisch sinkenden Eintrittszahlen in die Schwesternschaften.

Auch heute sind es gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die den Pflegeberuf und die Pflegeausbildung nachhaltig beeinflussen. Die demographische Entwicklung führt zu einem hohen Bedarf an professioneller Pflege. Gleichzeitig fehlen Pflegende und Auszubildende, weil die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Berufsleben ausscheiden und die geburtenschwachen Jahrgänge den Bedarf nicht decken können. Erschwerend kommen in der Pflege die teilweise problematischen Arbeitsbedingungen dazu, die viele junge Menschen abschrecken. Dass die Ausbildungskurse trotzdem noch gefüllt werden können, ist der größeren Zahl an Menschen mit Migrationshintergrund zu verdanken. Gleichzeitig wird seit Jahren versucht, auch Ältere für den Beruf zu gewinnen. Der Gesetzgeber versucht den Beruf für Studienwillige ebenso zu öffnen, wie für Jugendliche ab 16 Jahren. Auch das Leistungsniveau, das die Schulen bei den Bewerbern um einen Ausbildungsplatz voraussetzen, sinkt tendenziell und eröffnet so Bewerbern eine Chance, die bisher keine Möglichkeit hatten, die Pflegeausbildung zu beginnen.

Schließlich wirkt auch der Megatrend der Individualisierung, der die Gesellschaft immer stärker prägt, auf die Auszubildenden ein.

Das führt dazu, das die Pflegeauszubildenden heute eine weniger homogene Gruppe sind als noch vor zwanzig Jahren.

Die Pflegepädagogik reagiert auf diesen Trend, wenn auch mit Verzögerung. Besonders der Innovationsschub, der durch das Pflegeberufegesetz ausgelöst wurde, eröffnet neue Möglichkeiten. Die Pflegeschulen und auch die praktische Ausbildung sind offen für neue Ideen, allerdings stellt der Zeit- und Ressourcenmangel eine schwer zu überwindende Hürde dar.

Die Pflegeausbildung kann beim Thema Heterogenität auf eine Reihe von Ideen und praktischen Instrumenten aus der allgemeinen Pädagogik zurückgreifen. Sie müssen auf ihre Anwendbarkeit im Kontext dieser Berufsausbildung erprobt werden. Das bedeutet zunächst, den Bezug zum Begriff der Pflege und zu den Ausbildungszielen des Berufs herzustellen.

1.2        Die Merkmale pflegerischen Handelns

Die Unterschiede, die die Auszubildenden in die Schule oder die Praxis mitbringen und welche die Heterogenität ausmachen, spielen für LehrerInnen und PraxisanleiterInnen nur dann eine Rolle, wenn sie Auswirkungen auf das Ausbildungsziel haben.

Sprachprobleme sind ein ernstzunehmendes Hindernis, wenn es darum geht, mit PflegeempfängerInnen in Kontakt zu treten. Andererseits ist die sexuelle Ausrichtung der Auszubildenden für den Lernerfolg nicht von Belang.

Insofern muss zunächst bestimmt werden, was eine professionelle Pflege ausmacht, um dann, in einem zweiten Schritt, die Fähigkeiten, Einstellungen und Haltungen zu bestimmen, die mit Blick auf die Heterogenität der Auszubildenden problematisch sein können und pädagogische Förderung verlangen.

Die Pflegepraxis

Pflege ist das, was Pflegende täglich tun. Diese Aussage ist trivial und plausibel, greift aber zu kurz.

Richtig ist sie, weil sich Pflege in Handlungen äußert, die den Arbeitsalltag bestimmen und von Angehörigen, PflegeempfängerInnen und Auszubildenden beobachtet werden können. Für einen Beobachter erscheinen Pflegetätigkeiten vielleicht als mehr oder weniger komplexe Handlungen, denen mehr oder weniger anspruchsvolle Fertigkeiten entsprechen. Die Fertigkeiten lassen sich lernen und durch Wiederholung festigen. Dieser Teil der Pflege setzt ein normales Maß an praktischem Geschick voraus. Von Pflegenden wird in diesem Zusammenhang auch prozedurales Wissen gefordert – Wissen, wie eine Handlung durchgeführt werden muss.

Pflege findet oft unter Bedingungen statt, die für Laien ungewohnt und schwierig sind. Pflegende arbeiten nahe am Pflegeempfänger und überschreiten dabei, wie zum Beispiel bei der Körperpflege, gesellschaftliche Tabus. Darüber hinaus muss Pflege häufig unter Bedingungen durchgeführt werden, die unangenehm sind: Ekelerregende Gerüche, der Anblick von Ausscheidungen, Wunden oder Blut gehört zur Normalität.

Pflegen zu können setzt unter dieser Perspektive die Fähigkeit voraus, mit solchen Umgebungsfaktoren umgehen zu können. Das kann besonders zu Beginn der Berufstätigkeit eine Herausforderung sein.

Das Problematische an dieser Vorstellung von Pflege ist, dass sie wesentliche Elemente des beruflichen Handelns übersieht. Betrachtet man nur die Fertigkeiten, die Pflegende verrichten, kann man zu dem Schluss kommen, dass dazu nur wenige Kompetenzen erforderlich sind. In der politischen Diskussion um den Pflegekräftemangel scheinen immer wieder solche Vorstellungen eine Rolle zu spielen, wenn zum Beispiel dafür plädiert wird, die schulischen Voraussetzungen für die Ausbildung herabzusetzen.

Begründungen und Alternativen – Das Pflegewissen

Pflegehandlungen setzen Wissen voraus: Wissen, wie eine Handlung durchgeführt werden muss und Wissen, wann eine Pflegetätigkeit sinnvoll ist. Das konditionale Wissen klärt die Voraussetzungen der Pflegepraxis. Dazu gehört zum Beispiel anatomisches und krankheitsbezogenes Wissen und Wissen über die Wirksamkeit pflegerischer Tätigkeiten. Optimalerweise stammen die Daten aus wissenschaftlichen Quellen, so beispielsweise pflegebezogene Daten aus der Pflegewissenschaft. Berufsangehörige sollten über dieses Wissen verfügen, es verstehen und in der spezifischen Situation anwenden können.

Der Zugang zu wissenschaftlichem Wissen ist oft mühsam und setzt kognitive Fähigkeiten voraus. Nicht umsonst wird für einen Ausbildungszugang mindestens ein mittlerer Bildungsabschluss vorausgesetzt. Darüber hinaus müssen Auszubildende die Bereitschaft, Ausdauer und Motivation mitbringen, sich Inhalte anzueignen. Diese Selbstdisziplin gehört zu den Persönlichkeitsfaktoren.

Die Logik der Pflegesituation – Der Einzelfall

Pflege findet in Situationen statt, die kaum standardisierbar sind. Die Pflegenden haben es mit »individuellen biografischen Erfahrungen der zu pflegenden Menschen, ihrem subjektiven Erleben, ihren Emotionen und lebensgeschichtlich erworbenen Handlungs- und Deutungsmustern« (Fachkommission, 2020, S. 7.) zu tun. Es geht dabei um die Logik des Einzelfalls, und von den Pflegenden wird erwartet, diesen Einzelfall zu erschließen. Die Pflegesituationen sind oft komplex und mehrdimensional und deswegen von Unsicherheit und Ungewissheit geprägt. Die Fähigkeit, diese Mehrdimensionalität deuten und entsprechend handeln zu können, wird als hermeneutische Fallkompetenz bezeichnet. Sie benötigt einerseits einen breiten Wissenshintergrund – es geht um psychologisches Wissen, eventuell medizinisches Wissen, um Wissen aus der Pflegewissenschaft usw. Auch die Fähigkeit, durch Kommunikation mit den zu pflegenden Menschen in Kontakt zu treten, sie zu verstehen und sich verständlich ausdrücken zu können, spielt eine große Rolle.

Gleichzeitig kommen aber auch andere Komponenten ins Spiel, die sich weniger leicht fassen lassen: Empathie, um sich in den zu pflegenden Menschen hineinversetzen zu können, die Fähigkeit, die Atmosphäre einer Situation wahrzunehmen und zu deuten, die Fähigkeit im körperlichen Kontakt Wahrnehmungen zu interpretieren. Hier fließen verschiedene »Logiken« ineinander, und werden miteinander verknüpft.

Professionalität bedeutet also, dass sich Pflegende diese hermeneutische Fallkompetenz mit allen Komponenten aneignen. Empathie, die Fähigkeit, atmosphärische Schwingungen zu spüren usw. entsteht dabei durch Offenheit in Pflegesituationen, Erfahrung und Reflexionsvermögen. Reflektieren heißt, Handlungssituationen genau zu beobachten und die fremden und eigenen Handlungen kritisch zu hinterfragen.

Hier werden bis zum Ende der Ausbildung verschiedene komplexe Fähigkeiten eingefordert.

1.3        Was müssen Auszubildende in der Pflege lernen?

Um die Ausbildungsziele der Pflegeausbildung zu bestimmen, bietet sich der Kompetenzbegriff an. Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe listet Kompetenzen auf, die beschreiben, was die Auszubildenden am Ende des zweiten Ausbildungsjahres bzw. am Ende der Ausbildung können sollen (Anlage 1 und 2 PflAprV).

Wenn die Anforderungen der professionellen Pflege als Kompetenzen beschrieben werden, tritt also das erwartete Ergebnis in den Vordergrund. Für das Thema Heterogenität erscheint der Kompetenzbegriff, also der Blick vom Ausbildungsergebnis her, ebenfalls geeignet. Die Frage ist dann: Was müssen die Auszubildenden am Ende der Ausbildung können und welche Faktoren tragen dazu bei, dass das Ziel erreicht wird?

Fachkompetenz Können – Praktische Fertigkeiten

Die Pflege besteht je nach Einsatzgebiet aus unterschiedlich anspruchsvollen Tätigkeiten. Um sie fehlerfrei durchführen zu können, wird ein durchschnittliches Geschick benötigt. Wer zwei linke Hände hat, wird sich mit einem praxisorientierten Beruf schwertun.

Viele körpernahen Pflegetätigkeiten erfordern Fingerspitzengefühl und Sensibilität für die Reaktionen der PflegeempfängerInnen.

Einige Pflegehandlungen erfordern Kraft. Im Arbeitsalltag ist darüber hinaus eine gewisse körperliche Ausdauer notwendig.

Bei einigen Pflegehandlungen überschreiten Pflegende Grenzen, die außerhalb der Pflegesituation einen wichtigen Stellenwert haben. In der Pflege werden regelmäßig die zwischen Fremden sonst üblichen Distanzzonen überschritten. Pflege dringt in die Intimsphäre der PflegeempfängerInnen ein. Sonst verborgene emotionale Äußerungen, Trauer, Wut, Aggressivität, sind in der Pflegesituation erfahrbar. Von Auszubildenden wird erwartet, dass sie sich diesen Grenzsituationen nicht verschließen, sondern sich aktiv damit auseinandersetzen.

Schließlich werden Pflegende oft mit Situationen konfrontiert, die Ekel auslösen können. Auch damit müssen Pflegende umgehen können.

Fachkompetenz Wissen – Theoretische Hintergründe

Um kompetent pflegen zu können, müssen Pflegende über ein umfangreiches Wissen verfügen. Das Wissen stammt aus dem Pflegebereich aber auch aus anderen Wissenschaftsfeldern. Pflege ist ein Beruf, der viele Arbeitsbereiche abdeckt. Und auch innerhalb eines jeden Arbeitsbereichs ist die Tätigkeit in der Regel vielgestaltig. Wie im Bereich der Medizin die Hausärzte, sind die Pflegenden Generalisten. Sie sollen sich auf vielen Feldern auskennen, auch wenn sie dort keine Experten sein müssen. Das unterscheidet sie zum Beispiel von den Physiotherapeuten.

Die zu lernenden Wissensgebiete sind breit gefächert: Psychologie und Qualitätsmanagement, Ethik und Medizin, Soziologie und Recht, Organisation und Pädagogik und, neben vielen weiteren Gebieten, das Pflegewissen.

Wer so viel lernen soll, muss über eine Reihe von kognitiven Fähigkeiten verfügen. Er muss die Inhalte verstehen, um die es geht. Zumindest eine durchschnittliche Intelligenz muss hier vorausgesetzt werden. Die folgenden Voraussetzungen werden auch oft als Methodenkompetenz bezeichnet. Dabei handelt es sich darum, planmäßig und zielgerichtet lernen zu können, also über Lernstrategien zu verfügen. Andererseits setzt erfolgreiches Lernen voraus, dass Auszubildende die Sprache ausreichend verstehen, mit der Lerninhalte angeboten werden, dass sie über kommunikative Kompetenz verfügen.

Sozialkompetenz – Die Pflegesituation als Einzelfall

Bringen Pflegende Einfühlungsvermögen als Charaktereigenschaft mit in den Beruf? Ist Empathie erlernbar? Wie steht es mit der Fähigkeit Stimmungen in einer Pflegesituation wahrzunehmen? Können nur besonders sensible Menschen in der Pflege arbeiten? Was hat es mit der hermeneutischen Fallkompetenz auf sich, die neben Fachwissen eben auch Eigenschaften erfordert, die schwer zu greifen sind?

In der Pflegepädagogik wird davon ausgegangen, dass beispielsweise die Empathie sowohl als Eigenschaft gesehen werden kann, die Pflegekräfte als Charaktereigenschaft mit in den Beruf bringen (affektive Empathie), als auch als erlernbare Haltung (kognitive Empathie) (Bischoff-Wanner, 2002). Sie setzt einen Lernprozess voraus, bei dem Auszubildende lernen, sich in Pflegeempfänger bis zu einem gewissen Grad hineinzuversetzen. Gleichzeitig muss aber eine Distanz gewahrt werden, um sich in diesem Prozess nicht zu verlieren.

Von Pflegenden wird unter dem Begriff Sozialkompetenz ein hohes Maß an Beziehungsfähigkeit gefordert. Auch hier spielt das Kommunikationsvermögen eine Rolle. Kooperationsbereitschaft, die Bereitschaft Konflikte zu lösen und Konsensfähigkeiten werden in Pflegesituationen ebenfalls oft benötigt.

Viele dieser Eigenschaften setzen Berufserfahrung voraus. Sie können von erfahrenen Pflegenden gelernt werden. Das erfordert wiederum Offenheit und Unvoreingenommenheit und eine selbstkritisches Reflexionsvermögen.

In der Pflege zu arbeiten, bedeutet fast immer Teamarbeit. Wer die dazu notwendigen Eigenschaften nicht mitbringt, muss sie lernen. Stichpunkte sind Kooperationsfähigkeit, Kritikfähigkeit, die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen usw.

Selbständigkeit – In der Pflege diszipliniert und selbstreflexiv handeln

Pflegende haben einen sehr verantwortungsvollen Beruf. Viele PflegeempfängerInnen sind existentiell von den Pflegefachkräften abhängig, sei es, weil diese sie bei grundlegenden Tätigkeiten unterstützen, oder, weil sie nach den Angehörigen oder FreundInnen die ersten AnsprechpartnerInnen in belastenden Situationen sind. Diese Verantwortung erfordert von den Pflegenden ein hohes Maß an Zuverlässigkeit und Selbstregulation. Zur Selbstregulation gehört die Fähigkeit, mit dem tendenziell vorhandenen Machtgefälle verantwortungsvoll umzugehen. Das bedeutet zum Beispiel, dass sich Pflegende dieses Ungleichgewichts bewusst sein müssen und konsensorientiert handeln.

Insgesamt setzt das hohe Maß an Verantwortung viel Selbstdisziplin voraus. Das unterscheidet den Pflegeberuf nicht grundsätzlich, aber graduell von vielen anderen Berufen. Unzuverlässigkeit kann den PflegeempfängerInnen schaden – Menschen, die sich durch Krankheit oder Behinderung ohnehin in einer schwierigen Lebenssituation befinden. Umso mehr kommt es darauf an, dass sie sich auf die Pflegenden verlassen können, zum Beispiel auf ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Pünktlichkeit und ihre Gewissenhaftigkeit.

Für Auszubildende ist die Fähigkeit, sich mit Wissensinhalten methodisch sinnvoll auseinanderzusetzen zu können, also über effektive Lernstrategien zu verfügen, essenziell. Auch diese Lernstrategien haben viel mit Selbstdisziplin zu tun.

Zusammengefasst: Was müssen Auszubildende lernen?

Auszubildende in der Pflege müssen bis zum Ausbildungsende viel wissen und können. Vielleicht sind viele Ausbildungsinhalte neu aber das Vorwissen, zum Beispiel aus der allgemeinbildenden Schule, kann eine gute Unterstützung beim Lernen sein. Menge und Qualität unterscheidet sich natürlich je nach Bildungshintergrund. Auch das Lernen an sich ist nichts Neues, die Auszubildenden haben sich bereits im Vorfeld mehr oder weniger effektive Lernstrategien angeeignet. Anders sieht es bei den persönlichen Eigenschaften wie Selbstdisziplin, Reflexionsvermögen, Empathie, Flexibilität, Toleranz usw. aus. Sie sind unterschiedlich ausgeprägt vorhanden und hängen eng mit biografischen Erfahrungen zusammen, die zum Beispiel in familiären oder kulturellen Zusammenhängen gemacht wurden.

Insgesamt sind es in der Pflegeausbildung vier große Kompetenzbereiche, die unmittelbar mit dem Pflegeberuf in Zusammenhang stehen.

•  Praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die Pflegetätigkeit ausmachen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, mit den schwierigen Rahmenbedingungen, unter denen Pflege stattfindet (ekelerregende Gerüche, Tabuüberschreitungen usw.), umzugehen

•  Wissen, um die Praxis zu verstehen, Handlungsalternativen vergleichen und Handlungen kritisch hinterfragen zu können sowie die Pflegetätigkeit weiterzuentwickeln.

•  Soziale Kompetenzen wie Empathiefähigkeit, Flexibilität, Toleranz, hermeneutische Fallkompetenz, Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit und viele weitere Fähigkeiten, um in konkreten Pflegesituationen angemessen handeln zu können.

•  Selbstständigkeit, Zuverlässigkeit und Selbstregulationsfähigkeit, um mit den hohen Anforderungen des Berufs und der Ausbildung umgehen zu können.

1.4        Gesetze und Verordnungen: Erwartungen an die Ausbildung

Der Pflegeberuf wird durch ein Gesetz, das Pflegeberufegesetz (PflBG), geregelt. Hier werden u. a. Ausbildungsziele beschrieben. Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (PflAPrV) konkretisiert die Bestimmungen des Pflegeberufegesetzes. Hier werden auch die Kompetenzen benannt, die die Auszubildenden nach zwei Ausbildungsjahren und am Ende der Ausbildung erreichen sollen. Sie werden schließlich in den Rahmenlehrplänen, die von einer Fachkommission erarbeitet wurden, zu curricularen Einheiten zusammengefasst und in Rahmenausbildungsplänen auf die praktische Ausbildung bezogen.

In den Gesetzestexten kommen die Erwartungen der Gesellschaft an die Pflegeausbildung und indirekt auch an den Pflegeberuf zum Ausdruck.

§ 5 PflBG Ausbildungsziele

1.  Die Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann vermittelt die für die selbstständige, umfassende und prozessorientierte Pflege von Menschen aller Altersstufen in akut und dauerhaft stationären sowie ambulanten Pflegesituationen erforderlichen fachlichen und personalen Kompetenzen einschließlich der zugrunde liegenden methodischen, sozialen, interkulturellen und kommunikativen Kompetenzen und der zugrunde liegenden Lernkompetenzen sowie der Fähigkeit zum Wissenstransfer und zur Selbstreflexion. Lebenslanges Lernen wird dabei als ein Prozess der eigenen beruflichen Biographie verstanden und die fortlaufende persönliche und fachliche Weiterentwicklung als notwendig anerkannt.

2.  Pflege im Sinne des Absatzes 1 umfasst präventive, kurative, rehabilitative, palliative und sozialpflegerische Maßnahmen zur Erhaltung, Förderung, Wiedererlangung oder Verbesserung der physischen und psychischen Situation der zu pflegenden Menschen, ihre Beratung sowie ihre Begleitung in allen Lebensphasen und die Begleitung Sterbender. Sie erfolgt entsprechend dem allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse auf Grundlage einer professionellen Ethik. Sie berücksichtigt die konkrete Lebenssituation, den sozialen, kulturellen und religiösen Hintergrund, die sexuelle Orientierung sowie die Lebensphase der zu pflegenden Menschen. Sie unterstützt die Selbstständigkeit der zu pflegenden Menschen und achtet deren Recht auf Selbstbestimmung.

3.  Die Ausbildung soll insbesondere dazu befähigen, die folgenden Aufgaben selbstständig auszuführen:

1)  a) Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs und Planung der Pflege,

b) Organisation, Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses,

c) Durchführung der Pflege und Dokumentation der angewendeten Maßnahmen,

d) Analyse, Evaluation, Sicherung und Entwicklung der Qualität der Pflege,

e) Bedarfserhebung und Durchführung präventiver und gesundheitsfördernder Maßnahmen,

f) Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu pflegenden Menschen bei der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit sowie bei der Erhaltung und Stärkung der eigenständigen Lebensführung und Alltagskompetenz unter Einbeziehung ihrer sozialen Bezugspersonen,

g) Erhaltung, Wiederherstellung, Förderung, Aktivierung und Stabilisierung individueller Fähigkeiten der zu pflegenden Menschen insbesondere im Rahmen von Rehabilitationskonzepten sowie die Pflege und Betreuung bei Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten,

h) Einleitung lebenserhaltender Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen der Ärztin oder des Arztes und Durchführung von Maßnahmen in Krisen- und Katastrophensituationen,

i) Anleitung, Beratung und Unterstützung von anderen Berufsgruppen und Ehrenamtlichen in den jeweiligen Pflegekontexten sowie Mitwirkung an der praktischen Ausbildung von Angehörigen von Gesundheitsberufen,

2)  ärztlich angeordnete Maßnahmen eigenständig durchzuführen, insbesondere Maßnahmen der medizinischen Diagnostik, Therapie oder Rehabilitation,

3)  interdisziplinär mit anderen Berufsgruppen fachlich zu kommunizieren und effektiv zusammenzuarbeiten und dabei individuelle, multidisziplinäre und berufsübergreifende Lösungen bei Krankheitsbefunden und Pflegebedürftigkeit zu entwickeln sowie teamorientiert umzusetzen.

4.  Während der Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann werden ein professionelles, ethisch fundiertes Pflegeverständnis und ein berufliches Selbstverständnis entwickelt und gestärkt.

Um die Ausbildungsziele zu erreichen, müssen umfangreiche Wissensbestände gelernt und Fertigkeiten verinnerlicht werden. Darüber hinaus werden professionsbezogene Haltungen, kommunikative Fähigkeiten und andere soziale und personale Kompetenzen vorausgesetzt. Die Mitglieder einer heterogenen Lerngruppe werden sich je nach mitgebrachten Voraussetzungen schwerer oder leichter damit tun, ans Ziel zu kommen.

1.5        Der Deutsche Qualifikationsrahmen als Vergleichsmaßstab

Der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) ermöglicht den Vergleich verschiedener Qualifikationen, Ausbildungen, Weiterbildungen oder Studiengänge. Ohne Aussagen über die Fachinhalte einer Qualifikationsmaßnahme, also z. B. der Pflegeausbildung zu machen, gibt er ein allgemeines Qualitätsmaß vor, anhand dessen beurteilt werden kann, ob die Ziele auf einer bestimmten Stufe erreicht wurden oder nicht. Im DQR werden acht Kompetenzniveaus genannt. Das Niveau 1 ist die geringste Qualifikationsstufe, das Niveau 8 die höchste. Bezogen auf die dreijährige generalistische Pflegeausbildung bildet die Niveaustufe 2 die Kompetenzerwartungen für das erste Ausbildungsjahr, das Niveau 3 für das zweite Ausbildungsjahr und die Niveaustufe 4 für das dritte Ausbildungsjahr ab.

Tab 1.:    Deutscher Qualifikationsrahmen. Anforderungen im Niveau 2 (erstes Ausbildungsjahr) (Bundesministerium für Bildung und Forschung & Sekretariat der Kultusministerkonferenz o. J, o. S)

Fallbeispiel

Eine Auszubildende ist im Pflichteinsatz in der Langzeitpflege im ersten Ausbildungsjahr. Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung nennt fachliche Kompetenzen, die im ersten (und zweiten) Ausbildungsjahr zu erreichen sind. Der Ausbildungsrahmenplan konkretisiert diese Kompetenzen.

Bei der Beurteilung des Einsatzes werden diese fachlichen Kompetenzen als Zielstellungen berücksichtigt. An welchem Punkt des Weges befindet sich die Auszubildende? Um das auszudrücken, kann jetzt mit den Kompetenzen des DQR gearbeitet werden. Der DQR gibt einen Maßstab für das allgemein anzustrebende Leistungsniveau vor.

Zum Beispiel wird im DQR mit Blick auf den Kompetenzbereich »Wissen« folgendes vorgegeben: Die Auszubildende soll… »über grundlegendes allgemeines Wissen und grundlegendes Fachwissen in einem Lern- oder Arbeitsbereich verfügen« (DQR 2021). Vielleicht hat die Praxisanleiterin festgestellt, dass die erforderlichen grundlegenden Fähigkeiten nur teilweise vorhanden sind. Was diese grundlegenden Fähigkeiten sind, erschließt sie aus dem Ausbildungsrahmenplan, der für den Pflichteinsatz im ersten Ausbildungsjahr Kompetenzziele angibt. Sie kann also nicht bestätigen, dass das Qualifikationsniveau 2 laut DQR bereits erreicht ist.

1.6        Zusammenfassung

Die Heterogenität der Auszubildenden in der Pflegeausbildung ist offensichtlich: Muttersprachler und Auszubildende mit einem niedrigen Sprachniveau, junge Menschen mit ganz unterschiedlichem kulturellen Hintergrund, Auszubildende, die aus einer der oberen Gesellschaftsschichten stammen und Auszubildende aus der Unterschicht, AbiturientInnen und HauptschulabsolventInnen. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Manche dieser Merkmale erschweren den LehrerInnen und PraxisanleiterInnen die pädagogische Arbeit, weil sie sich auf ganz unterschiedliche Voraussetzungen einlassen müssen und die Anleitung oder die Lehre je nach Auszubildenden differenzieren müssen. Für die Pflegeausbildung ist die Heterogenität darüber hinaus deswegen von Bedeutung, weil manche der genannten Eingangsvoraussetzungen eher förderlich und andere hinderlich sind. Nur insofern lässt es sich begründen, warum zum Beispiel das Sprachniveau wichtig und förderungswürdig ist: Die Pflege gründet auf einer gelingenden Interaktion mit den zu Pflegenden und die Kommunikation ist ein entscheidender Teil davon.