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"'Andere Jugendliche mit deinem Problem.' Der Satz ihrer Mutter prallte durch Carinas Kopf wie ein explodierendes Popcorn und hinterließ überall Brandwunden. 'Pah! Dein Problem! Mein Problem!', machte Carina ihrer Wut laut Luft. 'Das Problem heißt Laktose- und Glutenunverträglichkeit.'" Carina ist seit einem Jahr an Zöliakie erkrankt und wird von ihren Eltern nach wiederholten Krankenhausaufenthalten zu einem Ernährungskurs angemeldet. Wiederwillig fährt sie in die Berge und trifft das erste Mal auf andere Jugendliche mit ihrer Erkrankung. Obwohl alle Gruppenmitglieder die Diagnose Zöliakie an diesen Ort brachte, stellen sie fest, dass sie noch viel mehr verbindet als ihre Erkrankung. Wie gut, dass ihr Tagebuch Paulchen keine Geheimnisse ausquatscht. Auch nicht Carinas zunehmendes Interesse an Maxin, dem netten Jungen aus ihrer Gruppe ...
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Seitenzahl: 225
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Für alle Zöliakie-Betroffenen und
Zöliakie-Interessierten auf Erden
VORWORT
PROLOG
CARINAS PROBLEM
EINE ZUGFAHRT INS GESTERN UND HEUTE
ERNÄHRUNGSSANATORIUM
DER KURS BEGINNT
GULI
DIE ERSTE KOCHSTUNDE
ESSBAR ODER NICHT?
FREIZEIT
GEWOHNHEITEN
IN ASIEN ISST MAN GLUTENFREI
DARMZOTTE CARINA
PENNYS STUNDE
KOCHDUELL
LAKTOSEUNVERTRÄGLICHKEIT
GEHEIME PLANUNGEN
OFFENBARUNGEN
AUSGEHEN
VOLLMOND
TIEFE ERKENNTNISSE
SCHWESTER ELFRIEDE
LETZTE GULI STUNDE
GEHEIME TREFFEN
ABSCHIED
WIEDER IN KÖLN
LEO-MAIL
MAXIN
ALLERGIE-INFOS
DANK
Die Diagnose Zöliakie ist für die Neubetroffenen in der Regel erst einmal ein Schock. Das war’s mit dem schnellen Mittagessen vom Bäcker, der Pizza beim Italiener um die Ecke, den Spätzle, dem geliebten Landbrot, den fluffigen Croissants.
Doch die Diagnose ist auch eine Chance. Sich wieder gesund zu fühlen. Bewusster zu essen. Auf „Junk-Food“ zu verzichten, weil der Körper klare Signale gibt, was uns gut tut und was nicht. Und vor allem neue Menschen kennenzulernen, denen es genauso geht, und – wie in diesem Buch – Freundschaften zu schließen, die sonst nie entstanden wären.
Ich selbst war 17, als bei mir Zöliakie diagnostiziert wurde, und ich habe seit meinem fünften Lebensjahr Typ 1 Diabetes. Anders zu sein war ich also gewohnt – und doch war die Umstellung hart. Bei einem Praktikum und drei Wochen in einer Gastfamilie in Frankreich nur ein halbes Jahr nach der Diagnose war ich dann wirklich mit der Erkrankung konfrontiert, musste ständig Essen ablehnen und erklären, warum ich das leckere Croissant, das gute Baguette, die süßen Crêpes wirklich nicht essen konnte. Ich merkte, dass ich alleine mit diesen Erfahrungen nicht umgehen konnte – ich musste andere Zölis kennenlernen, mich irgendwo irgendwie einbringen. So kam ich zum Jugendausschuss der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft e.V. (www.dzg-jugend.de), in dem ich sechs Jahre aktiv war, vier davon als Sprecherin.
Uns alle verbindet nicht nur die Zöliakie, sondern auch das Bedürfnis, Anderen in der gleichen Situation zu helfen, Gemeinschaft zu stiften, zu zeigen: „Du bist nicht allein, du schaffst das.“
Unser Motto? – „Jung, glutenfrei, glücklich“ Das passiert vor allem in den komplett von Ehrenamtlichen organisierten und betreuten Kinder-, Jugend- und Familienfreizeiten, bei Backwochenenden, bei Neubetroffenenseminaren für Familien, bei Großveranstaltungen wie dem Welt-Zöliakie-Tag, und nicht zuletzt in den lokalen Gruppen des 2014 gestarteten Netzwerks „ZOELI – Jugendliche deutschlandweit“. Mir hat mein Engagement in der DZG geholfen, mich auf die positiven Seiten der Zöliakie zu konzentrieren. Richtig spannend wurde es für mich 2011, als ich als deutsche Delegierte zur Coeliac Youth of Europe (www.cyeweb.eu) kam. Dort war ich 2012 bis 2016 General Coordinator (ein Jahr davon Financial Manager). Bei der Jahreskonferenz treffen sich VertreterInnen aller nationalen Zöliakiegesellschaften in Europa, und auch hier ist das Ziel Gemeinschaft zu stiften unter dem Motto „Networking Young Coeliacs“. Es gibt ein Summercamp pro Jahr, das eine der nationalen Gruppen organisiert, und eine sehr aktive Facebook-Seite (über die Suche „Coeliac Youth of Europe“). Seit 2011 erscheint etwa vierteljährlich das europäische Online-Magazin „Beat the Wheat“ mit Reiseberichten, Rezepten und Artikeln zu vielen anderen spannenden Themen aus ganz Europa (issuu. com/beatthewheat).
All die Freundschaften, die ich in den sieben Jahren bei DZG und CYE geschlossen habe, die Erfahrungen, die ich machen, und die Verantwortung, die ich so früh übernehmen durfte, haben mich geformt – und das wäre ohne die Diagnose Zöliakie nicht passiert.
Diese Erfahrungen beschreibt auch Verena Herleth in ihrer Geschichte: Die Diagnose ist ein Schock, der Start holprig, alles scheint zu viel. Doch dann gibt es einen Wendepunkt. Die Zöliakie wird zu einer Chance für neue Begegnungen und Erfahrungen und der Startschuss für ein gesundes, beschwerdefreies Leben.
„Jung, glutenfrei, glücklich“ eben. Solche positiven Begegnungen und Erfahrungen wünsche ich von Herzen allen (vor allem neu Diagnostizierten), die dieses Buch lesen.
Mirjam Eiswirth
„Hier probier mal meinen Kuchen, den habe ich gestern selbst gebacken.“ Carina drehte den Kopf ihrer neuen Mitschülerin Lea zu und blickte auf den verlockend duftenden Apfelkuchen. Ihre Nackenmuskeln spannten sich an und sie schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich habe Kekse dabei“, murmelte sie mit viel Überwindung.
Wie gerne hätte sie den Kuchen gegessen, doch sie durfte nicht. Missmutig zog sie ihre Packung trockener Kekse aus der Tasche. Heute Morgen hatte sie diese noch im Supermarkt gekauft. „Unsere Abteilung Sondernahrung finden Sie hinten links“, hatte ihr die Verkäuferin erklärt. Carina legte den Kopf in den Nacken, so konnte sie verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. In ihrem Kopf schossen Gedanken kreuz und quer und vermischten sich mit ihren Gefühlen.
„Sondernahrung, Sondermüll, Sonderanfertigung – all das bedeutete mehr Aufwand, war anstrengend, außerhalb des Normalen, einfach assi. Der Konrad aus meiner Klasse braucht Sonderanfertigungen für Schuhe, da er Füße hat wie ein Nilpferd, so breit und riesig. Ja, und ich brauche Sondernahrung, weil es mein Darm mit dem Essen sehr genau nimmt. Warum muss ausgerechnet ich diese Scheißerkrankung haben?“, überlegte Carina und spürte die Wut auf sich selbst, ihren Körper und alle um sie herum.
Schon wieder machten sich die Tränen in ihren Augen breit. Ihre Finger nestelten und zupften an ihrer Gürtelschnalle. Schnell zog sie die Luft in ihre Lunge ein, riss die Packung Kekse auf und biss in einen hinein, der in ihrem Mund zerfiel wie eine Sandburg.
„Schluss jetzt, Carina. Keine Widerworte mehr. Du fährst in den Ferien nach Bad Tölz zu diesem Ernährungskurs.“ „Aber Paps ...“
Carina wollte ihren Eltern erklären, wie wichtig die geplante Ferienfreizeit mit ihren Freunden am Meer für sie war. Aber ihr Vater schüttelte den Kopf. „Keine weiteren Diskussionen, bitte. Du bist zu dem Kurs bereits angemeldet. Wir haben mit der Krankenkasse alles geklärt und hatten Glück, dass so kurzfristig noch ein Platz frei geworden ist. Am Montag fährt dein Zug“, beendete Carinas Vater das Gespräch.
Kraftvoll presste Carina die Lippen aufeinander. Sie wollte auf gar keinen Fall weinen, drehte ihren Kopf auf die andere Seite und blickte jetzt zu den kleinen Spinden ihres Krankenhauszimmers.
„Ach Carina, das wird sicher schön. Die Berge, andere Jugendliche mit deinem Problem und es soll ein sehr schöner Sommer werden“, redete ihre Mutter auf sie ein.
Carina tat so, als höre sie nicht hin, konzentrierte sich auf die kleinen Schlüssel an den Spinden und zählte die Anhänger, die daran befestigt waren. Es waren bunte Holzanhänger, immer zwei pro Schlüssel – insgesamt genau acht.
Schweigend verließen ihre Eltern das Krankenhauszimmer. Endlich war sie allein.
„So ein Mist. Ich will nicht nach Bad Tölz. Warum kann ich nicht ganz normal sein, alles essen und die Ferien verbringen wie meine Freunde?“, dachte Carina verzweifelt und die zurückgehaltenen Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Andere Jugendliche mit deinem Problem.“ Der Satz ihrer Mutter prallte durch ihren Kopf wie ein explodierendes Popcorn und hinterließ überall Brandwunden. „Pah! Dein Problem! Mein Problem!“, machte Carina ihrer Wut laut Luft. „Das Problem heißt Laktose- und Glutenunverträglichkeit.“ Sie kramte in der Schublade neben ihrem Krankenbett nach Paulchen, ihrem Tagebuch. Es war ein rotes Lederbuch mit kleinem Schloss und Carinas größter Blitzableiter. All ihre Sorgen, Wünsche und Hoffnungen fanden darin Platz und oft ging es ihr besser, wenn Paulchen alles wusste. Sie schlug eine neue Seite auf und schrieb:
am Montag schicken sie mich zu einem Ernährungskurs nach Bad Tölz. Sicher ein Kuhkaff irgendwo in den Bergen. stell dir das mal vor! All meine Freunde dürfen an die Ostsee. Dominik fährt auch mit. Er ist so süß. Und ich glaube, er mag mich. Letzte Woche hat er mir seinen selbstgebauten Modellhubschrauber gezeigt und wir haben ihn unten am See fliegen lassen. Ganz konzentriert hat er zum Himmel geblickt und ich durfte ihn sogar kurz steuern. Das hat er noch keinem erlaubt. Vielleicht sollte ich abhauen und einfach mit ans Meer fahren? Was meinst du?
Am nächsten Tag wurde Carina aus dem Krankenhaus entlassen. Ihre Eltern holten sie ab. Freundlich erzählten sie, dass sie Carinas Schulbücher bereits für sie abgegeben hatten. Die Ferien hatten am Vortag begonnen. Bad Tölz wurde mit keinem Wort erwähnt. „Vielleicht muss ich doch nicht zu dem Kurs“, dachte Carina erleichtert und schöpfte wieder Hoffnung. Doch kaum hatten sie die Stadtwohnung in Köln betreten, sah sie auf dem Küchentisch eine Fahrkarte. Sie schaute genauer und las: „Köln Hauptbahnhof – Bad Tölz“. „Die könnt ihr gleich wieder zurückgeben. Ich fahre nicht!“, ereiferte sie sich und wedelte mit der Fahrkarte durch die Luft. „Carina setz dich und lass uns darüber reden“, fing ihre Mutter das Gespräch an. Sie zeigte auf den zweiten Küchenstuhl neben ihrem. Carina setzte sich widerstrebend. Dann fuhr sie fort: „Du weißt genau, dass wir ein Abkommen hatten. Einen Deal, wenn du so willst. Das hieß konkret, dass du darauf achtest, was du isst, und uns zeigst, dass du verantwortungsbewusst mit deiner Allergie umgehen kannst, oder wir melden dich zu einem Kurs an. Jetzt warst du seit Mai zweimal im Krankenhaus, weil du etwas gegessen hast, das du nicht verträgst. Findest du, du hast deinen Teil der Vereinbarung erfüllt?“ Carina blickte zerknirscht auf den Parkettboden und rollte eine getrocknete Nudel von links nach rechts.
Sie wusste auch nicht genau, wie es diesmal so weit hatte kommen können. Die Pizza, die Isabellas Mutter gebacken hatte, war einfach zu verführerisch gewesen. Isabella Santoni war Italienerin und die Pizza hatte so verlockend geduftet. Aber eigentlich hätte dies nicht mit einem Krankenhausaufenthalt enden dürfen. Vielleicht das Bier, welches an Isabellas Geburtstagsfeier die Runde gemacht hatte? Sie hatte es nicht einfach weitergeben gewollt wie ein „Loser“. Besonders nicht, da Dominik neben ihr gestanden hatte. Sie hatte ja auch nicht viel getrunken. Aber am nächsten Tag hatte sie so schlimme Bauchkrämpfe bekommen, dass Isabellas Eltern den Rettungsdienst angerufen hatten und sie sofort ins Krankenhaus gebracht worden war. Es war alles so schnell gegangen, dass Carina sich kaum erinnern konnte.
Wieder einmal liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie zupfte an einer braunen Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, und schluchzte: „Es ist so ungerecht. Ich möchte auch alles essen und trinken. Fast nichts Normales bleibt für mich. Alles, was lecker ist, enthält Gluten oder Laktose. Für mich gibt es nur matschiges Brot und Sondernahrung.“ Carina spie das letzte Wort voller Ekel aus. Ihre Mutter nahm sie in den Arm und wiegte sie etwas hin und her, so wie sie es früher gemacht hatte, als Carina noch kleiner gewesen war. Carina wollte kein Baby mehr sein. Aber jetzt tat es gut, im Arm ihrer Mutter zu liegen und den ganzen Kummer herauszuweinen.
Zwei Tage später stand Carina mit ihrem Trekkingrucksack am Kölner Hauptbahnhof. Sie würde ihr Versprechen halten, auch wenn es schwer war. Ihre engsten Freunde waren gekommen. Isabella hatte eine Packung Gummibärchen für sie dabei, Doro hielt ein Foto von ihnen, versehen mit Glückwünschen und Freundschaftsschwüren. Carina schenkte dem Foto kaum einen Blick, denn sie hatte nur Augen für Dominik, der auch da war. „Ohne dich wird es am Meer nicht halb so schön werden“, sagte er zum Abschied und überreichte ihr eine gelbe Rose. Isabella grinste und warf Doro verschwörerische Blicke zu. Die Mädchen mussten lachen, ihnen war die Verliebtheit ihrer zwei Freunde schon lange aufgefallen.
Mit Tränen in den Augen suchte Carina ihren Platz im ICE. Da erklang auch schon der Pfiff des Schaffners und die Türen schlossen sich. Ihre Freunde winkten und liefen dem Zug noch nach.
Sie blickte auf Dominiks Rose, die sie noch in ihrer Hand hielt. Mit dem Daumen fuhr sie den Stiel entlang zu den samtigen gelben Blütenblättern. Langsam berührten ihre Finger jeden einzelnen Dorn und schließlich führte Carina die Blüte zu ihrer Nase. Sie roch herrlich süß und erinnerte Carina an die Ereignisse des vergangenen Tages. Dominik hatte sie am Morgen abgeholt und war mit ihr zum Botanischen Garten, nahe des Kölner Zoos, gefahren. Es war eine Überraschung gewesen, ein kleines Abschiedsfest, eine Entschädigung, weil sie nicht mit an die Ostsee fahren konnte, hatte Dominik erklärt.
Er war so süß, fand zumindest Carina. Er war hochgewachsen, aber nicht schlaksig, wie andere Jugendliche in seinem Alter. Dominik hatte bereits die Statur eines Mannes. Seine langen Beine hatten in roten Jeans gesteckt und er hatte sein Lieblingsshirt mit dem Logo der Kölner Band „Herr König“ getragen. Dominik liebte diese Band. In seinem Zimmer türmten sich CDs mit ihren Liedern und sein IPod war zur Hälfte damit gefüllt. Die Bandmitglieder hätten Charakter und wären nur noch nicht weltweit berühmt, weil sie auf ein Marketing der großen Musikriesen verzichteten, meinte er. Carina hatte sich mit ihm einige CDs angehört und fand die deutsche Band immer besser. Es war nicht ihre Lieblingsmusik, aber im Grunde war es ihr egal.
Sie genoss Dominiks Nähe und, wäre er – wie ihre Oma – von Volksmusik begeistert gewesen, hätte sie auch diese schnulzigen Lieder mit ihm angehört. Carina mochte einfach alles an Dominik. Vor allem seine dunkelbraunen schulterlangen Haare, die ihm öfter ins Gesicht fielen oder die er beim Skateboarden zu einem Zopf im Nacken zusammenband. Sie fand sogar seine kleine runde Brille, die er bereits seit Jahren trug, toll. Angeblich hatte er zweimal eine neue bekommen und sich immer wieder für ein ähnliches Modell entschieden. Er habe ein schmales Gesicht und darauf gehöre eine Brille mit runden Gläsern, hatte er ihr erklärt. So sah die Brille jetzt aus, als hätte er sie von Harry Potter geklaut. Er kassierte einige Kommentare ihrer Klassenkameraden deswegen. Das störte Dominik jedoch nie. Er zuckte mit den Schultern und ließ sie reden.
Carina mochte das. Man konnte ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen, er war immer er selbst und das machte ihn so cool. Oft wünschte sich Carina seine Gelassenheit. Sie selbst hingegen wollte immer dabei sein und hasste es, wenn über sie getuschelt wurde.
Das war in der Anfangszeit nach ihrer Zöliakiediagnose oft der Fall gewesen. An jenen Tagen hatte sich Carina gewünscht, dass der Boden sie verschlucken würde. Da dies nie geschah, stand sie da und machte sich innerlich unsichtbar. Der Körper war natürlich noch dort, doch das, was ihren Körper zu Carina Kalteisen werden ließ, war irgendwo anders. Manchmal stellte sie sich vor, inmitten eines Waldes zu stehen und die Sprache dieser Erdenmenschen nicht zu verstehen. Oder sie schwamm im Ozean, umspült vom rauschenden Meer, sah und hörte nichts mehr. Wenn sie die Luft anhielt, hörte sie tatsächlich nach einiger Zeit das Meer rauschen. Dies sei nur das Blut, das durch ihr Ohr gepumpt würde, hatte Dominik ihr ernst erklärt. Es war Carina egal, wo das Geräusch herkam. Es erinnerte sie an das Meer und das tat gut. Die Wellen kamen und wuschen alles weg, trugen die Gemeinheiten der anderen, ihre Gedanken und ihre Erkrankung einfach weg.
Auf jeden Fall war Dominik am gestrigen Tag vorbeigekommen und hatte sie abgeholt. Er hatte an alles gedacht: Picknickdecke, Essen und Getränke sowie kleine Lautsprecher, die er an seinen IPod anschließen konnte. So hatten sie es sich unter einem großen Nadelbaum, in der Nähe des Rosengartens, bequem gemacht. Dominik hatte sie zu den Klängen von „Herr König“ mit Weintrauben und Apfelstückchen gefüttert. Carina hatte die Augen geschlossen und die Sonnenstrahlen auf ihrem Körper gespürt. Sie hatte den Duft der Rosen gerochen und in Dominiks Arm gelegen. Sie waren gute Freunde und kannten einander bereits seit der Grundschule. Alles an Dominik war ihr vertraut: sein Gang, seine Art, Sachverhalte zu erklären, seine Überzeugungen und sein Geruch nach frischem Waschpulver, in welchen sich neuerdings auch der Duft eines Aftershaves mischte. Dennoch hatte sich in den letzten Wochen etwas verändert. Früher waren sie immer zu viert unterwegs gewesen – Isabella, Doro, Dominik und sie. Viele Klassenkameraden hatten sich damals über ihn lustig gemacht. Sie hatten Dominik den Haremshäuptling genannt und ihn gefragt, was er denn mit seinen drei Hennen vorhätte. Dominik hatte, wie immer, nicht reagiert und seine Zeit weiter mit ihnen verbracht. Doch nun hatten sie sich öfter zu zweit verabredet und ihre gemeinsamen Stunden genossen. Sie hatten über Zukunftspläne geredet oder waren ins Kino gegangen. Es war noch nichts weiter geschehen. Oder doch: Dominik hatte ihr öfter versichert, wie hübsch sie aussah.
Carina fand sich selbst nicht besonders – weder ausgesprochen hübsch noch ausnehmend schlau oder lustig. Sie war eine ganz Normale, die nirgendwo herausstach. Mit 1,65 Meter war sie eher klein und hatte auf gar keinen Fall die langen Beine der Models im Fernsehen. Carina trug gewöhnlich Jeans, am liebsten dunkelblaue, die gerade geschnitten waren. Die hautengen Modelle, die gerade in Mode waren, machten ihre kurzen Beine noch kürzer und sogar die Verkäuferin, der ja immer ein netter Satz einfiel, um ihre Waren zu verkaufen, hatte nichts gesagt und nur leicht die Stirn gerunzelt. Als Carina sich dem Spiegel zugewandt hatte, hatte der Anblick sie an einen menschlichen Dackel erinnert. Es war auch nicht besser geworden, als sie sich in die schwarzen Stiefel gezwängt hatte, die man zu den Hosen trug. Carina hatte den Eindruck, als ob unterhalb ihres Lieblingsshirts, das eng anlag und etwas über ihren Po ging, sofort die Stiefel begannen. Damals hatte sie die Hose zurückgehängt und beschlossen, in diesem Jahr keine neuen Hosen zu kaufen.
Carina hatte eine Leidenschaft für Gürtel. Sie besaß 28 Stück in verschiedenen Formen, Farben und alle hatten besondere Gürtelschnallen. Ihr Lieblingsgürtel war aus dunkelrotem Leder gearbeitet. Er war zehn Zentimeter breit und schloss mit einem silbernen Halbmond. Erst vor kurzem hatte sie in einem Secondhandladen die passenden Ohrringe dafür erspäht. Vor Freude war sie in die Luft gesprungen und hatte Isabella herumgewirbelt, die mit ihr unterwegs gewesen war. Für Carina gehörten Gürtel und Ohrringe zusammen wie ein Paar Schuhe, und wenn sie nicht harmonierten, war es, als wenn man einen grünen Gummistiefel mit einer roten Sandale kombinierte.
Sie schüttelte sich bei dieser Vorstellung. Schauderhaft. Es war ihr ein Rätsel, wie manche ihrer Klassenkameradinnen tagein und tagaus die gleichen Ohrringe tragen konnten. Oft hatten diese auch nur einen Gürtel, wenn sie überhaupt einen trugen. Carina hatte eine schmale Taille und sie liebte es, diese mit den Schmuckstücken zu betonen. Heute trug sie beispielsweise den schwarzen Stretchgürtel mit der Schmetterlingsschnalle, lässig über einer rosa Bluse geschlossen, dazu Blütenohrringe, die etwas von ihrem braunen Haar verdeckt wurden.
Carina hatte braune große Augen und eine kleine Stupsnase, auf welcher sich einige Sommersprossen tummelten. Diese hatte sie von ihrer Großmutter geerbt. Oma Erna hatte viele Sommersprossen, sogar auf den Armen und Beinen. Früher hätte sie rote Haare gehabt, hatte sie erzählt und ein altes Foto herausgesucht. Hübsch war sie gewesen, ihre Oma. Mit roten Haaren war man einfach etwas Besonderes, auch heute noch. Carina war trotzdem froh, nicht auch diese geerbt zu haben, denn sie wollte normal sein, stinknormal.
Nur Dominik fand, sie sei etwas ganz Besonderes und wunderhübsch. Trotzdem hatte er sie noch nicht geküsst oder etwas in die Richtung. Carina fand, da müsse er den ersten Schritt machen. Dies wäre altmodisch, hatte Doro gesagt. Aber Isabella hatte ihr zugestimmt. Und es wäre auch italienisch, hatte Doro ergänzt. Nun ja, wie auch immer, sie wollte von ihrem Traummann geküsst und erobert werden, nicht umgekehrt.
War es nicht auch so in all den Märchen? Der Prinz kommt und rettet die Prinzessin, er küsst sie wach, hilft ihr den Apfel auszuspucken oder rettet sie aus einem hohen Turm. Ein paarmal hatte sie bereits gedacht, er würde sie küssen. Er war mit seinem Gesicht ganz nah zu ihrem gekommen. Jedoch hatte er sich dann wieder abgewandt und über etwas anderes gesprochen.
Die Momente der tiefen Zweisamkeit, wie Carina sie für sich nannte, waren einfach ungenutzt verstrichen und langsam fragte sie sich, was ihn zurückhielt. Sie war bereit für ihren ersten Kuss, besonders von Dominik. Ratlos zuckte sie mit den Schultern und blickte erneut auf die Rose. Sie hatte darauf gehofft, dass es an der Ostsee geschehen würde. Doch nun saß sie für noch weitere vier Stunden im Zug. Erst würde die Fahrt nach München gehen, dort musste sie umsteigen und nach Bad Tölz weiterfahren. Zwei Wochen würde sie dort in einem langweiligen Ernährungskurs verbringen, während ihre Freunde in einer kleinen netten Ferienhütte an der Ostsee ihren Spaß hatten. Bei der Vorstellung, nicht dabei zu sein, zog sich ihr Herz zusammen.
Weil sie sich ablenken musste, kramte sie in ihrem Rucksack nach Paulchen. Sie blätterte darin, las hier und dort ein paar Zeilen, und suchte etwas, ohne recht zu wissen was. Nun fesselten sie die Tagebucheinträge von vor einem Jahr. So hatte es angefangen.
stell dir vor, gestern ist etwas total Blödes passiert. Ich bin in der Schule in Ohnmacht gefallen. Einfach so. Ich sprach gerade mit Isabella und als ich aufwachte, lag ich auf der Liege im Arztzimmer unserer Schule und blickte in die Augen meines Klassenlehrers. Er meinte, er hätte bereits einen Krankenwagen gerufen und als dann der Rettungsdienst kam, stellten sie mir ganz viele Fragen. Dabei hatte ich Kopfweh und wollte eigentlich nur noch schlafen. „Wie ist das passiert?“ – „Keine Ahnung!“ – „Wann genau?“ – „Auf dem Schulweg“, antwortete ich schwach und döste wieder weg. Dann wurde ich in den Krankenwagen geschoben, wo man mir erst mal Blut abnahm und mir dann so ein Zeug spritzte, das sich anfühlte wie tausend Nadelstiche. „Wir hätten ihr vielleicht sagen sollen, was das ist“, meinte einer der Rettungsassistenten im Wagen zu seinem Kollegen. Ich weiß auch jetzt nicht, was das war. Es war jedenfalls sehr unangenehm. Jetzt lieg ich hier und starre die weiße Krankenhauswand an. Heute wollen sie eine Magenspiegelung machen und mich auf „Glutenunverträglichkeit“ testen. Was auch immer das sein soll – Aber ich warte einfach ab. Nachher weiß ich garantiert mehr. Ich werde jetzt schlafen, Paulchen. Gute Nacht.
Carina blickte über die zahlreichen Sitzreihen des Zuges und die Zeit ihres ersten Krankenhausaufenthaltes wurde in ihrem Kopf wieder lebendig. Die erschrockenen Gesichter ihrer Eltern, die kurz nach ihr im Krankenhaus eingetroffen waren.
„Wie geht es dir, mein Schatz?“, hatte ihre Mutter gefragt und ihr Vater hatte ihr hilflos über den Kopf gestrichen. „Besser ...“, hatte Carina gemurmelt und sich, so gut sie konnte, in Papas Hände gedrückt. Sie hatte immer noch einen Zugang, so nannte man die Nadel, die direkt in ihre Vene ging, und alle Bewegungen waren etwas mühsam. „Vielleicht brauchen wir die noch“, hatte eine Krankenschwester gesagt und sie zwar von einem Beutel mit Flüssigkeit, die langsam durch einen kleinen Schlauch in sie hineingetropft war, befreit, aber ihr die Nadel auf dem Handrücken gelassen.
In dem Moment kam ein Arzt herein, um ihr Blutbild zu besprechen. „Hallo Familie Kalteisen, ich bin Prof. Doktor Maier, der zuständige Chefarzt“, stellte sich ein kleiner, rundlicher, älterer Mann mit freundlichen braunen Augen vor. „Wir haben gerade die Ergebnisse deines Blutes bekommen und ich würde dir gerne ein paar Fragen stellen.“ Doktor Maier hatte sich direkt an Carina gewandt. Das gefiel ihr, denn oft hatten Erwachsene die Angewohnheit, an ihr vorbei Dinge zu diskutieren, auch wenn es um sie ging. Als Carina nickte, hatte Doktor Maier viele Fragen gestellt. Den Arzt hatte interessiert, ob sie sich oft erbrach. Oder ob sie oft Bauchweh hatte. Und wie häufig ihr schwindelig wurde oder wie oft sie bewusstlos war. Erbrochen hatte sie sich nie, außer bei einer Magen-Darm-Erkrankung. Ab und zu war ihr schwindelig, doch das wurde besser mit einem Glas kaltem Wasser, und bewusstlos war sie das erste Mal geworden.
Bauchweh hatte sie öfter mal, aber das war doch normal. „Jeder hat mal Bauchweh“, dachte Carina.
„Danke für deine Antworten“, hatte Herr Doktor Maier gemeint und sich wieder an die ganze Familie gewandt. „Wir konnten in Carinas Blut eine Unterversorgung an gewissen Nährstoffen feststellen und es konnten Antikörper gegen Gliadin nachgewiesen werden. Dies erhärtet den Verdacht, dass Carina an Zöliakie leiden könnte. Um sicherzugehen, würde ich gerne für morgen eine Magen-Darm-Spiegelung anordnen.“
Entsetzt hatte Carina den Arzt angeblickt und Herr Doktor Maier hatte in ruhigem Ton erklärt: „Also, da du normal isst, müsste dein Blutbild supergut sein. Das ist es aber leider nicht. Somit würde ich gerne untersuchen, ob die Aufnahme von Nährstoffen aus der Nahrung gestört ist. Dann sehen wir weiter. Aber keine Angst, das alles findet unter Narkose statt, das heißt, du merkst nichts. Heute Nachmittag würde ich Ihnen einen Termin bei einem Anästhesisten machen, wenn das passt.“ Er hatte zu Carinas Eltern geblickt, und als diese genickt hatten, hatte er sich verabschiedet und die drei alleine gelassen. Carina war zum Weinen zumute gewesen. Gestern war doch noch alles normal gewesen – und nun?
„Wir sind bei dir, Carina. Keine Angst“, hatte ihre Mutter beruhigend gesprochen und ihre Hand gedrückt. Und als ihre Eltern gingen, hatte ihre Mutter noch Paulchen hervorgezaubert.
Carina atmete tief durch, blickte aus dem Fenster und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Landschaft, die an ihr vorbeiflog. Hier mähte ein Bauer seine Wiese, dort standen die Autos auf der Autobahn in einem Stau, der sich über Kilometer hinzog. Sie hatte feuchte Hände. Dachte sie an jene Zeit, wurde ihr ganz flau im Magen. Wanderten ihre Gedanken zu Dominik, wurde ihr auch seltsam in der Magengegend, doch es war ein freudig aufregendes Gefühl, als wenn jemand zehn weiße Tauben fliegen ließ. In ihrer Vorstellung waren es edle Tauben, die bei einer Hochzeit als Glücksboten freigelassen wurden. Carina war bisher noch nie auf einer Hochzeit gewesen, doch in ihrer Vorstellung gehörten weiße Tauben dazu. Bei ihrer eigenen Hochzeit würde sie hunderte in den blauen Himmel aufsteigen lassen. Carinas innerliche Freudentauben flatterten in ihrer Magengegend und stießen mit ihren Flügelspitzen an die Magenwand, wenn nur jemand den Namen „Dominik“ aussprach. Oft hatte sie dann vor Freude keinen Hunger. Oder waren es die Tauben, die den ganzen Platz in ihrem Magen einnahmen? Carina war sich nicht sicher.
Die Krankenhaussache war etwas ganz anderes. Dachte sie an die Zeit vor einem Jahr, zog sich ihr Magen zu einem kleinen, harten, undefinierbaren Gebilde zusammen, schien an Gewicht zuzunehmen und durch ihren Körper zu sinken. Schwer wie ein Stein lag er dann in Höhe ihres Bauchnabels und verwandelte sich in ein schwarzes Loch. Der Magen wuchs und wurde zu einem unheimlichen schwarzen Wurmloch. Carina hielt sich davon fern. Sie ging nicht einmal in dessen Nähe. Sie wollte es nicht fühlen, riechen, spüren oder schmecken. Sie war nicht so mutig wie Captain Kirk, der Commander Spock anwies, mit dem Raumschiff Enterprise hineinzufliegen, um dort ferne Welten zu erkunden. Sie stellte sich vor, wie ihre langen glatten braunen Haare, die sie gewöhnlich mit einem Haarband im Nacken zusammenband, von ihrem Kopf abstanden. Dies war dann die weiteste Entfernung von dem Wurmloch in ihrem Bauch und dort konnte man sie in diesen Momenten finden. Sie saß am äußersten Ende ihrer längsten Haare, atmete tief und konzentrierte sich auf etwas anderes. Atmen und Ablenken. Die zwei As halfen immer. Ablenken konnte man sich am besten mit Zählen und Zupfen. Carina nannte es im Geheimen die Doppel-A-Z-Rettungsmission.