High Five - Elke Hilsen - E-Book

High Five E-Book

Elke Hilsen

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Beschreibung

Barbara Brauer liegt blutüberströmt im Wohnzimmer, erstochen, das Messer noch in der Hand. Selbstmord, diagnostizieren Arzt und Schupos, die am Tatort erscheinen. Niko Neubach liegt blutüberströmt im Wohnzimmer, erstochen, das Messer noch in der Hand. Wieder Selbstmord, ganz klar. Die örtliche Polizei ist hoffnungslos überfordert und torpediert mit ihren dilettantischen Ermittlungsversuchen die ersten Fortschritte. Ela Lehmann und dem unsichtbaren Alien Matetus, die alles hautnah miterleben, kommen Zweifel, sowohl an der Diagnose als auch am polizeilichen Talent. Sie müssen sich wohl selbst ans Ermittlungswerk machen - und bekommen dabei unerwartete Hilfe. Band zwei der Matetus-Reihe.

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Dieses Buch beruht nicht ganz auf wahren Begebenheiten

Inhaltsverzeichnis

FEBRUAR

MÄRZ

APRIL

MITTWOCH

FREITAG

SAMSTAG

MONTAG

DIENSTAG

DIENSTAG

FREITAG

MAI

DONNERSTAG

FREITAG

SAMSTAG

SONNTAG

MONTAG

DONNERSTAG

MONTAG

DIENSTAG

FREITAG

MONTAG

DIENSTAG

MITTWOCH

DONNERSTAG

FREITAG

SAMSTAG

SONNTAG

DIENSTAG

MITTWOCH

JUNI

DONNERSTAG

FREITAG

SAMSTAG

MONTAG

SONNTAG

MONTAG

DIENSTAG

MITTWOCH

DONNERSTAG

FREITAG

SAMSTAG

SONNTAG

MONTAG

DIENSTAG

MITTWOCH

DONNERSTAG

SAMSTAG

SAMSTAG

NACHWORT

FEBRUAR

Seine einzige Gesellschaft bestand aus einer Ratte mit kleinen Äuglein und einem langen Schwanz, die ihn aber völlig ignorierte. Ihm war heiß. Das Fieber stieg wohl immer noch, dazu der Nährstoff- und Flüssigkeitsmangel. Arme und Beine fühlten sich ganz leicht an, als ob sie unter seinem Körper hervorfliegen wollten. Es gab nur wenig Licht. Der Beton war feucht, fleckig und hässlich. Durch die Leitungsrohre dröhnte das Wasser, und er bekam Kopfschmerzen. Lange hielt er das nicht mehr durch. Von den Rohren flossen kleine Tropfen von Kondensflüssigkeit zu Bächlein zusammen. Der Raum war warm und von Dampf erfüllt, ohne den er wahrscheinlich schon gestorben wäre. Mühsam drehte er sich von einer auf die andere Seite und blieb erschöpft liegen. Finsternis verdunkelte den Horizont und sandte Nebel aus, der auf dem Boden entlangkroch, sich um Steine wand, die Mauern empor. Eine Welle von Verzweiflung erfasste ihn.

***

In einem kleinen Dorf stand in einer Seitenstraße ein kleines Einfamilienhaus zwischen Gemüsebeeten, Wiesen und Feldern. Martin blieb zu Hause. Er war wieder krankgeschrieben, weitere sechs lange Wochen. Ela, seine ihn stets umsorgende Gattin, seufzte schwer. Sechs Wochen, dabei kein Ende in Sicht.

Professor Martin Lehmann war um die sechzig und lehrte Geschichte an der Universität Kalmensburg, das lag etwa eine halbe Stunde von Untertriblingsbach entfernt, wo er mit Ela, Eleonora Maria Lehmann, die in den frühen Fünfzigern war, in dem kleinen Einfamilienhaus wohnte. Er hatte sich vor einiger Zeit sehr aufregen müssen, weil er glaubte, von der radioaktiven Bausubstanz in seinem Büro an der Universität verstrahlt worden zu sein. Und dann hatte noch sein wissenschaftlicher Mitarbeiter, Herr O., ohne Vorwarnung gekündigt, was bedeutete, dass er sämtliche Vorlesungen und Seminare wieder selbst abhalten musste. Das alles hatte ihn schwer mitgenommen, und so landete er schließlich mit einem Nervenzusammenbruch für eine Weile im Krankenhaus. Nun arbeitete er zu Hause und schrieb an einem Buchmanuskript. Das war bisher sehr gut gelaufen, denn er hatte sich die letzten Jahre zuverlässig vom Dissertationstext seines Mitarbeiters inspirieren lassen. Aber der fiel jetzt weg, und Martin war inhaltlich plötzlich auf sich allein gestellt. Zu dieser ungewohnten Situation kam erschwerend hinzu, dass die Ärzte im Krankenhaus aus ihm nicht nachvollziehbaren Gründen jegliches Vorhandensein radioaktiver Verstrahlung leugneten, und die Universitätsleitung dementierte rigoros eine mögliche Gefahr im Zusammenhang mit radioaktiv verseuchten Wänden, Decken o.ä., obwohl er mithilfe eines Geigerzählers persönlich und eindeutig Strahlung ermittelt hatte. Unfassbar! Sein Vertrauen in die Universitätsleitung und in Ärzte im Allgemeinen war zutiefst erschüttert. Also ließ er sich krankschreiben, sein Nervenleiden war schließlich noch nicht ausgeheilt. Außerdem kam sein Haarausfall nicht von ungefähr, und die anderen Zeichen, die Hautblasen, Geschwüre und Nekrosen, die würde er garantiert nicht abwarten. Er würde sich auf alle Fälle weiter krankschreiben lassen, denn in dieses Büro kehrte er keinesfalls zurück, und von Studenten hatte er vorerst genug. Verärgert über seine Schreibblockade schob er seine Notizen auf dem Schreibtisch hin und her und setzte seinen schallschluckenden Kopfhörer auf, weil einer der Nachbarn Holz sägte.

Ela bereitete währenddessen in der Küche das Mittagessen vor. Gedankenschwer blickte sie durch das Fenster. Jeden Tag ist Martin jetzt zu Hause. Jeden Tag will er mittags, und abends sowieso, etwas zu essen haben, und immer etwas anderes, mir fällt bald nichts mehr ein, dachte sie genervt. Für Ela bedeutete das mehr Arbeit. Das war aber nicht das eigentliche Problem. Wesentlich schlimmer fand sie es, dass sie sich dann nicht mehr so einfach mit Matetus treffen konnte.

In Untertriblingsbach wohnten nur wenige Menschen. Neben vier Bauernhöfen gab es einige Ein- und ein paar mehr Zweifamilienhäuser, eine Kirche mit Friedhof und eine Schenke, die Dorfschenke hieß. Außerdem lag auf dem Grundstück von Theresa Unterbacher noch die ehemalige Schmiede, die seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr genutzt wurde. Resi war eine Witwe Mitte Siebzig und recht rüstig. Sie half aus, wenn es Probleme gab, und immer wieder kam der eine oder andere Nachbar einmal vorbei, um bei einer Tasse Kaffee oder einem Likörchen mit ihr zu plaudern, denn sie wusste meist am besten Bescheid über alles, was gerade im Dorf passierte. Der Friedhof nördlich der Kirche war um das Pfarrhaus herum angelegt. Bis vor kurzem hatte das Dorf auch eine Tierarztpraxis gehabt. Aber der Veterinär ging in Frührente, und seither war sie geschlossen. Romantisch veranlagte Menschen würden Untertriblingsbach als malerisch und verträumt bezeichnen, weil es von vielen Weiden, Wiesen, Feldern und Waldstückchen umgeben war, einem gelegentlichen Bächlein, einem Weiher. Man könnte es eventuell aber auch als langweilig und trist bezeichnen. Vielleicht war das der Grund, warum es viele ältere Menschen gab und nicht so viele junge Familien. Auch bei den Lehmanns waren die beiden Kinder, eine Lehrerin und ein Bankangestellter, fortgezogen. Ela würde ebenfalls am liebsten gehen, aber vielleicht wurde es auch von allein wieder besser. Allerdings konnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, wie bald sich ihr Leben ändern würde, und zwar nicht nur ein bisschen.

***

Fahrenzburg lag etwa sieben Autostunden von Untertriblingsbach entfernt. Die Einwohnerzahl ging langsam Richtung 900.000, und dies erfüllte den Oberbürgermeister mit Stolz. Seit nunmehr zwanzig Jahren sorgte er dafür, dass die IT-Branche florierte. Immer mehr Firmen ließen sich nieder, Menschen zogen dazu, Wohnraumverdichtungen im Stadtinnern und neue, groß angelegte Siedlungen konnten mit dem Bedarf kaum Schritt halten. Die Stadt war sehr modern mit etlichen Kaufhäusern, einem eigenen Bankenviertel und einer relativ großen Universität mit Universitätsklinikum.

In der kleinen Seidengasse im Ortszentrum standen mehrere große Mehrfamilienhäuser, die alle sehr alt waren und irgendwann einmal Feuertreppen an den Fassaden zum Innenhof bekommen hatten. Fahrstühle gab es nicht. Vor einiger Zeit hatte man begonnen, einige der Gebäude zu sanieren. Die verschiedenen Renovierungsarbeiten zogen sich bereits etliche Jahre hin und mit ihnen die Geräuschkulisse. Viele der Fassaden waren bereits gereinigt und neu verputzt, die Fenster gestrichen oder erneuert. Die Gegend wirkte gepflegt. Das Haus Nummer 7 bestand aus einem Keller und aus fünf Stockwerken mit jeweils drei Wohnungen, nur im Erdgeschoss waren es zwei. Die Bewohner waren vorwiegend Rentner, allesamt halbwegs freundlich und ruhig. Sie hießen meist Meier, Müller etc. Das führte zu einer optisch eintönigen Klingelschildkollektion. Nur im Zweiten links wohnte noch ein (relativ) junger Mann, einer der wenigen Nichtmüllermeiers, Nikolaus Neubach, 35. Er hatte die Wohnung von seiner Großmutter übernommen, die vor kurzem verstorben war, und wohnte daher noch nicht so lange in der Seidengasse. Niko gehörte irgendeiner Protestbewegung der Gothic-Szene an und trug für gewöhnlich dunkle Kleidung in Leder mit Nieten und Löchern, schminkte sich die Augenränder schwarz und das Gesicht kalkweiß, färbte die Haare dunkelrot oder violett und hängte sich klumpigen Schmuck und schwarze Lederbänder um. An den Armen prangten Tattoos von einem Totenkopf, einem Herz, zwei Drachen und etwas, was nicht genau auszumachen war. Es schien wie mit Kugelschreiber gemalt. Farblich war fast alles in Schwarz-Grau-Tönen gehalten. An den Händen hatte er zwei klobige Ringe mit Kunstedelsteinen und viele Piercings in den Ohren und in der Nase. Heute baumelte ihm ein silberner Totenkopf um den Hals. Niko redete wenig, interessierte sich allerdings sehr für die Angelegenheiten anderer Leute. Weil Haustiere verboten waren, hatte er seine Ratte dem Zoo geschenkt.

In der Seidengasse 7 waren die Bäder und Toiletten der Wohnungen jeweils getrennt und übereinander angeordnet. Das Heizungs- und Wassersystem zog sich gerade durch alle Etagen durch von unten nach oben, und man konnte über die Leitungen oft hören, dass jemand im Bad darunter oder darüber war. Manchmal ließen sich ganze Gespräche verfolgen, was Niko nicht uninteressant fand. Die akustischen Informationen aus den Toiletten waren verständlicherweise undelikat.

Im Erdgeschoss der Nummer 7 rechts wohnte die einzige Familie, der Hausmeister Sornig mit Frau und zwei Kindern, die beide noch zur Schule gingen. Die zweite Wohnung im Erdgeschoss stand leer. Sie war die größte im Haus und lag unter den mittleren und linken Wohneinheiten. Vor kurzem war sie modernisiert worden, neues Bad, neue Toilette, neue Küche, neue Böden, neue Fenster, und daher teuer. Die großzügige Terrasse führte in den Innenhof mit Rasen, Beeten, Pflanzen in Töpfen, zwei Bäumen und einem Vogelhäuschen, das das ganze Jahr hindurch die verschiedenen Vögel mit Futter versorgte. Der Innenhof ließ sich von außen durch eine Einfahrt zwischen Hausnummer 3 und 5 erreichen. Die beiden Hausmeisterfrauen, die für die umliegenden Mietshäuser zuständig waren, gaben sich viel Mühe und kümmerten sich liebevoll um diese Anlage.

Gerlinde Müller, eine sehr höfliche und angenehme Witwe aus dem dritten Stock rechts von etwa 65 Jahren, kam vom Einkaufen zurück. Sie war klein, zierlich, hatte graues, lockiges Haar, das sie hochgesteckt trug, eine Brille und viele Lachfältchen. Von weitem wirkte sie wie eine gewöhnliche Frau. Wer sie aber näher kannte, wusste, wie klar ihr Verstand war. Luzius Lundermeier, genannt Lutzo, wohnte zwei Etagen unter ihr. Er schlurfte wie üblich um diese Zeit vor dem Haus herum, ohne Ziel, einfach nur so. Er schwankte bei jedem Schritt gefährlich, fing sich aber immer wieder. Es handelte sich hierbei um ein ca. 55-jähriges, total versifftes und verwahrlostes Individuum, das sich offenbar nie die Haare kämmte oder wusch, immer unrasiert war und aussah, als käme es direkt von der Müllkippe. Lutzo trug ständig die gleiche schlampige, ausgeleierte Trainingshose und ein uraltes, löchriges T-Shirt, wobei man froh sein musste, dass er überhaupt etwas trug, die Wampe wollte keiner sehen. Lutzo war emotional verkümmert. Er bewegte sich nur langsam und in Trance, grüßte niemals, sein Blick richtete sich meist in unbekannte Fernen, und er roch. Die Zigarette, die gewöhnlich schief links im Mund hing, verlor er allerdings nie. Offenbar war die Feinmotorik zumindest rudimentär noch vorhanden, was man von seinen Geistesgaben nicht behaupten konnte. Im ersten Stock links schrie Benno Brauer irgendetwas, seine Frau Barbara schimpfte lautstark, ein Glas zersprang, dann hörte man sie weinen, und Benno schloss das Fenster. Benno war vierzig Jahre alt, leicht übergewichtig, Raucher und Vielbiertrinker, die restlichen Haare ließen noch ein Dunkelblond erahnen. Barbara war 38, hellblond gefärbt mit gerade wieder breitem schwarzem Haaransatz. Sie hatte den Kampf um die gute Figur seit längerem aufgegeben. Auch sie trank gern ein Glas zu viel. Eine junge Frau von gegenüber marschierte mit einem schwarzen Hund vorbei, der offenbar Emiliana hieß und immer etwas falsch machte.

»Emiliana Fuß! Fuß! Nein! Hier! Fuß! Hierher! Fuß! Nein! Nein!«

Noch ein Hund. Zwei.

»Emiliana Fuß! Nein! Liana! Emmy! Nein!«

Gerade verteilte der Briefträger die Post in die jeweiligen Kästen und wünschte Frau Müller und Lutzo noch einen schönen Tag, Frau Müller wünschte lächelnd zurück, Lutzo zeigte keinerlei Reaktion und blickte ins Nirvana. Emmy oder Liana pieselte an einen Elektroroller, der auf dem Bürgersteig stand.

***

Er dachte wieder an die leeren Nächte. Jeden Abend, wenn er ins Bett ging, rollte er sich unter der dünnen Decke eng zusammen und lauschte. Manchmal drang Musik unter der Zimmertür an seine Ohren, oder der Fernseher lief. Aber wenn nichts zu hören war, wusste er, dass nichts mehr in Ordnung war. Wenn es ruhig war im Haus, würde er mitbekommen, wie die Schranktür im Wohnzimmer geöffnet würde. Er wusste, dass sein Vater dann die Schnapsflasche herausnahm. Er hörte fast schon, wie es gluckerte, wie er über den Boden schlurfte und irgendetwas fand, um mit der Mutter zu streiten. Die unheilverkündende Stille knotete seinen Plexus Solaris zu einer festen Geschwulst zusammen.

***

In Untertriblingsbach hatte Martin Lehmann nun seit einer halben Stunde Papiere und Stifte hin- und hergeschoben, ohne auch nur eine einzige Zeile geschrieben zu haben. Ihm fiel absolut nichts ein. Zum Essen war es auch noch zu früh. Mit sich und der Welt unzufrieden begab er sich in die Küche, um den Status des seit längerem angekündigten Rinderbratens zu überprüfen. Aber da es noch lange nicht zwölf war, machte er sich keine großen Hoffnungen, jetzt schon etwas zu bekommen. Stattdessen verwickelte er seine Frau in ein Gespräch über Essensgewohnheiten im frühen Mittelalter in Süddeutschland. Obwohl der Begriff Gespräch deplatziert wirkte, da sie sich nicht beteiligte. Dann begann er, über seine desolate Situation zu klagen. Ela blickte auf Jahrzehnte solcher Ausführungen zurück und zeigte sich unbeeindruckt.

»Wenn es dir hier zu langweilig ist, geh wieder an die Uni, da kriegst du dann auch neue Ideen.«

Kopfschüttelnd schälte sie eine Karotte, zerkleinerte sie und warf die Stücke zum Braten, der im Ofen garte.

»Du weißt genau, dass mein Büro dort lebensgefährlich ist.«

Ela klapperte noch lauter mit den Töpfen und Tellern. Sie holte Besteck aus der Schublade und legte es klirrend auf dem Tisch ab, schaute im Ofen nach dem Braten und donnerte die Tür wieder zu.

»Wenn du nicht in dein Büro zurückwillst, dann geh doch in ein anderes.«

»Mir wird kein anderer Raum zugewiesen, das habe ich schon versucht. Die Leitung ist stur und gewissenlos. Seit Jahren sterben die Leute an strahlungsinduziertem Krebs, aber das wird völlig ignoriert. Was soll noch alles passieren, bis sich etwas ändert?«

Tatsächlich waren in den letzten Jahren einige der Mitarbeiter an Krebs erkrankt, was in manchen Fällen tödlich ausgegangen war.

»Dann geh an eine andere Universität!«

»Also wirklich, man kann nicht so einfach mir nichts, dir nichts die Universität wechseln, ich bin Professor! Ich will es ja nicht laut sagen, aber manchmal bist du wirklich etwas dumm.«

Es krachte, als ein Kochbuch aus dem Regal fiel und ihn an der Schulter streifte. Irritiert schaute sich Martin um.

»Aber da bringst du mich auf eine Idee. Ich werde gleich einmal in der Liste mit den Austauschprogrammen nachsehen, vielleicht ist irgendwo etwas für Geschichte dabei.«

Zufrieden verließ er die Küche.

»Ich würde den gern mal verprügeln«, meinte Matetus.

»Untersteh dich!«

Matetus war der Haus-Alien. Unsichtbar für jeden, nur nicht für Ela. Anders als der klassische Haus-Elf machte sich Matetus allerdings nicht im Haushalt nützlich, im Gegenteil, er trieb ständig Unfug. Er gehörte zur Spezies der Plugismonier, die schnell Langeweile haben und gern Wetten abschließen. Matetus war vor wenigen Monaten im Rahmen eines Umsiedlungsprojektes von Plugismon zusammen mit einigen hundert seiner Artgenossen auf die Erde gekommen und anschließend in diesem Dorf gestrandet. Gleich zu Beginn der Umsiedlungsphase steckten sich die restlichen Plugismonier, die alle in den Städten geblieben waren, mit einer besonderen Corona-Mutation an und starben. Plugismonier waren eigentlich für die menschlichen Sinne nicht zu erfassen. In diesem Falle hatte es sich aber herausgestellt, dass Ela Kontakt mit einem sehr seltenen radioaktiven Stoff hatte, der sich auf Metabolismus und Sinnesapparat auswirkte und sie in der Folge alle Plugismonier wahrnehmen konnte. Matetus lebte jetzt schon einige Monate bei den Lehmanns, hatte eine Vorliebe für Süßes entwickelt, kannte sich im Dorf und in allen Häusern und Höfen bestens aus und litt, wie üblich, unter der Eintönigkeit der dörflichen Idylle. Er war der einzige seiner Art weit und breit und hatte niemanden zum Wetten. Daher konnte es passieren, dass er es mit seinen Späßen manchmal zu weit trieb. Und er liebte Ela, seine Ersatzmutter. Matetus selbst gehörte laut eigener Aussage in die Kategorie Jugendlicher und agierte daher auch nicht zwingend vernünftig. Vor allem vertrug er die bösen Sprüche ihres Mannes nicht besonders. Deswegen hatte er das Buch aus dem Regal geworfen. Nur leider schlecht getroffen. Ihm fehlten die Gespräche mit Ela, die durch die permanente Anwesenheit des Professors schwierig waren. Der musste weg.

Ela musterte skeptisch den Himmel. Er wollte und wollte die Sonne nicht freigeben, so dass sie ständig fröstelte. Es wurde bald Frühling, eine schöne Jahreszeit, sie freute sich schon darauf, aber jetzt im Februar war es noch etwas zu kühl, obwohl die Sonne relativ kräftig war, wenn sie denn schien. Gerade war wieder lautes Gezwitscher zu hören. Die Spatzen hatten die neuen Meisenknödel entdeckt. Was will ich hier eigentlich? Immer dasselbe, Unkraut, Blätter, Rasen mähen. Und dann auch noch frieren. Der einzige Grund, warum Ela sich trotzdem im Garten aufhielt, war, dass Martin ihr nicht folgte. Er war gegen alles Grüne, auch beim Essen übrigens. Aber einzig stimmte nicht ganz, denn es gab einen zweiten Grund. Hier draußen konnte sie leichter mit Matetus reden, ohne dass jemand ihre »Selbstgespräche« mitbekam. Die Austauschidee fand sie gut. Irgendwie musste sie Martin endlich loswerden, vielleicht konnte Matetus helfen. Er kannte sich in Internetdingen bestens aus.

Die Vögel suchten schon intensiv nach ihren Unterkünften, die Blaumeisen hatten ihr Nest bereits gefunden, Winterlinge blühten, Krokusse und Schneeglöckchen nahmen gerade Anlauf. Eigentlich gab es im Garten einiges zu tun. Sie begann, eines der Beete vom Laub des letzten Jahres zu befreien, dabei hörte sie zu, wie Matetus ihr die neusten Tratschereien aus dem Dorf erzählte. Morgens trafen sich meist einige Nachbarn vor Resis Küchenfenster auf dem Weg zum Friedhof oder beim Rundgang mit dem Hund und plauschten. Matetus gesellte sich gern zu ihnen und hörte zu. Aber es war schon lange nichts mehr Interessantes passiert. Manch einer wunderte sich, dass so wenig Tulpen kamen, ein anderer vermisste Zucker oder andere Dinge, die an den seltsamsten Orten wieder auftauchten. Matetus war im Jahr vorher aus Versehen in diesem abgelegenen Dorf gelandet. Er hatte sich irgendeinen Scherz im Zusammenhang mit einer Wette ausgedacht und war in ein Auto gestiegen, weil er dachte, ein Stück mitfahren zu können. Er kam aber dann erst in dem Dorf wieder heraus und war geblieben. In Martins und Elas Haus gefiel es ihm. Eine ganze Weile hatte er sich mit der Fütterung von Wühlmäusen die Zeit vertrieben, wozu er die Tulpenzwiebeln benötigte. Als Ela auf dem Friedhof bei der Grabpflege mit dem radioaktiven Stoff in Berührung kam und ihn daraufhin wahrnehmen konnte, freundeten sie sich nach beidseitigem Schreck an.

Ela sah sich vorsichtig um, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurde.

»Meinst du, das wird was mit diesem Austausch?«

Matetus zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, woher soll ich das wissen.«

»Kannst du nicht etwas nachhelfen?«

»Wie denn?«

Er schob mit dem Fuß die Harke unter das Laub.

»Guck doch mal im Internet nach, ob irgendeine Uni einen Geschichtsprofessor braucht. Und hör auf, mir die Harke zu verstecken. Gehen dir die Ideen aus? Hilf mir lieber!«

Matetus hatte keine Lust. Zu nichts und zu etwas Produktivem schon mal gar nicht. Er seufzte.

»Meine Güte, geht es dir schlecht.«

Ela konnte sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen.

»Ja.«

»Das tut mir jetzt aber leid.«

»Das sagst du nur so.«

Missmutig schob er die Harke wieder aus dem Haufen heraus und ging zurück ins Haus.

Der Nachmittag verlief zäh. Ela säuberte mehrere Beete von Laub und Unkraut, bis sie Rückenschmerzen bekam. Sie brachte drei Eimer Biomüll zum Kompost und beschloss, lieber wieder ins Haus zu gehen. Matetus hatte sie bereits seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen. Sicher war er drinnen. Er bewohnte das Gästezimmer, das Martin nie betrat. Ela hatte für eine Zimmerpflanze und für Bilder an den Wänden von Autos, Traktoren und Motorrädern gesorgt. Auf dem Bett lagen mehrere Kissen verstreut. Ein ausgedienter Computer mit Internetverbindung stand auf dem Tischchen in der Ecke. Martin brauchte für sein Home-Office schnelles WLAN. Matetus konnte also unabhängig im Internet surfen und recherchieren. In einem Nebenraum war außerdem ein kleines Labor eingerichtet. Matetus hatte nämlich einmal bei einer seiner frühen Entdeckungstouren durchs Haus im Flur neben seinem Zimmer eine mit Tapete beklebte Tür gefunden, die daher kaum auffiel. Sie war schlecht beleuchtet, außerdem standen rechts und links Regale. Hinter dieser Tür entdeckte er dann ein kleines Zimmer. Ursprünglich sollten dort irgendwann einmal, noch zu Lebzeiten der Tante, die Ela seinerzeit das Haus vererbt hatte, alte Koffer, Kleider und überflüssige Möbelstücke deponiert werden, aber es geriet in Vergessenheit. Unter dem Kniestock, zwischen Innen- und Außenwand des Hauses, verlief außerdem ein schmaler, niedriger Gang, der das Gästezimmer mit dem Raum verband und jeweils kleine Türen hatte, denn auch dort sollten einmal unbrauchbare Gegenstände verstaut werden. Wenn er sich klein machte, konnte Matetus von einem zum anderen Zimmer gelangen, ohne dass es jemand mitbekam. Mittlerweile nutzte Matetus seine Chemieutensilien kaum noch, sondern surfte lieber im Internet.

Inzwischen war es Zeit, das Abendessen vorzubereiten, darum ging Ela erst ins Bad, dann in die Küche. Kurz vor sechs erschien Matetus in der Tür. Breit grinsend klärte er sie über das Ergebnis seiner nachmittäglichen Internetrecherche auf.

»Rruhaa! Ich habe etwas gefunden und gleich weitergeleitet.«

***

»Du hast gesagt, dir schmeckt die Suppe nicht.«

Barbara war nach einem kurzen Abstecher ins Café, wo sie die Jobangebote am weißen Brett geprüft hatte, weiter zu einem der Nachbarn gegangen, für den sie einmal die Woche die Wohnung reinigte. Besonders gut gefiel ihr die Putzerei nicht, aber so kam sie wenigstens mal unter Leute. Auf dem Nachhauseweg kaufte sie für das Abendessen ein.

Es ging Richtung Abend. Noch immer spiegelte sich etwas Sonnenlicht in den Fenstern, doch die Dämmerung rückte näher. Die Dächer mit ihren Antennen und Schornsteinen warfen lange Schatten, und bald schon würden die Laternen angehen, eine nach der anderen. Barbara und Benno Brauer stritten. Das kam in letzter Zeit immer häufiger vor. Beide hatten schon etwas getrunken. Die Diskussion wurde heftiger. Das Fenster stand wieder offen, wie meistens, wenn Barbara kochte. Deswegen drehten einige Passanten die Köpfe nach oben. Die beiden hatten seit Längerem Geldsorgen. Benno bekam als Lagerarbeiter nicht einmal 1.900 Euro brutto, Barbara war arbeitslos und verdiente unter der Hand mit Putzen etwas dazu, das reichte aber nicht für Miete, Essen und Auto. Allmählich wurde es eng, ein Grund mehr zu trinken. Jeden Abend und reichlich und manchmal auch mittags. Barbara hatte schon als junge Erwachsene melancholische Phasen gehabt. Die Sorgen ums Geld, die Arbeitslosigkeit und der Alkohol deprimierten Barbara immer mehr, sie schlief kaum noch und war dann um so gereizter. Wenn dann Benno auch noch am Essen herummäkelte, geriet sie sofort aus der Fassung. Wie jetzt gerade. Angeblich war die Suppe nicht in Ordnung. Dabei fand Benno, er hätte bloß ganz harmlos um Salz gebeten.

»Gar nicht, ich habe gesagt, gib mir doch mal das Salz.«

»Genau, dir schmeckt die Suppe nicht.«

»Doch, ich brauch bloß noch Salz.«

»Also schmeckt sie dir nicht, sonst würdest du ja kein Salz brauchen.«

»Doch, die Suppe schmeckt. Die Suppe hat einen guten Geschmack.«

»Wonach schmeckt sie denn?«

Das brachte Benno aus der Bahn, und er stockte.

»Du weißt gar nicht, wonach sie schmeckt? Du weißt gar nicht, was für eine Suppe das ist?«

Es wurde gefährlich, das spürte er.

»Lauch?«

»Lauch?«

Barbara explodierte förmlich.

»Was sagst du da? Lauch? Mann, dann müsste die doch grün sein. Das ist eine Champignoncremesuppe.«

»Ja, aber das ist doch ganz ähnlich. Und sie schmeckt sehr gut.«

»Wozu brauchst du dann Salz?«

Barbara brüllte. Benno brüllte zurück:

»Dann gib mir wenigstens den Pfefferstreuer.«

»Das ist ja noch viel schlimmer, vielleicht brauchst du auch noch Ketchup?«

Gute Idee, aber das traute er sich jetzt nicht mehr zu sagen.

Benno war schwer genervt und musste sich zusammennehmen, um nicht mit der Faust irgendwo dagegen zu schlagen.

Unten meinte Herr Sornig zu Frau Sornig, eine Champignoncremesuppe hätte es schon länger nicht mehr gegeben, die fände er auch ganz gut. Sohn Sven wollte lieber Ketchup, Tochter Sara nichts, sie achtete auf die Figur. War aber sowieso hypothetisch, weil Frau Sornig die Woche bereits fertiggeplant hatte. Vor der Haustür lungerte immer noch Lutzo herum, in der Hand eine Kippe, der Blick irgendwie verträumt, so als sähe er etwas Wichtiges in weiter Ferne, und bekam auf einmal Hunger.

Die Seidengasse mündete in die Leinenweberstraße, in der es ein Café, ein Internetcafé, eine Apotheke, eine Bäckerei und einen Lebensmittelladen gab. Das Café hatte einen Hauptraum mit langem Tresen, an dem man sitzen konnte, dazu einige Tische, serviert wurde schon um sechs, Frühstück, später Kaffeegetränke und Kuchen. Ein junges Mädchen stand hinter dem Tresen und wischte über verschiedene Stellen, andere ließ sie aus, dann sah sie ausdruckslos auf, um eventuelle Kundschaft zu bedienen. Im Nebenraum standen zwei Billardtische. Außerdem hing an der Wand ein weißes Brett, an das man Mitteilungen pinnen konnte. Auf den großen und kleinen Zetteln wurden Putzhilfen, Gelegenheitsjobs, Nachhilfe für Englisch oder Klavierunterricht, Babysitter oder gebrauchte Kleidung gesucht oder angeboten. Eine Firma benötigte einen Gehörlosen für regelmäßiges Laubblasen. Der Ortsverein gab sein aktuelles Programm bekannt. Diverse Bands luden zum Zuhören ein. Eine Yogalehrerin informierte über ihr Kursangebot. Die Universität gab eine Vortragsreihe bekannt zu Themen wie »Ästhetik des Kriminalromans«, »Kleine Poetik des Schreibblocks« oder »Till Eulenspiegel im Spannungsfeld von Literatur, Religion und Gesellschaft«. In farbenfrohen Buchstaben meldete der örtliche Kindergarten sein nächstes Fest an und rief alle, die wollten, auf, zu kommen. Wenn jemand die Türe öffnete, flatterten die Zettel im Luftzug, und manchmal wehte einer davon weg. Barbara Brauer hatte hier schon den einen oder anderen kleinen Putzauftrag gefunden, aber in letzter Zeit war nichts mehr dabei gewesen.

Marlies Meier befand sich auf dem Weg zu ihrem Vater, Matthias Meier. Der siebzigjährige Witwer wohnte in der Seidengasse 7 im vierten Stock. Marlies ging mit ihrem neuen Freund, den sie ihrem Vater gleich vorstellen wollte, an Apotheke und Café vorbei und betrat die Bäckerei, um Kuchen für den Nachtisch zu kaufen. Sie war etwas nervös, vollkommen albern mit fast 40, aber es war nun einmal so. Kurt Kaufmann, 50 Jahre alt, und sie hatten sich vor ein paar Wochen bei einem Fantasy-Event kennengelernt, bei einem der Turniere. Dabei verkleidete man sich als Goblin, Troll, Elfe oder Ork und kämpfte gegeneinander. Es ging aber mehr um die Kostüme als ums Gewinnen. Marlies war eine Elfe mit einem durchsichtigen Kostüm aus alten Gardinen und viel zu kleinen Flügeln und spitzen Ohren, Kurt ein Goblin in schmutziger Fetzenkleidung, großen Ohren und verfaulten Zähnen. Das sah furchtbar ekelig aus, aber sie wurden als Kampfpartner ausgelost. Marlies erinnerte sich noch, wie die Umstehenden gebrüllt hatten, um die Illusion einer Schlacht zu erzeugen, wie sie wieder und wieder mit ihrem Elfenschwert Rosalinda angegriffen hatte.

Mit unglaublicher Genauigkeit zielte das Schwert blitzend auf das Herz ihres Gegners, aber jeder Hieb wurde vom Schild abgeblockt. Noch einmal schlug sie zu, drängte ihn in Richtung Grenzlinie ab, aber er blieb einfach stehen, holte irgendwann mit seinem Schild aus und traf sie am Kopf. Sie fiel hin und blieb atemlos liegen, mit aufgeschreckten, weit geöffneten Augen. Er beugte sich vor, lächelte sie an, fragte, ob sie sich geschlagen gebe, was sie sofort bejahte, obwohl sie das gar nicht meinte. Zu spät. Kampf entschieden. Kampf beendet.

Anschließend kamen sie ins Gespräch, mehr oder weniger, da sie hauptsächlich diejenige war, die redete. Er fand sein Kostüm im Grunde nicht so toll, Ork wäre noch gegangen. Aber Elf wäre mit dem Bauch nicht glaubwürdig rübergekommen.

Das fand sie insgeheim auch, behielt es aber für sich. Sie aßen zusammen eine Pizza. Kurt musste nicht viel sagen, sie verstand ihn auch so. Und schon bald beschlossen sie, zusammenbleiben zu wollen und suchten nun eine größere Wohnung, um dort gemeinsam einzuziehen.

Marlies trug eine Jeans in Blau und ein einfaches T-Shirt unter der Jacke, ein buntes Baumwolltuch leger um den Hals geschwungen, Kurt eine schwarze Hose, ein graues Sweatshirt, graue Baumwollsocken und schwarze Schuhe. Er wog zu viel, sein Bauch wölbte sich etwas über der Hose. Die kurz geschorenen Haare hatten einen grauen, verblichen aschblonden Ton, die Augen schimmerten stechend blau. In jungen Jahren hatte er noch Sport getrieben, man sah den athletischen Körperbau in Ansätzen, trotz der Fettpölsterchen. Er war groß und wirkte stark, aber die besten Jahre hatte er hinter sich.

»Was hätten sie denn gern?«

säuselte die Bedienung freundlich-plaudernd. Viel war nicht mehr da.

»Willst du vielleicht den Erdbeerkuchen probieren?« fragte Marlies mehr in die Luft, weil Kurt sowieso nicht antworten würde. Er sprach nur, wenn es absolut nicht vermeidbar war. Gerade das zog sie magisch an, hatte was von einsamem Cowboy allein auf dem Pferd in der Prärie mit Indianern und Bisons unter sengender Sonne. Deswegen kaufte sie nur ein Stück davon, dann noch Käse-Sahne und Schwarzwälder-Kirsch. Ein paar Minuten später klingelten sie an der Haustür der Seidengasse 7, betraten das Treppenhaus und machten sich an den Aufstieg. Durch die schmalen Fenster strömten Sonnenstrahlen, und man konnte den feinen Staubkörnchen beim Tanzen zusehen. Gedämpfte Stimmen drangen an ihre Ohren. Aus einer Wohnung klang leise Musik, angenehm leichte Klaviertöne, aus einer anderen wimmerte ein Saxofon. Die Treppe ächzte und stöhnte an einigen Stellen, wenn man mittig auftrat. Im ersten Stock hörte man Benno brüllen. Barbara kam aus der Tür geschossen. Fast stieß sie mit Kurt zusammen. Die beiden sahen sich kurz und wortlos an, dann knallte sie die Tür mit Vehemenz zu und lief die Treppe hinunter, während Marlies und Kurt ihren Weg nach oben fortsetzten. Mit steinerner Miene folgte Kurt seiner Freundin die letzten Stufen bis zum vierten Stock. Marlies gab Kurt das Kuchenpaket und strich sich über die Hose, der frisch aufgetragene Lippenstift schillerte. Sein Rasierwasser wischte ihr sanft um die Nase, es roch etwas nach Sandelholz, sie liebte den Geruch. Sie schloss die Augen und spürte, wie der Duft wieder verflog. Draußen gab es die üblichen Straßengeräusche zu hören. Ein Auto bremste direkt vor dem Haus, bevor es langsam weiterfuhr und ordentlich Gas gab. Sie war bereit.

Marlies und Kurt betraten die vollgestopfte Wohnung ihres Vaters. Es roch nach Pfefferminztee. Im Wohnzimmer war der Tisch für das Abendessen bereits gedeckt.

»Schön, dass ihr mich besuchen kommt. Wie geht es? Wie geht es Ihnen?«

Matthias Meier sah Kurt aufmunternd an. Der war noch misslauniger als sonst. Seine bewölkte Stirn sah regelrecht zum Fürchten aus.

»Danke.«

Matthias Meier wartete, ob es noch weiterging, Marlies kam ihrem Freund zu Hilfe.

»Danke, gut.«

»Freut mich, freut mich.«

Sie aßen etwas von den belegten Broten, die Matthias Meier vorbereitet hatte, tranken etwas, plauschten etwas. Schnell war der alte Herr der Einzige, der redete, die anderen beiden hörten höflich zu. Aber als er meinte, er hätte in letzter Zeit öfter Schwierigkeiten mit dem Rücken und den Getränkekisten, bot Kurt an, ihm hin und wieder behilflich zu sein. Der Abend zog sich, und bald verabschiedeten sich Marlies und Kurt wieder.

»Das war nett von dir. Aber du hättest ruhig etwas mehr sagen können«, meinte Marlies und sah Kurt an.

»Hast du was?«

Ihm fiel nichts ein außer:

»Mir ist nicht gut.«

»Dann trinkst du nachher einen Schnaps, o.k.?«

Ja, das war o.k. Sie verließen das Haus und begaben sich zurück zum Auto, das ein paar Straßen weiter parkte. Dabei kamen sie an einer Frau vorbei, die brüllend mit zwei Hunden kämpfte.

»Emmy nein! Liana! Emmy! Nein! Nein! Fuß!«

***

Beim Abendessen teilte Martin seiner Gattin mit, dass er bei seiner Suche über die Website des Historikerverbandes eine offene Forschungsstelle an der Universität von und zu Fahrenzburg gesehen hatte. Der dortige Professor hatte vorzeitig das Projekt über die Entwicklung der Zimbern in Norditalien verlassen, und nun wurde kurzfristig nach einer Vertretung gesucht. Niemand, soweit er wusste, käme hierfür in Frage.

Außer ihm natürlich. Allerdings sollte die Stelle schon in den nächsten sechs bis sieben Wochen angetreten werden, besser früher. Dann musste er möglichst flott einen Freistellungsantrag bei seiner Universität einreichen. Eine fatale Entscheidung, wie sich zeigen sollte. Würde er jetzt zurückblicken, würde Martin sich darüber aufregen. Eine ganze Kette an Ärger und Problemen wäre vermieden worden. Martin nahm trotz aller Begeisterung sehr langsam Messer und Gabel zur Hand und trennte sorgfältig und geschickt eine zentimeterlange, hauchdünne Fettschicht vom Braten ab, die er graziös an den Rand des Tellers platzierte, nicht ohne vorwurfsvollen Blick in Richtung Gattin. Danach schob er exakt drei Erbsen auf die Gabel und führte sie zum Mund. Ela wusste nicht so recht, was sie von der Idee halten sollte, denn sie würden nicht im Haus wohnen bleiben können. Andererseits gingen ihr nicht nur Gatte, sondern auch Alien allmählich auf den Geist.

Nach einem ausgedehnten Vortrag über die Vorteile des Stadtlebens im Allgemeinen und Fahrenzburg im Besonderen, den Ela wie immer schweigend verfolgte, räumte sie den Tisch ab, im Hintergrund lauerte ein hoffnungsfroher Matetus. Das Unvermeidliche war wohl nicht aufzuhalten.

»Aber wir beauftragen eine Firma.«

Keinesfalls würde sie ihre Einrichtung in hunderte von Kisten packen.

»Natürlich, selbstverständlich, kein Thema.« Und damit läutete er einen Umzug ein, dessen Scheitern durch kontinuierliche, verdeckte Alieninterventionen von Beginn an ausgeschlossen war. Die Sterne erwachten langsam zum Leben. Eine weitere ruhige Nacht kündigte sich an. In einem wohl temperierten Heizölkeller dämmerte ein unglücklicher Wissenschaftler hilflos seinem Ableben entgegen, während eine kleine Ratte geduldig auf ihre bevorstehende Mahlzeit wartete.

***

Die beiden Gärtner luden den Biodünger vom Anhänger des Traktors und verteilten ihn auf die siebzehn Kübel, die dann als Einzelportionen weitergereicht werden konnten.

»Ich fürchte, das ist etwas mehr als gedacht. Hol doch noch ein paar Eimer!«

Schließlich hatten sie zwanzig Kübel, zehn Eimer und drei Schubkarren voll.

»Sieh dir mal den Himmel an, das gibt bestimmt ein ziemliches Gewitter.«

Der Dünger war für die Parkanlage beim Marktplatz bestimmt. Wie jedes Frühjahr sollten Rosenrabatte und Staudenbeete damit versorgt werden.

»Wir können die Kübel hier nicht stehen lassen. Am besten, wir lagern das ein, bevor alles nass wird.«

Er sah auf die Uhr. Die Aktion hatte länger gedauert als gedacht, Feierabend schon vorbei. Innerlich fluchend schoben sie die Karren in den Schuppen und räumten Kübel und Eimer hinterher.

»Und jetzt?«

Der Schuppen war voll, aber sie hatten noch fünf Eimer übrig.

»Da unten rein. Komm, dann machen wir auch Feierabend.«

Die Treppe hinunter war finster und still. Die Luft roch moderig, Boden und Wände sahen angeschimmelt aus. Unter ihren Füßen knirschten unzählige Steinchen. Sie schalteten das Licht ein, aber die Glühbirne schien nur schwach. An den Wänden standen ein paar bejahrte Bänke und Regale übereinandergestapelt, alte Kisten und Schachteln. Im dämmrigen Licht wirkte alles ein bisschen unheimlich. Im Flur war kein Platz mehr, weil überall zu viel Krempel herumlag. Sie mussten seitwärts gehen, als sie die restlichen Eimer hinunter und durch den Flur schleppten. Dann stellten sie sie im hintersten Raum ab. Für ein paar Tage würde es reichen. Kaum waren sie fertig, begann es auch schon zu schütten.

MÄRZ

Es war Anfang März, langsam wurden die Tage länger. Das Essen zog sich. Alle Tische waren besetzt. Die Leute saßen über ihre Handys gebeugt und trainierten die Daumenmuskulatur.

Er nahm einen Bissen von der maximal mittelmäßigen Pizza und beobachtete, wie Pennemayer seine kleinen, dicken Finger in den Hamburger grub. Er stützte beide Ellenbogen auf den Tisch, senkte etwas den Kopf und biss hinein. Ein undefinierbares graues Soßengemisch tropfte auf die traurig-bräunlichen Salatblätter. Diese sowie Tomaten und Zwiebeln blieben unangetastet, die fetten Pommes nicht. Mit vollem Mund erklärte er, was am morgigen Tag zu tun war. Eine Wolke von Chanel Nummer irgendwas waberte vorbei, als sich eine kleine, elegante ältere Dame von ihrem Tischchen erhob und Richtung Ausgang steuerte. Kriminalhauptkommissar Pennemayer hatte so gut wie keinen Hals, ein meist rotes Gesicht, kleine Schweinsäuglein in bleichen Augenhöhlen und roch, besonders jetzt, am Ende eines Tages, mehr nach Schweiß als nach süßlichem Rasierwasser und billigem Haargel. Morgens war es andersherum. Ein Handy dudelte. Pennemayer griff mit glitschigen Fingern in die rechte, dann in die linke Tasche des Sakkos, das über der Stuhllehne hing. Dabei kleckerte etwas Soße auf das schlecht gebügelte weiße Hemd. Die kleinen Stummelfingerchen grabbelten nach dem Handy. Johannes Winkler blickte aus dem Fenster hinaus auf die Straße. Kalmensburg war eine mittelgroße Stadt, reich an Tradition und Kultur, arm an spannenden Kriminalfällen. Deswegen kümmerten sich die beiden Beamten hauptsächlich um mittelschwere Verbrechen. Draußen verabschiedete sich langsam der Tag, die Leute befanden sich auf dem Heimweg, und Winkler wäre gern bei ihnen dabei gewesen. Stattdessen nahm er einen weiteren Bissen von seiner Pizza und beobachtete, wie sein Gegenüber gefährlich auf dem Stuhl kippelte. Eine Verordnung von oben hatte das Betriebsklima auf dem Kommissariat für inadäquat befunden, und Pennemayer beschloss, ab sofort einmal die Woche mit seinen Leuten bzw. ein paar ausgelesenen davon, wie er sich ausdrückte, abends zum Essen zu gehen, um die Stimmung zu verbessern. Was nicht klappte. Im Gegenteil, Winkler und der eine oder andere ausgewählte Praktikant mussten sich jetzt noch länger mit ihrem Vorgesetzten herumquälen als vorher. Kriminaloberkommissar Johannes Winkler war groß, schlaksig, zurückhaltend und sehr höflich und wirkte auf seine Mitmenschen zunächst schüchtern, gleichzeitig seriös und vertrauenserweckend. Deswegen verliefen seine Gespräche mit Zeugen und Verdächtigen in der Regel erfolgreich. Die letzten paar Fälle hatte er zusammen mit einem äußerst fähigen Praktikanten erledigt, ohne Pennemayer zu sehr mit Ermittlungsarbeit belasten zu müssen. Aber der junge Mann hatte sich wegbeworben. Jetzt sinnierte Winkler darüber nach, was ihn selbst eigentlich noch hielt. Er fand nichts.

Pennemayer hatte seinen Hamburger gegessen und griff zwecks Nachtisch zur Speisekarte. Seine rosa Gesichtshaut leuchtete, die Finger glänzten wie frisch poliert.

***

Barbara füllte das Essen auf zwei Teller. Offenbar Eintopf. Jetzt im März hatten Rosenkohl, Pastinaken und Bärlauch Saison.

»Gib mir doch mal das Salz«, sagte Benno.

»Aber du hast doch noch gar nicht probiert.«

»Na und, ich will doch bloß das Salz hier stehen haben.«

»Und jetzt wohl noch den Ketchup drüber, was? Wozu mach ich mir eigentlich die Mühe mit der Kocherei, wenn du sowieso alles zuschüttest.«

»Ich habe doch gar nichts gesagt. DU hast doch von dem Ketchup angefangen.«

Barbara dachte kurz nach, konnte sich aber nicht mehr erinnern. Sie war gedanklich schon beim Abspülen und wollte möglichst schnell im Café nachsehen, ob es vielleicht einen weiteren Putzjob gab. Wie immer begriff Benno nicht, worum es ging. Das machte Barbara traurig. Und dann wütend.

»Was ist das überhaupt?«

Begeisterungsarm rührte Benno in seiner Portion herum. In seiner Magengegend begann es zu brodeln.

»Das hat keinen Namen. Frau Sornig hat gesagt, ich soll meiner Kreativität freien Lauf lassen.«

Mist. Barbara war noch nie kreativ gewesen. Wie sollte er aus der Nummer ohne Ketchup wieder rauskommen? Am liebsten wäre er jetzt im Internetcafé. Weil dort immer weniger Leute die Computer nutzten, gab es Notverpflegung wie Pommes und Currywurst. Außerdem hatte er seine Ruhe, auch wenn er nicht surfte. Da war er aber schon einmal diese Woche gewesen, und wenn sie ihm draufkam, würde das zu einem fürchterlichen Wutausbruch führen, das wollte er nicht riskieren. In der letzten Zeit zog es ihn immer weniger nach Hause, vor allem, wenn Barbara heftig wurde und Gläser warf.

Barbara war zuweilen unberechenbar. Manchmal konnte er das gut vertragen, aber nicht immer. Er war diesen ewigen Knatsch so leid, und ihr Essen auch. Echt wahr. In seinem Magen brodelte es immer heftiger. Das Fenster war auf. Von draußen dröhnte der Lärm der Großstadt.

»Emmy nein! Liana! Emmy! Nein! Nein! Kommst du her!«

***

Martin Lehmann hielt das Schreiben der Universitätsleitung in den Händen. Sein Antrag auf Beurlaubung für den Forschungsaufenthalt war bewilligt worden, wahrscheinlich, weil er nicht nur auf Gehaltfortzahlung, sondern auch auf die Urlaubsansprüche verzichtet hatte. Als ein richtig guter Deal hatte sich die Sache allerdings nicht entpuppt, denn die Forschungsgelder für das Projekt waren spärlich. Kein Wunder, dass der Kollege abgebrochen hatte. Egal. Jetzt konnten die Vorbereitungen für den Umzug ernsthaft beginnen.

Seine Frau, die im letzten halben Jahr internettechnisch eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht und von der neuen Finanzsituation keine Kenntnis hatte, sammelte seit einigen Tagen Wohnungsangebote und Adressen von Umzugsfirmen und ließ ihn damit völlig unbehelligt, was ihm nur recht sein konnte, auch wenn die Ansprüche an die Wohnung seiner Meinung nach etwas überzogen schienen. Er brauchte selbstredend ein eigenes Büro. Sie wollte dazu ein Gästezimmer, mindestens eins. Was hieß hier mindestens eins? Ela hatte ihm erklärt, dass sie sonst im Falle eines Besuches sein Büro nehmen müssten, und was, wenn beide Kinder gleichzeitig kommen wollten, dann würde ein Gästezimmer nicht reichen.

Er bestand, wie von Ela erwartet, auf das alleinige Nutzungsrecht und nahm dann lieber eine größere Wohnung in Kauf.

Als ob die Kinder je gleichzeitig zu Besuch kämen, wahrscheinlich kämen sie überhaupt nicht. Besonders wohl war ihm nicht bei der Sache. Da er aber mathematisch noch nie ganz auf der Höhe gewesen war, beschäftigte er sich lieber mit seinem Manuskript. Was seine Laune nicht besserte.