Und das Kamel grinste - Elke Hilsen - E-Book

Und das Kamel grinste E-Book

Elke Hilsen

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Beschreibung

Düster, skurril, spannend – ein außergewöhnlicher Krimi, der einen nicht mehr loslässt!
Dunkle Gestalten ziehen durch die Stadt, verängstigt greifen die Anwohner zum Telefon, um die Polizei zu verständigen. Tiere und Menschen sterben auf mysteriöse Weise. Eine junge Studentin wird mit einem Ast erschlagen, ihr Körper wirkt ausgemergelt und dehydriert. Ein fünfundvierzigjähriger Mann erstickt. Die Polizei sucht noch nach Zusammenhängen, doch die Journalisten Meier und Meyerle recherchieren auf eigene Faust. Ihre strategisch-kreativen Artikel beeinflussen nicht nur die Auflage, sondern auch die Mordrate.

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Inhaltsverzeichnis

FAHRENZBURG, HEUTE

CEPPAIONA, VIERZIG JAHRE ZUVOR

FAHRENZBURG, HEUTE

CEPPAIONAHEUTE

FAHRENZBURG HEUTE

CEPPAIONA, VIERZIG JAHRE ZUVOR

FAHRENZBURG, HEUTE

CEPPAIONA, VIERZIG JAHRE ZUVOR

FAHRENZBURG, HEUTE

CEPPAIONA, VIERZIG JAHRE ZUVOR

FAHRENZBURG, HEUTE

CEPPAIONA, HEUTE

FAHRENZBURG HEUTE

CEPPAIONA, FÜNFZEHN JAHRE ZUVOR

FAHRENZBURG, HEUTE

ENDE

Die beiden saßen am Küchentisch, ohne sich anzusehen, und hielten sich an den Händen fest.

»Und jetzt?«

Am Himmel zogen sich dunkle Wolken zusammen. Endlich würde es einmal regnen. Vor lauter Tränen und Schluchzen konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Die ganze Welt schien in Schieflage geraten. Er nahm ihre Hände und küsste ihre Finger, einen nach dem anderen.

»Wir müssen hier weg.«

»Aber wohin?«

»Egal, Hauptsache weg.«

Sie wischte sich mit der Hand durch das Gesicht, das rot und verquollen aussah, und schüttelte den Kopf.

»Aber wohin? Wohin denn bloß?«

Sie stand auf und sah aus dem Fenster. Das war ihr Garten, ihre Blumen, ihre Zitronenbäume. Ihre geliebte Heimat. Hier war sie zu Hause. Hier.

»Dahin, wo es Arbeit gibt. Für mich. Und später dann auch für dich. Du wirst schon sehen. Dann geht es uns allen besser.«

Sie schüttelte immer noch den Kopf, bis ein erneuter Weinkrampf sie zusammenbrechen ließ.

Wieder musste er an sie denken, mit ihren großen, schwarzen Augen, den glänzenden, schwarzen Haaren und dem Lächeln, das ihn immer den Atem anhalten ließ. Kein Tag verging, ohne dass er ihr schönes Gesicht sah, nur, um es wieder in den Tiefen seines Herzens verschwinden zu lassen. Sie würde nie zurückkehren.

Verzweifelt legte er seinen Kopf in die Hände. Auf dieser Familie lastete ein Fluch.

FAHRENZBURG, HEUTE

Mehrere Streifenbeamte deckten die Leiche mit einer Plastikplane zu. Sie hatten das Gebiet mit Flatterband gegen Schaulustige abgesperrt und mussten es nun etwas erweitern. Auf der Straße im Zentrum des Universitätsviertels standen mehrere Einsatzwagen. Die blauen Blitze erhellten die Bäume und Sträucher, die am Fundort wuchsen. Am Absperrband drängten sich zahlreiche Menschen und sprachen aufgeregt miteinander, lachten hin und wieder und schubsten sich, um etwas besser sehen zu können. Kripo und Rechtsmedizin hatten ihre Arbeit erledigt und waren gegangen. Einige Journalisten harrten noch aus in der Hoffnung, doch noch etwas Interessantes zu erfahren. Vergebens. Aus den Polizisten war keine Silbe herauszubekommen. Meier und Meyerle von den Fahrenzburger Nachrichten hatten wieder einmal zu spät mitbekommen, was passiert war. Etwas weiter entfernt parkte der Leichenwagen. Gebannt sah man zu, wie der Leichnam verräumt wurde. »Just beat it, beat it, beat it. But you wanna be a man. Beat it, beat it, beat it.«

Meyerles Kopf ruckte im Rhythmus von Michael Jackson vor und zurück. Er lehnte am Auto und wartete auf Meier, der ihm böse Blicke zuwarf. Meyerle drehte das Radio leiser und stellte sich gerade hin. Er war für die Fotos zuständig und hatte bereits alles, was er brauchte, alle fünf Streifenwagen, den Notarztwagen und den Golf von der Kripo. Außerdem hatte er auch noch eine pinkfarbene Corvette aus den späten Sechzigern erwischt, ein Sammlerstück, die war ganz in der Nähe geparkt. Meyerle war sehr zufrieden. Am Himmel wanderte der Mond langsam höher. Silbrig glänzend und sichelförmig herrschte er über die unzähligen Sterne, die ihrerseits versuchten, ihn durch schiere Masse auszustechen.

Sie fuhren in Schrittgeschwindigkeit durch das nächtliche Fahrenzburg. Über ihnen der sternenklare Himmel, vor ihnen friedliche Straßen, die Wärme des Asphalts und nur einige wenige Spaziergänger. Im Zentrum wechselten sich finstere Ecken und hell erleuchtete Viertel ab. Weiter draußen schliefen die Einwohner hinter heruntergelassenen Rollläden. Oder sie schliefen nicht und taten etwas mehr oder weniger Ungehöriges. Darum dann der Rollladen. Die Laternen an den Straßen leuchteten warm. Gartentore und Hauseingänge waren fast alle dunkel. Nur hie und da glomm noch eine Solarlampe vor sich hin. Igel keuchten. Die Sonne war längst untergegangen, und der Himmel bekam zwischen all den Sternen ein tiefes Blau. Sie fuhren durch breitere Straßen und kleinere, enge Sträßchen. Eine Turmuhr schlug. Über den Himmel zuckten Sternschnuppen. Versonnen sah Meier hoch, nachdem er das karge Ergebnis seiner Recherche rekapituliert hatte. Da halfen auch keine verlängerten Neuformulierungen. Es war zu wenig für einen Artikel in der Frühausgabe. Freitag, der 23. Juni, liegt in der Mittsommerzeit, dachte er. War es schon nach Mitternacht? Sie waren gerade mittendrin, denn soweit er wusste, feierten die skandinavischen Länder vom 20. bis zum 26. Juni die Sommersonnenwende, den längsten Tag des Jahres und den Beginn des Sommers. Ob die Tote wohl etwas damit zu tun hatte? Immerhin hatte sie, was die Leute so sagten, ein langes, weißes Kleid getragen. Über Blumen hatte niemand etwas gesagt. Hatten die nicht so einen Kranz in den Haaren? Blöd, dass sie zu spät gekommen waren. Sie hatten lediglich ein kleines Zipfelchen weißen Stoffes ausmachen können, und noch nicht einmal ein Foto, nur, wie die Leiche fortgetragen wurde, also eine Aufnahme des Leichensacks, und auch nur, weil Meyerle den Leichenwagen fotografieren wollte. Auf Neudeutsch: suboptimal.

»Wir sollten uns etwas zum Thema Mittsommernacht umhö-ren.«

Aber Meyerle war in Gedanken schon bei Bier und Bettruhe und reagierte nur mit einem leisen Brummen. Er schien auf den ersten Blick ein eher schlichtes Gemüt zu haben und war so oft wie möglich im Energiesparmodus, ein, wie er behauptete, evolutionär bedingter Schutzmechanismus gegen Kräftevergeudung und damit verfrühtem Tod. Das Schonprogramm war seiner Figur nicht zuträglich. Diese war tendenziell birnenförmig und kleidungstechnisch locker umhüllt. Meier hingegen war groß, dünn und drahtig und proaktiv eingestellt. Er hatte einen gebräunten, durchtrainierten Körper und wog um die neunzig Kilo. Die Haare trug er kurz. In einem Ohr hatte er einen kleinen Ring. In seinem Kopf ließ er bereits die Varianten seiner aktuellen Schlagzeile kreisen. Wurde die Zeit nicht auch die weißen Nächte genannt? War das nicht ziemlich heidnisch? Magisch? Übernatürlich? Hexentänze. Sommersonnenwende. Aber war das nicht etwas früher? Er musste auf Wikipedia nachsehen. Meier ließ seinen Gedanken freien Lauf. Da könnte man was draus machen.

***

Am Samstagmorgen, noch vor acht Uhr, kamen die ersten und begannen, mit viel Getöse ein Zelt aufzubauen, ein halbes, zumindest sah es so aus, auf der Wiese in dem kleinen, zumeist ruhigen Vorort von Fahrenzburg. Er lag nicht so weit weg von der Innenstadt, hatte aber doch seinen eigenen, fast ländlichen Charakter behalten. Zu jedem Haus gehörte ein großer Garten. Es gab viele Bäume und Rasenflächen, auch einen Bach am Rande der Wiese. Die Straßen hatten beschauliche Namen wie Eichenstraße, Kastanienstraße, Ulmenweg, Buchenweg, Fichtenweg oder Eschengässlein. Für die Kinder sicher ein schöner Ort, um groß zu werden. Jetzt lärmten Maschinen und Leute schrien, während sie Stangen und Plastikplanen verteilten. Eine unglaublich fettleibige Frau stolperte zwischen Masten und Gittern herum und gab Kommandos. Das ging ein paar Stunden so weiter, bis irgendwann wieder Ruhe herrschte. Das halbe Zelt, ein Wohnwagen und ein paar Stangen blieben auf der Wiese zurück. Die Menschen waren verschwunden. Der Himmel zog sich zu. Falls es regnete, würde das eine Riesensauerei auf der Wiese geben.

Am nächsten Morgen lagen mehrere Sandhaufen auf der Grasfläche, und es waren noch drei Wohnwagen dazu gekommen. Im Laufe des Tages sammelten sich immer mehr Stangen und Gerüstbauteile an. Erst abends wurde es wieder laut. Die Tiere wurden geliefert, Ponys, Pferde, Ziegen, Kamele. Letztere wurden getrennt untergebracht. Mehrere kleine Hunde liefen lauthals kläffend hinter den Ponys her und bereicherten die abendliche Idylle primär akustisch. Langsam füllte sich die Wiese mit Wohnwagen, Leuten und riesigen Heuballen. Der Wind trug einen fremden Duft durch die Straßen.

Jeder Mensch hat mindestens einen Arschlochnachbarn. Das scheint eines dieser ungeschriebenen Naturgesetze zu sein, gegen die auch ein Umzug nichts ausrichten kann. Im Gegenteil, man kann froh sein, wenn es nur einer pro Straße ist. Denn seit Corona hat sich ihre Zahl drastisch erhöht. Päckchen werden angenommen, aber nicht weitergegeben. Autos parken auf Nachbarparkplätzen. Altmüll landet im Kaminfeuer. Hundehaufen liegen auf der Fußmatte. Wenn der Normalbürger abends nach einem Tag voll Arbeit zu Hause seine Ruhe genießen will, beginnt für solch einen Nachbarn der Sinn des Lebens. Er lässt kleine, goldige Hündchen vor die Tür, die mehrere Stunden ein geparktes Motorrad anbellen. Bei Bedarf kauft er weitere dazu. Er ersinnt Werkzeuge mit Benzinmotor für Arbeiten, die auch einfach mit der Hand zu erledigen wären. Anschließend mäht er den Rasen oder sägt schnell noch etwas Holz, bevor es ganz dunkel wird. Und während er bei konkurrierend störenden Hunden gern einmal eine mit Rattengift angereicherte Wurstschnitte verliert, bleibt er selbst erstaunlich resistent gegen Bitten um Ruhe. Aus dieser Kategorie stammte der Eigentümer der Wiese, ein korpulenter, extrem unterbelichteter Mann mit einigen wenigen schwarzen Haaren und einer Eunuchenstimme. Axel Burger beobachtete alles zufrieden und freute sich, dass er mit diesem Durcheinander einige seiner Lieblingsnachbarn zu ärgern glaubte.

Die Nacht war vorbei. Die Hunde hatten durchgekläfft. Später dann begann der Presslufthammer sein monotones Gedröhne. Irgendwo schrie jemand:

»Elfiiie.«

Aus einer anderen Ecke kam:

»Hier.«

Und als Antwort:

»Komm her!«

Der Rest war unter dem Geknatter der Maschinen nicht mehr auszumachen. Ein großes Zirkuszelt wurde aufgebaut.

Meier, mit Meyerle im Schlepptau, fragte alle möglichen Personen, die ihm aus dem Polizeidienstgebäude entgegenkamen. Aber wenn sie sein Mikrofon sahen, drehten sie sofort ab.

Meier machte die Langeweile zappelig. Ungeduldig packte er das Mikro wieder weg und holte sich eine Zigarette aus der Tasche. Nach einer Stunde gab er auf und beschloss, am nächsten Morgen zurückzukommen. Daher stand er am Sonntagfrüh wieder vor Ort und suchte nach Leuten, die er befragen wollte. Bei der fünften Frau, sie schien nur einen türkisfarbenen Plastikkittel zu tragen ohne etwas darunter, hatte er endlich Glück. Sie blieb stehen.

»Entschuldigen Sie!«

»Ische nische deutsch.«

»Schon gut, sagen Sie, arbeiten Sie hier?«

Die Frau nickte stolz.

»Arbeite Polizei!«

»Hier im Gebäude?«

Die Frau nickte.

»Dürfte ich Ihnen bitte einige Fragen stellen?«

Er hätte auch mit der Luft reden können. Es entstand eine kleine Pause.

»Koste!«

sagte sie endlich.

Meier versuchte sich in einem Gesichtsausdruck, der Unverständnis signalisieren sollte.

»Koste!«

wiederholte sie mit Nachdruck. Sie schnippelte mit Daumen und Zeigefinger in der Luft herum, bis Meier begriff und ihr einen Fünf-Euro-Schein hinhielt. Sie steckte ihn in eine ihrer Kitteltaschen und sagte:

»Kleine.«

Auf seinen entgeisterten Blick hin präzisierte sie:

»Kleine Ehuro. Nix kleine. Groß.«

Er schob noch einen Zehn-Euro-Schein nach, und sie schien es zufrieden zu sein.

»Ja, sehr schön. Wie heißen Sie?«

»Dora.«

Er tat, als ob er mitschrieb.

»Und was machen Sie?«

»Ische putze. Und Sara auch.«

Eine Sara gab es momentan allerdings nirgends. Nur ein paar uniformierte Männer. Die traute sich Meier aber nicht anzusprechen.

»Wunderbar. Eh, Dora.«

Meier strahlte sie an.

»Und reinigen Sie auch den Keller?«

Die Frau nickte wieder.

»Ähem, haben Sie eventuell einen Toten gesehen?«

»Ja, ich sehe Tote. Viele Tote.«

»Und wie sah der, wie sahen die aus?«

»Große, kleine.«

Ȁh, und wie noch?

»Tote. Mausetote.«

»Ja, klar, und wie noch?

»Nackich. Ganze nackich.«

Er entschied sich für eine gänzlich andere Herangehensweise.

Präzise Fragen.

»Sagen Sie, war da vielleicht eine Frau dabei gewesen?«

»Ja.«

»Und wie sah die aus?«

»Auche nackich.«

Die Frau hoffte auf Lob, das aber nicht kam, nicht von Meier.

Meyerle stattdessen bot ihr eine Zigarette an, die sie heißhungrig nahm und sofort in den Mund steckte.

»Und wissen?«

Jetzt begann die Frau verschwörerisch zu flüstern. Sie neigte sich etwas vor. Der Kittel klaffte oben auseinander. Interessant.

»Wie Pferd, wie heiße?«

Der tiefere Sinn dieser Frage entzog sich seiner Kenntnis. Was wollte sie? Er sah fragend zu Meyerle. Aber auch der zuckte mit den Schultern, holte aber sein Feuerzeug und hielt es der Frau vor die Nase.

»Wie heiße? Pferd?«

Sie schien angestrengt nachzudenken, wenn den Stirnfalten zu trauen war.

»Na Pferd bunte.«

Dann erhellten sich ihre Gesichtszüge. Ein Leuchten glitt über ihren Mund. Eigentlich hatte sie ganz hübsche Lippen. Wie alt sie wohl sein mochte? Ende Zwanzig? Anfang Dreißig?

»Zebra. Zebraa.«

Voller Stolz wiederholte sie das noch ein paar Mal.

»Was meinen Sie mit Zebra? Ich dachte, Sie hätten eine Leiche gesehen. Wir benötigen Informationen zu einer weiblichen Leiche.«

Meier war entschlossen, der präzisen Verbalstrategie treu zu bleiben.

»Keine wisse. Nur Zebraa. Zebramensch.«

Meier versuchte immer noch, das zu verstehen, bis er eine Idee hatte.

»Sagen Sie, Sie haben doch bestimmt einen Schlüssel?«

Die Frau schaute ihn lange an. Verstohlen nestelte sie in der Kitteltasche herum und sah züchtig zu Boden. Schaute wieder hoch. Ein knallharter Blick traf Meier mitten ins Gesicht.

»Koste!«

***

Eine halbe Stunde nach Mitternacht. Mit Doras Schlüssel in der Hand ging Meier wieder zum Polizeipräsidium. Diesmal war er allein. Meyerle war ermittlungstechnisch behindert. Schwer, fand er. Zuerst versuchte er es beim Haupteingang. Er wartete etwas, bis gerade niemand zu sehen war, und probierte das Schloss aus. Natürlich passte der Schlüssel nicht. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Dann schlich er einige Male um den kompletten Gebäudekomplex herum und versuchte es mit sämtlichen Türen, die er finden konnte. Langsam verfluchte er sich dafür, wieder einmal Geld aus dem Fenster geworfen zu haben. Irgendwann aber stieß er auf eine ganz unauffällige Laderampe zum Hinterhof hin. Hierdurch konnten die auseinandergenommenen Leichen unbemerkt weitergereicht werden. Der Schlüssel passte.

Er öffnete die Tür und ging hindurch. Es war dunkel und nichts zu hören. Und saukalt. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Einige Sicherheitssekunden lang lauschte er in die Stille hinein, die ihn umgab. Dann schaltete er das Handy an und suchte die Wand ab, bis er den Schalter fand und darauf drückte. Augenblicklich wurde es hell. Meier war in der Rechtsmedizin gelandet. In dem Raum standen mehrere Seziertische. Auf den Tischen lagen Schalen, Skalpelle unterschiedlichen Kalibers, Handsägen, Bohrer und andere grausliche Dinge. Seine Nackenhaare sträubten sich, als ein Schauer seinen Körper flutete. Alles war noch relativ neu. Der Stahl glänzte, der Kunststoff war noch nicht mattgeputzt. Trotzdem hing der unverkennbare Geruch nach Formaldehyd in der Luft, und es roch faulig. Meier horchte noch, ob irgendetwas zu hören war. Dann besuchte er die gesamte Abteilung, bis er schließlich zu einem Büro kam. Aktenschränke, funktional-einfache Büromöbel, ein großer Kalender, ellenlange Tabellen und Listen an den Wänden. Das Wichtigste war natürlich der PC. Der war netterweise an. Ob die Leute sich hier die Hände waschen, bevor sie sich an den Schreibtisch setzen? Meier dachte an seine eigenen Hygienegewohnheiten. Jetzt war er froh, sich als Erstes Handschuhe angezogen zu haben, bevor er überhaupt mit seiner Suche begann. Auch wegen der Fingerabdrücke, wer weiß. Er setzte sich auf den Stuhl und durchblätterte die Papiere, die überall verteilt lagen. Dabei stieß er an den Bildschirm, der sofort zum Leben erwachte. Username und Passwort? Meier sah unter der Tastatur nach, aha, Mueller und Thomas. Meier gab die geforderten Angaben ein. Zufrieden besah er sich die Dateien, bis er fand, was er suchte.

***

Die Luft war feucht und warm. Ein hysterisches Lachen stieg in seiner Kehle hoch. Der vertraute Duft wurde zusehends ran-ziger. Ein Hauch von Verwesung wehte vom geöffneten Fenster zu ihm herüber. Er fühlte sich hilflos, leicht und leer. Dann ein Gewicht auf der Brust. Schmerzen. Krallen gruben sich in die Bauchdecke. Zähne, die sich tief ins Fleisch bohrten. Er schlug hilflos um sich und versuchte, Luft zu holen, zu schreien. Vergeblich warf er den Körper hin und her, um die Last abzuschütteln, um etwas Freiheit zu gewinnen. Aber es war viel zu eng, wie Klauen, die seinen Hals umklammerten und zudrückten. Das war nicht richtig, oder? Seine nackten Schultern begannen zu zittern. Ein Rascheln, war jemand da? Konnte ihn jemand hören? Er dachte daran, wie seine Mutter ihm früher zur Beruhigung eine Geschichte vorgelesen hatte, wenn er weinend und mit aufgeschlagenen Knien nach Hause gekommen war. In einem anderen Leben. Jetzt erinnerte ihn das dumpfe Pochen überall am Körper daran, dass er etwas falsch gemacht hatte. Der Schmerz war allumfassend, allgegenwärtig. Verzweifelt versuchten die Hände zu greifen, glitten aber immer wieder ab. Dann schlug er wieder ins Leere. Er rang nach Atem. In seinem Mund spürte er Blut, er hatte sich auf die Zunge gebissen. Sie lag wie ein nasser, alter Lappen im Mund und hinderte ihn am Atmen. Er musste husten. Einige Tropfen Schleim und Blut vermischten sich mit den Ausdünstungen des geschundenen Körpers. Er schwitzte, ihm war gleichzeitig heiß und kalt. Wie lange ging das nun schon so? Minuten? Stunden? Der Schmerz wurde unerträglich. Es war einfach falsch, es konnte nicht sein. Nicht so. Warum war es mit einmal so dunkel? Sein Kopf begann zu schmerzen, grelle Klingen griffen hinter die Augen, scharf-gebogene Messer, um sie nach innen zu reißen. Er stolperte mit den Füßen sinnlos im Kreise. Der Schweiß rann in Strömen. Wieder versuchten die Hände, das Hindernis zu fassen. Wieder griffen sie ins Leere. Plötzlich war er müde, viel zu müde. Die Muskeln versagten mehr und mehr die Kooperation. Langsam wurde die Luft weniger. Er wollte schreien. Aber was seiner Kehle schließlich entrann, war ein Gurgeln, ein Keuchen. Blitze zuckten vor den Augen, in den Ohren ein Dröhnen, das zu einem Donnergrollen anschwoll. Was war das, ein Schatten? Kam er, um ihm zu helfen? Wenn der Kopf doch nicht so sehr schmerzen würde. Er drohte zu platzen. Lächerlich, das war lächerlich. Er versuchte zu lachen, aber es kam nur ein Krächzen, dann ein dünnes Röcheln. Die Koordination wurde schwieriger, die Handbewegungen langsamer. Die Hände zuckten in unkontrollierten Bewegungen Richtung Hals, fielen zur Seite, erlahmten. Ihm war, als müsse er sich übergeben. Von draußen ertönte leise Klaviermusik, wie, um ihm auf seinem letzten Weg noch einmal das Wunder des Lebens zu zeigen. Er starb.

***

Im Zirkus ging alles seinen Gang. Zahlreiche neue, teure Wohnwagen standen am Rande der Wiese, moderne Geräte, luxuriöse Autos, starke Maschinen, ein Traktor. Der Circus Abracada war topmodern ausgerüstet. Ein kleiner Junge versorgte die Tiere, schleppte Wasserkübel, kontrollierte die Einzäunungen und ging ganz offensichtlich in keine Schule, während von den Erwachsenen kaum etwas zu sehen war. Ab und an hörte man ein Wiehern aus dem Inneren des halben Zeltes. Die Kamele hatten auch nachts an ihren Gittern gerüttelt. Sie verströmten einen eigenartigen Geruch. Wenn man sie von vorne sah, machten sie einen wirklich freundlichen Eindruck. Einige kleine Hunde, Pudelverschnitte, die in der Vorstellung demnächst ihre sensationellen Kunststücke aufführen sollten, kläfften ohne Unterlass in hohen, zermürbenden Winseltönen. Ununterbrochen seit Samstag. Kontaktaufnahmen mit dem Ziel, wieder etwas mehr Ruhe zu bekommen, blieben ohne Erfolg, ebenso sehr laut geäußerte Kritik. Die Nerven der Anwohner litten akut.

Gabi Hohlmer knallte schnell die Schreibtischschublade mit den Sanskrit-Vokabeln zu, als ihr Chef hereinkam. Sie lernte seit über drei Jahren diese alte Sprache während der Arbeitszeit. Auf Hohlmer trafen fast alle nur wenig schmeichelhaften Adjektive zu, um nur einige zu nennen etwa lang und dürr, grau, hölzern, vertrocknet und absolut unattraktiv. Winters wie sommers trug sie die ewig gleiche farblose Regenjacke, und sie ging grundsätzlich nicht zum Friseur. Das Geld konnte man sich wirklich sparen. Ihre Haare waren glatt, grau und fransig, weil sie sie selbst schnitt. Sie wuchsen nicht nur oben auf dem Kopf.

Möller begann langsam und bedächtig, den neuen Tag zu loben. Er pflegte einen konservativen Kleidungsstil. Auch heute erschien er, wie üblich und trotz der Hitze, im dunkelgrauen Dreiteiler. Ansonsten war er nicht so konservativ, wie man es bei einem Theologen vermuten würde.

»Wir wollen uns glücklich preisen, und die Natur mit all den wunderbaren Blüten, den Bäumen, dem Gras schätzen und lieben. Lasset uns dies Wunder immer wieder mit frischen Augen betrachten. Lasset uns mit Liebe begegnen, lasset uns an den Herrn und seine frohe Botschaft denken. Lasset uns lieben, uns und unsere Feinde.«

Diese Kurzpredigten bildeten immer den lang ersehnten Auftakt zu einem neuen Arbeitstag, weil er sie speziell für sie hielt. Aber jetzt hatte er sie mit dem Thema Liebe doch etwas durch-einandergebracht. Was meinte er damit? Sie? Gabi war aufgewühlt. Ratlos. Verwirrt. Mit ernstem Gesicht sah sie von ihrer Arbeit, die sie zur Tarnung auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte, auf und presste sich ein trockenes

»Guten Morgen, Herr Professor!«

ab, bevor sie weiter an ihrem fiktiven Text schrieb. Sie sah noch einmal über den Brillenrand zu ihm hoch und lächelte. Als er in seinem Büro verschwunden war, nahm sie die Zeitung vom Samstag, die er ihr hingelegt hatte. Aber da öffnete sich abermals seine Tür. Schnell legte sie die Zeitung beiseite und sah ihn rätselhaft lächelnd an.

»Würden Sie mir bitte einen Tisch reservieren in der Perfetta für morgen. Neunzehn Uhr. Zwei Personen.«

»Selbstverständlich.«

Dann verließ er das Büro. Seufzend faltete sie die Zeitung auseinander und sah zur Tür, ob er vielleicht noch einmal zurück-kam. Aber heute würde es wohl nichts mehr werden. Professor Klaus Möller weilte tagsüber immer nur sehr kurz an der Universität. Meist ließ er sich bei seinen Verpflichtungen durch seinen akademischen Rat vertreten. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich ohne Not mit der geistigen Trägheit und dem tagtäglichen Mittelmaß hier zu beschäftigen.

Gleich auf der ersten Seite gab es einen Artikel über den bayerischen Ministerpräsidenten, auf den bei einem Gmoa-Fest ein Attentat verübt worden war. Die Medien spekulierten, wer da-hinterstecken könnte. Bisher hatte sich noch niemand als Verantwortlicher gemeldet. Weiter unten stand noch etwas Interessantes.

Grausiger Fund

Fahrenzburg, 24. Juni

In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni wurde im Universitätsviertel eine weibliche Leiche gefunden, ganz in weiß gekleidet. Mittsommer!! In dieser Nacht, die zu den sogenannten weißen Nächten gehört, wurde wieder einmal ein Opfer ganz in der Tradition uralter Sitten gebracht. Am 21. Juni begann der längste Tag des Jahres. Die Sommersonnenwende, auch Solstitium genannt, markiert den Beginn des Sommers. Seit Jahrtausenden begehen die Menschen überall auf der Welt den Tag mit Feuerritualen. Zahllose Mythen ranken sich um diesen Zeitraum und feiern den Moment, der für Fruchtbarkeit und Wiedererwachen der Natur gilt, als Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Die Bräuche reichen weit in die vorchristlichen Zeiten zurück. Oft werden Feuer angezündet und Strohpuppen verbrannt. In diesem Fall wurde aber ein junges Mädchen geopfert, um die Dämonen der Dunkelheit zu vertreiben und die bösen Mächte abzuwehren und damit die Ernte zu sichern. Es ist davon auszugehen, dass aufgrund der Schwierigkeiten, in unseren Städten größere Feuer anzuzünden, einige traditionsbewusste Mitbürger (und Mitbürgerinnen? Das, liebe Leser, muss die Polizei erst noch ermitteln) auf diesen Notbehelf umgesattelt haben.

Ob es ein junges Mädchen war, hatte Meier natürlich nicht gewusst. Aber da die Leiche angeblich ein Kleid getragen hatte, handelte es sich zumindest um eine Frau. Wenn es ein Kind gewesen wäre, hätten die Leute sicherlich darüber gesprochen. Und Alte werden statistisch gesehen eher weniger umgebracht. Obwohl, Gewalt gegen ältere Leute nahm zu aufgrund des demographischen Wandels. Meier war wirklich stolz auf seine besondere Begabung, aus wenigen Fakten nachvollziehbare Schlüsse ziehen zu können. Der Satzbau hingegen kümmerte ihn weniger. Jedenfalls hatte er noch in der Nacht seinen Text an die Redaktion gemailt. Er freute sich, dass er es endlich wieder auf die Titelseite geschafft hatte, trotz der aktuellen Lage in Bayern, die ganz Deutschland erschütterte.

Die Sekretärin führte Buch. Sie sammelte. Alles. Wenn sie den Computer anmachte, konnte man links unten eine Datei sehen, die für alle Kollegen, ob Professor, wissenschaftlicher Angestellter oder Sekretärin, auflistete, was es an Schwächen und Stärken gab. Jedes noch so kleine Detail konnte sich irgendwann einmal als nützlich erweisen. Alles, was sie über Hobbies und Vorlieben herausbekommen konnte, wurde protokolliert, alle Unarten und Grenzüberschreitungen und natürlich die Grundinformationen wie Adresse, Geburtstag, Telefonnummer, Familienzusammensetzung. So war beispielsweise erfasst, dass am Dienstag, den 30. Mai, Professor Willoy um 11.15 Uhr der Studentin Corinna Cohnen Trost gespendet hatte und ihr dabei behutsam den Po streichelte, mehrfach hin und her, etwa dreimal. Am Folgetag hatte es einen Studenten getroffen, das war natürlich von zentraler Bedeutung. Für den wissenschaftlichen Mitarbeiter Korbinian Hofmeister notierte sie, dass er große Angst vor Hunden hatte. Da die Sekretärin schon an die vierzig Jahre an der Universität arbeitete, gab es viele und sehr lange solcher Listen. Besonders groß war die Datei Möller. Alles, was er tat und nicht tat, dazu gehörten beispielsweise die Vorlesungen, die er nicht hielt, war gelistet, Lieblingsfarbe (schwarz), Lieblingsessen (Vitello Tonnato), Lieblingsautor (Hesse), Lieblingsurlaubsland (Italien), Lieblingsrestaurant (Pizzeria Pizza Perfetta), Ankunftszeiten im Büro, dass er lieber Rotwein trank als Bier, dass er die Zeitung zwar abonniert hatte, über das Lehrstuhlbudget, sie aber nie las, dass er genau zweiundzwanzig verschiedene Krawatten besaß. Eifersüchtig wachte sie über jeden seiner Schritte.

Gabi Hohlmers Büro war streng und symmetrisch eingerichtet. Es dominierte die Farbe Grau in diversen Schattierungen. An den Wänden standen viele Regale, vollgestellt mit Ordnern. Die Ordnerrücken waren schwarz und sorgfältig mit kleinen weißen Etiketten beklebt, auf denen der Inhalt vermerkt war. Es gab nur ein Bild, eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Meran. Auf dem Schreibtisch türmten sich Akten. Neben dem PC stritten sich Telefon, Schreibtischlampe, Plexiglas-Ablagekörbchen, Büroklammern und Stifte um das bisschen Platz zwischen all den Umschlägen, Formularen, Anschreiben und Mappen. Alles wurde bei Dienstschluss allerdings sorgfältig in die dafür vorgesehenen Fächer in den Schubladen sortiert.

Die Studenten mochten Frau Hohlmer nicht. Sie galt als stets schlecht gelaunt und mürrisch und unwillig, irgendwelche Fragen zu beantworten. Alle machten den größtmöglichen Bogen um sie und versuchten, etwaige Bitten an einen der Hiwis zu richten, die manchmal Schreibtischdienst hatten. Gabi war das nur recht, blieb ihr doch mehr Zeit für Sanskrit. Und für ihre Spezialdateien. Im Flur marschierte Professor Klaus Möller guter Dinge Richtung Ausgang. Diese Woche hielt einige Überraschungen für ihn bereit. Er konnte nicht ahnen, dass es seine letzte sein würde.

***

Der Montagmorgen war grau und düster. Es regnete, und die staubgetränkten Schlieren auf den Straßen hatten bereits zu mehreren Unfällen geführt. An vielen Stellen stand der Verkehr. Die Staus wurden länger, die hupenden Autos lauter. Kriminaloberkommissar Johannes Winkler knallte die Zeitung auf den Tisch. Die Fahrenzburger Nachrichten hatten dieses Mal einen besonders dämlichen Artikel veröffentlicht. Von draußen hörte er Schritte, die vorübergingen, Stimmen. Durch ein Rohr in der Wand rauschte Wasser. Eine Tür schlug zu. Der Computer summte leise, der Drucker etwas lauter. Er schrieb an der Akte. Alles, was sie hatten, musste zusammengefasst werden, alle Schritte beschrieben, alle Spuren, alle Zusammenhänge. Er rieb sich mit der linken Hand an der Stirn, weil es nur zäh vorwärtsging. Die Tote passte zu keiner der Vermisstenanzeigen. Papiere hatte sie nicht dabeigehabt. Der Autopsie-Bericht war auch noch nicht da. Unzufrieden griff Johannes Winkler zum Telefon, um sich beim Rechtsmediziner anzumelden und etwas Druck zu machen. Auch wenn sie momentan mehrere Leichen zur Sektion da hatten, wollte er schnell etwas mehr über die Todesumstände des jungen Mädchens wissen. Der Flur roch nach Kaffee.

Der Bürgermeister von Fahrenzburg war sehr stolz auf das neue Polizeigebäude. Es war erst wenige Jahre alt und sehr modern und vor allem groß. Die Rechtsmedizin logierte klischeegerecht im Keller und verfügte dort über mehrere Räume. Alles korrekt streng abgeriegelt. Allerdings, und hier stimmte das Klischee nun nicht mehr, gab es große Fenster, die das für die Obduktionen notwendige Tageslicht hereinließen. Winkler nahm die Treppen. Neuerdings schien sich da ein kleiner Bauch zu entwickeln. Skeptisch strich er über den nicht ganz so flachen Bereich um den Bauchnabel herum. Obwohl noch früh am Morgen war der Obduktionssaal bereits hell erleuchtet. Alles schimmerte in rostfreiem Stahl. Der Boden hatte einen flüssigkeitsdichten Belag und mehrere Abläufe, die momentan vorbildlich gereinigt wirkten. Das kannte er auch anders. Oft genug hatte man laut Flurfunk hier schon ganze Kolonien von Fliegenmaden gesehen. Er betrachtete die Kühlfächer an den Wänden. Offenbar waren alle besetzt, wenn man der digitalen Anzeige seitlich für die Temperatur jedes einzelnen Fachs glauben durfte. Deswegen dauerte es wohl auch so lange. Die meisten, die hier landeten, waren tödliche Unfälle, gelegentlich auch ein Suizid und zuweilen ein Drogentoter. Im Gegensatz zu anderen Städten, die diverse Wasser- oder Feuerleichen, Opfer von Schießereien oder sogar nur noch Knochen in die Rechtsmedizin bekamen, war Fahrenzburg aus kriminaltechnischer Sicht wenig ergiebig. Tötungsdelikte gab es selten. Aber in diesem Fall mussten sie davon ausgehen. Er betrachtete die Glastürschränke gegenüber mit diversen gefährlich aussehenden Werkzeugen und das Regal, in dem Gläser mit in Formaldehyd eingelegten Eingeweiden standen. In einem Glas lagerten einige Nierensteine, manche so groß wie Taubeneier. Alle Seziertische bis auf einen glänzten sauber und ordentlich. Im ganzen Saal hing ein unangenehmer Duft nach Desinfektionsmitteln und Fäulnis. Auf dem einzigen belegten Tisch lag eine braun-rot-gestreifte Leiche.

Johannes Winkler fand den Rechtsmediziner an seinem Schreibtisch in seinem Büro.

»Und, habt ihr schon Ergebnisse?«

Der Mediziner stand auf.

»Komm mit!«

Er holte sich die Akte, klemmte sie sich unter den Arm und ging in den Nebenraum zu den Kühlfächern. Als er das Licht einschaltete, klingelten die Leuchtstoffröhren eine lustige Weise, dann brummelten sie laut und gaben schließlich Ruhe. Kaltes Licht erhellte den Raum.

»Fach Nummer sieben.«

Schwungvoll riss er die Klapptür auf und ließ die Bahre her-ausrollen.

»Ich bin gerade fertig geworden.«

Dann nahm er das grüne Leichentuch etwas beiseite. Vor ihnen lag der Körper einer jungen Frau Mitte Zwanzig, die einmal sehr schön gewesen sein musste. Die Leichenschau war abgeschlossen. Kopf-, Brust- und Bauchhöhle waren geöffnet und ausgeräumt worden. Die Organe lagen nach eingehender Analyse wieder da, wo sie hingehörten. Winkler rechnete nach. Normalerweise dauerte eine Obduktion an die zwei, drei Stunden. Der Arzt musste schon sehr früh am Morgen begonnen haben.

»So, wie es aussieht, wurde sie erschlagen.«

Die Leichensachbearbeitung hatte bereits vor der Obduktion ein Foto der Toten gemacht, um es den Hinterbliebenen, wenn sie denn gefunden wären, vorlegen zu können. So etwas musste sofort geschehen, weil sich durch die Fäulnisveränderung ein Körper immens aufbläht und das Gesicht ins Froschartige übergeht. Zudem verändert sich die Farbe des Toten ins Grünlich-Schwärzliche und die Haare gehen verloren, so dass die Angehörigen den Toten kaum noch erkennen können. Größere unveränderliche Kennzeichen wie Tattoos, OP-Narben oder Implantationsmaterial gab es in diesem Fall nicht. Winkler wartete. Das konnte noch nicht alles sein, denn die Leiche befand sich in keinem guten Zustand.

»Zunächst das Offenkundige. Es handelt sich um eine Frau. Sie war zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, 1,65 Meter groß, sie wog 44 Kilo, hatte schwarze Haare, schwarze Augen und einen leicht dunklen Teint.«

Winkler nickte.

»Am linken Bein hinten hat sie eine kleine Narbe. Die Verletzung ist lange her. An der linken Schulter hinten hat sie ein kleines, rundes Muttermal. Keine alten Frakturen. Keine Anzeichen von Krankheiten. Die Haare sind verfilzt und wahrscheinlich einige Zeit nicht gewaschen und gekämmt. Wirkt vernachlässigt, das zeigt auch der Zustand der Zähne. Sie hat Hämatome und Hautabschürfungen an den Armen und Beinen und am ganzen Körper. Viele Kratzspuren. Die Fingernägel abgebrochen mit Spuren von Erde und Holz. Die Füße zeigen zahlreiche Verletzungen, fast alle frisch. Wahrscheinlich ist sie ohne Schuhe durch die Natur gelaufen und hat sich die meisten Kratzer und Schürfwunden erst kurz vor dem Tod zugezogen. Der Magen war leer gewesen. Sie war leicht dehy-driert. Der Allgemeinzustand des Körpers ist eher schlecht. Vor dieser Vernachlässigung war sie sehr gesund gewesen.«

Dann hob er einen schlappen Arm hoch.

»Hier, siehst du das? Sie hat Fesselungsmarken an Hand- und Fußgelenken.«

Der Rechtsmediziner nahm nun den Kopf der Toten und drehte ihn etwas nach rechts. Links am Hinterkopf waren zwei blutige Wunden zu sehen.

»Sie hat zwei Kopfplatzwunden. Hautunterblutungen. Die Frakturlinien am Schädelknochen deuten auf einen Schlag mit einem länglichen Gegenstand hin. Es liegt also mindestens gefährliche Körperverletzung vor durch stumpfe Gewalt. Die Spurensicherung hat bestätigt, dass die Holzrückstände in den beiden Wunden von diesem Ast stammen. Das Blut auf dem Ast kommt von der Toten.«

In der Nähe der Leiche hatten sie einen dicken Ast gefunden, der Blutspuren aufwies. Der stellte sich nun tatsächlich als Tatwaffe heraus.

»Normalerweise reicht ein Stück Holz in dieser Größenordnung nicht, um jemanden zu erschlagen. Sie muss sehr geschwächt gewesen sein. Aber es handelt sich definitiv um das Tatwerkzeug. Allerdings stehen die chemisch-toxikologischen Ergebnisse noch aus.«

Die dauerten oft drei Wochen. Bereits kurz nach dem Auffinden der jungen Frau hatte er mit einem Reizstromgerät die postmortalen Muskelzuckungen im Gesicht gemessen, die pu-pillenerweiternden und -verengenden Substanzen in die Augen geträufelt und die Körpertemperatur ermittelt, Totenstarre und Leichenflecke überprüft und dann alles in sein Computerprogramm eingegeben. Der Tod trat wahrscheinlich zwischen neun und zwölf Uhr nachts ein. Blutspurenmuster und Totenflecke deuteten darauf hin, dass Tatort und Fundort übereinstimmten. Die Röntgenaufnahmen waren bereits im Computer, die Schnelltests unterwegs.

»Wir haben im Übrigen einige Fingerabdrücke an der Leichenhaut nachweisen können sowie Fasern natürlichen Ursprungs und DNS-Spuren. Habe ich alles protokollarisch notiert. Ich bin bloß noch nicht ganz fertig mit dem Schriftzeugs.«

»Na gut, schick mir das rauf, wenn du fertig bist!«

»Der endgültige Obduktionsbericht dauert aber noch.«

Davon sollte erst einmal wenig an die Presse, überlegte Johannes Winkler. Er wollte Fehlmeldungen erkennen können. Winkler dachte ausgiebig nach und musterte dann mit frischen Augen die Umgebung. Nach kurzem Zögern fragte er:

»Was ist denn mit dem da?«

»Ach der, der ist jetzt gleich dran. Tod durch Verlegung der Atemwege. Alkoholisiert, stranguliert oder zumindest erstickt, so wie es aussieht. Ob auto oder nicht, weiß ich noch nicht.«

Der vielleicht autoerotische Unfall, seine zweite Leiche dieses Wochenende. Am Fundort, in der Wohnung des Toten, war es ziemlich unaufgeräumt gewesen. Sie konnten ein paar halbseidene Zeitschriften sicherstellen und passende DVDs. Die Kriminaltechnik hatte mehrere Stunden gebraucht, um die überall verteilten Fingerabdrücke, Fasern und Haare einzusammeln.

»Und weißt du schon Näheres über die Bisse?«

Winkler ging näher hin. Ein süßlicher Geruch nach Schokolade und irgendetwas Obstigem kam ihm entgegen. Der Mann war laut Unterlagen 45, hatte einiges getrunken, sich eine Ganzkörperpackung mit Nussnougatcreme und Himbeermarmelade verpasst und sich dann in eine komplizierte Kabelvorrichtung gehängt. Dabei gingen irgendwann Urin und Exkremente ab. Im ganzen Zimmer waren Schokoriegel, Schokoladenkuchen und Pralinen verteilt, hübsch zurechtgemacht auf Servietten und Blümchentellern. Seine Freundin fand ihn, weil er nicht zur Verabredung am Vorabend erschienen war und auch nicht ans Telefon ging.

»Ob er das allein so hinbekommen hat, muss ich erst noch sehen. Was mich stutzig macht, ist, dass seine Kriegsbemalung am Hals ziemlich verschmiert ist. Tja, und die Bisswunden.«

Winkler seufzte.

»Seine Freundin steht unter Schock. Vielleicht kann sie uns später mehr erzählen.«

Winkler kehrte in sein Büro zurück. Pfeifer gesellte sich mit einer Bäckertüte zu ihm. Das Büro, das sich Johannes Winkler und Philip Pfeifer teilten, war modern und praktisch eingerichtet. Metallregale mit Aktenordnern und Fachliteratur säumten zwei Wände. An allen freien Flächen hingen Plakate und Tabellen. Der Kommissaranwärter hielt ihm nun die geöffnete Tüte hin. Im ganzen Raum duftete es anregend nach süßem Gebäck. Der junge Mann war wie immer bestens gelaunt.

»Auf jeden Fall schien das kein Unfall gewesen zu sein«, informierte ihn Winkler, als er sich über die Notizen zu der jungen Frau beugte.

»Aber wir warten noch, bevor wir ihr Foto an die Zeitungen weitergeben. Ich will mir erst noch einmal den Autopsie-Bericht in Ruhe ansehen.«

»Hast du eigentlich schon die Zeitung gelesen?«

Pfeifer hielt ihm die neueste Ausgabe unter die Nase. Winkler nahm sie und las laut vor.

»Die Ermittlungen zum Anschlag gegen den bayerischen Ministerpräsidenten Puder beim Gmoa-Fest in Untertuttenhausen laufen auf Hochtouren. Noch immer ist das ganze Land starr vor Schreck. Internen Quellen zufolge ermittelt die Kriminalpolizei in zwei Richtungen. Vieles weist momentan auf die Freunde des Wolfes als Täter hin. Nach einer neuen Verordnung vom Mai dieses Jahres dürfen Wölfe in Bayern keine Tiere mehr reißen, die sich auf einer für die Weidehaltung ausgewiesenen Fläche aufhalten. Tiere, die gegen die Verordnung verstoßen, sind zum Abschuss frei gegeben. Gegen diese Verordnung regte sich seit mehreren Wochen heftiger Widerstand. Wie aus sicherer Quelle zu erfahren war, hatte Puder darüber hinaus erst kürzlich alle Bären, Wölfe, Luchse, Füchse und Hasen zum Abschuss freigegeben, weil eine seiner Töchter von einem freilaufenden Kaninchen gebissen worden war. Man vermutet einen Racheakt, da Demonstrationen zur Rettung der Hasen von der Polizei nicht genehmigt worden waren.«

»Das meine ich nicht, das da drunter.«

Schockierender Schokofund

Fahrenzburg, 26. Juni

Wie aus zuverlässigen Kreisen erfahren und jetzt erst bekannt, kam ein etwa vierzigjähriger, treusorgender Ehemann und Vater am Samstag zu Tode, nachdem er zuvor auf die schamloseste Weise gequält und gefoltert worden war. Der Mann hing in einem komplizierten Kabelgeflecht gefangen. Am ganzen Körper war er mit roter Marmelade und Schokoladencreme bedeckt, die in Streifen aufgebracht waren. Das Gesicht des »Schokotigers« wies Bisswunden auf.

Wer macht sowas? Steckt die Süßwarenindustrie dahinter? Oder handelt es sich um makabre Machenschaften der Milchschokoladen-Mafia? Wir halten Sie auf dem Laufenden!!

»Woher haben die das? Wer weiß denn noch alles davon? Und die Hälfte ist pure Phantasie.«

Der Rechtsmediziner hatte sich bezüglich der genauen Todesursache, bis auf Tod durch Ersticken, nicht festlegen wollen, denn es waren noch nicht alle Spuren ausgewertet.

Das Foto der Toten erschien in den Abendausgaben mehrerer Zeitungen. Bald trafen die ersten Hinweise aus der Bevölkerung ein. Jemand hatte sie kürzlich im Schwimmbad gesehen, ein anderer in der Nachbarstadt. Einer glaubte, mit ihr in einem Bus gewesen zu sein. Eine alte Dame behauptete, es handele sich um ihre kürzlich verstorbene Großnichte. Ein Mann, der seinen Namen nicht nennen wollte, hatte mit ihr vor zwei Wochen in einem gewissen Etablissement verkehrt. Er legte sofort auf, ohne dass die Polizistin am anderen Ende der Leitung noch irgendeine Frage hätte stellen können. So ging das eine Weile. Die Polizei verfolgte, so gut es eben möglich war, die Hinweise, ohne Ergebnis. Bis sich irgendwann jemand meldete, der, korrekterweise die, einen Namen für die Tote hatte: Noni Otto, 25, Studentin der Theologie. Der Beamte, der die Meldung entgegennahm, notierte mit und heftete dann alles ordentlich ab, als das Telefon wieder klingelte. Ein älterer Herr meinte, in der Toten eine Freundin seiner Enkelin zu erkennen.

***

Abermals überkam ihn Verzweiflung und raubte ihm den Schlaf. Der Schmerz befiel ihn so plötzlich, dass ihm der Atem versiegte. Er sah sie vor sich, die traurigen Augen, der wunderschöne Mund, die lustigen Ponyfransen, die manchmal etwas abstanden, wenn sie sich ärgerte. Er wusste, dass er sie für immer verloren hatte. Nie wieder würde sie ihn ansehen mit diesem unschuldigen Blick voller Vertrauen. Nie wieder würde sie ihre Arme um ihn schlingen und so fest zudrücken, wie sie nur konnte, und ihm dann einen Kuss auf die Wange setzen, der laut knallte. Und noch einen. Um sich dann kichernd wegzudrehen. Nie wieder würde er mit ihr gemeinsam ein Buch betrachten. Im Geiste hielt er das Kinderfahrrad an sich gedrückt, an dem noch ein paar Blumen hingen, die sie wohl gepflückt hatte. Wie immer war sie vergnügt und voller Lebensfreude morgens losgefahren. Hinein in einen weiteren sonnigen Tag.

***

Auch an diesem Morgen standen die Bewohner rund um die Wiese in der Mitte des kleinen Vorortes nach einer weiteren durchkläfften Nacht auf und bereiteten sich auf einen weiteren Arbeitstag vor. Sie hatten die Wahl gehabt, wegen der großen Hitze die Fenster offenzulassen für etwas kühlere Luft und dann auch Dauergebell, oder die Fenster und Läden zu schließen, um den Hundelärm zu mildern. Egal, beides führte zu einem bedenklichen Zustand der Nerven. Polizei und Ordnungsamt verzeichneten ein erhöhtes Beschwerdeaufkommen.

Der Sommer warf sich ins Zeug und tat, was er konnte, um die Stadt in Hitzeglut zu versenken. Es war schwül, und Mensch und Tier stöhnten einem stickigen Tag entgegen. Die Kamele blickten hoch in den wolkenlosen Himmel, freuten sich und grinsten.

Winkler hatte die ganze Nacht über schlecht geschlafen. Immer wieder war er aufgeschreckt, weil er etwas geträumt hatte, von dem er nicht mehr ganz wusste, was es gewesen war. Gestreifte Zombies, viele Leute, die um ihn herum drängelten, so dass er keine Luft mehr bekam und aufwachte. Hatte er tatsächlich Gras gegessen? Dann wieder war er der Zombie gewesen, der gejagt wurde. Wieder von vielen Menschen. Nach Atem ringend schreckte er auf, lag lange wach und dämmerte dann wieder weg. Und stand viel zu spät auf. Dann musste er gleich, als er im Büro war, wieder so einen blödsinnigen Artikel lesen.

Neues zum Schokotiger?!

Fahrenzburg, 27. Juni

Hatte der am Samstag unter schockierenden Umständen zu Tode gekommene Mann Schulden? Handelte es sich um eine Verzweiflungstat? Wie passt dann die obszöne Folter dazu? Während Nachbarn und Freunde aus Angst kaum noch schlafen können, tappen die Ermittler immer noch im Dunkeln. Zwei Morde in so kurzer Zeit – Fahrenzburg hat Angst!

Der Artikel darunter war auch nicht besser. Als neue Verdächtige bei dem bayerischen Attentat waren einige Fußballfans ins Visier der Polizei geraten. Puder hatte gesagt, die Bayern spielten gotterbärmlich und entsetzlich, nur weil sie viermal hintereinander verloren hatten. Das führte zu nächtlichen Protesten und zur Forderung, der Ministerpräsident möge zurücktreten. Es waren Fenster eingeschlagen worden, Autos angezündet und Sitzbänke in den Parks demoliert. Die Polizei hatte Mühe gehabt, alles unter Kontrolle zu bekommen. Einige der Fußballfans wurden festgenommen wegen Majestätsbeleidigung, denn sie hatten Morddrohungen gegen Puder ausgestoßen. Bisher verliefen aber auch diese Spuren im Sande.

»Was hat sie gesagt?«

»Dass sie glaubt, die Tote wiederzuerkennen. War wohl gut mit ihr befreundet.«

»Und?«

Winkler versuchte, ruhig zu bleiben. Aber der Beamte, der das Telefonat entgegengenommen hatte, ließ sich nicht drängen.

»Jaja, ich habe alles aufgeschrieben. Aber sie sagte, sie hätte nicht viel Zeit und müsse zur Vorlesung.«

»Haben Sie sie gefragt, wie lange sie die Tote nicht mehr gesehen hat?«

»Nein.«

»Und wo sie wohnt, wie die Eltern heißen?«

»Ja, klar.«

»Und wann hat sie das gesagt?«

»Oh, ich glaube, das war heute morgen.«

Meine Güte, es war drei Uhr nachmittags.

»Und wie können wir sie erreichen?«

»Ich habe mir selbstverständlich die Handy-Nummer notiert.«

Wenigstens etwas. Winkler rief sofort an und ließ sich alles von der Zeugin bestätigen.

»Kennen Sie die Frau auf dem Foto?«

Mit schreckgeweiteten Augen nickten beide.

»Ja, das ist unsere Tochter Noni.«

»Sind Sie sicher? Hatte Ihre Tochter einmal eine Operation, Knochenbrüche?«

Der Vater war bleich. Er schüttelte den Kopf. Die Mutter begann zu weinen. Beide sahen furchtbar ausgezehrt und ein bisschen ungepflegt aus. Auch die Wohnung machte keinen guten Eindruck. Mehrere benutzte Gläser und Teller standen auf dem Wohnzimmertisch. Der Boden sah aus, als ob schon eine Weile nicht mehr gesaugt worden war. Es roch ungelüftet nach abgestandener Luft und Bier.

»Hatte ihre Tochter ein Muttermal?«

Die Mutter nickte.

»Eine Narbe?«

Die Mutter schluckte und nickte erneut. Sie flüsterte:

»Eine Narbe am linken Bein und ein rundes Mal an der linken Schulter. Sie ist tot, nicht wahr?«

Ihre Stimme brach. Leider musste nun Winkler nicken. Viel weiter kamen sie nicht, denn die Mutter klappte zusammen, und der Vater konnte nichts mehr sagen. Notgedrungen verschoben sie die Befragungen. Winkler und Pfeifer verabschiedeten sich und fuhren zurück ins Büro.

»Maria, sag doch etwas!«

Sie schüttelte nur müde den Kopf. Raphael Otto nahm seine Frau in den Arm.

»Ich bringe dich ins Krankenhaus.«

Plötzlich überkam ihn ein Gefühl von Verlorenheit. So schnell, wie es gekommen war, verschwand es wieder, und zurück blieb eine ewig eisige Leere. Nichts.

»Was sollen wir tun? Was sollen wir jetzt bloß tun?«

»Nichts. Nichts können wir tun.«

***