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Ein neuer Fall der Cosy Krimi-Reihe um Ela und ihren Hilfsermittler Matetus, dem kleinen, unsichtbaren, liebenswerten Alien! Was haben ein Priester, ein Staatsanwalt und ein Call-Girl gemeinsam? Sie sind friedlich eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Dass die Seniorenresidenz ein erhöhtes Sterbeaufkommen verzeichnet, wäre normalerweise nicht überraschend. Doch irgendwann fällt Karli Krawuppke, dem ehemaligen Kripo-Beamten, und Notbert Niggemeier, dem pensionierten Richter, die Häufung der Todesfälle auf. Gemeinsam mit Ela Lehmann beginnen sie, Fragen zu stellen – zunächst ohne nennenswerte Ergebnisse. Doch als Matetus ein Tagebuch entdeckt, kommen sie der Wahrheit auf die Spur und identifizieren einen Verdächtigen. Dummerweise ist dieser dann auch tot. Bis die Kripo sich endlich bequemt einzugreifen, ist noch einiges an Ermittlungseinsatz nötig. Der typische, skurrile Humor und die schrulligen Charaktere der Krimi-Reihe täuschen nicht darüber hinweg, dass es auch dieses Mal wieder mehrere Morde aufzuklären gibt – und das ohne eine einzige Tatwaffe.
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Seitenzahl: 316
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Diese Geschichte beruht auf tatsächlichen Unwahrheiten, hat Bidi gesagt.
03. JULI, MONTAG
VORHER
03. JULI, MONTAG
04. JULI, DIENSTAG
08. JULI, SAMSTAG
10. JULI, MONTAG
11. JULI, DIENSTAG
12. JULI, MITTWOCH
13. JULI, DONNERSTAG
14. JULI, FREITAG
15. JULI, SAMSTAG
16. JULI, SONNTAG
17. JULI, MONTAG
18. JULI, DIENSTAG
19. JULI, MITTWOCH
20. JULI, DONNERSTAG
21. JULI, FREITAG
22. JULI, SAMSTAG
23. JULI, SONNTAG
24. JULI, MONTAG
25. JULI, DIENSTAG
26. JULI, MITTWOCH
27. JULI, DONNERSTAG
28. JULI, FREITAG
29. JULI, SAMSTAG
30. JULI, SONNTAG
31. JULI, MONTAG
01. AUGUST, DIENSTAG
02. AUGUST, MITTWOCH
03. AUGUST, DONNERSTAG
04. AUGUST, FREITAG
05. AUGUST, SAMSTAG
06. AUGUST, SONNTAG
07. AUGUST, MONTAG
EPILOG
NACHWORT
Man soll keinesfalls mit dem Wetter beginnen. Deswegen lassen wir den Regen zunächst außen vor und sehen uns als erstes die Leiche an. Die Körperfunktionen hatten ihren Dienst beendet. Das Herz stand still, sodass sich das Blut nicht mehr im Körper verteilen konnte, nach unten absank und sich dort sammelte, Startschuss für die Mikroorganismen, mit ihrem Zerstörungswerk zu beginnen. Hauseigene Bakterien und Pilze bauten seit vielen Stunden unablässig alle organischen Substanzen ab. Denn die körpereigenen Enzyme arbeiten zunächst weiter und katalysieren chemische Umsetzungen. Auch in diesem Falle spalteten sich die Körperzellen und lösten sich auf. Zellwände und Zellstrukturen zersetzten sich. Die Organe, das Weichgewebe und das Bindegewebe verflüssigten sich. Die Leichenstarre hatte eingesetzt, zunächst um die Augen und am Kinn, dann immer weiter körperabwärts. Er trocknete mehr und mehr aus. Da es sehr warm war und man deswegen Tag und Nacht die Fenster offenließ, trugen Fliegen ihre Nachkommenschaft herbei, sodass der Körper auch von außen besiedelt wurde. Noch sah man es dem Toten nicht so ohne Weiteres an, wie schlimm es um ihn stand. Noch trug er harmlos seinen Schlafanzug und war nachlässig mit einem Tuch bedeckt, was die Fliegen nicht daran hinderte, günstige Ablageplätze für den Nachwuchs zu finden. Die ersten Larven starteten in ein neues Leben.
***
Um die Mittagszeit saßen einige Leute auf den Balkonen. Eine riesige Kastanie wölbte ihre Äste und Zweige elegant über die Rasenflächen und spendete Schatten. Der hofartige, begrünte Bereich, den die Gebäude mit ihren drei Stockwerken u-artig umsäumten, war leer. Der Verkehrslärm lag summend über der gesamten Stadt, in der wie immer viel los war. Busse, Laster, PKWs, Radfahrer und Fußgänger erlagen ihren individuellen Stressmodellen und sorgten für ständiges Verkehrschaos. Aber im Hof war es ruhig und friedlich. Das Gebäuderondell schirmte den Lärm der Großstadt ab. Wer genau hinsah, konnte unter dem Baum eine schwarze Katze mit weißen Pfoten entdecken, die ihren Mittagsschlaf hielt. Sie hatte bereits mehrere Mäuse gemeuchelt sowie einen Spatz, der natürlich krank gewesen war. Die Bühne war bereit. Die Akteure wussten das aber noch nicht und genossen einen nicht ganz so heißen Sommertag.
Adrian saß mit Ilona beim Frühstück und las die Zeitung, während sie sich die Nägel lackierte und ihm ihre Pläne für den heutigen Tag darlegte. Heute trug sie ein dunkelblaues Cashmere-Oberteil und darunter türkisblaue Leggings. Die rot lackierten Fingernägel glänzten im Sonnenlicht und warfen bunte Bögen, als sie sie lufttrocknete. Ilona betrieb ein Nagelstudio, das sich trotz aller Krisen zwar mehr schlecht als recht aber doch behauptete.
Missmutig las Adrian die Stellenanzeigen und blendete das Nageldesign der Woche erfolgreich aus. Er hatte keine Probleme damit, sich gedanklich aus der Welt zu beamen. Allerdings deutete sich bereits jetzt die Entwicklung an, die ihm schon bald fast den Hals kosten würde. Was er natürlich nicht wusste. Die Zeit verstrich.
»Hast du den Müll rausgebracht?«
Er antwortete nicht.
»Du bist diese Woche dran.«
Immer noch keine Antwort.
»Ich kann jetzt nicht, meine Nägel sind noch nicht trocken.«
Adrian träumte von ruhigen Zeiten.
»Du musst endlich etwas tun.«
Ewig das Gleiche. Er war Kellner in der Pizzeria Pizza Perfetta und hatte nicht nur blöde Arbeitszeiten, er bekam auch nicht genug Geld dafür, fand sie. Ihre Mutter übrigens auch, wie sie bei jeder Gelegenheit zu erwähnen geruhte. Aber im Endeffekt war er mit der Situation genauso unzufrieden wie sie, obwohl, der Job hatte auch ein paar Annehmlichkeiten. Da er etwas italienisch sprach und dunkle Haare und dunkle Augen hatte, war er der Vorzeigekellner und genoss einige Privilegien, wenn es darum ging, die Arbeitszeit hin und wieder abzukürzen. Seine Fähigkeit, im rechten Moment wegzusehen und zu schweigen, war ebenfalls von Vorteil. Auch Ilonas Mutter gegenüber. Heute Nacht hatte er wie so oft schlecht geschlafen und sich ständig im Bett herumgewälzt, während Ilona sich einfach hingelegt hatte und eingeschlafen war. Beneidenswert. Sie hatte so viel Energie, er hingegen war meist lustlos. Ja, er musste etwas tun, das sah er ein. Er ärgerte sich und wurde ein bisschen rot im Gesicht.
»Was wünschst du dir zum Geburtstag?«
fragte er sie.
Etwas später verbrachten Adrian und Ilona den Nachmittag in dem Shopping-Center mit, Überraschung: shoppen. Hier gab es keine Gucci- oder Cartier-Läden. Trotzdem wirkte alles hell und freundlich. Eine Frau mittleren Alters betrachtete skeptisch den Schmuck in einem der Schaufenster. Sie trug modische, geschmackvolle Kleidung und hatte dichte, blonde Locken. Eine andere kämpfte mit einem schreienden Kleinkind. Aus den Lautsprechern klang angenehmes Relax-Gedudel. Während Ilona aufgedreht und gesprächsfreudig sämtliche Läden auf der Suche nach überflüssigem Kleinkram abklopfte, war Adrian still und in sich gekehrt. Meistens ließ er ihr ihren Willen und ihre Meinung und ging Konflikten lieber aus dem Weg. Aber Ilona wusste, dass er auch ausfallend werden konnte.
Sie spazierten auf der oberen Etage an den Geschäften vorbei. Ein Pärchen mit Hund links, rechts zwei junge Mädchen, die sich aufgeregt unterhielten und gar nicht merkten, dass sie auf Kollisionskurs waren. Adrian und Ilona trennten sich kurz, um ebendieses zu vermeiden. Nach ihrer üblichen Runde gingen sie zu McDonald‘s und dann noch in ein Bistro, um einen Kaffee zu trinken.
Adrian wusste wieder einmal nicht, was er ihr schenken sollte. »Ach, ich weiß nicht, vielleicht ein Wellnesswochenende?«
Auf keinen Fall. Da müsste er ja mit, oder die Schwiegermutter finanzieren. Das war doch ein wenig teuer, deshalb schwieg er durchdringend. Ilona träumte noch etwas vor sich hin und zählte alles Mögliche auf. Erst bei dem Thema Tattoo wurde Adrian wieder wach. Das lag im Rahmen seiner Möglichkeiten.
»Keine schlechte Idee«,
sagte er vorsichtig.
»Wir könnten in unser Studio und gemeinsam etwas aussuchen.«
Ilona klang begeistert. Sie sah jünger aus als Mitte dreißig, war schlank, sehr gepflegt und hatte sorgfältig blondierte, lange Haare. Adrian mochte sie wirklich sehr.
***
Es hatte etwas abgekühlt. Der Nachtwind streichelte durch das Laub der Bäume. Die letzten Wolken verschoben sich, teilten sich, verflogen. Das Mondlicht brach immer mehr durch, sanft und rein. Er lag wach. Ihm war schwindelig, der Kopf dröhnte. Mein Gott, hatte er vergessen, den Herd auszumachen, die Kerzen zu löschen? Sein Herz raste vor Aufregung, doch er wusste genau, dass alles in Ordnung war. Lästiger Durst störte ihn, aber er war müde und blieb liegen. Da, klang das nicht wie Schritte? Am Fenster flog etwas vorbei. Neugierig geworden stand er nun doch auf, ging hin und sah ein paar Fledermäuse, die mit schnellen Flügelschlägen am Gebäude vorbei hinter ihrer Beute herjagten. Er blickte durch das Fenster und sah die Sterne. Schön, dachte er und fasste sich an die schmerzende Brust. Um zwei Uhr morgens war die Nacht hell, der Himmel wolkenklar. So schön. Ihm war übel und er ging in die Küche, um etwas Wasser zu trinken. Er kontrollierte die Kerzen, alle waren aus. Noch immer hing etwas von dem rauchigen Duft in der Luft. Dann legte er sich wieder hin und schloss beruhigt die Augen. Zum letzten Mal.
***
Die Sonne schien. Über den Dächern der Stadt erstrahlte der Himmel in einem wunderbar klaren Blau. Ein weiterer Hitzerekord drohte. Adrian und Ilona fuhren zu ihrem Lieblings-Tattoo-Studio. Es lag in einer ziemlich verrufenen Ecke von Fahrenzburg. Keine Bäume oder Sträucher, nur Unkraut wuchs in allen möglichen Ritzen. Auf dem Kopfsteinpflaster hatte Ilona Mühe, mit ihren Stöckelschuhen das Gleichgewicht zu halten. Die Gegend war ziemlich abgerissen. Viele Häuser waren dunkel, einige auch etwas verfallen mit dicken Staubschichten und Spinnweben in den Schaufenstern.
Sie betraten den Laden. Er befand sich ebenfalls in einem schlechten Zustand. Regale, Theke und ein paar Stühle, alles alt und abgegriffen. Auf einem der Hocker saß eine schäbig wirkende Frau und blätterte in einem Katalog. Auf dem freizügig ausgestellten Dekolleté welkte das Bild einer knitterigen Rose vor sich hin. Sie war wohl einmal auf der oberen Rundung der Brust gewesen, im Laufe der Zeit aber zwischen Falten versackt. Die Frau hatte eine dicke Schicht Make-up aufgetragen und einen grellroten Lippenstift. Der Rock war kurz und hochgerutscht, das Oberteil zu eng. Man konnte zahlreiche Krampfadern an den Beinen sehen. Sie warteten, dann kam Inky Joss in den Raum. Sein Vollbart machte einen ungepflegten Eindruck, passend zum Ambiente. Dafür hatte er oben gar keine Haare, Ohrringe in beiden Ohren und eine schiefe Nickelbrille auf der Nase. Sein Oberkörper strotzte vor Muskeln und diversen sehr interessanten Tätowierungen auf Ober- und Unterarmen, die im Spiel der Bizepse auflebten. Die drei kannten sich bereits seit mehreren Jahren, denn sowohl Adrian als auch Ilona hatten sich bei ihm einige Piercings und Tattoos stechen lassen. Jetzt wollte sich Ilona ein neues Motiv aussuchen. Während sie in einem Nebenraum die Muster durchsah, kam ein weiterer Kunde in den Laden.
»Boah, voll cool, hier der Half Sleeve Demon, oder das hier, ist das ein Werwolf, oder, Mann!, der Water Color Phoenix.«
Der sah tierisch teuer aus, Adrian schüttelte den Kopf, kam aber nicht zu Wort, denn Ilona schwärmte weiter.
»Und hier, dieser Black Dragon da, der könnte sich toll von meinem Nabel aus hoch schlängeln.«
Augenblicklich setzte sich Adrian das in Szene, und er musste innerlich lächeln. Nun trat der andere Kunde zu ihnen, der wahrscheinlich gerade gedanklich ähnlich aktiv war, so wie er griente, und betrachtete ebenfalls die Motive – und Ilona. Dann nur Ilona. Er war etwas älter als Adrian und sie, um die vierzig, leicht übergewichtig, Raucher und Biertrinker, wenn man der Duftwolke trauen durfte, und hatte noch ein paar dunkelblonde Haare. Auf dem linken Handrücken hatte er das Infinity-Symbol eintätowiert. Wieder schüttelte Adrian entsetzt den Kopf, weil ihm der Kunde zu intensiv seiner Freundin auf den Oberkörper starrte. Leichter Unmut stieg hoch und setzte sich im Rachen fest.
»Vielleicht nicht schon wieder Fantasy, vielleicht mal Tribal Style?«
schlug Adrian vor, weil die Bilder deutlich kleiner waren. Den Rest schluckte er hinunter. Er begann, seine Ärmel hochzukrempeln, damit man sein Schlangen- und Drachentattoo sah. »Ich weiß nicht, schau mal, dieser Baum hier. Und das Winged Sword, oder hier, der Black and Grey Armor, der könnte noch links auf den Oberarm passen, was meinen Sie?«
Sie blickte den Kunden an, der etwas rot wurde. Ilona schaukelte sanft mit den Hüften, legte ihren Zeigefinger an die schön geschwungenen, vollen, knallrot gefärbten Lippen und dachte träumerisch nach. Der Mund öffnete sich etwas, und gleichmäßige, weiße Zähne ließen eine klitzekleine rosa Zungenspitze wie von einem Kätzchen erahnen. Ihre Stimme hatte einen angenehmen, melodischen Klang. Adrian wusste nicht, ob er das verdorben oder interessant finden sollte.
»Also, ich finde ja den Dragon am schönsten«,
meinte der andere Kunde leise, während er weiter Ilona taxierte. Gierig, fand Adrian. Er sah ihn wütend an, aber Ilona war schon wieder weiter.
»Ich heiße übrigens Benno«,
stellte sich der Kunde vor.
»Oh schön, ich bin Ilona. Woa, hier ist noch so ein toller Half Sleeve Demon. Der ist cool. Und dieser Phoenix Tribal Style, der ist super, ja, den finde ich echt cool. Was meinst du?«
Adrian durfte etwas sagen.
»Ja.«
Seine Stimme zitterte ein wenig. Der war klein genug.
»Oh super, du bist ein Schatz, ich liebe dich. Also in Ordnung, wann hast du denn Zeit?«
Dies an Inky Joss gerichtet.
»Nachher ist noch ein Termin frei. Aber um halb sieben muss ich weg.«
»Ja supi, dann gehst du zur Arbeit und ich bleibe noch etwas hier.«
Adrian fand das nicht gut. Langsam schob sich das Grollen wieder vom Bauch aus nach oben, aber er blieb ruhig. Ging wohl nicht anders.
»Aber ich hätte ihn gern in rot und orange, nicht in schwarz wie auf dem Foto da.«
Inky Joss verzog das Gesicht angesichts dieses Sakrilegs.
»Und vielleicht die Initialen von Adi.«
Sie nannte ihn nur Adi, wenn sie sehr gute Laune hatte. Das unterstrich seine italienische Aura, wie sie fand. Aber seine akute Verstimmung milderte es nicht.
»Und vergiss nicht, du musst endlich etwas tun.«
»Jaja.«
»Supi dupi.«
Er wusste auch schon, was. Er verließ den Laden, und sie sah gerade noch einen Ausdruck in seinem Gesicht, den sie sich nicht erklären konnte.
»Hallo, hallo, sind Sie die Polizei?«
»Ja.«
»Es ist alles nass.«
»Wo?«
»Im Schwimmbad.«
»Ach.«
Der Beamte wartete.
»Und? Ist etwas gestohlen worden, vielleicht Wasser?«
Hinter dem Polizisten, der die Notrufe entgegennahm, kicherte es. Das war heute schon der zweite Anrufer, der Wasser im Schwimmbad meldete.
»Das weiß ich nicht.«
»Sie wissen nicht, ob etwas gestohlen wurde?«
»Ich weiß nicht, ob Wasser gestohlen wurde.«
»Warum rufen Sie an?«
»Sie sind doch die Polizei.«
»Ja. Hören Sie, wenn nichts Ernstes vorgefallen ist, gehen Sie bitte aus der Leitung!«
»Aber es ist alles nass hier.«
»Das sagten Sie bereits. Nur ist die Fehlverteilung von Wasser in einem Schwimmbad nicht Sache der Polizei, schon gar nicht die des Notrufs.«
»Aber es war einer da.«
»Tatsächlich. Hören Sie, warum genau rufen Sie an?«
»Ich möchte einen Einbruch melden.«
»Wann und wo?«
»Hier und jetzt.«
Der Beamte legte auf.
»Oh, jetzt hat er aufgelegt«,
sagte die eine alte Dame zur anderen alten Dame.
»Das ist aber unhöflich.«
Ein Möbelwagen hielt vor der Seniorenresidenz Schloss Lucrecia. Die drei Packer entluden Bett, Schrank, Tischchen, Lampen und zahlreiche Umzugskartons. Zwei Stunden später kam noch ein Taxi. Notbert Niggemeier, ein ehemaliger Richter, betrachtete unentspannt die Fassade seines neuen Zuhauses, dann ging er zögernd hinein. Im Foyer schritt er langsam auf die Rezeption zu und erledigte die Anmeldeformalitäten. Die Dame machte einen angenehmen, gepflegten und sehr attraktiven Eindruck. Sie war solide-konservativ gekleidet. Twin-Set in dunkelblau, der Kragen einer weißen Bluse ragte aus dem Halsausschnitt hervor. Frisch aus der Reha entlassen musste er nur noch etwas warten, bis er sein neues Apartment beziehen konnte. Der Umzugsservice des Schlosses hatte sich um alle praktischen und formellen Aspekte gekümmert, sodass er gar nicht mehr in seine ursprüngliche Wohnung in der Seidengasse 7 zurückgekehrt war. Hier hatte er bis zu seiner Erkrankung im obersten Stockwerk Mitte gelebt, in einer komfortablen Mansardenwohnung mit einem hellen, großzügig ausgebauten Dachgeschoss.
***
Ela hantierte in der Küche und suchte etwas, dem Klappern und Grummeln nach zu urteilen.
»Matetus, hast du wieder den ganzen Zucker gegessen?«
»Was?«
»Wie bitte.«
»Was?«
»Wie bitte.«
»Was denn?«
»Matetus, es heißt wie bitte.«
»Was?«
»Matetus!«
»Was heißt wie bitte?«
»Das machst du absichtlich.«
Ela hatte die Nachbarn schimpfen hören. Sie wurden in letzter Zeit öfters, vor allem spät abends, von der Türklingel aufgeschreckt, ohne dass jemand da war.
»Das mit der Klingeljagd hört sofort auf!«
»Was?«
»Matetus!«
Der Ton wurde schärfer, entschieden gefährlich scharf.
»Matetus, ich mag diesen Blick nicht.«
Übermütiges Glimmern in riesig-schwarzen Kulleraugen.
»Wie bitte? Ich verstehe dich nicht.«
»Du weißt ganz genau, was ich meine, und war Namrod etwa dabei?«
»Wie bitte? Ich verstehe dich nicht.«
»Matetus, ich warne dich.«
»Wie bitte? Ich verstehe dich nicht. Wie bitte meinst du?«
Schweigen von der Opposition. Oh oh.
»Aber ich darf doch nicht was sagen.«
Riesig-schwarze Kulleraugen machten pling, pling. Ela verließ die Küche und kam ins Wohnzimmer. Oh oh.
»Was meinst du mit Klingeljagd?«
»Glaubst du, du hättest das Sturmklingeln bei fremden Leuten und dann das Weglaufen erfunden? Das machen bei uns nur die kleinen Kinder.«
Matetus war entsetzt. Das hatte er gar nicht gewusst. Zufrieden ging Ela wieder in die Küche, wohl wissend, dass das Thema damit beendet war. Und ein zuckerloser Haushalt kam ihren Diätplänen sowieso entgegen.
***
Professor Martin Lehmann setzte sich widerwillig hinter seinen Schreibtisch. Wie immer trug er einen exquisit geschnittenen Anzug, der seiner Figur schmeichelte. Die blonden, leicht gelockten Haare umwölbten die Denkerstirn mit den zartgeschwungenen Augenbrauen, die er regelmäßig bezupfte. Er war nach wie vor verpflichtet, den Doktoranden Jürgen Janßen zu betreuen. Dieser arbeitete im Rahmen des Projektes zur Entwicklung der Zimbern in Norditalien an einer Dissertation über die hybrid varieties of democracy and autocracy, eine reine Formsache, hatte der Dekan ihm versichert. Dazu musste er ab und an wieder nach Fahrenzburg kommen. Nachdem Plagiatsvorwürfe gegen ihn erhoben und wieder verworfen worden waren, hatte der Dekan ihm nahegelegt, von einer weiteren Anwesenheit Abstand zu nehmen. Kein Problem, das Büro hatte er sowieso nicht gemocht, zu klein, zu wenig Möbel, alter Computer, keine Sekretärin, Fenster auf einen Kindergarten hin. Seine Kopfschmerzen waren unerträglich geworden. Bloß konnte er das Forschungsprojekt, für das er eigentlich an die Universität gekommen war, nicht einfach ohne Ergebnisbericht abbrechen, weil er dann das Geld nicht weiterbekam. Dem Dekan schien das egal zu sein. Gleichzeitig war er an seiner Heimatuni in Kalmensburg noch beurlaubt und erhielt ebenfalls kein Geld. Dazu kam erschwerend, dass seine Gattin ihre Rückkehr verweigerte. Er zog wieder ins Dorf, sie blieb in Fahrenzburg. Also pendelte er nun, wenn es sein musste.
Gequält fasste er sich an seine edle Stirn. Der sorgfältig manikürte Zeigefinger streichelte sanft die ebenso sorgfältig gezupfte Augenbraue. Wie auch immer, er musste sich thematisch mit Janßens Projekt auseinandersetzen, um zumindest einen halbwegs seriösen Kommentar abgeben zu können. Er ging zur Bibliothek und betrat die historische Abteilung. Die Universität war gut bestückt. Trotz digitaler Wende hatte sie viele alte Schriften aufbewahrt, wenn auch zum Teil nur in Kopie. Gelangweilt holte er diverse Bändchen aus dem Regal, allesamt abgegriffen und muffig. Klugerweise hatte er sich Handschuhe mitgebracht aus weißer, hochwertiger, geschmeidiger Seide, atmungsaktiv und hautschonend. Sie fühlten sich angenehm zart und kühlend an. Die politische Ordnung der Zimbern, Interregnum italienischer Adelsgeschlechter, Eine kleine Zusammenschau historischer Dichterwerkstätten, Interdicta im Spannungsfeld zwischen Nordsee und Pyrenäen, pfff. Die aktuelle Literaturliste von Herrn Janßen schien ihm zu lang und zu exklusiv. Er legte die Finger unter seinem Kinn zu einem umgekehrten V zusammen und dachte heftig nach. Die schöne Stirn legte sich in Falten. Die Augen schlossen sich leicht. Studenten, dachte er, und in diesem Wort lag all die Abscheu, die manch anderer vielleicht mit wässrig-brockigem Durchfall verband. Dann umspielte ein charmantes Lächeln seine Lippen. Eine köstlich-warme, wunderbar samtige Selbstzufriedenheit erfasste ihn und ließ ihn strahlen. Vielleicht könnte man ja eine Themenverfehlung im Gutachten andeuten und die Note ein bisschen drücken. Lehmann mochte Janßen nicht.
***
Es war warm. Der Regen hatte die Luft mit Feuchtigkeit durchtränkt, sodass sie noch schwerer wog als ohnehin. Notbert Niggemeier beschloss, die Wartezeit aktiv zu nutzen und die Örtlichkeiten kennenzulernen. Das Schloss war nicht ganz symmetrisch gebaut. An den Seitenflügeln waren die Fenster groß und breit, vorne deutlich kleiner, außerdem waren die seitlichen Gebäudeteile unterschiedlich lang. Wenn man sich das Schloss als U vorstellt, das am Boden liegt und rechts offen ist, gab es entsprechend einen Südflügel für die gut situierte Klientel und einen Nordflügel mit den Billigzimmern – aus werbestrategischen Gründen gab es etwas versteckt nämlich ein paar gesponserte Billig-Mehrbettzimmer für soziale Härtefälle, das machte sich besser beim Internetauftritt. Der Bereich dazwischen war der Westflügel mit dem Haupteingang und dem Foyer. Ein sauber geharkter Kiesweg verband Straße und Eingang. Die Natur zeigte sich normal aktiv. Ameisen bauten ihre Nester. Schnecken fraßen junge Blättchen. Regenwürmer durchzogen das Erdreich. Amseln beseitigten einen Wurm nach dem anderen, Spatzen die Ameisen. Die Schnecken vermehrten sich wirksam. Östlich, im Hintergrund, lockte alter Baumbestand zu Spaziergängen. Einige Obstbäume standen im Frühling voller Blüten, und im Herbst bekamen sie goldgelbes Laub. Neben den Gehwegen standen ab und an eine Bank und ein Mülleimer, in dem sich gern die Schnecken sammelten, je nach Inhalt. Auf der Grünfläche im Hof gab es einen Sommerpavillon und einen Seerosenteich. Trügerische Sommeridylle.
Notbert Niggemeier, obwohl fast achtzig und trotz OP sehr rüstig, durchwanderte den gesamten Gebäudekomplex, bis er am Ende des Nordflügels ankam und das Bestattungsunternehmen bei der Arbeit fand. Ein Herr im gut geschnittenen, dunklen Anzug mit Krawatte, eine imposante, gepflegte Erscheinung, verstaute eine Leiche routiniert in einen Sack, hob sie auf die ausgeklappte Bahre und schob sie aus einem Hinterausgang hinaus. Dabei wurde er von einem Kollegen unterstützt, genauso tadellos gekleidet und elegant. Na sauber, dachte Niggemeier, der erste, den ich treffe, ist schon tot. Dafür war der zweite aber noch lebendig. Neben ihm stand ein Senior und verfolgte den Abtransport nicht minder neugierig und mit gleichmütiger Miene.
»Angenehm. Karlfried Krawuppke mein Name.«
Er reichte Niggemeier die Hand.
»Ganz meinerseits, Notbert Niggemeier.«
Der achtundsiebzigjährige ehemalige Kriminalhauptkommissar war vor einigen Jahren nach dem Tod seiner Frau in das Schloss gezogen und stets guter Laune.
»Sie sind neu, möchte ich meinen. Schon eingelebt?«
»Noch nicht ganz, dafür war die letzte Stunde zu kurz.«
»Oha, so neu sind Sie noch. Und gleich unser Dauergastunternehmen getroffen. Ich hoffe, Sie nehmen das nicht als schlechtes Zeichen.«
Sollte er?
»Wollen wir zusammen einen Kaffee trinken?«
Sie gingen ins Café. Zwei junge Damen in Anstaltsuniform kamen vorbei, dem Augenschein nach Asiatinnen, beide klein und zierlich.
»Hallo Mädels!«
Krawuppke winkte ihnen fröhlich zu, und sie erwiderten den Gruß. Er hatte ein rundes, freundliches Gesicht, einen Kranz weißer Locken um seine Glatze, eine Nickelbrille und helle, wasserblaue Augen, die übermütig blitzten.
»Das links ist Dingdong, sie hat ein ganz bezauberndes Lächeln. Die andere ist ihre Cousine Klingeling, meine Lieblingsschwester, ebenfalls ganz reizend. Sie heißt nicht wirklich so.
Aber wir finden, das passt gut. Sie hat so ein Lachen, das wie Glöckchen klingt.«
»Und die andere heißt tatsächlich Dingdong?«
»Ja, ganz bestimmt.«
Im Aufenthaltsraum der Pflegestelle sammelte Karin die letzten Unterlagen des kürzlich Verstorbenen ein, um sie zur Verwaltung zu bringen, und trank dabei etwas aus ihrer Bierflasche, als Ke Li Lin und Deng Dong auf einen schnellen Kaffee dazukamen. Sie plauschten. Der Leichenwagen verließ die Zufahrt und bog wie gewohnt schwungvoll in die Straße ein.
***
Jürgen Janßen saß mit einem anderen Studenten, der ebenfalls eine Doktorarbeit in Geschichte schrieb, bei einem Kaffee. Daniel Decker promovierte bei Prof. van Menne zum Thema italienische Adelsgeschlechter und war schon fast fertig. Er war einer der wissenschaftlichen Assistenten. Van Menne hatte den Eindruck, dass Decker ziemlich gut war, was ihm überhaupt nicht gefiel. Er gab ihm daher immer Aufgaben, die überflüssig, langwierig und langweilig waren, um ihn von seinem Projekt abzulenken. Schließlich tat den jungen Leuten zu viel Erfolg gar nicht gut. Janßen und Decker tauschten sich seit einem Jahr hin und wieder aus, was dazu führte, dass sich Janßen etwas an dieses Thema annäherte. Er überlegte, ein Kapitel dazu in seiner Arbeit aufzunehmen. Beide zürnten dem Schicksal, Janßen, weil sich sein Doktorvater Lehmann zu wenig um ihn kümmerte, Decker, weil sich seiner zu viel einmischte. Einmal die Woche hatte er im Oberseminar anwesend zu sein, wo die vier Doktoranden abwechselnd über neue Ergebnisse referieren mussten. Jedes Mal kam van Menne mit Verbesserungsvorschlägen, die umzusetzen waren. Jedes Mal erforderte dies eine Überarbeitung des Gesamttextes. Daniel Decker trat seit Jahren auf der Stelle, weil van Menne bisher nie mit dem Stand der Dissertation zufrieden gewesen war. Aber jetzt wollte er den Text endgültig abschließen und tauschte sich mit Jürgen Janßen über das nötige Procedere aus. Van Menne zählte nicht zu den beliebtesten Kollegen. Er hatte in über vierzig Jahren zwei spärliche Büchlein fertiggebracht, die Verschriftlichungen von zwei Vorträgen. Seine Dissertation, die in den USA entstanden war, angeblich, wurde nie publiziert. Aber er stellte seiner Meinung zufolge eine wichtige Persönlichkeit dar. Dies demonstrierte er mit seiner Anwesenheit in allen möglichen und unmöglichen Gremien und regelmäßigen Hinweisen auf ebendiese Büchlein, die jeder zur Kenntnis zu nehmen hatte, seiner Ansicht nach, und die für alle seine Kollegen in Geschichte nicht nur relevant, sondern geradezu Basislektüre-Status hatten. Daniel Decker tat also gut daran, ein paar Zitate daraus in seinen Dissertationstext einzuflechten.
***
»Falls Sie etwas brauchen?«
Es klopfte. Notbert Niggemeier betrachtete sein neues Zweizimmerapartment, zu dem ein Bad, eine Kochnische und ein Balkon gehörten, nicht zu vergessen der Internetanschluss. Es lag im Südflügel. Die Residenz war ein weitläufiger Gebäudekomplex und verfügte über 120 Wohn- und Pflegeplätze, Therapieräume, ein hauseigenes Restaurant mit Café, Sporthalle, Schwimmbad, Sauna, Friseursalon und Kapelle, kurz, ein schickes und teures Altenheim.
Das Mobiliar war seins, das sollte die Umstellung erleichtern. Als er sich umwandte, stand Herr Krawuppke in der Tür. Auf dem Flur herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Ein Rollstuhl surrte den Korridor entlang. Die vorbeieilenden Pfleger unterhielten sich über Termine, wo denn die liebe Frau Körner sei, wer morgen für Darja wohl einspringen würde, wo die Tabletten für den Mattenklodt hingekommen waren.
Notbert zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß auch nicht.«
Bekümmert setzte er sich auf einen der Stühle.
»Wie wär’s, wir gehen heute zusammen zum Abendessen. Ich kenne einen recht guten Italiener hier in der Nähe.«
Krawuppke hatte ganz offensichtlich gute Laune, und sie würde irgendwann rüberschwappen, da war er sich sicher.
Bis zum Essen war noch etwas Zeit, die Notbert Niggemeier nutzte, um die Kisten auszupacken. Vielmehr wollte er sie auspacken beziehungsweise ging es ihm im Grunde ums Einräumen. Aber es war alles durcheinander. Irgendwo mussten doch seine Reiseführer sein. Schon der zweite Umzugskarton, der falsch beschriftet war. Küche stand drauf, aber es waren Bücher drin. Dafür lagen in der Literatur-Kiste die Sachbücher. Ärgerlicherweise musste er alles erst auspacken und dann neu sortieren. Und natürlich stand die Küche-Kiste mit den Büchern in der Küche, und die Bücher musste er nach nebenan tragen. Wo waren die CDs? Vielleicht im Badezimmer-Karton? Und den Laptop fand er auch nicht. Hoffentlich war der überhaupt mitgekommen. Die Stunden zogen sich. Der Nachmittag ging in den Abend über. Die Hitze blieb. Die Unruhe auch, denn der letzte Tote sorgte für Diskussionen.
»Weißt du, was komisch ist?«
Darja saß mit Boris im kleinen, nicht sehr hellen Aufenthaltsraum bei einer Tasse Tee. Das Mobiliar bestand aus ein paar einfachen Tischen und Stühlen. In einem Nebenraum befanden sich Spinde und Schließfächer für das Personal.
»Nee.«
Der große Kasache war nicht besonders redselig. Darja hatte Apfelschnitten in einer Plastikbox dabei und nahm hin und wieder einen Bissen. Die beiden am Nebentisch sahen kurz auf und widmeten sich dann wieder ihren Handys. Alle hatten einen Ausweis um den Hals hängen, mit dem sie sich ein- und auschecken und ohne den sie bestimmte Behandlungsräume nicht betreten konnten.
»Der war doch immer so ängstlich, fast schon krankhaft. Und hat immer hinter sich abgeschlossen. Und immer alle Fenster zugelassen, obwohl es so heiß ist. Ich habe ihm letztens angeboten, sie zu öffnen. Sie kriegen gar nicht richtig Luft, habe ich gesagt. Aber er hat darauf bestanden, dass alle Fenster zu sein müssten.«
»Und?«
»Na, als ich ihn gefunden habe, waren sie alle auf. Und es war richtig frisch im Schlafzimmer. Komisch, nicht?«
»Wieso?«
Darja aß ein Stück Apfel.
»Naja, vielleicht hat er es sich anders überlegt. Hat vielleicht keine Luft bekommen. Oder ihm war warm.«
Boris nickte.
»Die meisten sind sowieso etwas sonderlich, findest du nicht?«
Aber Boris antwortete nicht. Bestimmt lag es am Wetter. Er trank schweigend seine Tasse leer. Darja aß den Apfel zu Ende und verließ den Aufenthaltsraum, um sich um ihre nächste Patientin zu kümmern.
***
Adrian Altmeier sammelte missgelaunt leere Gläser ein. Einer der Gäste meinte, ein Haar im Salat entdeckt zu haben. Adrian fühlte Ärger in sich aufsteigen. Fahr doch zur Hölle, du verfickter Schweinepriester. Er wollte schon etwas sagen, da vernahm er warnende Blicke von seinem Chef. Also schluckte er nur und brachte den Salat ohne ein Lächeln zurück in die Küche, wo ebendieser Salat mit einer zusätzlichen Scheibe Gurke umdekoriert und das Haar oder was es sonst war händisch entfernt wurde. Er blickte sich vorsichtig um. Als niemand zusah, rührte er alles kurz mit dem Finger um. Dann brachte er das Gesamtoeuvre wieder zum Gast zurück, vielsagendes Grinsen inklusive. Fick dich doch, du Arsch!
»Ach, der Lebensfeierabend ist einfach herrlich.«
Sie saßen in der Pizzeria Pizza Perfetta, etwa zehn Minuten zu Fuß von Schloss Lucrecia aus erreichbar. Der kleine Tisch war hübsch gedeckt mit cremefarbenem Damast und passenden Servietten. In der Mitte stand eine weiße Kerze. Die Flamme zuckte, wenn jemand das Restaurant betrat. Ein Kellner hantierte an der Kasse, ein junges Mädchen lehnte gelangweilt hinter dem Tresen. Die schwache Beleuchtung warf vorteilhaftes Licht auf die vor allem älteren Gesichter. Krawuppke und Niggemeier hatten bereits jeder ein Glas Wein vor sich stehen und warteten nun auf ihre Pasta.
»Sie müssen sich wohl erst einmal an die Leute gewöhnen. Wir haben eine ganze Menge Pfleger, die sind aber alle wirklich nett.«
Krawuppke hob sein Glas hoch. Seine gute Laune strahlte und vibrierte und war eindeutig ansteckend.
»Ich bin Karlfried, Karli.«
Auch Niggemeier hob sein Glas und lächelte.
»Angenehm, Notbert. Aber nicht Berti, nur dass das klar ist.«
Sie stießen an.
»Dann vielleicht Noti?«
Notbert Niggemeier antwortete mit einem entsetzten Blick.
»Ach was, Späßchen gemacht.«
Karli nahm einen Schluck Wein und grinste.
»Und, hast du dich schon einsortiert?«
Die Pasta kamen und dufteten. Adrian war zuvorkommend und höflich und achtete darauf, die Teller von links zu servieren.
»Nein, ich finde überhaupt nichts von dem, was ich brauche.
Solch ein Durcheinander. Keine Ahnung, wo meine Schlafanzüge sind.«
»Das wundert mich jetzt. Hast du nicht gesagt, der Umzugsservice war vom Haus? Die sind normalerweise gut aufgeräumt unterwegs. Sind die Kartons nicht beschriftet?«
»Doch. Aber falsch.«
Ein Paar böser Augen funkelte finster unter zusammengezogenen Brauen. Er wusste, er war kein niemand. Eine Zigarette glühte auf, zwei, drei tiefe Atemzüge. Er fühlte sich gut. Ganz langsam verstrich die Zeit, die Wände um ihn herum wölbten und entwölbten sich wieder. Schatten strichen vorbei. Er nahm sie nur aus den Augenwinkeln wahr. Beängstigend. Wieder inhalierte er genussvoll das Nikotin, das seine Gedanken befeuerte und den ganzen Körper wohlig warm werden ließ. Er hatte bereits jemanden umgebracht, das war sogar erstaunlich einfach gewesen. Fast etwas enttäuschend. Aber dieser Idiot hatte es nicht anders gewollt. Das zweite Mal würde es sicher noch leichter sein.
***
»Hallo, hallo?«
»Ja, hier die Notrufzentrale Fahrenzburg. Mit wem spreche ich?«
»Hallo, hallo, sind Sie die Polizei?«
»Ja, das habe ich bereits gesagt.«
»Haben Sie nicht.«
»Gut, also. Was ist passiert?«
»Es ist alles nass.«
Der Polizeibeamte fasste sich an den Kopf.
»Schon wieder die Alte, die den Diebstahl von Wasser melden will«,
flüsterte er hinter vorgehaltener Hand seiner Kollegin zu.
»Hören Sie, ist etwas passiert? Sonst machen Sie die Leitung frei!«
»Ja, sage ich doch, es ist alles nass.«
»Wieder im Schwimmbad?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Was?«
»Wo?«
»Hier.«
»Wollen Sie mich veralbern?«
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Also gut. Was wollen Sie?«
»Ich möchte einen Einbruch melden.«
»Wann, wo?«
Aber dann korrigierte sich der Beamte.
»Wann ist der Einbruch passiert? Wo ist der Einbruch passiert?«
»In den Umkleidekabinen. Und da ist alles nass.«
Der Beamte legte auf.
»Oh, jetzt hat er aufgelegt«,
sagte die eine alte Dame zur anderen alten Dame.
»Das ist aber schade.«
Nebel, vermischt mit Autoabgasen der letzten Nacht, hing über dem Fluss und floss argwöhnisch in die benachbarten Sträßchen und Gassen. Es war nicht genau zu erkennen, was sich dort gerade abspielte. Die wenigen Autos fuhren vorsichtiger als sonst. Der Himmel schien etwas bewölkt zu sein, soweit man das erkennen konnte, und die Straßenlaternen schimmerten fahl in der aufkommenden Dämmerung. Die Wolken warfen das Licht zuverlässig zurück auf die feuchten Straßen.
Eine Stunde später schlug Notbert Niggemeier die Augen auf. Von irgendwoher kam Kaffeeduft zu ihm ins Zimmer. Auf dem Nachttischchen lagen ein umgestoßener Wecker, ein Schlüssel, sein Handy und etwas Kleingeld. Der kleine Raum wurde von einem breiten Bett beherrscht, das an der einen Wand stand. Gegenüber führte neben einem großen Fenster eine Tür auf die Terrasse. Die Wände waren weiß gestrichen und ließen den Raum größer erscheinen. In einer Ecke standen noch zwei Umzugskartons, die erst zum Teil ausgepackt waren. Notbert Niggemeier machte die Augen noch einmal zu, zog die Bettdecke hoch über die Nase und streckte sich etwas. Da fiel ihm wieder ein, dass er im Trainingsanzug geschlafen hatte, der urplötzlich am Genick kratzte, denn er hatte diesen Reklamezettel nicht weggeschnitten. Seine Schlafanzüge waren nicht auffindbar gewesen. Schlimmer noch, er war in seinem neuen Zuhause. Also Augen wieder auf. Die Sonne arbeitete sich langsam aus dem Horizont hervor. Er stand auf und ging zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite und blickte hinaus. Es war niemand zu sehen. Nur ein paar Amseln stritten sich auf der Rasenfläche. Das hatte der frühe Wurm nun davon. Notbert lauschte dem fernen Fluss des Verkehrs. Er mischte sich zu einem weißen Rauschen und schien weit weg. Im Hinterkopf verloren sich die letzten Spuren eines aufregenden Traums, an den er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Es lag etwas in der Luft, was ihn nervös machte.
Draußen auf dem Flur herrschte muntere Betriebsamkeit, allem Anschein nach. Jemand pfiff unzusammenhängende Töne, einige Gutenmorgengrüße flogen hin und her. Schnell zog Notbert sich an, um erst ins Bad und dann zum Frühstücksraum zu gehen. Er war dort mit Karli verabredet. Auf dem Weg traf er einen Adam, eine Irina, eine Pflegehelferin ohne Namen, aber mit Schild Pflegehelferin, die einen Tablettenwagen vor sich her schob, eine weitere mit Kaffeekannen und Frühstückstellern, und Dingdong oder Klingeling. Sicher gab es einen Trick, wie man die beiden unterscheiden konnte.
***
Wer sollte als Nächster an die Reihe kommen? Die Auswahl war nicht groß, die Gruppe der möglichen Kandidaten beschränkt. Aber auch, wenn grundsätzlich mehrere Personen in Frage kamen, waren sämtliche potentielle Störvariablen abzuwägen. Es galt allerdings noch etwas abzuwarten. Geduld, Sorgfalt und akribische Vorbereitung waren die absolute Voraussetzung für das Gelingen.
»Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist …«
Müller A und Müller BC hatten Streifendienst in der Innenstadt. Autokennzeichen und TÜV-Plaketten kontrollieren, den Politessen über die Schulter schauen. Ihre Route führte unweigerlich auch an diversen Cafés und Bistros vorbei. Die beiden sahen es als eine der vordringlichsten Pflichten im Rahmen ihrer präventivpolizeilichen Aufgaben an, zu prüfen, inwiefern sich die Angaben in Speisenkarten mit den tatsächlich gelieferten Leistungen deckten. Das führte mit der Zeit zu einem beunruhigend hohen Protein- und Coffeinpegel. Die Kontrolle der Füllmenge von Biergläsern mussten sie dabei gezwungenermaßen auf die letzte halbe Stunde vor Dienstschluss verschieben. Deswegen waren sie heute wohlweislich zu Fuß unterwegs. Sie hatten ihren Funkstreifenwagen auf dem Polizeiparkplatz gelassen. Müller BC sah sich suchend um.
»Ein Auto.«
Müller A wusste manchmal nicht, wann es sein Kollege wirklich ernst meinte, deswegen antwortete er nicht. Er war abgelenkt, denn er hatte den Eindruck, dass es im Café nicht mit rechten Dingen zuging, ohne dass er das konkret ausmachen konnte. Andererseits hatte er bereits einen Cappuccino, drei Espressi, einen Caffè Latte, einen Caffè Lungo, einen Ristretto, einen Caffè Americano und zwei Cold Brew Coffees getrunken, ach ja, und einen Kaffee olee. Oder war es Schümli gewesen? Zu seiner Entschuldigung musste man anmerken, dass er das auf sieben Cafés verteilt hatte. Sein Blutdruck war hoch. Bekam man von zu viel Kaffee Halluzinationen? Oder einen Coffeinrausch, wie bei zu viel Cola? Ihm war, als ob sich gerade nebenan ein übriggebliebener Keks in Luft auflöste. Lag sicher an der krassen Sonne. Das Licht flimmerte in seinen Augen, er war geblendet. Sein Kollege teilte diese Sorgen nicht. Er konnte unendlich große Mengen an Kaffee in sich hineinschütten, ohne die geringste Wirkung zu spüren. Müller BC begann ein Gespräch mit der zugegebenerweise äußerst bezaubernden jungen Bedienung über die Unterschiede zwischen den Milchanteilen der jeweiligen Kaffeespezialitäten. Denn eine weitere sehr ernstzunehmende Aufgabe eines Streifenpolizisten bestand darin, Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern zu pflegen. Der Samstagmittag ging auf diese Weise sehr angenehm in den Samstagnachmittag über. Bevor sie allerdings zur wohlverdienten Bierprobe überwechseln konnten, erreichte sie ein Anruf aus der Notrufzentrale. Einsatz. Aber erst mussten sie ihr Fahrzeug holen. Kein Grund zu unnötig schnellen Bewegungen in dieser Hitze.
***
Die Alte Oper lag im Zentrum Fahrenzburgs. Eine imposante Marmortreppe führte hinauf in das prächtige Gebäude. Durch die riesigen Fenster war der Platz unten zu sehen. Hier und da standen Besucher in Grüppchen zusammen und bewunderten den strahlenden Luxus. In der gesamten Innenstadt gab es liebevoll gepflegtes Kopfsteinpflaster, das den Gang mit dem Rollator zu einer Rüttelpartie werden ließ und die alten Leutchen zu einem großen Proteinshaker. Auch den Babys in den Kinderwägen kam regelmäßig das Essen wieder hoch. Aber es hielt die Gegend effektiv frei von E-Scootern. Notbert und Karli stellten sich an die Kasse im Erdgeschoss an in der Hoffnung, Karten für eine der kommenden Vorstellungen zu bekommen.
»Hast du eigentlich mittlerweile deinen Laptop gefunden?«
»Nein, ich habe alle Kartons ausgepackt, aber er ist nicht mitgekommen.«
»Und was willst du jetzt machen?«
»Ich gehe noch einmal zurück in meine alte Wohnung und sehe nach, ob er noch irgendwo liegt.«
»Wollen wir das nachher zusammen erledigen?«
»Von mir aus.«