Himbeeren mit Sahne im Ritz - Zelda Fitzgerald - E-Book

Himbeeren mit Sahne im Ritz E-Book

Zelda Fitzgerald

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Unkonventionell, klug und witzig – der Sensationsfund aus der Feder der Stilikone.

Kaum jemand verkörpert den Zeitgeist der Roaring Twenties so wie Zelda Fitzgerald. Sie war der Prototyp des »Flappers«: frech, abenteuerlustig, extravagant. Ihre Erzählungen entführen uns in das glamouröse, schillernde Bühnenuniversum der Tänzerinnen, Schauspielerinnen und Sängerinnen und erwecken das Gefühl dieser Ära zum Leben. Die Lichter des Broadway, Schrankkoffer voll Tüllkleider, Orchideen in onduliertem Haar: Diese hinreißend sinnlichen Erzählungen handeln von der hohen Kunst, sich selbst zu inszenieren – und von dem Preis, den man dafür zahlt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 272

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 1991 by the Trustees under the agreement dated July 3,1975,created by Frances Scott Fitzgerald Smith

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016by Manesse Verlag, Zürich

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Ebook-Umsetzung: Greiner & Reichel

Covergestaltung: Cornelia Niere, München,

unter Verwendung eines Motivs von © Getty Images/Alfred Eisenstaedt

ISBN 978-3-641-18203-8V003

www.manesse.ch

Kaum jemand verkörpert den Zeitgeist der Roaring Twenties wie Zelda Fitzgerald. Sie war der Prototyp des «Flappers»: frech, abenteuerlustig, extravagant gekleidet und frisiert. Das Lebensgefühl dieser Ära hat sie in bezaubernden Erzählungen eingefangen, die nun erstmals auf Deutsch zu entdecken sind.

Im Mittelpunkt von Fitzgeralds Geschichten stehen stets Frauen: eigensinnige und eigenständige Heldinnen, die sich auf einem Ozeandampfer ebenso zu Hause fühlen wie im Ritz oder auf den Champs-Elysées. Die nach der Theaterprobe lieber noch um die Häuser ziehen, als zu Mann und Kind zu eilen. Die es nach Hollywood schaffen und ihre Filmkarriere für die Liebe ihres Lebens wieder aufgeben. Oder die in einem Provinznest in den Südstaaten von der weiten Welt und ihrem großen Auftritt träumen.

Zelda Fitzgerald wirft uns mitten hinein in das glamouröse, schillernde, unstete Bühnenuniversum der Tänzerinnen, Schauspielerinnen und Sängerinnen. Die Lichter des Broadway, Schrankkoffer voller Tüllkleider, Orchideen in onduliertem Haar: In opulenten Details erweckt sie das Jazz Age zum Leben. Ihre hinreißend sinnlichen, atmosphärisch dichten Erzählungen handeln von der hohen Kunst, sich selbst zu inszenieren – und von dem Preis, den man dafür zahlt.

«Ein literarisches Vergnügen – unkonventionell, klug, witzig und sinnlich.» The New York Times Book Review

ZELDA SAYRE FITZGERALD (1900–1948) wurde in Montgomery, Alabama geboren, heiratete mit 19 Jahren F. Scott Fitzgerald und führte mit ihm ein mondänes, turbulentes Leben in New York, Paris und an der französischen Riviera. Ab 1922 veröffentlichte sie zahlreiche Zeitschriftenartikel, Erzählungen (meist unter Scotts Namen) und einen Roman, «Save Me the Waltz». Sie starb bei einem Brand in einer Nervenklinik.

EVA BONNÉ (*1970) studierte in Hamburg, Lissabon und Berkeley amerikanische und portugiesische Literaturwissenschaft. Sie übersetzt seit fünfzehn Jahren Bücher aus dem Englischen, u. a. von Richard Flanagan und Michael Cunningham. 2006 und 2009 erhielt sie den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

Zelda Fitzgerald

HIMBEEREN MIT SAHNE IM RITZ

Erzählungen

Aus dem amerikanischen Englischübersetzt von Eva Bonné

Nachwort von Felicitas von Lovenberg

MANESSE VERLAGZÜRICH

UNSERE LEINWANDKÖNIGIN

Unbekümmert strömte der Mississippi durch die Kiefernwälder und verschlafenen Dörfer Minnesotas auf New Heidelberg zu, wild entschlossen, die dort ansässigen Ladys und Gentlemen von ihren Waschfrauen, Schlachtern und Müllmännern zu trennen, die klamm und stillos am gegenüberliegenden Ufer hausten. Auf der höher gelegenen, vornehmen Seite erstreckte sich eine von sorgfältig gestutzten Bäumen gesäumte Chaussee bis ans Wasser, wo der Fluss diesen Teil der Stadt mit mehreren geschickten Schwüngen sauber begrenzte.

Auf der niederen Seite ragten Kalkfelsen schroff in den Himmel, die Leute züchteten Pilze und brannten Stümperwhiskey, und auf den Kopfsteinpflasterstraßen sammelte sich das Regenwasser zwanglos in trüben, langlebigen Pfützen. Hier befand sich auch das Leichenschauhaus mit seinen schmalen, vergitterten Fenstern, daneben zogen sich Reihen von düsteren, eintönigen Backsteinhäusern hin, die scheinbar niemand je betrat oder verließ. Weiter landeinwärts gab es einen Rangierbahnhof und Viehhöfe und das Haus (markieren Sie es in Gedanken mit einem X), in dem Gracie Axelrod lebte – Gracie, die ein knappes Jahr zuvor in der Lokalpresse als «Unsere Leinwandkönigin» gefeiert worden war. Dies ist die Geschichte ihrer Filmkarriere, und die Geschichte eines Films, der bei allen, die sich an ihn erinnern können, bis heute für Heiterkeitsausbrüche sorgt und der doch nie wieder gezeigt werden wird, in keinem Kino der Welt.

Gracies Nachbarn waren fette Italiener, freudlose Polen und Schweden, die sich aufführten, als hätten sie sich eingehend mit der nordischen Rassenlehre beschäftigt. Ob Gracies Vater Schwede war, blieb unklar. Die Sprache beherrschte er jedenfalls nicht, und seine jämmerliche Erscheinung ließ sich gerechterweise keiner bestimmten Nationalität zuschlagen. Er war der alleinige Besitzer einer baufälligen Bude, in der die Leute täglich zwischen zehn Uhr abends und acht Uhr morgens heißes Brathuhn mit kaltem Bier hinunterspülen konnten. Das Huhn war zweifelhafter Herkunft, doch Gracie wusste es so kunstfertig zu braten, dass niemand sich je beschwert hatte.

Sieben Monate im Jahr lag New Heidelberg unter einer Decke aus rußigem Schnee begraben, Temperaturen um den Gefrierpunkt empfanden die Menschen als Atempause von der wahren Kälte. Sie waren froh, abends direkt nach Hause gehen zu können, und es gab kaum einen Anreiz, sich im Freien aufzuhalten. Im besten Hotel der Stadt wurden jedoch Winterbälle veranstaltet, selbst Gracie hatte schon von den ausgelassenen Feierlichkeiten auf der höher gelegenen Uferseite gehört. Und sie begegnete den Leuten von drüben, wenn die im Morgengrauen in ihren Limousinen anrollten und johlend die Bude stürmten, als gehörte dazu besonderer Wagemut.

Gracie war hübsch, für ein Mädchen von zwanzig Jahren allerdings ein wenig zu füllig. Ihr flachsblondes Haar hätte herrlich glatt und glänzend sein können, geradezu schön, wenn sie es nicht aufgedreht und über den Ohren festgesteckt hätte, bis ihr Kopf vollkommen deformiert aussah. Ihre blasse Haut schimmerte, ihre großen blauen Augen traten leicht hervor. Ihre Zähne waren klein und sehr weiß. Sie wirkte so warm und feucht wie aus heißem Milchschaum geboren – was sich nicht ausschließen ließ, immerhin hatte niemand je ihre Mutter gesehen. Sie bewegte sich so sinnlich wie die Diva einer Burlesque-Show, jedenfalls in ihren eigenen Augen; hätte Mr. Ziegfeld1 (von dem Gracie nie gehört hatte) sie telegrafisch in seine Revue eingeladen, sie wäre nur wenig überrascht gewesen. Im Stillen erwartete sie Großes vom Leben, und zweifellos war das einer der Gründe, warum das Leben ihr Großes gewährte.

Auf Gracies Seite des Flusses wurde der Heiligabend mit ungefähr so viel Aufhebens gefeiert wie das hundertjährige Gründungsjubiläum von Danteville. Nur am höher gelegenen Ufer, wo der Schnee rechts und links der eleganten Allee lag wie frisch von einem riesigen Wattebausch gezupft, stellte jeder, der etwas auf sich hielt, einen mit Glühbirnen dekorierten Weihnachtsbaum vor sein Haus. Der Anblick war prächtig, und Gracie und ihr Vater gingen drüben jedes Jahr ein wenig in der eisigen Kälte spazieren. Sie verglichen jeden Baum mit dem davor und betrachteten all jene, an deren Spitze der schmückende Stern fehlte, mit Mitleid und Verachtung.

An diesem Abend hatte Gracie, soweit sie sich erinnern konnte, den Spaziergang zum fünften Mal unternommen; und während sie nach dem Ausflug in der Küche hantierte und fettige, duftende Rauchschwaden durch die Bude zogen, diskutierte sie das Thema gründlich mit ihrem vage sichtbaren Vater.

«Im Ernst», beschwerte sie sich, «wenn die Leute nicht bald bessere Bäume aufstellen, können sie wohl kaum erwarten, dass man ihretwegen draußen in der Kälte rumläuft. Die Häuser sahen alle aus, als wär da drin gerade jemand gestorben – alle, bis auf eins.»

Sie meinte die große, weiße Villa mit den steinernen Tierköpfen und griechischen Friesen, vor deren Eingangsgewölbe ein riesiges Leuchtschild gehangen und allen Vorbeikommenden eine fröhliche Weihnacht gewünscht hatte.

«Wer wohnt da, Daddy?», fragte sie plötzlich.

«Der Kerl, dem das ‹Blue Ribbon› gehört», erklärte Mr. Axelrod. «Wahrscheinlich hat er eine Menge Geld.»

«Wer sagt das?», fragte Gracie.

«Ach, das hat mir mal einer erzählt», antwortete ihr Vater vage. Er saß an die Rückseite des Ofens gelehnt, und eine Hutkrempe verschattete seine Augen, während er die Abendzeitung las. In diesem Moment lag eine ganzseitige Anzeige auf seinen Knien: Das «Blue Ribbon»-Kaufhaus wünschte allen Kunden ein gutes neues Jahr und lud zum großen Küchengeräteschlussverkauf gleich nach den Feiertagen ein.

Mr. Axelrod las seiner Tochter alle Überschriften vor, denn beide hörten die Stimme des anderen gern; und weil Gracie zu sehr mit Braten und ihr Vater zu sehr mit Vorlesen beschäftigt war, um auf den Inhalt zu achten, bestand das Arrangement zur beiderseitigen Zufriedenheit. Mr. Axelrod genügte das Vorlesen an sich; er wäre auch mit einer chinesischen Zeitung glücklich gewesen, hätten die fremden Schriftzeichen dasselbe vertraute, tröstliche Gefühl ausgelöst.

«Und was für ein Prachtkerl er ist», sagte Gracie nach einer Weile. «Immer, wenn ich dort bin, sehe ich ihn im Kaufhaus auf und ab marschieren. So einen würde ich glatt heiraten, das kannst du mir glauben. Dann könnte man einfach hingehen und sagen, geben Sie mir dies und geben Sie mir das, und man müsste nichts dafür bezahlen.»

Anscheinend war das ein sehr origineller Gedanke, denn Mr. Axelrod hob den Kopf und betrachtete Gracie wohlwollend.

Die Wartezeit zwischen den Essensvorbereitungen und dem Eintreffen des ersten Gastes vertrieben sie sich mit Mutmaßungen über die vielen Vorteile, die es hätte, mit einem Kaufhausbesitzer verheiratet zu sein. Kein Wunder, dass Gracie so fassungslos dreinschaute wie jemand, der soeben ein Schaufenster zerbrochen hat, als Mr. Blue Ribbon persönlich die Bude betrat und in lautem, herablassendem Tonfall nach Hühnchenfleisch verlangte, und zwar nur nach weißem.

Ich sage, der ehrwürdige Gentleman habe die Bude betreten, was vielleicht untertrieben ist, denn genau genommen torkelte er herein. Gracie erkannte sofort den Herrn, der sonst zwischen den prächtigen Gängen des «Blue Ribbon» auf und ab marschierte.

Er war ein geschäftiger kleiner Herr, dem die Ansammlung von Körperfett an bestimmten Stellen eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Stehaufmännchen verlieh. An diesem Abend verstärkte sich der Eindruck noch, denn er schwankte in keine bestimmte Richtung; es war, als würde er, wenn man nur die Gewichte aus seinem runden Bauch entfernte, vornüberkippen und ohne fremde Hilfe nicht mehr auf die Beine kommen. Er hatte einen kleinen Schädel, einen breiten Kiefer und zwei übermenschlich große Ohren – ein Clown mit Schweinskopf. Aber er war leutselig, und an diesem Abend war er überzeugt, kein Clown zu sein, sondern eine Persönlichkeit von höchstem Ansehen.

Er verkündete, er habe etwas zu feiern, und dann erkundigte er sich beiläufig, ob es möglich sei, dass Gracie und ihr Vater ihn nicht erkannten.

«Na, doch», sagte Gracie, «Sie sind der Besitzer vom ‹Blue Ribbon›. Ich sehe Sie jedes Mal, wenn ich dort bin.»

Der Satz wäre an subtilem Takt nicht zu überbieten gewesen, hätte Gracie ihn in Kenntnis der Tatsachen ausgesprochen. Denn Mr. Albert Pomeroy war keineswegs der Besitzer des größten und besten Kaufhauses der Stadt. Er bestimmte höchstens von acht Uhr morgens bis sechs am Abend über die Abteilungen, für die er verantwortlich war: Kurzwaren, Parfüms, Strumpfwaren, Handschuhe, Schirme, Kleiderstoffe und Herrenoberbekleidung. Gracie hatte nicht nur seiner Person geschmeichelt, sondern seiner Stellung im Leben. Er strahlte über das breite Gesicht. Für einen kurzen Moment hielt er vollkommen still und sah Gracie an, ohne auch nur ein Mal zu blinzeln.

«Nicht ganz», sagte er und fing erneut zu schwanken an, «ich bin nicht der Besitzer. Ich bin der Geschäftsführer. Blue Ribbon hat das Geld, ich habe den Verstand.» Mr. Pomeroys Stimme steigerte sich zu einem selbstbewussten Grölen, und Gracie war trotz ihrer Enttäuschung sehr beeindruckt.

«Sind Sie mit ihm verwandt?», fragte sie neugierig.

«Nicht ganz», sagte Mr. Pomeroy, «aber fast – wir sind sehr eng.» Womit er andeuten wollte, dass sie sich sehr nahestanden, wenn auch in diesem Moment nicht physisch.

«Können Sie einfach hingehen und sagen: ‹Das gefällt mir. Ich glaube, ich nehme das› und dann aus dem Laden mitnehmen, was Sie wollen?»

Sie war von dem Mann jetzt ganz gefesselt. Auch ihr Vater hörte aufmerksam zu.

«Nicht ganz», musste Mr. Pomeroy zugeben. «Um genau zu sein, kann ich die Sachen nicht einfach mitnehmen, aber ich bezahle zwanzig oder fünfundzwanzig Dollar weniger als jemand, der keinen Einfluss genießt und nicht dort arbeitet.»

«Ah, ich verstehe», sagte Gracie begeistert und überreichte dem wichtigen Gast einen Teller Hühnchenfleisch. «Deswegen arbeiten die Mädchen da. Ich würde das selbst gern mal probieren. Ich würde billiger kaufen, was mir gefällt, und dann würde ich kündigen.»

«O nein, das würden Sie nicht», sagte Mr. Pomeroy mit vollem Mund. «Sie würden nicht kündigen. Das sagen Sie jetzt nur.» Er fuchtelte mit einem fettigen Hühnerbein vor Gracies Gesicht herum.

«Ich frage mich, woher Sie das wissen wollen!», rief Gracie empört. «Wenn ich sage, ich kündige, dann kündige ich. Ich kann ja wohl kündigen, wann ich will.»

Der Gedanke an die Kündigung erregte sie sehr. Sie sehnte sich leidenschaftlich danach, zu kündigen, und sie hätte zweifellos auf der Stelle gekündigt, hätte es etwas zu kündigen gegeben. Mr. Pomeroy wiederum starrte sie ungläubig an; dass Gracie kündigen wollte, fand er unverständlich, geradezu verrückt.

«Kommen Sie einfach vorbei und sehen Sie selbst», schlug er vor. «Kommen Sie morgen vorbei, dann stelle ich Sie ein. Unter uns gesagt – unsere Kandidatin wird den großen Beliebtheitswettbewerb gewinnen. Mr. Blue Ribbon hat mir gesagt: ‹Albert, alter Junge, du suchst das Mädchen aus, und ich mache sie zur Beliebtheitskönigin.›»

Zufällig hatte Mr. Axelrod in letzter Zeit immer wieder die Überschrift UNSERESTADTKÖNIGIN vorgelesen. Den dazugehörigen Artikeln war zu entnehmen, dass sich «unser größtes Kaufhaus» «Blue Ribbon» mit der «New Heidelberg Tribune», «einflussreichste Zeitung unserer Stadt», dem «Juwelenimperium Tick-Tack» und einem Dutzend anderer Geschäfte zusammengetan hatte, um einer glücklichen jungen Frau zu ermöglichen, wovon andere nur träumen können: Sie würde aus allen Einwohnerinnen New Heidelbergs auserwählt, die Feierlichkeiten rund um den Winterkarneval anzuführen, und darüber hinaus die Gelegenheit bekommen, bei Filmaufnahmen mitzuwirken.

«Wer wird Ihr Mädchen? Und woher wollen Sie wissen, dass sie gewinnt?», fragte Gracie.

«Nun, alle Geschäfte, die bei der Sache mitmachen, entsenden eine eigene Kandidatin. Mr. Blue Ribbon hat zu mir gesagt: ‹Albert, die Kleine, die für unseren Laden antritt, wird den Wettbewerb für sich entscheiden.› Können ja schließlich nicht alle gewinnen, was?»

Mr. Pomeroy wurde immer gesprächiger. Vermutlich hätte er bis zum frühen Morgen nur von sich erzählt, doch Gracies Interesse zielte in eine andere Richtung.

«Oh, wirklich nicht?», unterbrach sie ihn. «Jede Wette, dass ich trotzdem kündigen würde, ob es Ihnen und Mr. Blue Ribbon nun passt oder nicht. Ich würde kündigen, um zu beweisen, dass ich kündigen kann.»

Mr. Pomeroy hatte sein Hühnchen aufgegessen, draußen vor der Bude drückte jemand wütend auf die Hupe. Ganz offenbar wurde nach Gracies Person verlangt, also verabschiedete Mr. Pomeroy sich mit dem Satz: «Kommen Sie morgen vorbei, dann werden Sie schon sehen, Miss – Miss Kündigung», raunte er vielsagend und torkelte hinaus, wie er hereingetorkelt war. Sämtliche Bewegung fand oberhalb der Knie statt.

Und so geschah es, dass Gracie am ersten Weihnachtstag früher als sonst Schluss machte und Mr. Axelrod mit der Arbeit allein ließ. Sie schlief so unbeirrt, wie sie sonst das Hühnerfleisch briet, und ungefähr auch genauso lange. Als einen Häuserblock weiter die erste Straßenbahn vorbeirumpelte, trank Gracie gerade ihren Morgenkaffee. Sie zog einen Pelzmantel unbekannter Abstammung über, der bei feuchtem Wetter wie ein lebendiges Tier roch, und zerhackte auf dem Weg zur Haltestelle das Eis und den verkrusteten Schnee mit ihren Absätzen. Die Straße führte steil bergab; wäre sie ein ausgelassener Mensch gewesen, hätte sie einen Hüpfer gewagt und wäre den Rest der Strecke geschlittert. Tat sie aber nicht – sie ging seitwärts, um nicht auszurutschen.

Die Straßenbahn war voll mit dunstiger Wärme, geschmolzenem Schnee und Arbeitern, die sich qualmend ans andere Ende der Stadt bringen ließen. Gracie erreichte das Kaufhaus pünktlich, als es gerade öffnete, und nachdem sie eine Weile zwischen Gängen und Aufzügen herumgestreift war, entdeckte sie Mr. Pomeroy.

Er gab sich wichtigtuerisch und weniger mitteilsam als bei ihrer ersten Begegnung, konnte sich aber mühelos an Gracie erinnern und arbeitete sie eine knappe Stunde lang mit streng erhobenem Zeigefinger in die hohe Kunst des Verkaufens ein.

Wenige Tage später kam es zu einem folgenschweren Zwischenfall, der Gracie jeglichen Gedanken an Kündigung austrieb. Nach der Arbeit fanden sich sämtliche Angestellte im Pausenraum ein. Mr. Pomeroy stellte sich auf eine Bank und leitete das Treffen.

«Wir haben uns hier versammelt», verkündete er von seiner Tribüne, «um die Vertreterin des ‹Blue Ribbon›-Kaufhauses beim großen Beliebtheitswettbewerb zu bestimmen, der unter der Schirmherrschaft von Mr. Blue Ribbon stattfinden wird, dem führenden Geschäftsmann unserer Stadt, und unter der Schirmherrschaft einiger anderer führender Geschäftsmänner.» An dieser Stelle hielt er inne und holte tief Luft, als wäre ihm schwindelig.

«Bei der Wahl unserer Königin werden wir uns von Aufrichtigkeit leiten lassen», fuhr er fort, und zu aller Überraschung fügte er hinzu: «was sich immer empfiehlt. Jedermann weiß, dass hier in unserem Kaufhaus die schönsten Damen der Stadt arbeiten, und wir müssen uns nun für eine entscheiden, die uns repräsentieren wird. Bis morgen um diese Zeit können Sie sich überlegen, für wen Sie stimmen werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit, auch im Namen von Mr. Blue Ribbon, und …» Er hatte sich einen starken Schlusssatz zurechtgelegt, der aber verloren ging, als seine Gedanken sich unvermittelt in die Kurzwarenabteilung verirrten.

«Und in Sachen Bekleidung möchte ich noch sagen …» Er hielt inne. «In Sachen Bekleidung möchte ich …» Er gab es auf und schloss seine Rede mit einem zahmen «… nun denn.»

Gracie schob sich am Ende der langen Schlange aus kichernden Mädchen durch den Mitarbeiterausgang ins Freie und sah Mr. Pomeroy an der nächsten Ecke im weißen Licht einer Straßenlaterne stehen. Sie eilte zu ihm hin und sprach ihn an.

«Ehrlich», sagte sie, «das war eine tolle Rede. Ich werde nie verstehen, wie manche Leute das schaffen, sich einfach so eine Rede auszudenken.»

Sie lächelte ihn an, drehte sich um, verschwand im Winterlicht in der bepelzten Menge und eilte zu ihrer Haltestelle. Unwissentlich hatte sie selbst eine gute Rede gehalten. Denn Mr. Pomeroy, der immun war gegen Hohn und Beleidigungen, war sehr empfänglich für Komplimente.

Am folgenden Nachmittag wurde Gracie im Pausenraum des «Blue Ribbon» wunderlicherweise zur aussichtsreichsten Kandidatin für die ehrenvolle Aufgabe ernannt. Sie war überrascht und gleichzeitig kein bisschen überrascht. Sie hatte nie an ihrem Sieg gezweifelt, obwohl sie die Neue war und gegen fünf andere Mädchen antreten musste. Zwei dieser fünf waren hübscher als Gracie, drei waren überhaupt nicht hübsch. Doch die Wahl fand im Geiste eifersüchtiger Berechnung statt, und entsprechend verdreht fiel das Ergebnis aus. Die hübschen Mädchen beneideten einander und stimmten für die hässlichen. Die hässlichen waren neidisch auf die hübschen und stimmten deshalb für Gracie, die Neue – und die hässlichen waren in der Mehrheit. Niemand war neidisch auf Gracie, weil niemand sie kannte. Niemand hätte gedacht, dass Gracie die Abstimmung gewinnen würde, aber genau das passierte.

Und Mr. Blue Ribbon hielt Wort, wie es der angeheiterte Mr. Pomeroy indiskreterweise versprochen hatte. Er «regelte» die Angelegenheit, am Ende des Monats sollte die Krönung stattfinden. Die Parade würde durch die Haupteinkaufsstraße und anschließend durch die elegante Allee bis ans Flussufer ziehen. Königin Gracie Axelrod würde in der königlichen Limousine chauffiert werden, vorbei an einer jubelnden Menge aus treuen Gefolgsleuten.

Gegen Mittag, der Tag war kalt, versammelten sich die Teilnehmer des festlichen Konvois vor dem «New Heidelberg Hotel», was nicht ohne kleinere Blechschäden und viel Gehupe vonstattenging. Gracie saß im Fond ihrer Limousine neben Mr. Pomeroy, der für einen Tag den Titel «Höfling der Beliebtheitskönigin» trug. Hinter Gracies Rücken ragte ein blauer Stab in die Höhe, an dessen Spitze mehr schlecht als recht ein hell leuchtender Stern befestigt war. Sie hielt ein Zepter und trug eine vom örtlichen Kostümschneider gefertigte Krone, die jedoch durch eine von der Kälte verursachte eigentümliche chemische Reaktion zu einem unscheinbaren Rotbraun verblasst war. Gracie bemerkte nichts davon.

Gelegentlich warf sie Mr. Pomeroy einen zärtlichen Blick zu und stellte sich vor, wie nett es wäre, wenn seine behandschuhten Finger unter dem schweren Königinnenmantel ihre Hand umschlossen hielten. Der Gedanke war zu köstlich, und versuchsweise streckte sie den Arm aus und berührte Mr. Pomeroy ganz sacht, wie um vorsichtig anzudeuten, die Finger könnten während der Fahrt eine Liebelei beginnen.

Weniger wichtige Autos – beladen mit Abgesandten der Studentenverbindungen und Vizeköniginnen aus anderen Geschäften – setzten sich in Bewegung und rollten langsam hinter der Blaskapelle her, dann traten die Fahrer der Festwagen aufs Gaspedal, was für viel Lärm und weißen Qualm sorgte. Das Auto des Bürgermeisters stieß eine zischende Dampfwolke aus.

«Was ist denn los?», wandte Mr. Pomeroy sich sorgenvoll an den Chauffeur. «Wir wollen doch nicht hinter den anderen zurückbleiben!»

«Ich fürchte, da ist etwas eingefroren», sagte der Chauffeur, stieg aus und schraubte den Kühlerdeckel ab. «Ich gehe besser mal ins Hotel und hole heißes Wasser.»

«Ja, aber beeilen Sie sich!», jammerte Gracie. Schon setzte sich der Wagen vor ihnen in Bewegung. «Fahren Sie einfach los!», rief sie aufgeregt. «Sie können das reparieren, wenn wir zurück sind.»

«Ich soll einfach losfahren?», rief der Chauffeur empört. «Wie kann ich losfahren, wenn der Kühler eingefroren ist?»

Das Ende des Festzuges war jetzt hundert Meter weit entfernt, schon schlossen sich die ersten Automobile an, die nichts mit dem Festzug zu tun hatten.

Ein Wagen, auf dessen Rückbank ein beleibter junger Mann saß, hielt auf Gracies Höhe.

«Brauchen Sie Hilfe?», fragte der junge Mann höflich.

«Natürlich brauchen wir Hilfe, Sie Dummkopf!», rief Gracie. Die Umstehenden lachten.

«Dann sollten Sie schnell bei mir einsteigen», schlug der junge Mann ungeniert vor.

«Ja, vielleicht sollten wir das tun», sagte Mr. Pomeroy unsicher. «Wenn diese Dinger einmal eingefroren sind …»

«Aber was ist mit der ganzen Dekoration?», fragte Gracie.

Hilfsbereite Zuschauer zerrten an Gracies schmückendem Stern in der Absicht, ihn in den anderen Wagen hinüberzuschaffen, woraufhin das Konstrukt ächzte und knackte und in vier glatte Teile zerbrach.

Das Ende der Parade war unterdessen in weiter Entfernung um eine Ecke gebogen und außer Sicht.

«Schnell!», keuchte Mr. Pomeroy. «Steigen Sie ein!»

Gracie stieg ein, jemand warf ihr den Stern hinterher, als Glücksbringer. Der junge Mann breitete den Königinnenmantel über ihre Knie, und dann ging es mit Vollgas los – aber nur bis zur nächsten Kreuzung, wo sie im eigens für die Parade gestoppten Verkehr stecken blieben. Als sie endlich wieder losfahren konnten, mussten sie feststellen, dass sich auf einer guten Viertelmeile fremde Autos zwischen Gracie und die Parade geschoben hatten.

«Sagen Sie Ihrem Chauffeur, er soll hupen!», wies Gracie den dicken jungen Mann aufgebracht an.

«Er ist nicht mein Chauffeur. Das Auto wurde mir nur zur Verfügung gestellt. Ich bin gerade erst angekommen. Mein Name ist Joe Murphy, ich bin der Assistent.»

«Aber wir müssen unseren Platz einnehmen!», rief die Königin. «Was sollen denn die Leute sagen, wenn sie mich nicht sehen können?»

Der Chauffeur hupte gehorsam, aber weil alle anderen ebenfalls hupten, war kaum etwas davon zu hören. Die Fahrer hatten ihren Platz in der Blechlawine erobert und würden ihn nicht freiwillig einem ungeschmückten Wagen überlassen, von dem aus eine offenbar betrunkene junge Frau sie immer wieder mit einer langen blauen Stange bedrohte.

Sobald sie in die elegante Allee eingebogen waren, fing Gracie an, nach rechts und links den Kopf zu neigen und die Menge zu grüßen, die an der Strecke hätte stehen sollen. Sie grüßte Grüppchen und Einzelpersonen gleichermaßen, auch Babys und Hunde, falls die in ihre Richtung schauten, und sogar einige der prunkvolleren Häuser, die den Gruß mit kaltem Blick aus starren Glasaugen erwiderten. Dann und wann nickte ein Passant höflich zurück, eine kleinere Gruppe applaudierte sogar, aber ganz offensichtlich brachte niemand sie mit der farbenfrohen Prozession in Verbindung, die längst weitergezogen war.

Gracie grüßte eine gute Meile lang, bis zwei junge Männer an einer Straßenecke riefen, was nicht zu überhören war und prompt von ein paar Jungs auf dem Gehweg aufgeschnappt und wiederholt wurde: «Woher hast du den Gin, Schwester? Woher hast du den Gin?»

Gracie gab es auf, brach in Tränen aus und bat Mr. Murphy, sie nach Hause zu bringen.

Der Film «New Heidelberg, romantische Stadt im Mittleren Westen» wurde am Stadtrand gedreht. An einem Februarmorgen stieg Gracie bei Tauwetter an der Endhaltestelle aus der Straßenbahn und trippelte zusammen mit den anderen Königinnen vorsichtig um Pfützen aus Schlamm und Schneematsch herum, die den Untergrund fast lückenlos bedeckten. Am Drehort hatte sich eine größere Menschenmenge versammelt, und Gracie als Hauptdarstellerin versuchte, die Verantwortlichen zu finden. Jemand zeigte auf ein Podest in der Mitte und erklärte ihr, der hektische kleine Mann, der dort hinten so nervös auf und ab laufe, sei Mr. Decourcey O’Ney, der Regisseur. Gracie drängelte sich durch.

Decourcey O’Ney hatte seine Karriere beim Film schon in jungen Jahren begonnen und bis 1916 als einer der ganz großen Regisseure gegolten. Nach einem der hysterischen Krampfanfälle, wie sie die Filmindustrie regelmäßig heimsuchen, stand er plötzlich ohne Aufträge da. Dass das örtliche Filmkomitee diesen Mann hatte gewinnen können, war in der «New Heidelberg Tribune» mehr als ein Mal hochgespielt worden.

Er beklagte sich gerade bei seinem Assistenten über die ungewöhnlich sumpfige Beschaffenheit des Bodens, als plötzlich eine dralle junge Dame mit einer riesigen Kleiderschachtel unterm Arm neben ihm auf dem Podest stand.

«Kann ich Ihnen helfen?», fragte er geistesabwesend.

«Ich bin die Leinwandkönigin», sagte Gracie.

Mr. Joe Murphy, Regieassistent und Mädchen für alles, konnte das bestätigen.

«Aber ja doch», sagte er freudig, «diese junge Dame wurde zur Beliebtheitskönigin der Stadt gekürt. Können Sie sich nicht an mich erinnern, Miss Axelrod?»

«Doch», sagte Gracie mürrisch. Sie hatte keine Lust, an das Fiasko erinnert zu werden.

«Haben Sie Filmerfahrung?», erkundigte sich Mr. O’Ney.

«O ja, ich habe schon sehr viele Filme gesehen und weiß ziemlich genau, was eine Hauptdarstellerin so tun muss.»

«Nun», murmelte Mr. O’Ney verstört, «ich glaube, Sie werde ich erst mal vergolden müssen.»

«Damit will Mr. O’Ney nur sagen, dass er Sie einweisen wird», sagte Joe Murphy hastig.

«Übrigens», sagte Mr. O’Ney höflich, «können Sie kreischen?»

«Was?»

«Haben Sie je laut geschrien?», fragte er und fügte hinzu: «Ich frage das nur, weil ich es wissen möchte.»

«Also … ja, natürlich», sagte Gracie zögerlich, «ich glaube, ich kann ganz gut schreien. Fall Sie jemanden brauchen, der schreit.»

«Sehr schön», sagte Mr. O’Ney zufrieden. «Dann schreien Sie.»

Noch bevor Gracie ihren Ohren trauen oder gar den Mund aufmachen konnte, mischte Joe Murphy sich ein: «Mr. O’Ney meint, Sie sollen später schreien. Gehen Sie zu dem Wagen dort hinten und ziehen Sie bitte Ihr Kostüm an.»

Die verwirrte Gracie machte sich auf den Weg zur Damengarderobe. Joe Murphy schaute ihr voller Bewunderung nach. Er mochte Blondinen, die ebenso füllig waren wie er, ganz besonders wenn sie aussahen wie heißem Milchschaum entstiegen.

Der Film – dessen Drehbuch eine heimische Dichterin verfasst hatte – sollte an die Gründung der Siedlung New Heidelberg durch mutige Pioniere erinnern. Drei Tage lang wurden die Massenszenen geprobt. Gracie wurde von der Arbeit im Kaufhaus freigestellt und erschien jeden Morgen zum Dreh, um zitternd auf der Sitzbank eines Planwagens auszuharren. Alles war sehr verwirrend, und sie wusste nicht genau, was von ihr erwartet wurde. Als ihr Drehtag gekommen war, spielte sie um ihr Leben. Sie kletterte auf den Planwagen, riss mit aller Kraft die Augenbrauen hoch und krümmte die kleinen Finger zu grotesken Haken. Während des Indianerüberfalls rannte sie durch den Platzpatronenhagel, fuchtelte wild mit den Armen und zeigte auf die sie umkreisenden Rothäute, wie um auf grobe taktische Stellungsfehler hinzuweisen. Am Abend des zweiten Tages verkündete Mr. O’Ney, der Dreh sei abgeschlossen. Er bedankte sich bei allen bereitwilligen Helfern, deren Dienste nun nicht mehr gebraucht würden. Während der gesamten Aufnahme hatte Gracie kein einziges Mal schreien müssen.

Seit Gracie tagsüber arbeitete, ging es mit Mr. Axelrods Geschäft bergab. Er legte sich um Mitternacht schlafen, gerade wenn er hellwach hätte sein sollen. Er fühlte sich einsam, weil keine Gracie die Bude mit warmem Hühnchenqualm füllte, und er hatte niemanden mehr, dem er aus der Zeitung hätte vorlesen können. Dennoch war er irgendwie stolz auf seine Tochter, und durch seine Schlaftrunkenheit drang die Erkenntnis, dass es in Gracies Leben jetzt mehr gab als nur ihn.

Er war sehr geschmeichelt, als Gracie ihn an einem Donnerstagabend zu einer nichtöffentlichen Vorführung des Films einlud. Nur die Hauptakteure würden zugegen sein. Die eigentliche Premiere im feierlichen Rahmen würde erst später im großen Gemeindesaal stattfinden, die Voraufführung indes im Bijou. Als das kleine, handverlesene Publikum Platz genommen hatte und der rote Samtvorhang sich teilte und die Leinwand freigab, erstarrten Gracie und ihr Vater vor Aufregung. Die ersten Titel erschienen unvermittelt:

NEW HEIDELBERG

ROMANTISCHE STADTIM MITTLEREN WESTEN

EIN EPOS AUS VERGANGENHEIT UND GEGENWART

VON WACHSTUM UND WOHLSTAND

DREHBUCH:

HARRIET DINWIDDIE HILLS CRAIG

REGIE:

DECOURCEY O’NEY

Es folgten die Darsteller. Gracie erschauderte, als sie ihren Namen entdeckte:

MISS GRACIE AXELROD

GEWINNERIN DES BELIEBTHEITS-

WETTBEWERBS …

Und am Ende der gepunkteten Linie:

… ALS ERSTE KÖNIGIN VON NEW HEIDELBERG

Das Wort «Prolog» tanzte vor ihren Augen, Gracie hatte jenes flaue Gefühl im Magen, das Zahnbehandlungen vorausgeht. Gebannt schaute sie den schwerfälligen Planwagen zu, die sich über die Prärie schoben, und sie schnappte nach Luft, als in der ovalen Öffnung an der Rückseite eines Planwagens plötzlich ihr schauspielerndes Gesicht in Großaufnahme erschien.

NIE DÜRFEN WIR DIE EDLEN MÄNNER UND FRAUEN VERGESSEN

DEREN SELBSTLOSES OPFER

DEN BAU UNSERER HERRLICHEN STADT

ERST ERMÖGLICHTE

Am Horizont tauchten jetzt die Indianer auf. Alles war viel aufregender, als es auf dem Vorstadtgrundstück den Anschein gehabt hatte. Die Schlacht, ergreifend realistisch, war in vollem Gange. Gracie hielt in dem hitzigen Gewimmel nach sich selbst Ausschau, aber da waren zahlreiche junge Frauen im Bild, und jede einzelne hatte so angestrengt geschauspielert wie sie.

Und schon kam der Höhepunkt. Ein bedrohlicher Wilder ritt heran. Peng! Und Gracie, oder eine Frau, die wie Gracie aussah, sank verwundet zu Boden.

«Siehst du das? Siehst du das?», flüsterte sie ihrem Vater aufgeregt zu. «Das war ganz schön schwierig, das kann ich dir sagen!»

Jemand machte «Pssst!», Gracie richtete den Blick wieder auf die Leinwand. Die Indianer wurden vertrieben, alle beteten tüchtig, und dann wurden schnell die Felder gepflügt und Mais angebaut. Zu Gracies Überraschung veränderte sich die Szenerie. Die vorstädtische Ebene verschwand, einer der Planwagen verwandelte sich vor Gracies Augen in eine schicke Limousine. Aus der Limousine stieg eine moderne junge Frau mit Pelzmantel und passender Kappe. Es war niemand anderes als Miss Virginia Blue Ribbon, die hübsche Tochter des Kaufhausbesitzers.

Gracie riss die Augen auf. War der Teil mit den Pionieren schon vorüber?, wunderte sie sich. Nach nicht einmal fünfzehn Minuten? Und was hatte die Limousine mit dem Film zu tun?

«Sie müssen was weggelassen haben», flüsterte sie ihrem Vater zu. «Wahrscheinlich bin ich gleich wieder zu sehen. Sie hätten nicht so früh zeigen dürfen, wie ich verwundet werde.»

Sie hatte die Wahrheit immer noch nicht erkannt – dass sie nur im Prolog mitspielte und der Prolog vorüber war. Miss Blue Ribbon stand vor dem Kaufhaus ihres Vaters, dann schlenderte sie in den Gängen der Abteilungen umher. Anschließend saß sie wieder in der Limousine und fuhr die elegante Allee entlang, später trug sie ein schönes Abendkleid und tanzte mit vielen jungen Männern durch den Ballsaal des Hotels.

Im Halbdunkel studierte Gracie das Programmheft. «Miss Virginia Blue Ribbon», stand da, «als ‹die Königin von heute›.»

«Wahrscheinlich haben sie sich ein paar Pionierszenen für den Schluss aufgespart», sagte sie verunsichert.

Zwei Filmrollen liefen flimmernd ab. Miss Blue Ribbon schien sich rätselhafterweise für Fabriken, Juweliergeschäfte und sogar Statistiken zu interessieren. Gracies Verwirrung hatte sich in einen schweren, brennenden Klumpen verwandelt, der ihr nun in der Kehle steckte. Als die Parade an die Leinwand geworfen wurde, sah sie alles durch einen verschwommenen Schleier, der sich auf ihre Augen gelegt hatte. Da rollten die Autos an der jubelnden Menge vorbei – die Vizeköniginnen, der Bürgermeister, Mr. Blue Ribbon und seine Tochter in ihrer Limousine. Die Szene ging zu Ende. Gracie musste daran denken, wie sie irgendwo weit hinten im Auto gesessen hatte, in zwei Meilen Abstand.

Sie wollte fliehen, hatte aber das Gefühl, von allen beobachtet zu werden. Sie harrte aus, fassungslos und blind, bis wenige Minuten später ein Flackern über die Leinwand ging und der Film zu Ende war.

Sie zwängte sich durch die Sitzreihen und eilte zum Ausgang, das Gesicht in den Pelzkragen gedrückt. Sie hatte gehofft, unerkannt entkommen zu können, doch dann wurde sie von der verschlossenen Ausgangstür aufgehalten und gelangte erst mit der Menge ins Foyer.

«Lassen Sie mich vorbei», giftete sie einen korpulenten Mann an, der sie an das Messinggeländer drückte. Der korpulente Mann drehte sich um, sie erkannte Mr. Blue Ribbon persönlich.

«Na, wenn das nicht unsere Karnevalskönigin ist», sagte er fröhlich.

Gracie richtete sich auf und zwang die halb vergossenen Tränen in ihre Augen zurück. Mr. Pomeroy stand direkt hinter seinem Arbeitgeber, und Gracie begriff, dass das breite Lächeln des Abteilungsleiters nur eine schlechte Kopie von Mr. Blue Ribbons Geschäftsgrinsen war.

Ihre Wut machte sie stolz und furchtlos; Mr. Blue Ribbon und sein Angestellter zuckten zurück, als sie den veränderten Ausdruck in Gracies Gesicht sahen.

«Also wirklich!», rief sie in ihrer Fassungslosigkeit. «Lassen Sie mich Ihnen eins ganz offen sagen: Ich fand Ihren Film miserabel und würde keinen Cent bezahlen, etwas so Miserables zu sehen!»

Ein Foyer voller Menschen hörte zu; selbst der Brunnen in der Mitte schien vor Aufregung zu prusten. Mr. Pomeroy trat einen Schritt vor, wie um sie zu packen, aber Gracie hob drohend die Hand.