Schenk mir den Walzer - Zelda Fitzgerald - E-Book

Schenk mir den Walzer E-Book

Zelda Fitzgerald

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Beschreibung

Zelda und F. Scott Fitzgerald. Sie galten als das Traum- paar der Roaring Twenties. Zelda war die elegante Frau an der Seite des gefeierten Autors, eine Südstaaten- schönheit, Vorbild für seine weiblichen Romanfiguren. Doch Zelda wollte mehr sein als nur seine Muse und versuchte zeit ihres Lebens, sich gegen den Mann an ihrer Seite zu behaupten. Ganz gleich wie glamourös ihr Leben war, die Ehe mit F. Scott glich einem Gefängnis. Um sich daraus zu befreien, arbeitete sie an ihrer eigenen Karriere, als Tänzerin und später als Schriftstellerin. In Schenk mir den Walzer erzählt Zelda Fitzgerald die Geschichte von Alabama, einem jungen Mädchen aus den Südstaaten, das aus ihrem Elternhaus in die Ehe mit dem Künstler David flieht. Alabama folgt David nach New York, nach Italien und an die Côte d'Azur. Doch sein Ruhm ist ihr nicht genug, Alabama will aus dem Schatten ihres berühmten Mannes heraustreten, träumt von einer Karriere als Tänzerin - und scheitert. Zelda Fitzgerald schrieb den Roman 1932 innerhalb von nur zwei Monaten in einer Nervenklinik. Ein aufschlussreiches Zeitdokument, das ergreifende Porträt einer großen, fatalen Liebe.

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Zelda Fitzgerald

Schenk mir den Walzer

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Anita Eichholz

Mit einem Vorwort von Sheila Sheila

Kampa

Tumult im Inneren

Vorwort von Sheila Heti

Nachdem ich das Vorwort zu Schenk mir den Walzer[1] geschrieben hatte, schlug ich das Buch noch einmal auf, um mir die Sätze zu notieren, die ich unterstrichen hatte, und dabei wurde mir plötzlich klar, dass die Handlung von Schenk mir den Walzer nahezu identisch ist mit der Handlung meines soeben abgeschlossenen Romans. Erst an diesem Vormittag hatte ich die letzten Korrekturen abgeschickt.

Nun … die Handlung ist nicht identisch mit der letzten Fassung meines Buchs, sondern mit dem ersten Entwurf, den ich schon mehrere Jahre zuvor geschrieben hatte.

Ich glaube nicht, dass ich an dieser narzisstischen Störung leide, die einen beim Schreiben eines Romans befallen kann: Plötzlich sieht jedes Buch wie das eigene aus, alles Mögliche in der Welt sieht wie das eigene Buch aus. Die zwei Handlungsverläufe waren tatsächlich gleich, und ich begann mich zu fragen, wie viele Menschen – außer Zelda Fitzgerald und mir – diese Geschichte noch niedergeschrieben oder erlebt haben?

 

Besagte Geschichte dreht sich um eine junge Frau, die auf der Suche nach Abenteuern in die Welt hinauszieht. Sie weiß noch nicht, worin diese Abenteuer bestehen werden, aber sie ist sicher, dass sie ihr das liefern werden, was sie sich vom Leben erwartet – was auch immer das sein wird. Die Abenteuer entpuppen sich in erster Linie als romantische Verstrickungen. Dann liegt der Vater der Frau im Sterben, und sie kehrt heim, um während seiner letzten Tage bei ihm zu sein. Hier erkennt sie, dass die ersehnten Abenteuer fadenscheinig und unbedeutend sind, vor allem angesichts der erhabenen Erfahrung, ihren Vater beim Sterben zu begleiten.

Diese letzten Tage an seiner Seite bringen ihr die Weisheit, die sie bei ihren Abenteuern nicht gefunden hat. Vielleicht war es ja tatsächlich »Weisheit«, nach der sie gesucht hat, draußen in der Welt. »Draußen in der Welt« fand sie lediglich unzuverlässige Männer, die sie nicht so sehr lieben konnten wie ihr Vater und die auch sie nicht so uneingeschränkt zu lieben vermochte; Männer, bei denen sie doch nie ihr wahres Ich zeigte.

In Schenk mir den Walzer sagt die Hauptfigur Alabama zu einem jungen Engländer, mit dem sie flirtet: »Ich bin nur dann wirklich ich selbst, wenn ich eine andere bin, die ich mit den wunderbarsten Eigenschaften meiner Phantasie ausgestattet habe.« Das soll fröhlich und kokett klingen, ist in Wahrheit aber unglaublich deprimierend. »Wirklich sie selbst« ist sie erst, als sie zu ihrem Vater nach Hause zurückkehrt.

Ich weiß nicht, was die Moral dieser Geschichte ist: Natürlich muss man auf Abenteuerreise gehen. Man kann sich nicht auf ewig in der Liebe seines Vaters suhlen. Aber diese Geschichte enthält eine Art emotionale Wahrheit – oder hatte sie zumindest während des Schreibens. Vielleicht führt bei vielen jungen, abenteuerlustigen Frauen der Tod des Vaters – wenn sie denn einen guten Vater hatten – zu der Erkenntnis, dass das, was man draußen in der Welt sucht, nur ein Trugbild dessen ist, was man unbewusst begehrt: die echte Liebe, die man zurückgelassen hat.

Ich behaupte nicht, dies sei eine edle Geschichte – und sicherlich keine feministische. Ich glaube nicht, dass man aus jeder Geschichte etwas lernen kann. Letzten Endes ist es aber das, was Zelda Fitzgerald geschrieben hat – und auch ich.

 

Schenk mir den Walzer besteht aus vier Teilen, wodurch es sich nicht nur formal von einem Buch mit drei oder fünf Teilen unterscheidet. Drei Teile legen nahe, dass es einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende gibt. Hat ein Buch mit vier Teilen demnach zwei Mittelteile? Oder zwei Anfänge? Zwei Enden? Ich glaube, Schenk mir den Walzer hat zwei Mittelteile.

Wenn ein Buch mit fünf Teilen das Theater und die Form der Tragödie nahelegt, dann ist ein Buch mit vier Teilen eine Tragödie, bei der ein Akt fehlt – vielleicht der Aspekt, dass die Hauptfigur die Tragödie nie wirklich überwindet, denn die Tragödie ist ein Teil ihrer Persönlichkeit, die nicht überwunden werden kann. Schenk mir den Walzer jedoch ist hoffnungsvoller. Am Ende des Buches scheint es, als hätte Alabama die beiden tragischen Mittelteile wirklich hinter sich gelassen. Was zu ihrer Tragödie hätte werden können – der fatale Mangel an Persönlichkeit, weil sie sich für Struktur und Bedeutung in jungen Jahren immer auf den Charakter des Vaters verlassen hatte – verwandelt sich in etwas anderes; ein Teil des väterlichen Wesens scheint in seinen letzten Tagen auf seine Tochter übergegangen zu sein.

Vier ist eine Zahl der Stabilität: Ein Tisch hat vier Beine. Und trotz der ungewöhnlichen Stimmung und der oft zersetzenden Grammatik schließt man das Buch seltsamerweise mit dem Gefühl von vier Stützen in der Brust: Als hätte man gerade etwas Solides, Wohlgeordnetes, Logisches miterlebt.

Wenn der Geist der Tochter Alabama – wild, leidenschaftlich und frei – jeden einzelnen kunstvollen Satz prägt, dann ist es der Geist von Alabamas Vater, Richter Beggs, der die Gesamtstruktur und Form des Buches definiert. Anhand der Struktur versucht man das moralische Ziel des Autors zu verstehen, wogegen die einzelnen Sätze die animalische Essenz erfahrbar machen. Fügt man diese Beobachtungen zusammen, bekommt man einen Eindruck von der Seele des Künstlers.

Das ist kein Buch, bei dem das »Jazz Age« oder die »Flapper« idealisiert werden. Es verurteilt diese ganze Welt und jeden ihrer Protagonisten. Zelda Fitzgerald schreibt über diese Jahre: »Die Nachkriegs-Verschwendungssucht, die David und Alabama und weitere sechzigtausend Amerikaner in einer Art Hasenjagd ohne Hunde quer durch Europas Lande hetzte, erreichte ihren Höhepunkt« und fiel zusammen mit der »demoralisierenden Ungewissheit, für sein Geld bald nichts mehr zu bekommen«.

In Teil I erleben wir Alabama zu Hause während ihrer Kindheit. In Teil II führt sie ein dekadentes Leben im Ausland, und am Ende ist sie dieses verschwenderischen Lebens und all der Menschen darin müde. Noch während der Überfahrt auf dem Atlantik sagt sie zu ihrem Mann David: »Ich habe auf dem ganzen Schiff keinen Menschen getroffen, von dem ich hätte sagen können, um den wär’s schade gewesen.«

In Teil III wendet sich Alabama dem Ballett zu, in dem Versuch, sich der Oberflächlichkeit und Nutzlosigkeit des Lebens, das sie und David gewählt haben, zu entziehen.

Was bringt einen Menschen zur Kunst? Oft ist es das Bedürfnis, die eigene überwältigende, chaotische und kaleidoskopische Energie zu bündeln; den Tumult im Inneren nach außen zu tragen und zu ordnen; daraus objektive Schönheit zu erschaffen. Alabama versucht dies durch den Tanz – obwohl sie zu »alt« ist, um noch eine richtige Balletttänzerin zu werden. Dennoch muss sie etwas tun. In der Welt, zu der sie durch Davids Talent als Maler Zugang hat, »fühlte [sie] sich durch ihren Mangel an gesellschaftlicher Gewandtheit ausgeschlossen«. Doch obwohl das körperliche Training zur Obsession wird, kann sie keine tiefere Überzeugung aufbauen. Als David sie fragt, ob er ihr beim Üben zusehen darf, sagt sie Nein. »Du würdest nur feststellen, dass ich immer Sachen machen muss, die ich nicht kann, und du würdest mich entmutigen.« Sie glaubt nicht stark genug an ihr Ziel, um Davids kritischem Blick standzuhalten, und tatsächlich warnt er sie: »Du weißt doch hoffentlich, dass es in der Kunst einen himmelweiten Unterschied gibt zwischen einem Dilettanten und einem Profi?«

Vielleicht liegt der Grund für ihr Scheitern als Künstlerin in dem, was sie ursprünglich angetrieben hat. Als Alabama David zum ersten Mal davon erzählt, tanzen zu wollen, tut sie es folgendermaßen (und führt dabei den Namen seiner Geliebten an, auf die sie zu Recht eifersüchtig ist): »Ich werde eine so berühmte Tänzerin, wie es blaue Adern auf dem weißen Marmorbusen von Miss Gibbs gibt.«

Auf einem Sockel aus Tücke und dem Wunsch, im Rampenlicht zu stehen, kann man keine Kunst erschaffen. Künstlerin will sie unter anderem auch werden, weil sie das Gefühl hat, »dass sie der Welt nichts zu geben habe«. Aber für gewöhnlich wendet man sich der Kunst unter der ehrgeizigen Prämisse zu, dass das Gegenteil der Fall ist!

Würde sie sich allerdings nicht mit dem Tanz ablenken, müsste sie sich den Pflichten eines Daseins als Mutter und Ehefrau stellen – was sie langweilt. Vielleicht findet sich die eindrücklichste Beschreibung dessen, was sie in den beiden Mittelteilen vorhat, in diesem Absatz:

»Die makabren Leute, die den Krieg mitgemacht hatten, erzählten mit Vorliebe eine Anekdote über die Soldaten der Fremdenlegion, die in der Umgebung von Verdun einen Ball veranstalteten, auf dem sie mit Leichen tanzten. Nicht minder makaber war Alabamas ständiges Zusammenbrauen eines Gifttrunks für ihr Unbewusstes und ihr Beharren auf Magie und Glimmer des Lebens, dessen Puls sie nur mehr als Pochen eines amputierten Beines spürte.«

Weil ihre Motivation für das Tanzen von Anfang an die falsche war, verliert die ganze Welt des Balletts unweigerlich schon bald ihren Glanz. Sie sieht darin ihr eigenes Leben gespiegelt: »Stella mit ihren Fehlern und Arienne mit ihren Finten, das Buhlen um Gunst, das Gezänk um die vorderste Reihe, all das erschien ihr im trüben, durch das Glasdach fallende Sonnenlicht wie das Kriechen und Drängeln wimmelnder Insekten, die man durch eine Glasglocke betrachtet. ›Larvae!‹, sagte die unglückliche Alabama verächtlich.«

 

Alabama versucht zwei Mal vergebens, sich ein sinnvolles Leben fernab ihres Vaters aufzubauen. Das Telegramm mit der Nachricht, dass ihr Vater im Sterben liegt, »bedeutete einen so wichtigen Einschnitt in ihr gemeinsames Leben wie die herabsausende Klinge einer Guillotine«.

Ich finde, keine Figur in diesem Roman ist wunderbarer oder klarer gezeichnet als Richter Beggs. Er ist der Einzige in der Geschichte, der zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. Er spricht stets mit Überzeugung – und der Klang seiner Stimme hallt im Kopf des Lesers nach. Er kennt die Welt: »Der Kerl taugt nichts. Er ist ein Erzfaulpelz und noch nicht einmal geschieden.«, »Ich halte dieses emotionale Gewäsch nicht länger aus.«, »Meiner Meinung nach kann sich ein anständiges Mädchen nicht mit einem Mann verloben und gleichzeitig an jemand anderem interessiert sein.«

Ist Alabama dazu imstande, sich selbst eine ähnlich verlässliche Moral zu erschaffen? Kann jemand, dem das Leben einst so »sinnlos ausschweifend« erschien, es in eine ergiebige und gesunde Form umwandeln?

In beiden ihrer Lebensentwürfen – Salonlöwin und Tänzerin – empfand sie Neid und Eifersucht, echtes Bestreben und Heuchelei, Langeweile und Frustration. Erst als sie wieder nach Hause zurückkehrt, gewinnen ihre edleren Gefühle wieder die Oberhand: Traurigkeit und Bedauern, Wertschätzung und Hingabe, die Fähigkeit, von ganzem Herzen zu lieben. Auf gewisse Weise ist es ein Buch darüber, sein eigenes Vermächtnis zu akzeptieren. Ihr Name – Alabama – hätte ihr Hinweis genug sein sollen, wer sie wirklich ist: kein leichtsinniges Flapper-Mädchen, keine verwegene Künstlerin, sondern eine normale Frau, die in den traditionellen Werten eines Richters aus den Südstaaten verwurzelt ist.

Alabamas Sprache ist im vierten und letzten Teil einfach und schlicht, sie versucht nicht mehr geistreich zu sein. Auch Zelda Fitzgeralds Erzählstimme findet im letzten Teil zu einer perfekten Schlichtheit, und sie benutzt diese neue, ruhige Sprache, um damit ihre qualvolle Trauer auszudrücken. Erst im letzten Abschnitt ist die Stimme des Buches frei von Chaos, Wildheit und Verwirrung. Alabama hat eine Reise zurückgelegt, genau wie die Sprache der Erzählerin; am Ende ist sie von ihrem inneren Tumult erlöst, ebenso auch die Sätze. Die Bizarrheit von Alabamas Leben – und die Bizarrheit der Sätze, die dieses Leben beschreiben – dienten womöglich dem tieferen Zweck, vor ihr und vor uns eine harte Wahrheit zu verbergen: Dass Alabama nichts Besonderes ist; außergewöhnlich war an ihr vielleicht nur, dass sie versuchte, ihren Traum zu leben, denn sie war auf der Suche »nach einem neuen Ausgangspunkt … einer neuen Chance im Leben«.

Doch es gibt im Leben keine neue Chance, keinen neuen Ausgangspunkt, und ich bin der Meinung, dass das auch gut so ist. Das ursprüngliche Ich – das ursprüngliche Zuhause – genügt, um darauf ein Leben zu bauen. Die größte Schönheit liegt in der universellen Einfachheit unserer tiefsten Gefühle, die berührender sind als jede Darbietung. Wer wir sind, ist besser als das, was wir lieber wären; ein Anspruch, der in Alabamas Fall auf den »unbegrenzten Möglichkeiten der amerikanischen Werbung« beruhte. Sehnsüchte beruhen immer auf falschen Versprechungen. Aber das Scheitern an falschen Versprechungen kann nur etwas Gutes sein; im Prinzip ist es eine Art Rettung.

Auf den letzten Seiten des Buches erhaschen wir noch einen Blick auf die kaputte Welt, von der sich Alabama verabschiedet. Alabama ist von der Erfahrung des Todes geprägt und verändert – sowohl des Todes ihres Vaters als auch des Todes ihrer eigenen Lebensentwürfe – und kommt, als sie mit David nach einer Einladung ihre Freunde verabschiedet, nicht umhin, zu bemerken, wie schwach und unwichtig diese Menschen sind, mit denen sie einst ihre neue, bessere Welt bevölkern wollte. Sie sagen:

»Wir haben Sie richtig totgequatscht.«

»Sie müssen vom Packen ganz tot sein.«

»Für eine Party ist es tödlich, wenn man bleibt, bis die Verdauung einsetzt.«

»Ich bin tot, meine Liebe! Es war wundervoll!«

Sie sind nicht die Essenz irgendeines neuen Lebens. Sie schließt die Tür hinter ihnen allen.

 

Schenk mir den Walzer ist ein zutiefst autobiographisches Buch. Zelda Fitzgerald schrieb es Anfang 1932 in sechs Wochen, in denen sie täglich mehrere Stunden daran arbeitete, nachdem sie sich mit 31 selbst wieder in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen hatte. Die Reaktionen fielen mehrheitlich negativ aus, sie verdiente 120 Dollar damit und wandte sich niedergeschmettert dem Schauspiel und der Malerei zu. Einer meiner liebsten Sätze in dem Roman ist dieser: »Im Gegensatz zu Frauen, dachte sie, werden Männer nie zu dem, was sie tun – ihre Taten bestehen stets nur aus der eigenen philosophischen Interpretation ihres Tuns.«

Aus dem kanadischen Englisch von Marion Hertle

Schenk mir den Walzer

Für Mildred Squires

Einst sahn wir Himmel in lieblicher Bläue

und Sommermeere

Als Theben schwankte in Sturm und Regen,

Wie zu sterben.

Ach, wäre er wieder

Unser Himmel, lieblich und blau.

 

Ödipus, König von Theben[2]

Teil I

1

»Diese Mädchen«, sagten die Leute, »glauben, sie können sich alles erlauben und kommen damit durch.«

Das lag an der Sicherheit, die ihr Vater auf sie ausstrahlte. Er war eine lebende Festung. Während sich die meisten Menschen ihr schützendes Bollwerk im Leben aus Kompromissen zurechtzimmern – aus wohlkalkulierter Unterwerfung einen uneinnehmbaren Bergfried bauen, aus Rückzügen ins Gefühl philosophische Zugbrücken fabrizieren und Marodeure mit dem siedenden Öl saurer Trauben verbrühen –, verschanzte sich Richter Beggs bereits als junger Mann hinter seiner Integrität: Seine Türme und Bollwerke bestanden aus intellektuellen Begriffen. Soweit seine engsten Angehörigen wussten, ließ er zu seiner Burg keine Schleichwege offen – für den liebenswürdigen Ziegenhirten nicht und auch nicht für die drohende Obrigkeit.

Diese Unzugänglichkeit war ein Makel an seiner sonstigen Brillanz, und vielleicht verhinderte sie seinen Aufstieg in die Politik. Die Nachsicht, mit der der Staat seiner höchstrichterlichen Überheblichkeit begegnete, befreite die Kinder von den frühen Anstrengungen des Lebens, die notwendig sind, um sich selbst mit einem Schutzwall umgeben zu können. In der Folge der Generationen genügt ein richtiger Vater, der einen über die Erfahrung von Krankheit und Katastrophen hinweghebt, um das Überleben der Nachkommenschaft zu sichern.

Ein starker Mann kann für eine große Kinderschar geradestehen. Er braucht nur zweckdienliche Anleihen bei der Naturphilosophie zu machen, und schon bekommt die Familie den Anschein eines Sinns. Bis die Beggs-Kinder gelernt hatten, den wachsenden Ansprüchen ihrer Zeit gerecht zu werden, hatten sie den Teufel schon im Nacken. Verkrüppelt klebten sie an den feudalen Festungstürmen ihrer Väter und horteten deren geistiges Erbe – das größer hätte sein können, wenn sie nur für ein passendes Gefäß gesorgt hätten.

Eine Schulfreundin von Millie Beggs meinte, sie habe noch nie so mühsame Bälger gesehen wie diese Kinder, als sie klein waren. Wenn sie schrien oder etwas haben wollten, verschaffte Millie es ihnen – sofern es in ihrer Macht stand. Wenn nicht, wurde der Doktor gerufen, um die Widrigkeiten einer Welt zu bezwingen, die, zugegebenermaßen, für so außergewöhnliche Kinder nur schlecht eingerichtet war. Austin Beggs, seinerseits vom Vater nicht ausreichend ausgestattet, arbeitete Tag und Nacht in seinem Gehirnlabor, um noch besser für die Seinen sorgen zu können. Bereitwillig nahm seine Frau die Kinder morgens um drei aus dem Bettchen, klapperte mit der Rassel oder sang ihnen leise vor, damit sie ihrem Gatten nicht die Grundlagen des Code Napoléon[3] aus dem Kopf heulten. Er sagte öfters, und das war kein Scherz: »Ich lass mir eine Festung ganz oben auf einer Klippe bauen, mit wilden Tieren drum herum und einem Stacheldraht oben drauf, damit ich dieser Gangsterbrut entkomme.«

Austin liebte Millies Kinder mit jenem nach innen gekehrten, distanzierten Wohlwollen, das bedeutenden Männern anhaftet, wenn sie durch die Kinder hie und da an die eigene Jugend erinnert werden, an die Zeit, als sie noch Instrumente der Erfahrung sein wollten und nicht deren Ergebnis. Wer je die Frühlingssonate von Beethoven intensiv gehört hat, weiß, welche Empfindung damit gemeint ist. Austin hätte vielleicht eine engere Beziehung zu seiner Familie gefunden, wäre nicht sein einziger Sohn als Kind gestorben. Damals stürzte sich der Richter wie wild in die Arbeit, um seiner Enttäuschung zu entgehen. Und da Geldsorgen die einzigen Sorgen sind, die Mann und Frau miteinander teilen können, ging er damit zu Millie. Er warf ihr die Rechnung für das Begräbnis des Jungen vor die Füße und weinte herzzerreißend: »Wovon, in Gottes Namen, soll ich das bezahlen?«

Millie, deren Verhältnis zur Wirklichkeit noch nie sehr stark gewesen war, konnte die plötzliche Grausamkeit ihres Mannes mit seinem sonstigen Gerechtigkeitssinn und noblen Charakter nicht in Einklang bringen. Sie versuchte nie mehr, sich ein Urteil über Menschen zu erlauben, sondern veränderte lieber ihre eigene Realität, bis sie mit den Widersprüchen der anderen übereinstimmte, um schließlich, auf Loyalität fixiert, die Harmonie einer Heiligen zu erreichen.

»Sollten meine Kinder je böse gewesen sein«, antwortete sie ihrer Freundin, »habe ich das jedenfalls nicht bemerkt.«

Von all ihren Ausflügen in die Widersprüche der menschlichen Natur lernte Millie außerdem den Trick der Übertragung: Die Geburt weiterer Kinder half ihr über den Verlust des Sohnes hinweg. Während Austin, wütend über die kulturelle Stagnation der Menschheit, all seine Enttäuschungen und schwindenden Hoffnungen gleichzeitig mit seinen Geldsorgen über Millies geduldigem Haupt niederbrechen ließ, übertrug Millie ihren Ärger instinktiv auf Joans Fieber oder auf Dixies verstauchten Fuß. So bewegte sich Millie mit der verklärten Trauer eines griechischen Chores durch die Alltagssorgen. Mit dem Realismus der Armut konfrontiert, versenkte sie ihre Persönlichkeit in einen stoischen, unerschütterlichen Optimismus und machte sich undurchdringlich für die besonderen Sorgen, die sie bis zuletzt verfolgten.

Im mystischen Dunst schwarzer Ammen heckte die Familie lauter Mädchen. Der Richter verkörperte für die Kinder zunächst den Extra-Penny, die Straßenbahnfahrt zu weiß getünchten Picknickorten und die Tasche voller Pfefferminz. Mit wachsender Wahrnehmung wurde er auch zur strafenden Instanz, zum unerbittlichen Schicksal, zur Verkörperung von Recht, Ordnung und eingefahrener Disziplin. Jugend und Alter: eine hydraulische Berg- und Talfahrt, bei der das Alter eine an Überzeugungskraft abnehmende Wasserladung trägt, aber hartnäckig darauf besteht, das auszugleichen, was die Jugend auf die Waagschale legt. Die Mädchen wuchsen in die Attribute ihrer Weiblichkeit hinein, suchten aber bei der Mutter Zuflucht vor allen Zurschaustellungen als »junge Damen« – als wollten sie sich in einem schattigen, schützenden Hain vor allzu grellem Sonnenlicht verstecken.

Auf Austins Veranda quietscht die Schaukel; ein Glühwürmchen tanzt wild über der Klematis; Insekten schwärmen ihrem goldenen Untergang an der Hallenbeleuchtung entgegen. Schatten wischen wie schwere, nasse Putzlumpen durch die südliche Nacht und trocknen das Vergessen der schwarzen Hitze auf, aus der sie gekommen sind. Melancholische Mondreben spannen dunkle, dämpfende Polster über die Spalierdrähte.

»Erzähl mir was über mich, als ich klein war«, bittet die jüngste Tochter beharrlich. Sie kuschelt sich an die Mutter, um körperliche Nähe herzustellen.

»Du warst ein braves Kind.«

Das Mädchen hatte keine Vorstellung von sich, da sie so spät im Leben ihrer Eltern geboren wurde, dass deren instinktive Anteilnahme aufgebraucht war. Die Eltern konnten sich unter dem abstrakten Begriff »Kindheit« mehr vorstellen als unter einem Kind. Das kleine Mädchen will aber wissen, wer es ist, da es zu jung ist, um zu verstehen, dass man niemandem gleicht, dass man sein Skelett selbst mit Fleisch füllen muss, ähnlich dem General, der den Verlauf einer Schlacht auf der Karte rekonstruiert und dabei Vormarsch und Rückzug seiner Truppen mit bunten Nadeln absteckt. Das Mädchen weiß noch nicht, dass es die eigenen Anstrengungen sind, die seine Person ausmachen. Erst sehr viel später sollte Alabama – so hieß das Kind – merken, dass der vom Vater geerbte Knochenbau nur ihre Grenzen markierte.

»Und habe ich nachts gebrüllt und Rabatz gemacht, bis du und Daddy gewünscht habt, ich wär tot?«

»Aber nein! Alle meine Kinder waren liebe Kinder.«

»Die von Großmutter auch?«

»Ich denke schon.«

»Aber warum hat Großmutter dann Onkel Cal weggejagt, als er aus dem Bürgerkrieg heimkam?«

»Deine Großmutter war eine komische alte Frau.«

»War Onkel Cal auch komisch?«

»Ja. Als Cal heimkam, ließ Großmutter an Florence Feather ausrichten, wenn Florence etwa auf ihren Tod warten sollte, um Cal heiraten zu können, dann sollten die Feathers wissen, dass die Beggs sehr langlebig sind.«

»War sie so reich?«

»Nein. Am Geld lag es nicht. Aber Florence fand, dass es nur der Teufel mit Cals Großmutter aushalten könnte.«

»Und deshalb hat Onkel Cal nie geheiratet?«

»Ja, weil Großmütter immer ihren Willen bekommen.«

Die Mutter lacht – das Gewinnerlachen eines Menschen, der von Geschäftsheldentaten berichtet und sich gleichzeitig für seine Habgier und Vertrauensseligkeit entschuldigen will; das Lachen des Siegers, der in einem der ewigen Familienmachtkämpfe ein anderes Familienmitglied übertrumpft hat.

»Wenn ich Onkel Cal gewesen wäre, hätte ich mir das nicht gefallen lassen«, verkündete das Kind rebellisch. »Ich hätte mit Miss Feather gemacht, was ich mir vorgenommen hatte.«

Die tiefe Ausgeglichenheit der väterlichen Stimme bezwingt die Dunkelheit bis zum Diminuendo des Schlafengehens.

»Musst du immer alles wieder aufwärmen?«, fragt er streng.

Immer wenn er die Fensterläden zuzieht, schließt Richter Beggs die Besonderheiten seines Hauses mit ein: Lichtfreundlichkeit in sonnendurchfluteten Vorhangvolants, die sich wie ein ausgefranster Rasenrand über geblümtem Chintz bauschen. Die Dämmerung hinterlässt keine Schatten oder Verzerrungen in seinen Räumen, sondern hebt sie, unversehrt, in unbestimmte graue Welten.

Im Winter und im Frühling umgibt das Haus ein Glanz, als sei es auf einen Spiegel gemalt. Dass die Sessel auseinanderfallen und die Teppiche Löcher haben, besagt angesichts von so viel Glanz überhaupt nichts. Das Haus ist ein Vakuum, in dem Austin Beggs seine Unantastbarkeit kultiviert. Wie ein glänzendes Schwert schläft es in der Nacht in der Scheide seiner müden Vornehmheit.

Jetzt knallt das Blechdach von der Hitze; innen riecht es nach lange nicht geöffnetem Koffer. Aus dem Oberlicht der Tür am Hallenende im ersten Stock fällt kein Licht.

»Wo ist Dixie?«, fragt der Vater.

»Sie ist mit ein paar Freunden ausgegangen.«

Das kleine Mädchen spürt, wie die Mutter ausweicht, kommt interessiert näher und fühlt sich wichtig, weil es an Familienangelegenheiten teilhat.

Bei uns passiert ja allerhand, denkt sie. Es ist doch aufregend, eine Familie zu sein.

»Millie«, sagt ihr Vater, »wenn Dixie sich wieder mit Randolph McIntosh in der Stadt rumtreibt, kann sie mein Haus für immer verlassen.«

Der Kopf des Vaters zittert vor Wut; beleidigtes Anstandsgefühl lässt ihm die Brille von der Nase rutschen. Die Mutter geht leise über die warmen Strohmatten in ihrem Zimmer, und das kleine Mädchen liegt im Dunkeln: Sie ist stolz auf ihre tugendhafte Unterwerfung unter die Regeln des Familienclans. Ihr Vater geht im Batistnachthemd hinunter und wartet.

Aus dem Obstgarten auf der anderen Seite der Straße dringt der Duft reifer Birnen zum Bett des Kindes. In der Ferne probt eine Kapelle Walzermelodien. Weißes schimmert in der Dunkelheit – weiße Blumen und Pflastersteine. Der Mond, der sich in den Fensterscheiben spiegelt, segelt schräg hinunter in den Garten und kräuselt die würzigen Ausdünstungen der Erde wie ein silbernes Paddel. Die Welt scheint jünger, als sie ist. Das Kind kommt sich alt und weise vor, wie es so seine Probleme begreift und mit ihnen ringt, als seien sie seine ureigenste Angelegenheit und nicht Erbe des Geschlechts. Alle Dinge leuchten und blühen. Das Mädchen geht prüfend durchs Leben, wie durch einen Garten, wo es gezwungen ist, auf kargem Boden zu gedeihen. Von Menschenhand Gepflanztes ist ihr schon seit Langem verdächtig, da sie insgeheim an einen großen Zauberpflanzer glaubt, der dem härtesten Felsboden süß duftende Blüten entlockt, den ödesten Wüsten nachtblühende Ranken – der den Atem der Dämmerung sät und Ringelblumen erntet. Sie möchte, dass das Leben unbeschwert ist und voll angenehmer Erinnerungen.

An den Verehrer ihrer Schwester denkt sie mit romantischer Verklärung. Randolphs Haare sind für sie perlmutterne Füllhörner, aus denen die Lichtkegel purzeln, die sein Gesicht ausmachen. Sie glaubt, dass sie innen genauso aussieht: In dieser nächtlichen Gefühlsverwirrung kann sie nur noch in Relationen von Schönheit denken. Sie denkt an Dixie, mit der sie sich heftig identifiziert. Es ist, als spalte sich ein erwachsener Teil von ihr ab, den sie nun, da er sich im Lauf der Jahre verändert hat, nicht mehr erkennt, wie einen sonnenverbrannten Arm, der einem fremd vorkommt, wenn man seine Veränderung nicht bewusst beobachtet hat. In Gedanken ergreift sie Besitz von der Liebesgeschichte ihrer Schwester. Das Angespanntsein macht sie schläfrig. Im Bann der sich auflösenden Träume hat sie einen Schwebezustand erreicht. Sie schläft ein. Der Mond wiegt wohlwollend ihr braunes Gesichtchen. Sie wird älter, während sie schläft. Eines Tages wird sie aufwachen und feststellen, dass die Pflanzen in den Steingärten meistens schwammartige Gewächse sind, die wenig Nahrung brauchen; sie wird feststellen, dass die weißen Scheiben, die um Mitternacht duften, mehr embryonale Gewächse sind als Blüten. Wenn sie älter ist, wird sie voll Bitterkeit auf den geometrischen Wegen philosophischer Le Nôtres[4] wandeln und weniger auf den verwunschenen, mit Birnen und Ringelblumen gesäumten Seitenpfaden ihrer Kindheit.

Alabama konnte nie sagen, was sie morgens aufweckte, wenn sie sich mit offenen Augen daliegen fand, sich ihrer Ausdruckslosigkeit bewusst, die ihr Gesicht wie eine nasse Badematte bedeckte. Sie machte sich munter. Die lebhaften Augen eines sanften Tiers in der Falle spähten skeptisch aus dem straffen Netz der Gesichtszüge; limonengelbes Haar schmolz ihren Rücken hinab. Alabama zog sich mit ungezwungenen Bewegungen für die Schule an, beugte sich vor, um die Bewegungen ihres Körpers zu beobachten. Die Schulglocke klang matt in der lautlosen, feuchten Luft des Südens, wie das Geräusch einer Boje, an die die Wellen schlagen. Auf Zehenspitzen ging sie in Dixies Zimmer und beschmierte sich das Gesicht mit Rouge.

Wenn die Leute sagten: »Alabama, du hast Rouge auf deinem Gesicht«, antwortete sie einfach: »Ich habe mein Gesicht mit der Nagelbürste geschrubbt.«

Dixie war für ihre jüngere Schwester eine äußerst ergiebige Person; ihr Zimmer war voller Besitztümer, überall lagen Seidensachen herum. Auf dem Kaminsims stand eine Plastik der »Drei Affen«, in der Streichhölzer für Raucher steckten. Zwischen zwei gipsernen »Denkern« waren einige Bücher eingeklemmt: Die dunkle Blume, Das Granatapfelhaus, Das Licht erlosch, Cyrano de Bergerac[5] und eine illustrierte Ausgabe des Rubaiyat. Alabama wusste, dass in der obersten Schublade der Frisierkommode das Decamerone versteckt war – sie hatte die unanständigen Stellen gelesen. Oberhalb der Bücher pikste ein Gibson Girl[6] mit einer Hutnadel einen Mann – gesehen durch ein Vergrößerungsglas; ein Teddybärpärchen hockte bequem in einem kleinen, weißen Schaukelstuhl. Dixie besaß einen rosa Gainsborough-Hut[7], eine Amethystbrosche und eine elektrische Brennschere. Dixie war fünfundzwanzig. Alabama würde am vierzehnten Juli, morgens um zwei Uhr, vierzehn sein. Joan, die andere Schwester, war dreiundzwanzig. Joan war außer Haus; sie war so ordentlich, dass es gar keinen Unterschied machte, ob sie da war oder nicht.

Alabama rutschte erwartungsvoll das Treppengeländer hinunter. Manchmal träumte sie, sie fiele in den Treppenschacht und würde gerettet, weil sie unten rittlings auf dem breiten Querbalken landete. Während sie das Geländer herunterrutschte, lauschte sie in sich hinein, ob sich die Gefühle des Traums wieder einstellten.

Dixie saß bereits bei Tisch, in kaum verhohlenem Trotz und von der Welt abgewandt. Sie hatte ein rotes Kinn, und auf ihrer Stirn waren rote Flecken vom Weinen. Ihr Gesicht hob und senkte sich unter der Haut, zuerst an einer Stelle, dann an einer anderen: wie brodelndes Wasser in einem Topf.

»Ich wünschte, ich wäre nie geboren«, sagte sie.

»Austin, sie ist eine erwachsene Frau.«

»Der Kerl taugt nichts. Er ist ein Erzfaulpelz und noch nicht einmal geschieden.«

»Ich ernähre mich selbst und kann tun und lassen, was ich will.«

»Millie, dieser Mann setzt keinen Fuß mehr in mein Haus.«

Alabama saß ganz still da und erwartete irgendeinen spektakulären Protest gegen die väterliche Unterbrechung von Dixies Romanze. Aber nichts tat sich, bis auf das Schweigen des Kindes. Sonne auf silbernen Farnblättern, Sonne auf dem silbernen Wasserkrug: Richter Beggs schreitet auf blau-weißen Platten in Richtung Büro – immer die gleichen Schritte, in immer der gleichen Zeit –, weiter nichts. Sie hörte die Straßenbahn an der Ecke unter den Trompetenbäumen anhalten, und weg war der Richter. Ohne seine Gegenwart zuckte das Licht nicht so rhythmisch zerteilt auf dem Farn; sein Heim hing völlig von seinem Willen ab, wie ein Pendel.

Alabama beobachtete, wie sich die Geißblattranken um den rückwärtigen Zaun wanden wie Korallenketten, die einen Spazierstock bekränzen. Der morgendliche Schatten unter dem Seifennussbaum war von der gleichen Beschaffenheit wie das Licht – spröde und arrogant.

»Mama, ich möchte nicht mehr in die Schule gehen«, sagte sie nachdenklich.

»Warum nicht?«

»Mir kommt es so vor, als ob ich schon alles wüsste.«

Die Mutter starrte sie mit leicht feindseliger Verwunderung an; das Kind, das nichts mehr von seinen Gedanken preisgeben wollte, wechselte schnell zum Thema Schwester über:

»Was glaubst du, wird Daddy mit Dixie machen?«

»Ach, sei still und zerbrich dir nicht vorzeitig den Kopf über solche Sachen, oder was ist?«

»Wenn ich Dixie wäre, ließe ich mich nicht stören. Ich mag Dolph.«

»Man kann nicht immer alles bekommen auf dieser Welt, was man will. Beeil dich jetzt – du kommst sonst zu spät zur Schule.«

Ihre pochenden Schläfen glühten vor Hitze. Das Schulzimmer schwankte, angefangen von den großen, viereckigen Fenstern bis hin zu einem verunglückten Farbdruck der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung: Dort ging es vor Anker. Langsame Junitage summierten sich zu einem Klumpen Sonnenlicht auf der entfernten Wandtafel. Weiße Partikelchen abgeschabter Radiergummis durchzogen die Luft. Der Geruch von Haaren, Winterwollstoff und eingetrockneter Tinte in den Tintenfässern erstickte den weichen Frühsommer, der sich weiße Tunnel unter den Alleebäumen grub und die Fenster mit süßlicher, kränklicher Hitze beschlug. Der Singsang schwarzer Stimmen drang klagend durch die Mittagsstille.

»Tomaten, schöne reife Tomaten. Gemüse, Kohlgemüse.«

Die Jungen trugen lange schwarze Winterstrümpfe, die in der Sonne grün aussahen.

Alabama schrieb Randolph McIntosh unter die Debatte in der Athener Ratsversammlung. Sie zog einen Kringel um »Alle Männer wurden sofort hingerichtet, und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft«. Sie malte die Lippen von Alkibiades aus und verpasste ihm einen schicken Kurzhaarschnitt. Nach dieser Verschönerung klappte sie Myers’ Ancient History zu. Ihre Gedanken wanderten ziellos umher. Wie schaffte es Dixie, immer so proper auszusehen, immer so bereit für alles? Alabama glaubte, dass bei ihr niemals alle Dinge zur richtigen Zeit am richtigen Fleck sein würden – sie würde nie diesen Zustand abstrakten »Bereitseins« erreichen. Dixie war für ihre Schwester ein perfektes Instrument des Lebens.

Dixie war Redakteurin der Klatschspalte beim Lokalblatt. Vom Augenblick ihrer Heimkehr aus dem Büro bis zum Abendessen telefonierte sie unaufhörlich. Dixie säuselte und säuselte, girrend und affektiert, dem Tonfall der eigenen Stimme lauschend.

»Das kann ich dir jetzt nicht sagen …« Dann ein langes, langsames Gegurgel, wie Wasser, das durchs Abflussrohr der Badewanne läuft.

»Oh, ich sag’s dir, wenn wir uns sehen. Nein, ich kann’s dir jetzt nicht sagen.«

Richter Beggs lag auf seinem schlichten Eisenbett und sortierte die Bündel gilbender Nachmittage. In Kalbsleder gebundene Bände der Annals of British Law und Annotated Cases lagen wie Laub auf seinem Körper verstreut. Das Telefon ging ihm auf die Nerven und störte seine Konzentration.

Der Richter wusste, wenn es Randolph war. Nach einer halben Stunde stürmte er in die Halle, seine Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn.

»Wenn du es ihm nicht sagen kannst, warum hörst du dann nicht auf mit dem Gespräch!«

Richter Beggs ergriff brüsk den Hörer. Mit der grausamen Präzision eines Tierpräparators sprach er in die Muschel: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es aufgäben, meine Tochter wiedersehen zu wollen oder mit ihr zu telefonieren.«

Danach schloss sich Dixie in ihr Zimmer ein und kam zwei Tage lang nicht mehr heraus, auch nicht zum Essen. Alabama genoss ihre eigene Rolle bei all diesem Aufruhr.

»Ich möchte auf dem Schönheitsball auch mit Alabama tanzen«, hatte Randolph fernmündlich erklärt.

Die Kindertränen verfehlten die Wirkung auf die Mutter nicht.

»Warum belästigt ihr euren Vater damit? Ihr könnt doch eure Verabredungen woanders treffen«, sagte sie beschwichtigend. Die uneingeschränkte, gesetzlose Großzügigkeit ihrer Mutter war das Ergebnis vieler Jahre des Zusammenlebens mit dem Richter und seiner unwiderlegbaren, scharfen Verstandeslogik. Eine Umgebung, die weibliche Gefühle nicht tolerierte, musste ihrer mütterlichen Natur unerträglich sein, und so war die inzwischen fünfundvierzigjährige Millie Beggs zu einer Gefühlsanarchistin geworden. Das war ihre Art, sich von der Notwendigkeit der eigenen Existenz zu überzeugen. Mit ihrer Inkonsequenz wollte sie beweisen, dass sie das System beherrschen konnte, wenn sie nur wollte. Der gesetzestreue Austin wurde gebraucht: Mit drei Kindern, ohne Geld, bevorstehenden Wahlen im Herbst und Versicherungspflichten konnte er es sich nicht leisten, zu sterben oder krank zu werden. Millie jedoch, die weniger eng in dieses Muster verwoben war, hatte das Gefühl, es sei egal, ob sie existiere oder nicht.

 

Alabama warf den Brief ein, den Dixie auf den Rat der Mutter hin geschrieben hatte, und sie trafen Randolph im Café Tip-Top.

Alabama, die in einem Strudel heftig schwankender Entschlüsse durch ihre Mädchenjahre schwamm, war von angeborener Skepsis gegenüber der »Bedeutung« dessen, was zwischen ihrer Schwester und Randolph vorging.

Randolph war Reporter bei Dixies Zeitung. Er hatte eine kleine Tochter, die von seiner Mutter weiter unten im Süden bei den Zuckerrohrfeldern in einem ungestrichenen Holzhaus versorgt wurde. Randolph lernte es nie, seinen Augen und seinem runden Gesicht einen angemessenen Ausdruck zu verleihen, so als ob sein leibliches Vorhandensein das Erstaunlichste sei, was ihm je vorgekommen war. Er leitete Abendtanzkurse, für die ihm Dixie die Schüler und Schülerinnen besorgte – wie auch seine Krawatten und was sonst noch sorgfältig ausgewählt werden musste.

»Liebling, du musst dein Messer auf den Teller legen, wenn du es nicht benutzt«, sagte Dixie, seine Persönlichkeit nach ihrem Gesellschaftsbild zurechtstutzend.

Man wusste nie, ob er zugehört hatte, obwohl er immer auf etwas zu horchen schien – vielleicht wartete er auf eine Elfenserenade oder einen phantastischen, übernatürlichen Fingerzeig, der auf seine soziale Stellung im Sonnensystem hinwies.

»Und ich möchte eine gefüllte Tomate und Kartoffeln au gratin und einen Maiskolben und Plätzchen und Schokoladeneis«, unterbrach Alabama ungeduldig.

»Allmächtiger! Wir sollen das Ballett der Stunden aufführen, Alabama. Ich werde Harlekinhosen tragen und du einen Tüllrock und einen Dreispitz. Kannst du dir in drei Wochen einen Tanz ausdenken?«

»Klar. Ich weiß noch ein paar Schritte vom letzten Karneval. Das geht so … siehst du?« Alabama ließ ihre Finger übereinander spazieren, bis sie völlig ineinander verschlungen waren. Dann presste sie einen Finger auf den Tisch, um die Stelle zu kennzeichnen, an der sie stehen geblieben war, entwirrte ihre Finger und begann von Neuem. »… und der zweite Teil geht so … und es endet mit einem Br-rr-rr-hups!«, erklärte sie.

Randolph und Dixie sahen das Kind fragend an.

»Sehr hübsch«, bemerkte Dixie zögernd, gerührt von der Begeisterung ihrer Schwester.

»Du kannst die Kostüme machen«, sagte Alabama zum Schluss und glühte vor Künstlerstolz. Begierig heimste sie jedes flüchtige Zeichen der Bewunderung ein und häufte ihre Beute auf alles, was zur Hand war: auf Schwestern und deren Verehrer, Vorstellungen und Verkleidungen. Bei ihren ständigen Gefühlsumschwüngen nahm alles den Charakter einer Improvisation an.

Jeden Nachmittag probten Alabama und Randolph in dem alten Theatersaal, bis es innen trüb und dämmrig wurde und draußen die Bäume glänzend feucht und veronesisch aussahen, als ob es geregnet hätte. Von hier aus war das erste Regiment des Staates Alabama in den Bürgerkrieg gezogen. Die schmale Empore sackte auf den eisernen Spindelsäulen durch, und im Boden waren Löcher. Die abfallenden Stufen führten zum Markt: gesperberte Hühnchen »Plymouth Rock« im Käfig, Fische, Sägespäne mit Eisklümpchen aus dem Metzgerladen, Girlanden und eine ganze Toreinfahrt voller Armeemäntel. Erhitzt vor Aufregung, lebte das Kind einen Augenblick lang in einer Welt fiktiver beruflicher Möglichkeiten.

»Alabama hat den wunderbaren Teint ihrer Mutter geerbt«, sagten die Veranstalter, während sie der kreiselnden Figur zusahen.

»Ich habe meine Wangen mit einer Nagelbürste geschrubbt«, schrie sie von der Bühne herunter. Das war Alabamas Antwort auf Bemerkungen über ihren Teint; nicht dass es gestimmt oder gepasst hätte, aber sie sagte es so.

»Das Kind hat Talent«, hieß es. »Es sollte gefördert werden.«

»Ich habe mir alles selbst ausgedacht«, antwortete sie nicht ganz wahrheitsgemäß.

Als der Vorhang schließlich über dem letzten Bild des Balletts fiel, kam ihr der Beifall wie mächtiges Verkehrsrauschen vor. Dann spielten zwei Kapellen für den Ball; der Gouverneur führte die Polonaise an. Nach ihrem Auftritt stand Alabama in dem dunklen Gang, der zur Künstlergarderobe führte.

»Einmal habe ich was vergessen«, flüsterte sie erwartungsvoll gespannt. Draußen herrschte noch das gedämpfte Fieber der Aufführung.

»Du warst prima«, lachte Randolph.

Das Mädchen hing an seinen Worten wie ein Kleidungsstück, das darauf wartet, angezogen zu werden.

Behutsam ergriff Randolph ihre langen Arme und streifte ihre Lippen mit seinem Mund, wie ein Seemann, der das Meer nach anderen Schiffen absucht. Sie trug dieses äußerliche Zeichen ihres Erwachsenseins wie einen Verdienstorden – es blieb tagelang auf ihrem Gesicht und kam immer wieder zum Vorschein, wenn sie aufgeregt war.

»Du bist fast erwachsen, nicht wahr?«, fragte er.

Alabama gestand sich nicht das Recht zu, auf so unklare Vermutungen näher einzugehen oder Gemeinplätze über ihre weiblichen Aspekte zu erörtern, die sich aufgrund des Kusses hinter seinem Rücken zusammengebraut hatten. Wenn sie darin Schutz gefunden hätte, hätte sie ihr Selbstbild zerstört. Sie hatte Angst; sie dachte, ihr Herz sei eine sichtbare, wandelnde Person. Und das war es. Alle waren plötzlich sichtbar. Die Vorstellung war zu Ende.

»Alabama, warum gehst du nicht in den Tanzsaal?«

»Ich habe noch nie auf einem Ball getanzt. Ich habe Angst.«

»Ich gebe dir einen Dollar, wenn du mit einem der Männer tanzt, die da warten.«

»Meinetwegen. Aber was ist, wenn ich umfalle oder jemanden zum Stolpern bringe?«

Randolph stellte sie vor. Sie kam mit ihrem Tanzpartner ganz gut zurecht, bis er plötzlich anfing, seitwärts zu tanzen.

»Sie sind so hübsch«, sagte er. »Ich dachte, sie wären von woanders her.«

Sie sagte ihm und noch einem Dutzend anderen, er dürfe sie mal besuchen. Einem rothaarigen Mann, der über die Tanzfläche glitt, als würde er Milch entrahmen, versprach sie, mit ihm in den Country Club zu gehen. Alabama hätte sich nie vorstellen können, wie es ist, eine Verabredung zu haben.

Als ihr Make-up am nächsten Tag beim Waschen abging, tat es ihr leid. Nur Dixies Rouge konnte ihr jetzt helfen, die getroffenen Verabredungen ordentlich geschminkt zu überstehen.

Der Richter schlürfte seinen Kaffee neben dem zusammengefalteten Journal. Dann las er in der Morgenzeitung den Bericht vom Schönheitsball.

»Die begabte Miss Dixie Beggs, älteste Tochter von Mr. und Mrs. Austin Beggs, Richter in dieser Stadt«, hieß es da, »trug viel zum Erfolg der Veranstaltung bei. Sie wirkte als Impresario für ihre talentierte Schwester, Miss Alabama Beggs, unterstützt von Mr. Randolph McIntosh. Der Tanz war von erregender Schönheit, und die Darbietung war exzellent.«

»Wenn Dixie meint, sie könne die Sitten einer Prostituierten in meiner Familie einführen, dann ist sie nicht mehr meine Tochter. Schwarz auf weiß in Zusammenhang gebracht zu werden mit einem moralischen Versager! Meine Kinder müssen meinen Namen respektieren. Dieser Name ist alles, was sie auf dieser Welt haben«, explodierte der Richter.

Alabama hatte ihren Vater noch nie so genau sagen hören, was er von ihnen erwartete. Durch seinen einzigartigen Verstand von jeglicher Kommunikation mit Gleichgestellten ausgeschlossen, lebte der Richter sehr zurückgezogen. Er erwartete von seiner Umgebung eigentlich nur freundlichen Zuspruch und etwas Respekt für seine Zurückhaltung.

So kam Randolph am Nachmittag, um sich zu verabschieden.

Die Schaukel quietschte, die rosa Kletterrose »Dorothy Perkins« wurde braun in Staub und Sonne. Alabama saß auf der Treppe und sprengte den Rasen mit einem von der Sonne heißen Gartenschlauch. Aus der Düse rann es trübselig auf ihr Kleid. Sie war traurig wegen Randolph; sie hatte gehofft, dass sich noch einmal eine Gelegenheit ergäbe, ihn zu küssen. Auf jeden Fall nahm sie sich vor, dieses eine Mal für die nächsten paar Jahre nicht zu vergessen.

Die Augen ihrer Schwester verfolgten die Handbewegungen des Mannes, als erwarte sie, dass seine Hände sie ans Ende der Welt führen würden.

Alabama hörte, wie Dixie mit gebrochener Stimme sagte: »Vielleicht kommst du wieder, wenn deine Scheidung durch ist.« Randolphs Augen hoben sich schwer und endgültig von den Rosen ab. Seine feste Stimme drang klar und distanziert an Alabamas Ohr.

»Dixie«, sagte er, »du hast mir beigebracht, wie man Messer und Gabel richtig benutzt, wie man tanzt und welche Anzüge man trägt. Aber wenn ich einmal gegangen bin, betrete ich das Haus deines Vaters nie wieder. Herrgott noch mal! Für deinen Vater ist nichts gut genug.«

Er kam wirklich nie mehr wieder. Alabama hatte aus der Vergangenheit gelernt, dass immer irgendetwas Unangenehmes passiert, wenn im Gespräch unser Heiland erwähnt wurde. Der Geschmack ihres ersten Kusses verschwand gleichzeitig mit der Hoffnung auf eine Wiederholung.

 

Der glänzende Lack auf Dixies Fingernägeln wurde gelblich, und Zeichen der Vernachlässigung wurden durch das Rot hindurch sichtbar. Sie gab ihren Job bei der Zeitung auf und arbeitete bei einer Bank. Alabama erbte den rosa Hut, und jemand trat auf die Brosche. Als Joan wieder nach Hause kam, war das Zimmer so unordentlich, dass sie mit ihren Kleidern zu Alabama zog. Dixie hortete ihr Geld; das Einzige, was sie in diesem Jahr kaufte, war das Mittelstück aus dem Bild »Primavera«[8] und eine deutsche Lithographie »Septembermorgen«.

Dixie verdeckte das Oberlicht an ihrer Tür mit Pappendeckel, damit ihr Vater nicht merkte, wenn sie bis nach Mitternacht aufblieb. Mädchen kamen und gingen. Nachdem Laura einmal bei ihnen übernachtet hatte, bekam die Familie Angst, mit Tuberkulose angesteckt worden zu sein; Paula, goldblond glänzend, hatte einen Vater, der unter Mordanklage gestanden hatte; Marsha war hübsch und boshaft, mit vielen Freunden und einem schlechten Ruf; Jessie, die extra aus New York gekommen war, ließ ihre Strümpfe in die Reinigung geben. Das hatte für Austin Beggs etwas ausgesprochen Unmoralisches an sich.

»Ich weiß nicht«, sagte er, »warum sich meine Tochter ihre Freunde und Freundinnen aus dem Abschaum der Menschheit aussucht.«

»Das kommt ganz darauf an, von welcher Seite aus du es betrachtest«, protestierte Millie. »Der Abschaum könnte auch eine wertvolle Ablagerung sein.«

Dixies Freundinnen lasen sich gegenseitig laut vor. Alabama saß in dem kleinen weißen Schaukelstuhl und hörte zu. Sie äffte das elegante Getue nach und registrierte jeden höflichen, affektierten Lacher, den sie sich gegenseitig abluchsten.

»Das versteht sie noch nicht«, sagten sie wiederholte Male und starrten das Mädchen aus wässrigen angelsächsischen Augen an.

»Was verstehe ich noch nicht?«, fragte Alabama.

Der Winter erstickte in Mädchenrüschen. Dixie weinte immer, wenn ein Mann sie zu einer Verabredung überreden wollte. Im Frühjahr kam die Nachricht von Randolphs Tod.

»Ich hasse das Leben!«, schrie sie hysterisch.

»Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es! Wenn ich ihn geheiratet hätte, wäre das nicht passiert.«

»Millie, könntest du bitte den Arzt rufen?«

»Nichts Ernsthaftes, Richter Beggs, nur nervliche Überanstrengung. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte der Arzt.

»Ich halte dieses emotionale Gewäsch nicht länger aus«, sagte Austin.

Als Dixie sich besser fühlte, ging sie nach New York, um zu arbeiten. Sie weinte, als sie alle zum Abschied küsste, und in der Hand trug sie einen Bund wilder Stiefmütterchen. Sie bewohnte mit Jessie ein Zimmer an der Madison Avenue und besuchte alle Leute, die es von ihrer Heimatstadt nach New York verschlagen hatte. Jessie besorgte ihr einen Job bei derselben Versicherungsgesellschaft, bei der sie auch arbeitete.

»Ich möchte nach New York gehen, Mama«, sagte Alabama, als sie Dixies Brief las.

»Warum um alles in der Welt?«

»Damit ich mein eigener Boss bin.«

Millie lachte. »Denk dir nichts«, sagte sie. »Dein eigener Boss kannst du überall sein. Warum kannst du nicht hier zu Hause Boss sein?«

Nach drei Monaten war Dixie im Norden verheiratet – mit einem Mann aus dem Süden, aus Alabama. Beide machten einen kurzen Besuch zu Hause, und Dixie weinte sehr viel, als täte ihr die übrige Familie leid, weil sie immer noch zu Hause wohnen müsste. Sie stellte in dem alten Haus die Möbel um und kaufte eine Anrichte für das Esszimmer. Alabama bekam eine Kodak, und sie fotografierten sich auf den Stufen des Capitols, unter den Hickorynussbäumen und händchenhaltend auf der Verandatreppe. Von Millie wünschte sich Dixie eine Patchwork-Bettdecke; um das Haus, so meinte sie, solle man einen Rosengarten anlegen, und Alabama solle sich nicht so stark schminken, weil sie zu jung dafür sei, und die Mädchen in New York täten es auch nicht.

»Aber ich bin nicht in New York«, sagte Alabama. »Und wenn ich mal hinkomme, tue ich es trotzdem.«

Dann reisten Dixie und ihr Mann wieder ab aus der Südstaatenlangeweile. Am Tag von Dixies Abreise saß Alabama auf der hinteren Veranda und sah ihrer Mutter beim Tomatenschneiden für das Mittagessen zu.

»Ich schneide die Zwiebeln eine Stunde vorher hinein«, sagte sie, »und dann nehme ich sie heraus. Das gibt dem Salat gerade das richtige Aroma.«

»Ja, Mama. Kann ich die Enden haben?«

»Möchtest du keine ganze?«

»Nein, ich mag das Grüne dran.«

Die Mutter versah ihre Arbeit wie eine Kastellanin, die bedürftigen Bauern mildtätige Gaben austeilt. Sie hatte eine persönliche Beziehung zu den Tomaten, die abhängig davon waren, von Miss Millie zu einem Salat verarbeitet zu werden. Die Lider über ihren blauen Augen hoben sich in müder Wölbung, und ihre Hände bewegten sich voll Nächstenliebe durch die Notwendigkeiten des Lebens. Ihre Tochter war fort. Aber auch in Alabama steckte etwas von Dixie: das Ungestüm. Sie forschte im Gesicht des Kindes nach Ähnlichkeiten. Außerdem würde Joan wieder nach Hause kommen.

»Mama, hast du Dixie gern gehabt?«

»Natürlich. Ich habe sie immer noch gern.«

»Aber sie hat oft Ärger gemacht.«

»Nein. Sie war bloß immer verliebt.«

»Hast du sie lieber gemocht als zum Beispiel mich?«

»Ich liebe euch alle gleich.«

»Ich mache aber auch Ärger, wenn ich nicht tun darf, was ich will.«

»Ach, Alabama. Alle Leute machen das aus dem einen oder anderen Grund. Wir dürfen uns davon nicht beeindrucken lassen.«

»Ja. Mama.«

Draußen am Gitter reiften Granatäpfel zu exotischem Schmuck heran, eingerahmt von ledrigen Blättern. Die Bronzekügelchen eines indischen Flieders zerbarsten zu einem blasslila Tüllgesprudel am Ende des Gartens. Dattelpflaumen ließen die schwere Ladung eines Sommers auf das Dach des Hühnerstalls klatschen.

Gack, gack, gack, gack!

»Die alte Henne legt wieder.«

»Vielleicht hat sie einen Maikäfer gefangen.«

»Die Feigen sind noch nicht reif.«

Aus einem Haus auf der anderen Straßenseite rief eine Mutter nach ihren Kindern. Im Garten nebenan gurrten Tauben in einer Eiche. Aus einer Nachbarsküche hörte man, wie Beefsteaks rhythmisch geklopft wurden.

»Mama, ich verstehe nicht, warum Dixie bis nach New York gegangen ist, wenn sie dann einen Mann von hier heiratet.«

»Er ist ein sehr netter Mann.«

»Aber ich hätte ihn nicht geheiratet, wenn ich Dixie gewesen wäre. Ich hätte einen New Yorker geheiratet.«

»Warum?«, fragte Millie neugierig.

»Ach, ich weiß nicht.«

»Größere Eroberung, wie?«, spottete Millie.

»Ja, genau.«

In der Ferne kam ein Wagen quietschend zum Stehen.

»War das nicht die Straßenbahn? Da kommt bestimmt dein Vater.«

2

»Und ich sage dir, ich trage ihn nicht, wenn du ihn so machst«, kreischte Alabama und schlug mit der Faust auf die Nähmaschine.

»Aber Liebling, das ist der letzte Schrei.«

»Und wenn es schon blauer Serge sein muss, dann nicht auch noch lang!«

»Wenn du mit Jungen ausgehst, kannst du keine kurzen Kleider mehr tragen.«

»Aber tagsüber gehe ich doch gar nicht mit Jungen aus«, sagte sie. »Tagsüber spiele ich und abends gehe ich aus.«

Alabama stellte den Spiegel schräg und betrachtete prüfend den langen Bahnenrock. In ohnmächtiger Wut begann sie zu weinen. »Den ziehe ich nicht an! Nie – wie soll ich damit rennen oder so was?«

»Ist er nicht reizend, Joan?«

»Wenn Alabama mein Kind wäre, bekäme sie eine geschmiert«, erklärte Joan lakonisch.

»Ja, das kannst du! Und ich würde dir eine zurückschmieren.«

»Als ich so alt war wie du, war ich froh, wenn ich überhaupt was bekommen habe. Meine Kleider waren immer aus Dixies alten Sachen gemacht. Du bist ein ganz verwöhntes Luder«, fuhr ihre Schwester fort.

»Joan! Alabama möchte doch bloß ihren Rock anders haben.«

»Mamis kleiner Engel! Der Rock ist genauso, wie sie ihn vorher haben wollte.«

»Ich konnte doch nicht ahnen, dass er so aussieht.«

»Wenn du mein Kind wärst, wüsste ich was ich täte«, drohte Joan weiter.

Alabama stand im typischen Samstagssonnenschein und strich den Matrosenkragen glatt. Sie fuhr mit den Fingern probeweise in die Brusttasche und starrte pessimistisch auf ihr Spiegelbild.

»Meine Füße sehen aus, als ob sie jemand anderem gehörten«, sagte sie. »Aber vielleicht ist das richtig so.«

»Ich habe noch nie so viel Tamtam um ein Kleid erlebt«, sagte Joan. »Wenn ich Mama wäre, müsstest du dir alles von der Stange kaufen.«

»Was es in den Geschäften gibt, gefällt mir nicht. Und du hast schließlich überall Spitze auf deinen Sachen.«

»Die bezahle ich selbst.«

Austins Tür flog auf.

»Alabama, kannst du bitte aufhören zu streiten! Ich möchte meinen Nachmittagsschlaf halten.«

»Kinder, euer Vater!«, rief Millie bestürzt.

»Ja, Papa, aber Joan fängt immer an«, schrie Alabama.