Himmel zu verschenken - Johannes Schleicher - E-Book

Himmel zu verschenken E-Book

Johannes Schleicher

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Beschreibung

»Irgendwann kam ich mit mystischer Spiritualität in Berührung. Und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Ich muss Gott nicht suchen. Er hat mich längst gefunden, mehr noch: Gott wohnt in meiner Seele, in der Seele aller Menschen Und er kennt mich besser als ich mich selbst. Als mir das bewusst wurde, war das ein Geschenk des Himmels.« Johannes Schleicher 52 Mystikerinnen und Mystikern als Reisebegleiter durch das Jahr! Ob Meister Eckehart, Klara von Assisi, Gerhard Tersteegen oder Dorothee Sölle: Johannes Schleicher stellt in diesem Buch für jede Woche eine spirituelle Persönlichkeit vor. Dabei erzählt er nicht nur Spannendes aus deren Leben, sondern macht auch deutlich, welche Bedeutung ihr Denken und Handeln auch heute noch hat. Sie können Inspiration und Hilfe bei unserem eigenen Tun sein, wenn es beispielsweise darum geht, Frieden zu stiften, Vorurteile abzubauen oder Menschlichkeit und Menschenfreundlichkeit zu leben

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Seitenzahl: 290

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024

ISBN 978-3-7365-0572-8

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024

ISBN 978-3-7365-0630-5

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Finken und Bumiller

www.vier-tuerme-verlag.de

Johannes Schleicher

Himmel zu verschenken

Mit Mystikerinnen und Mystikern durch das Jahr

Vier-Türme-Verlag

Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Woche des Jahres
»Wir möchten es den Menschen ein wenig einfacher machen«
Dorothy Day (1897–1980)
2. Woche des Jahres
»Ich bin nicht hier, um zu bekehren, sondern um zu verstehen«
Charles de Foucauld (1858–1916)
3. Woche des Jahres
»Geht in euren Tag hinaus, ohne vorgefasste Ideen«
Madeleine Delbrêl (1904–1964)
4. Woche des Jahres
»Wenn die äußere Form stärker wird als der Inhalt, dann wird der Inhalt totgedrückt«
Eugen Biser (1918–2014)
5. Woche des Jahres
»Im Menschen ist Gottes Zuhause«
Juliana von Norwich (1342–1416)
6. Woche des Jahres
Meinen eigenen Weg erkennen, gehen und bejahen
Johannes Cassian (ca. 360–ca. 435)
7. Woche des Jahres
»Kann der Mensch sündigen?«
Marguerite Porète (ca.1250–1310)
8. Woche des Jahres
»Meine Seele darf immer Gottes Geliebte heißen!«
Heinrich Seuse (1295–1366)
9. Woche des Jahres
»Wir müssen Gott helfen«
Etty Hillesum (1914–1943)
10. Woche des Jahres
»Alles wirkliche Leben ist Begegnung«
Martin Buber (1878–1965)
11. Woche des Jahres
»Der liebende Gott geht auf den Menschen zu«
Gertrud die Große (1256–1302)
12. Woche des Jahres
»Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung«
Elie Wiesel (1928–2016)
13. Woche des Jahres
»Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!«
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)
14. Woche des Jahres
»Ich empfinde die wahre Gegenwärtigkeit Gottes in meiner Seele«
Margareta Ebner (1291–1351)
15. Woche des Jahres
»Sei ein Türhüter deines Herzens«
Evagrius Ponticus (345–399)
16. Woche des Jahres
Mit den Augen der Seele schauen
Mechthild von Magdeburg (ca. 1207–ca. 1282)
17. Woche des Jahres
»Gott will, dass wir glücklich sind«
Roger Schutz (1915–2005)
18. Woche des Jahres
»Ich habe keinen Grund zur Furcht«
Katharina von Siena (1347–1380)
19. Woche des Jahres
»Wie ein Liebender auf seine Geliebte wartet, so wartet Gott auf den Menschen«
Carlo Carretto (1910–1988)
20. Woche des Jahres
»Ich bin Partnerin aller Kreaturen der Welt«
Hildegard von Bingen (1098–1179)
21. Woche des Jahres
Wie den Armen sagen: »Gott liebt Euch«?
Gustavo Gutiérrez (*1928)
22. Woche des Jahres
Liebe statt Gebete
Margareta Maria Alacoque (1647–1690)
23. Woche des Jahres
»Wir sind Pächter der Zeit«
Thomas Merton (1915–1968)
24. Woche des Jahres
»Die kostbarsten Güter soll man nicht suchen, sondern erwarten«
Simone Weil (1909–1943)
25. Woche des Jahres
»Bin ich nicht jedem fremd, wenn ich mir selbst fremd bin?«
Bernhard von Clairvaux (1090–1153)
26. Woche des Jahres
»Um in den Himmel zu kommen, muss ich nicht perfekt sein«
Thérèse von Lisieux (1873–1897)
27. Woche des Jahres
»Unsere eigenen Gedanken sind unsere schlimmsten Feinde«
Anthony de Mello (1931–1987)
28. Woche des Jahres
»Die längste Reise ist die Reise zu sich selbst«
Dag Hammarskjöld (1905–1961)
29. Woche des Jahres
»Zufrieden sein heißt, mit Gott Gott zu sein«
Hadewijch (13. Jahrhundert)
30. Woche des Jahres
»Geh aus, mein Herz, und suche Freud«
Paul Gerhardt (1607–1676)
31. Woche des Jahres
»Jesus sagt: ›Ich habe Kurzweil mit dir‹«
Christine Ebner (1277–1356)
32. Woche des Jahres
»Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum«
Hélder Câmara (1909–1999)
33. Woche des Jahres
»Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott«
Edith Stein (1891–1942)
34. Woche des Jahres
»Lange, bevor der Mensch Gott sucht, hat Gott ihn schon gefunden«
Johannes vom Kreuz (1542–1591)
35. Woche des Jahres
»Kennst du die Armen deiner Stadt?«
Mutter Teresa (1910–1997)
36. Woche des Jahres
»Seid einander gehorsam«
Niklaus von Flüe (1417–1487) und Dorothee Wyss (ca. 1430–ca. 1495)
37. Woche des Jahres
»Um die Vollkommenheit zu finden, muss man nicht vollkommen sein«
Maria von Ägypten (ca. 344–ca. 430)
38. Woche des Jahres
»Niemand muss sich ängstlich überfordern«
Johannes XXIII. (1881–1963)
39. Woche des Jahres
»Zeige dich, wie du bist, und sei, wie du dich zeigst«
Mary Ward (1585–1645)
40. Woche des Jahres
»Ich bete an die Macht der Liebe«
Gerhard TersteEgen (1697–1769)
41. Woche des Jahres
»Wenn ich etwas gegeben habe, habe ich nicht weniger«
Birgitta von Schweden (1303–1373)
42. Woche des Jahres
»Gott ist da, darum ist alles anders, als wir meinen«
Karl Rahner (1904–1984)
43. Woche des Jahres
»Das Böse in uns rührt von unseren eigenen Gedanken her«
Syncletica von Alexandria (ca. 270–350)
44. Woche des Jahres
»Dankbar zu sein macht uns glücklich«
David Steindl-Rast (*1926)
45. Woche des Jahres
»Verwirre dich nicht, spricht Gott«
Mechthild von Hackeborn (ca. 1241–1299)
46. Woche des Jahres
»Unsere wahre Natur ist Stille«
Thomas Keating (1923–2018)
47. Woche des Jahres
»Gott hat keine anderen Hände als unsere«
Dorothee Sölle (1929–2003)
48. Woche des Jahres
»Geh deinem Gott entgegen bis zu dir selbst«
Johannes Tauler (ca. 1300–1361)
49. Woche des Jahres
»Du bist mein Haus und meine Bleibe«
Teresa von Ávila (1515–1582)
50. Woche des Jahres
»Ich bin wie Gott und Gott wie ich«
Angelus Silesius (1624–1677)
51. Woche des Jahres
»Schau täglich in den Spiegel Gottes«
Klara von Assisi (1193–1253)
52. Woche des Jahres
»Wo meine Seele ist, da ist Gott, und wo Gott ist, da ist auch meine Seele«
Meister Eckhart (1260–1327)
Inhaltsverzeichnis nach Themen
Zum Weiterlesen
Anmerkungen

Vorwort

Geschenkt! Das sagen wir, wenn etwas ganz einfach zu erreichen ist, ohne große Kraftanstrengung. Da musst du gar nicht groß drum bitten: geschenkt! Aber gleich den Himmel?

Manche Menschen, denen ich begegne, denken, dass es für mich als Theologe einfach gewesen sein muss, meine eigene Spiritualität zu finden. Sitze ich doch quasi an der Quelle. Leider war das überhaupt nicht einfach. Jahrelang habe ich gesucht und nicht das gefunden, was mir entspricht. Das lag wohl mit daran, dass ich immer wieder angeleitet wurde, Gott zu suchen – jemanden, den ich nicht kannte und immer noch nicht kenne. Ich kam mir vor wie einer, der im Nebel stochert und nichts findet. Auch das Theologiestudium und die Arbeit im kirchlichen und spirituellen Dienst haben mir nicht wirklich geholfen.

Doch irgendwann kam ich mit der Mystik, mit mystischer Spiritualität in Berührung. Und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Ich muss Gott nicht suchen. Gott hat mich längst gefunden, mehr noch: Gott wohnt ohne mein Zutun in meiner Seele, in der Seele aller Menschen. Und er kennt mich besser als ich mich selbst. Als mir das bewusst wurde, war das ein Geschenk des Himmels.

Es begann ein neuer Lebensabschnitt. Die Mystikerin Dorothy Day (siehe Seite 18) sagt: »Der Weg zum Himmel ist bereits Himmel«. Im ganz normalen Alltag machte ich mir immer wieder bewusst, dass Gott in mir wohnt – und endlich konnte ich das verkrampfte Suchen lassen und stattdessen befreit in der Haltung als Gefundener leben – der geschenkte Himmel! Ein Vers Hilde Domins, der auch ihr Grabspruch ist, hilft mir bis heute dabei: »Ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug.«

Ich möchte Sie gerne mitnehmen auf diesen befreienden Weg. Und da es sich in kundiger Begleitung viel besser reist, möchte ich Ihnen 52 meiner Reisegefährtinnen und -gefährten vorstellen. Für jede Woche des Jahres finden Sie einen Mystiker oder eine Mystikerin, die Sie mitnehmen in ihre Glaubenswelt und Sie gleichzeitig ermutigen möchten, Ihren eigenen, frei gewählten Weg zu gehen. Die Auswahl habe ich danach getroffen, welche Bedeutung die jeweilige Person für unsere Zeit heute hat.

Ich möchte Ihnen zwei Reisewege durch das Buch anbieten:

Das Inhaltsverzeichnis nach Kalenderwochen (finden Sie am Anfang des Buchs): Männer und Frauen wechseln sich ab. Sie können jede Woche das zugehörige Kapitel lesen.Das Inhaltsverzeichnis nach Lebensthemen (finden Sie am Ende des Buchs ab Seite 233): Sie suchen Inspirationen zu einem bestimmten Thema, das Sie gerade besonders beschäftigt? Dann lassen Sie sich überraschen, welche Mystikerin oder welcher Mystiker Sie hierbei begleiten könnte.

Mystische Spiritualität wagen – Sie werden sehen: Es macht Freude. Und nun gute Reise in Ihren persönlichen geschenkten Himmel. Er ist da, Sie müssen ihn sich nicht verdienen. Sie können ihn aber für sich entdecken. Vielleicht teilen Sie mit mir Ihre Erlebnisse? Darüber würde ich mich freuen.

Nürnberg, im Sommer 2024Johannes [email protected]

Bedanken möchte ich mich sehr bei meiner Lektorin Marlene Fritsch. Von ihr stammt die Idee zu diesem Buch und sie hat das Projekt jederzeit freundschaftlich, kritisch und sehr kompetent begleitet. Mein Dank gebührt auch allen Mitarbeitenden des Vier-Türme-Verlags. Besonders dankbar bin ich meiner Partnerin Kristin Schäfer für viele gute Gedanken und ihre Geduld mit mir während des Entstehungsprozesses.

Einleitung

Was macht einen Menschen zu einer Mystikerin, zu einem Mystiker? An welchen zentralen Begriffen, Haltungen oder Ideen kann man sie erkennen? Das Wesentliche an mystischer Spiritualität ist die Überzeugung: Gott wohnt in uns, und so sind wir entlastet von allem Streben danach, unbedingt die beste Version von uns werden zu müssen, perfekt zu sein. Denn vor Gott sind wir heil in aller Gebrochenheit und Unvollkommenheit, die uns ebenfalls ausmacht.

Während sich viele Christinnen und Christen zwar als Jünger Jesu betrachten und versuchen, seinen Lehren zu folgen, haben leider wenige den Mut, den Weg der mystischen Spiritualität zu gehen. Das liegt vielleicht auch daran, dass der Begriff »Mystik« für viele in abschreckender Weise belegt ist: Man assoziiert etwas Nebelhaftes, Geheimnisvolles und Fernes damit, etwas, das nur für sehr wenige Auserwählte zugänglich ist. Für mich bedeutet das Wort »Mystik« einfach Erfahrungswissen über Gott und spirituelle Dinge im Gegensatz zu Buchwissen oder gar Kirchenwissen.

Ein großer Teil der organisierten Religion hat uns, vielleicht ohne es zu wollen, davon abgehalten, den mystischen Weg einzuschlagen, indem sie uns fast ausschließlich dazu auffordert, äußeren Autoritäten – der Heiligen Schrift, verschiedenen Arten von Experten oder der Tradition – zu vertrauen. Tatsächlich wurden die meisten von uns eindringlich davor gewarnt, sich selbst jemals zu vertrauen. Den Katholiken sagte man, sie sollten der Kirchenhierarchie vertrauen, während die Protestanten oft gewarnt wurden, dass innere Erfahrungen gefährlich und unbiblisch seien. Beides schuf spirituell passive Gläubige und, was noch trauriger ist, Menschen, die zu dem Schluss kamen, dass es keinen Gott gibt, den man erleben kann. Uns wurde beigebracht, unserer eigenen Seele zu misstrauen – und damit dem Heiligen Geist!

Mystiker sind also nicht, wie man ihnen immer wieder vorwirft, Schwärmer und Weltflüchtende, sondern im Gegenteil Menschen, die aus der Kraft ihres Glaubens die tiefere Verbundenheit mit allem spüren – den Mitmenschen, den Tieren, der Umwelt, der Mitwelt. Im Wort »Mystik« steckt das Wort »Mysterium«, also »Geheimnis«: Wer sich nicht mit Ungerechtigkeit, Krieg und Oberflächlichkeit zufriedengibt, begegnet dem Leben als einem Geheimnis, ganz im Sinn des großen Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Rahner (siehe Seite 188), der sagt: »Geheimnis bedeutet, wir haben Heimlichkeiten miteinander, haben es ›heimelig‹ miteinander und mit Gott.« Wenn wir beieinander zu Hause sind, leben wir achtsam. Karl Rahner meint zudem: »Bei Gott ist vieles heimlich, aber nichts unheimlich« – das ist für mich wahre Mystik!

Mystikerinnen und Mystiker aller Jahrhunderte haben sich nicht allzu sehr an den verfassten Kirchen, ihren Strukturen und Ordnungen gestoßen und darauf gewartet, dass sich »von oben« etwas tut und verändert. Sie haben stattdessen die Veränderung, die sie sich wünschten, in ihrem Alltag gelebt. Sie flüchteten sich nicht in fromme Floskeln und dogmatische Formeln, sondern haben sich den drängenden Fragen gestellt und sind nötigen Veränderungen nicht ausgewichen. Für sie war Glaube nie ein kirchlich verwaltetes System, eine Dogmensammlung oder moralische Anstalt, sondern ein Beziehungsgeschehen und ein Lebensstil.

1. WOCHE DES JAHRES

»Wir möchten es den Menschen ein wenig einfacher machen«

Dorothy Day (1897–1980)

Gibt es etwas, das sie in ihrem Leben unbedingt tun, bewegen, erreichen wollen? Ich erinnere mich gut, dass meine Eltern immer wieder gesagt haben, dass meine Schwester und ich es einmal besser haben sollten als sie selbst, die der Kriegsgeneration angehörten. Das war ihr sehnlichster Wunsch und der vieler ihrer Zeitgenossen, für den sie hart gearbeitet haben. Im Nachhinein betrachtet, ist er in Erfüllung gegangen. Wir haben es heute deutlich besser, und ich bin ihnen noch immer dankbar, dass sie uns das ermöglicht haben mit all ihrer Kraft.

»Wir möchten die Welt verändern – es den Menschen ein wenig einfacher machen, sich so zu ernähren, zu kleiden und sich zu beschützen, wie Gott es für sie vorgesehen hat. Und indem wir unaufhörlich für die Rechte der Arbeiter, der Armen, der Mittellosen schreien, können wir bis zu einem gewissen Grad die Welt verändern.« Dies sind Worte der US-amerikanischen Journalistin, Sozialistin, Pazifistin und Mystikerin Dorothy Day, die leider in Europa nicht sehr bekannt ist.

Die soziale Ordnung Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte sie als ungerecht und diskriminierend, daher ergriff sie Partei für die Armen und setzte sich vehement für sie ein. Auch sie wollte also dazu beitragen, dass die Menschen ihrer Zeit und die nachfolgenden Generationen es besser haben und einen Weg finden, um aus der Armut auszusteigen. Ihre Vision einer gerechteren Welt hinterfragte sowohl den Industrialismus als auch die Entwicklung, dass immer mehr Menschen in die großen Städte zogen, hier aber oft sozial abstiegen oder verarmten. Sie war jedoch nicht nur politisch, sondern auch religiös radikal und forderte unter anderem die Erneuerung der uralten christlichen Praxis der Gastfreundschaft. Ihrer Ansicht nach sollten alle ein »Christenzimmer« zu Hause einrichten und jede Kirchengemeinde müsste ein »Haus der Gastfreundschaft« sein, um die Armen, die sie »Botschafter Gottes« nannte, zu empfangen – und das, ohne sie zu missionieren. Für mich etwas, an dem sich auch wir heutigen Christen und die Kirchen ein Beispiel nehmen können als Ausdruck echter Mitmenschlichkeit, unabhängig davon, was ein Mensch glaubt, wo er herkommt und wie er aussieht.

Dorothy Day wurde am 8. November 1897 in New York in eine Familie der Mittelschicht hineingeboren. Weil ihr Vater Sportreporter war, zogen die Days mehrmals innerhalb der USA um. Für Dorothys Eltern hatte der Glaube keine praktische Bedeutung in ihrem Leben. Ihre Tochter interessierte sich jedoch schon als Kind und Jugendliche für das Christentum. Sie las viel und war bald durch die Schriften Tolstois und Kropotkins fasziniert von der Idee einer sozial gerechten und egalitären Gesellschaft. 1914 erhielt sie ein Stipendium an der Universität von Illinois. Nach zwei Jahren brach sie das Journalismusstudium jedoch ab, um als Volontärin mehr praktisch journalistisch tätig werden zu können. Inzwischen hatte sie sich dem Kommunismus und Sozialismus zugewandt und betrachtete das Christentum als Heuchelei. Kommunismus und Sozialismus schienen ihr die radikaleren und ehrlicheren Wege, um ihre Vision in die Realität umzusetzen.

Neben ihrer Arbeit für linksgerichtete Zeitschriften und andere Publikationen in New York nahm die überzeugte Pazifistin an zahlreichen Demonstrationen teil. 1917 wurde sie bei einer Kundgebung für das Frauenwahlrecht vor dem Weißen Haus das erste Mal in Haft genommen und verbrachte 15 Tage im Gefängnis, zehn davon in einem Hungerstreik. Schließlich kam sie auf Geheiß des Präsidenten frei.

Eine Bekannte brachte Day dann wieder in Kontakt mit der Katholischen Kirche, zu der sie sich hingezogen fühlte, weil sie sie als Kirche der Armen wahrnahm. Schon bald war ihr Glaube unerschütterlich – und das, obwohl der Mann, mit dem sie vier Jahre eine Lebensgemeinschaft hatte, Ehe und Religion ablehnend gegenüberstand: In einer Welt, in der an vielen Orten solche Grausamkeit herrschte, hielt der Anarchist Forster Batterham es für unmöglich, an Gott zu glauben.

Es bedrückte sie, dass ihr Partner kein Gefühl für die Präsenz Gottes in der Welt hatte. Nach der Geburt ihrer einzigen Tochter Tamar Teresa ließ Day das Kind 1927 katholisch taufen und trennte sich wenig später von Batterham. Im Dezember 1928 wurde sie schließlich selbst Katholikin. Doch nun saß sie sozusagen zwischen allen Stühlen, denn weder konnten ihre kommunistischen Freunde etwas mit ihrem Glauben anfangen, noch unterstützte die Katholische Kirche ihre Ideen für eine möglichst herrschaftsfreie Gesellschaft. Beruflich hielt sie sich daher in der Folgezeit mit einem Job als Drehbuchschreiberin über Wasser. Spirituelle Literatur wurde ihr immer wichtiger. Und so stand sie unter anderen in Kontakt mit dem berühmten spirituellen Autor und Trappisten Thomas Merton (siehe Seite 108).

1932 lernte Dorothy Day Peter Maurin kennen, einen 20 Jahre älteren französischen Immigranten und ehemaligen Ordensmann, der geprägt war vom Armutsideal des Franz von Assisi. Beide gründeten 1933 die »Catholic Worker«-Bewegung, zu der auch eine gleichnamige Zeitung gehörte, die bis heute erscheint. Daraus entstand mit der Zeit ein Netz aus Suppenküchen, Kleiderkammern und Gemeinschaftswohnungen, in denen alternative Wohnmodelle ausprobiert wurden und bis heute gelebt werden.

Was Day zeitlebens den meisten Ärger einbrachte, war ihr Pazifismus. Eine gewaltfreie Lebensführung war für sie tief in den Evangelien verankert. Daher lehnte sie selbst und die Menschen, die in der »Catholic Worker«-Bewegung aktiv waren, den Zweiten Weltkrieg entschieden ab, ebenso den folgenden Kalten Krieg und den Bau von und das Wettrüsten mit Atomwaffen. »Wenn wir uns auf die Atombombe verlassen, dann haben wir keinen Glauben an Gott«, lautete der Text auf einem Flugblatt der »Catholic Worker«-Bewegung.

Im Jahr 1963 war Day eine der fünfzig »Mütter für den Frieden«, die nach Rom gingen, um Papst Johannes XXIII. (siehe Seite 172) für seine Enzyklika »Pacem in Terris« zu danken. 1965 reiste sie erneut nach Rom, als das Zweite Vatikanische Konzil die »Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute« bestätigte. Das Konzil bezeichnete jede Kriegshandlung, die »darauf ausgerichtet ist, wahllos ganze Städte oder weite Gebiete mit ihren Einwohnern zu zerstören«, als »ein Verbrechen gegen Gott und die Menschheit«. Konsequenterweise lehnte Day in den Folgejahren auch den Vietnamkrieg ab. 1973 wurde Dorothy Day mit 75 Jahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, als sie an einem verbotenen Streik zur Unterstützung von Farmarbeitern teilnahm. Sie war bis ins hohe Alter für die »Catholic Worker«-Bewegung aktiv und starb 1980 mit 83 Jahren an einem Herzinfarkt.

Sie bekam zahlreiche Preise für ihr Engagement und erhielt den Nobelpreis wohl nur deshalb nicht, weil sie in ihren Ansichten als zu radikal erschien. »Nennt mich nicht eine Heilige. Ich möchte nicht so einfach abgetan werden«, betonte sie immer wieder, und: »Wenn ich etwas in meinem Leben erreicht habe, dann, weil ich mich nie schämte, über Gott zu sprechen.«

2. WOCHE DES JAHRES

»Ich bin nicht hier, um zu bekehren, sondern um zu verstehen«

Charles de Foucauld (1858–1916)

Manchmal fällt es mir schwer, Verständnis zu haben, zum Beispiel für religiösen Fanatismus, für die Entstehung von Kriegen, für Terroristen, für die Verspätung der Deutschen Bahn. Dabei ist es mir wichtig, zunächst zu verstehen, bevor ich urteile und werte. Verstehen ist für mich nicht gleichbedeutend mit »gut finden«. Ein Beispiel: Wenn ich verstehe, dass sich Menschen auf Straßen festkleben, um ihrer ohnmächtigen Wut über den zu schleppenden Fortgang des Klimaschutzes Ausdruck zu verleihen, heißt das nicht, dass ich diese Art von Protest befürworte. Verstehen heißt für mich dann: Ich kann nachvollziehen, was und warum man etwas tut.

Ein großer Verstehender des 19. Jahrhunderts war Charles de Foucauld. Von ihm kann ich – nicht nur, was Verstehen angeht – viel lernen: In ihm begegne ich einem Menschen, der dem Anruf Gottes in seiner ganz persönlichen Art und Weise antwortete. In seinem Leben lief nicht immer alles glatt, er kannte tiefe Krisen, genauso wie viele heutige Menschen. Das macht diesen Mann für mich so sympathisch und so nah. Aus einem, der dem Luxus durchaus zugetan war und der sich in seiner Jugend fast alles leisten konnte, wird einer, dem die Liebe Gottes in den Gesichtern der Mitmenschen aufleuchtet. Diese Liebe hilft ihm, auf sie zuzugehen und sie zu verstehen. Sein Leben lang lässt er sich hinterfragen und zögert nicht, seinem Weg eine neue Richtung zu geben, wenn es darum geht, den angeblich von Gott Entferntesten nahe zu sein. Als lebendiges Evangelium lebt er diesen vor, dass der Gott der Liebe ihnen mehr als nahe ist.

Ein Gespräch, das Foucauld mit einem evangelischen Gast führte, bringt seine Botschaft auf den Punkt: »Sehen Sie, mein Freund, Sie sind Protestant, ein anderer Herr ist ungläubig, die Tuareg sind Muslime. Und ich bin Mönch. Und ich bin sicher: Gott wird uns alle aufnehmen.« In seinem Lebensstil verwirklichte er bereits viele Prinzipien des interreligiösen Dialogs und ist seiner Zeit damit weit voraus gewesen.

»Allahu Akbar – Gott ist größer als alle Vorstellungen!«, mit diesen Worten ruft der Muezzin alle Muslime fünf Mal am Tag zum Gebet. Charles de Foucauld betete ebenso oft nach monastischer Tradition. In der Ruhe und Weite der Sahara fand der Mystiker, was er suchte: Sein wahres Selbst.

Ein weiterer Aspekt, der ihm in seinem Leben wichtig war: im Gewöhnlichen das Außergewöhnliche zu finden. Wenn beispielsweise Menschen bei einer Klosterbesichtigung erfahren, dass die Kartäuser um ein Uhr morgens aufstehen, um zu beten, so wird dies oft mit Erstaunen und großem Respekt vor ihrer Spiritualität aufgenommen. Wenn hingegen Eltern um ein Uhr aufstehen, weil ihr Kind weint, misst man dem spirituell meist keinen großen Wert bei – zu Unrecht. Und wenn jemand über Jahre den demenzkranken Vater wie selbstverständlich versorgt und pflegt, so ist auch dies eine Form von Gottesdienst! Genau diese Per­spektive will eine von Charles de Foucauld geprägte Spiritualität erschließen: die Augen öffnen für den angeblichen Kleinkram des Alltags, wo Gott mitten unter und in den Menschen wohnt. Seine bleibende Botschaft ist jedoch nicht in seinen Schriften zu finden, sondern in seinem Leben. Er hat keine großen Worte über seine Spiritualität verloren, sondern ein lebendiges Beispiel gegeben. Bis heute wird er daher »Bruder aller Menschen« – frère universel – genannt.

Am 15. September 1858 wurde Charles de Foucauld in Straßburg geboren. Nach dem frühen Tod seiner Eltern (1864) wuchs er bei seinen Großeltern auf. Als Jugendlicher lebte er nach eigenem Zeugnis »wie man eben lebt, wenn der letzte Funke des Glaubens erloschen ist«. Das Erbe seiner Eltern war recht groß, er hatte also keine finanziellen Sorgen und lebte im Wohlstand. Allerdings füllten ihn die Vergnügungen nicht wirklich aus, und er verspürte oft eine innere Leere.

1876 trat er in den Militärdienst ein, von dem er nach sechs Jahren wieder Abschied nahm, weil die militärische Disziplin sich mit seiner Lebensüberzeugung nicht vereinbaren ließ. 1883 ging Charles in Begleitung eines befreundeten Rabbis für ein Jahr auf Erkundungsreise durch Marokko und tarnte sich dabei als Jude namens Joseph Aleman. Unter den marokkanischen Juden und Muslimen fand er aufrichtige Freunde, die ihm sogar das Leben retteten. Zugleich machte er tiefe spirituelle Erfahrungen. Die Menschen dort berührten ihn: ihr einfacher Glaube an Gott, ihre Frömmigkeit und ihre Gastfreundschaft.

Dann ging er zurück nach Paris. Bei einem Gottesdienst hörte er von einem Priester die Aufforderung, zu beichten und damit sein Leben in Gottes Hand zu legen. Er war von dieser Erfahrung tief bewegt, und schließlich brachte das die Wende in seinem Leben. Wie schon zuvor, tat er alles ganz oder gar nicht, und so schloss er sich 1890 dem strengen Orden der Trappisten an und lebte eine Zeitlang im Kloster Akbes in Syrien.

Um Gott und dem historischen Jesus möglichst nahe zu kommen, zog Charles schließlich als Einsiedler nach Nazaret, also in die Stadt, in der Jesus seine Jugend verbracht hatte. Dort kam er zu der Einsicht, dass der Lebensstil, den Jesus gepflegt hatte, überall und zu aller Zeit lebbar sei. Er wollte sein Leben mit den Armen und Elenden, den Ausgestoßenen und Außenseitern teilen, denn in ihnen war für ihn Jesus genauso gegenwärtig wie im Brot der Eucharistie.

Ab 1896 absolvierte Foucauld – dem Rat seiner kirchlichen Vorgesetzten folgend – ein Theologiestudium in Rom. Nach seiner Priesterweihe 1901 ging er ins algerische Béni Abbès. Hier errichtete er eine Einsiedelei in der Erwartung, bald Gefährten zu bekommen. Doch er blieb allein, die Gründung einer solchen Gemeinschaft ließ sich zu seinen Lebzeiten nicht verwirklichen. Durch seine Offenheit und die Sorge für die Armen und Kranken wurde er vielen Einheimischen ein wirklicher Bruder. Die letzten 15 Jahre seines Lebens verbrachte er mit dem Beduinenstamm der Tuareg. Er schloss dieses Volk in sein Herz und lernte von ihnen. »Ich bin nicht hier, um die Tuareg zu bekehren, sondern um sie zu verstehen«, sagte er. Immer deutlicher erkannte Foucauld, dass die Ablehnung, die Christen und Muslime oft gegenüber dem jeweils anderen hegen, auch das Ergebnis zahlloser Vorurteile ist. Er verbrachte Tage und Nächte damit, die Sprache der Tuareg zu studieren, und verfasste ein Wörterbuch, das auch heute noch genutzt wird.

Während des Ersten Weltkriegs wurde er, der sich inzwischen »Kleiner Bruder Karl von Jesus« nannte, bei einem Überfall von Aufständischen am 1. Dezember 1916 ermordet. 1933 ließen sich einige Männer durch sein Vorbild inspirieren und brachen in die Sahara auf, um dort in seinem Sinn ein klösterliches Leben zu führen. Doch es begann der Zweite Weltkrieg und die Gemeinschaft konnte nicht fortbestehen. Erst im Jahr 1947 kam es zu einer Neugründung einer Kongregation, die auf Charles de Foucauld zurückgeht und den Namen trägt: »Kleine Brüder Jesu«. Aus ihr gingen des Weiteren die »Kleinen Brüder vom Evangelium« hervor. Beide arbeiten heute bei aller Eigenständigkeit intensiv zusammen. Am 8. September 1939 wurde zudem der weibliche Zweig der Kongregation gegründet, die »Fraternität der Kleinen Schwestern Jesu«.

3. WOCHE DES JAHRES

»Geht in euren Tag hinaus,ohne vorgefasste Ideen«

Madeleine Delbrêl (1904–1964)

Heute heißt es oft, man müsse mehr im Augenblick leben, weniger planen, mehr sein. Irgendwie möchte man das ja auch: nicht immer schon die Zukunft im Blick haben, statt in der Gegenwart zu leben. Natürlich treffen wir Vereinbarungen für die Zukunft. Das heißt aber auch: Wir leben dann in einer Gegenwart, die wir vor Wochen oder gar Monaten vereinbart haben – also irgendwie ein Stück Vergangenheit. »Arbeitsorganisation« nennt man das. Und sie war auch in meinem Leben nötig, sonst wäre die Fülle der Aufgaben nicht zu bewältigen gewesen. Der Terminkalender war oft mein wichtigstes Buch, denn wenn ich die Bibel verloren hätte, wäre es möglich gewesen, eine neue zu kaufen. Der Taschenkalender war jedoch unersetzlich! Natürlich ging es nicht nur um Tages- beziehungsweise Wochenpläne. Damit verbunden war auch das Gefühl des Gebrauchtwerdens, wichtig und bedeutend zu sein. »Wer innerhalb von drei Wochen einen freien Termin hat, ist unqualifiziert«, heißt es oft mit einem Schmunzeln.

Eine Frau mit einer ganz anderen Lebenshaltung war die Mystikerin Madeleine Delbrêl. Sie hatte die Lebenseinstellung, ohne vorgefasste Ideen, ohne festes Gottesbild, ohne Bescheidwissen über ihn, auf ihn zuzugehen im Wissen, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel. Mehr noch: sich von ihm finden zu lassen in der Armut jedes banalen Lebens.

Für sie kommt das konkrete Leben vor dem Plan davon. Auch deshalb ist Madeleine Delbrêls Spiritualität realitäts- und alltagstauglich. Im Gedränge der U-Bahn oder an der Kasse im Supermarkt – überall begegnete sie Gott im Mitmenschen. Das für ihre Lebenshaltung zentrale Wort »Liebe« hat in ihren Texten und Taten eine ganz handfeste und zupackende Bedeutung und ist nicht ohne Humor und jene Leichtigkeit, die aus tragendem Vertrauen kommt. Ein Beispiel ist ihr berühmter Satz: »Lass unser Leben sein wie ein Tanz in den Armen Deiner Gnade, Gott, in der allumfassenden Musik deiner Liebe.«

Madeleine Delbrêl wurde am 24. Oktober 1904 in der südfranzösischen Kleinstadt Mussidan im Département Dordogne geboren. Da ihr Vater Eisenbahnbeamter war und ihm die Familie an die Orte seiner häufigen Versetzungen folgte, erhielt Madeleine Privatunterricht. Sie wuchs ohne jeden Bezug zur Religion auf und entwickelte schon als Jugendliche künstlerische und intellektuelle Begabungen. In Paris, wohin die Familie 1916 zog, begannen Persönlichkeiten aus dem atheistischen Literaturkreis ihres Vaters auf die hochbegabte junge Frau Einfluss zu nehmen. Schon als 16-Jährige belegte sie an der Sorbonne Vorlesungen in Philosophie und Geschichte und widmete sich künstlerischen Studien in Montparnasse. Sie schrieb Gedichte und erhielt einen bedeutenden französischen Literaturpreis.

Zu dieser Zeit hatte, wie sie im Rückblick schildert, »die Intelligenz den ersten Platz auf meiner Stufenleiter der Werte«. Mit 15 war sie strikt atheistisch und fand die Welt täglich absurder, was sie auch in den Jahren darauf weiter begleitete. Und als 17-Jährige schrieb sie, dass für sie Gott tot sei. Gott war ewig. Jetzt ist der Tod der Einzige, der dauert. Gott war allmächtig. Jetzt wird der Tod mit allem und allen fertig. Madeleine war zur »intellektuellen Atheistin« geworden. Sie stürzte sich in Paris in den Taumel der Goldenen 1920er-Jahre. Sie schrieb: »Ich liebe es, zu tanzen, bis ich nicht mehr weiß, wo ich bin. Ich liebe schnelle Autos und Schmuck und ich liebe Musik, die so laut ist, dass man kein Wort mehr versteht.« Doch sie ist sich bewusst, dass dies alles Dinge sind, die sie auch einfach wieder lassen könnte, ohne dass ihr allzu viel fehlen würde. Mit der Zeit geriet diese Einstellung vor allem durch zwei Erfahrungen ins Wanken: die Begegnung mit christlichen Kommilitoninnen und Kommilitonen und die Liebe zu Jean Maydieu, dem Patensohn eines Freundes ihres Vaters. An ihrem 19. Geburtstag verlobten sich die beiden. Kurz darauf brach Maydieu die Verbindung ab und wurde Dominikanermönch. Madeleine geriet in eine tiefe Lebenskrise.

Das »innere Gebet« von Teresa von Ávila (siehe Seite 217) gab ihr den entscheidenden Anstoß auf dem neuen Weg zu sich selbst. Diese Erfahrung des Betens mündete bei Madeleine Delbrêl ganz unerwartet in die Gewissheit, dass Gott existiert, auf sie zukommt, in ihr wohnt – eine Erfahrung, die sie zeitlebens als überwältigende Umkehr zum Leben empfand.

Vorausgegangen war das Lesen der Evangelien und die Begegnung mit Jesus in den Schriften des Neuen Testaments. Sie hatte entdeckt, dass Jesus mitten in der Welt geblieben war, dass er das Leben der Menschen geteilt und auch seine Jünger auf diesen Weg geschickt hatte. Das hat sie nachhaltig beeindruckt. Sie erkannte für sich, dass ihr Weg in diese Richtung gehen sollte: mitten unter die Menschen und so zugleich ganz bei Gott.

Madeleine Delbrêl überlegte, ob sie in den Orden der Karmelitinnen eintreten sollte. Aber sie entschied sich für die Pflege ihres kranken Vaters und begann im Oktober 1931 das Studium der Sozialarbeit. Im Herbst 1933 verließ sie gemeinsam mit zwei Freundinnen Paris und gründete mit ihnen in der kommunistisch geprägten Arbeitervorstadt Ivry eine kleine christliche Gemeinschaft im Geist des Evangeliums. Ihr Ziel war es, die Gegenwart Gottes im Alltag durch ihr einfaches Dasein zu bezeugen. In der Aktion »Die ausgestreckte Hand«, einer lokalen Initiative zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, schlossen sich 1936 Kommunisten und Christen gegen die Faschisten zusammen. Zu Beginn ihres Engagements in Ivry war Madeleine Delbrêl geschockt über das Desinteresse der Arbeiter an Glaubensfragen. Sie musste ihre Einstellung zu dem, was man in der Geschichte der Kirche bis heute Mission nennt, verändern. Sie sagte einmal: »Nicht wir haben Menschen zu bekehren. Das ist Gottes Sache, aber wir können uns schenken, denn Gott wohnt in uns.«

Madeleine Delbrêl hatte in dieser Zeit Einfluss auf den Aufbau des Priesterseminars in Lisieux, aus dem viele Arbeiterpriester hervorgingen: Männer, die zum Priester geweiht waren und trotzdem als einfache Arbeiter ihren Lebensunterhalt verdienten. Delbrêl war als Frau und Laiin eine der Ersten, die vor Priesteramtskandidaten aus allen Diözesen Frankreichs Vorträge über ihre Erfahrungen im Arbeitermilieu hielt. Als das Experiment der Arbeiterpriester 1954 von Rom untersagt wurde, habe es sie »schier zerrissen«, sagte sie. Ein weiterer großer Erfolg für sie: Sie wurde als eine der wenigen Frauen zur Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils herangezogen.

Zeitlebens litt Madeleine Delbrêl an der Enge, an der Kleinkariertheit von Menschen in der Kirche. Immer wieder sprach sie davon, dass die meisten Christen, die sie kennenlernte, den Glauben an den lebendigen Gott mit christlicher Mentalität, Traditionen, Bräuchen und Einstellungen verwechselten und dies für das Eigentliche hielten. Gott war für sie aber keine feste Größe, sondern als der Lebendige in jeder Zeit neu zu verstehen und zu finden.

Ein wichtiges Thema war für sie die Frage, wie man von Gott reden kann in einer Welt, die Gott kaum oder nicht mehr kennt, in einer Zeit, in der es viele unterschiedliche Lebensentwürfe und Menschen auf der Suche gibt, die jedoch – aus welchen Gründen auch immer – die Angebote der christlichen Kirchen nicht annehmen. Wie kann man von Gott reden, ohne den anderen etwas überzustülpen, ohne bekehren zu wollen? Madeleine Delbrêl war der Überzeugung, dass nur die Person über Gott reden könne, der selbst bewusst ist, dass sie mit dem Geheimnis Gottes in Berührung gekommen ist.

In ihren letzten Lebensjahren reiste Madeleine Delbrêl nach Polen und Afrika. Sie war bewegt vom Elend der Menschen in Madeira, Dakar und Conakry. In dieser Zeit zog sie sich innerlich immer weiter zurück und entfremdete sich mehr und mehr von den Menschen in ihrem Umfeld. Sie wurde einsam, auch weil sie spürte, dass es in ihrem eigenen Inneren eine Begegnung mit Gott, eine Tiefe gab, die sie kaum noch mit anderen teilen konnte. Als Madeleine Delbrêl am 13. Oktober 1964 an einem Schlaganfall überraschend starb, war sie nur noch wenigen bekannt. Heute sind ihre Schriften in viele Sprachen übersetzt.

4. WOCHE DES JAHRES

»Wenn die äußere Form stärker wird als der Inhalt, dann wird der Inhalt totgedrückt«

Eugen Biser (1918–2014)

»Es hat alles gut geklappt.« Diesen Satz hört man sehr oft, sei es bei einer Hochzeit, einem Vorstellungsgespräch oder auch im Urlaub. Meist meinen diejenigen, die das sagen, dass der äußere Ablauf schön war, problemlos, feierlich oder wie auch immer. Und schon ist man im Gespräch über die Zeremonie, das Essen und andere Äußerlichkeiten. Fragt man aber nach dem Inhalt der Feier, wie es gefühlsmäßig gegangen ist, erntet man meist Schweigen. Mich brachte vor Jahren einmal ein Brautpaar zum Lachen, als sie mir erzählten, dass der Herr Pfarrer schön gesprochen habe bei ihrem Fest. Auf meine Frage, was der Inhalt seiner Ansprache gewesen sei, folgte erst Schweigen. Dann: »Das wissen wir nicht mehr.« Ich schließe daraus, dass für viele Zeitgenossen der äußere Ablauf, die Form, sehr wichtig ist, der Inhalt dagegen eher zweitrangig. Das gilt aus meiner Sicht auch für das Leben als Christ, in dem es häufig um Äußerlichkeiten geht, um Rituale oder »richtiges« Beten.

Einer, der schon immer mehr Wert auf die Botschaft legte als auf das Äußere, war der Religionsphilosoph Eugen Biser. Dies hatte uns schon Anfang der 1970er-Jahre mein Religionslehrer Theodor Zeller beizubringen versucht, ein Studienkollege und Freund von Eugen Biser. Aber im Alter von 18 Jahren habe ich nicht verstanden, was er meinte. Erst viel später begann ich, mich mit ihm und seiner Mystik zu beschäftigen: Ausgangspunkt von Bisers Denken und seine Botschaft bis heute ist das Bemühen, auf die Lebenssituation von uns heutigen Menschen einzugehen. Erst so kann die christliche Botschaft Gehör finden und Antwort auf die Sinnfrage geben. Seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg machten Biser zum Pazifisten. »Das Christentum ist eine große dankbare Liebeserklärung Gottes an die Welt«, lautete seine Überzeugung. Frieden müsse deshalb alternativlos gedacht werden, er sei mit ganzer Kraft herbeizuführen. Ein Satz, der gerade heute wieder brandaktuell ist.