Mitmensch Gott - Johannes Schleicher - E-Book

Mitmensch Gott E-Book

Johannes Schleicher

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Beschreibung

"Mystik ist für mich Leben in dem Bewusstsein, dass Gott in den Herzen aller Menschen lebt, und zwar im konkreten Alltag. Es geht also um direkte, gelebte Nachfolge, nicht um Hierarchien oder Glaubensaussagen." Spricht man heute von Kirche und Glaube, stehen dabei häufig die Strukturen der Institution im Vordergrund. Dass der Glaube eigentlich ein Beziehungsgeschehen ist, scheint manchmal nahezu vergessen. Das Christentum ist jedoch ein Lebensstil und keine Dogmensammlung oder moralische Anstalt. Mystische Spiritualität stellt dieses Beziehungsgeschehen wieder in den Vordergrund. Sie hat zum Ziel, Menschen in ihrem Glauben selbstbewusst und mündig zu machen, und spricht ihnen zu, Gott in sich selbst und ihrem Umfeld zu entdecken, ohne dass dazu die Vermittlung durch einen "professionellen Stellvertreter" oder bestimmte vorgegebene Rituale notwendig wären. Um dies deutlich werden zu lassen, benennt und erklärt der Autor Johannes Schleicher zunächst ausgehend von der Bibel einige mystische Grundaussagen. Im zweiten Schritt vertieft er diese am Beispiel einiger wichtiger Mystiker und ihrer zentralen Gedanken. Eine faszinierende Einführung in das Thema Mystik und eine spannende Idee für eine Kirchenerneuerung "von unten".

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Seitenzahl: 213

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Inhalt
Formen statt Formeln — Wie Mystik meine Spiritualität veränderte
Was bedeutet das Wort »Mystik«?
Warum ausgerechnet mystische Spiritualität?
Mystische Spiritualität in der Bibel
Mystische Spuren im Ersten (Alten) Testament
Der Mensch – Abbild Gottes
Der Name Gottes
Jahwe ist für die Menschen da
Jahwe wohnt bei und in den Menschen
Jahwe befreit
Jahwe ist Kraft und Schild
Jahwe ist Licht
Jahwe segnet
Jahwe lebt
Jahwe ist Frieden, Erbarmen und Hoffnung
Mystische Spuren im Zweiten (Neuen) Testament
Jesu »Gebot« der Feindesliebe
Jesu Zusage »Ich bin immer bei euch«
Mystische Spiritualität im Johannesevangelium
Jesus, der daseiend Wiederkommende
Paulus – ein Mystiker?
Gottes Wort ist in uns eingepflanzt
Die Gnade des Herrn Jesus ist mit allen
Menschen mit spiritueller Sprengkraft – Christliche Mystikerinnen und Mystiker
Gott sieht uns in die Augen – wir gefallen ihm
Hildegard von Bingen (1098–1179)
»Gönne dich dir selbst« – Work-Life-Balance
Bernhard von Clairvaux (1090–1153)
»Gott ist uns innerlicher, als wir selbst es uns sind«
Jan van Ruusbroec (1293–1381)
Eine von Liebe durchdrungene Freiheit
Mechthild von Magdeburg und die Beginen (12.–13. Jahrhundert)
»Alles wird gut sein und alle werden gut sein«
Juliana von Norwich (1342–1416)
Engel des Friedens auf Erden
Niklaus von Flüe (1417–1487)UND DOROTHEE WYSS (ca. 1430–ca. 1495)
»Der Fortschritt der Seele besteht im vielen Lieben«
Teresa von Ávila (1515–1582)
»Lange bevor der Mensch Gott sucht, hat Gott den Menschen schon gefunden«
Johannes vom Kreuz (1542–1591)
»Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht einen Augenblick kann leben«
Angelus Silesius (1624–1677)
»Lasst euch von Gott finden in der Armut eines banalen Lebens«
Madeleine Delbrêl (1904–1964)
»Die längste Reise ist die Reise zu sich selbst«
Dag Hammarskjöld (1905 –1961)
»Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein«
Dorothee Sölle (1929–2003)
»... und hast für unsere Zukunft schon gesorgt«
Frère Roger Schutz (1915–2005)
»Ich glaube an Gott, aber für mich ist Gott der Mensch«
Ernesto Cardenal (1925–2020)
»Nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich«
Bruder David Steindl-Rast (*1926)
Zum Schluss
Zum Weiterlesen
Im Netz
Literatur (in Auswahl)
Textnachweis

Johannes Schleicher

Mitmensch Gott

Mystische Spiritualität für heute

Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022

ISBN 978-3-7365-0429-5

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022

ISBN 978-3-7365-0478-3

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: wunderlichundweigand

Covermotiv: LivDeco, shutterstock.com

www.vier-tuerme-verlag.de

Für Dr. Georg Beirer, Kristin Schäfer, Rebekka und Steffen Küderle mit Emily und Mia, Elisabeth und Alfons (†) Humpert mit Sebastian und Jamila, Sarah Biotti, Neve Vergeat und Mitarbeitende der Spezialseelsorge Basel Stadt, Monika Hungerbühler, Michael Bangert, Mitarbeitende von OffLine Basel, Mitglieder des ökumenischen Morgengebets in der Pfarrei Bruder Klaus in Basel, Claudio Ettl in Dankbarkeit

Formen statt Formeln — Wie Mystik meine Spiritualität veränderte

Fast vierzig Jahre lang war ich als Diplomtheologe in verschiedenen Ländern und an verschiedenen Stellen im kirchlichen Dienst tätig. Ich habe vielfältige und sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht, aber eine fand sich (leider) in allen Zusammenhängen wieder: Es ging zuallermeist um Strukturen, nicht um Spiritualität. Das hat mich verwundert und oft auch gestört, denn für mich war und ist Spiritualität die Grundlage aller Strukturen. »Spiritualität« ist allerdings ein heute viel genutzter und daher auch manchmal abgenutzter Begriff.

Ich habe mir verschiedene spirituelle Konzepte und Schulen angeschaut und mich am Ende für die mystische Spiritualität entschieden, denn sie macht – recht verstanden – Menschen selbstbewusst und mündig, da sie uns zusagt, dass Gott in uns allen wohnt und im Alltag erfahrbar ist. Dies zu belegen und auszuführen ist ein Ziel dieses Buches.

Dabei werde ich im ersten Teil vom Ersten und Zweiten Testament ausgehen und hieraus einige exemplarisch mystische Themen benennen und erklären. Im zweiten Teil möchte ich dies mit Blick auf einige für mich wichtige MystikerInnen ausführen und vertiefen.

Warum ausgerechnet mystische Spiritualität?

Vor etwa fünfundzwanzig Jahren habe ich eine Weiterbildung mit Dr. Georg Beirer aus Bischberg gemacht und dabei zum ersten Mal die Mystik entdeckt. In meinem Empfinden war es für mich ein absoluter Glücksfall, diesem Ethiker und Psychotherapeuten begegnet zu sein. Von ihm lernte ich, dass Mystik eine Lebenshaltung ist, keine dogmatische Richtung. Die Mystik hat mich von engen, formelhaft-moralischen Vorstellungen befreit. Denn bis dahin erlebte ich allzu oft in der Kirche und religiösen Kreisen eine Flucht in fromme Floskeln, um sich den drängenden Fragen nicht stellen zu müssen, eine Flucht in dogmatische Formeln, um nötigen Veränderungen auszuweichen, oder eine Flucht in Allerweltsantworten wie »Weil es schon immer so war«, um nicht zugeben zu müssen, dass man die Suche nach neuen Antworten längst aufgegeben hat – wenn man denn überhaupt je auf der Suche danach war. Religion wurde ein Mittel, um vor der eigenen Leere in eine Scheinwelt zu flüchten. Im Lauf der Kirchengeschichte wurde aus dem Glauben ein kirchlich verwaltetes System, und dabei vergaß man, dass der Glaube eigentlich ein Beziehungsgeschehen ist. Das Christentum ist jedoch ein Lebensstil und keine Dogmensammlung oder moralische Anstalt.

Die mystische Spiritualität hat mich herausgefordert, den angelernten Glauben, die Floskeln und Formeln kritisch zu hinterfragen und Formen zu finden, die meinem Leben Sinn geben, vor allem angesichts von Leid und Tod in der Welt. Inzwischen ist die mystische Spiritualität meine Lebenshaltung, mein spiritueller »way of life« geworden, da sie mir einsichtig macht, dass alles miteinander zusammenhängt: die Natur, der Mensch, das All. Mit der evangelischen Theologin Dorothee Sölle und dem Benediktinermönch Bruder David Steindl-Rast bin ich mir sicher, dass wir alle MystikerInnen sind, wenn wir nicht immer auf die großen Wunder warten, sondern zu dem werden, was wir schon längst sind und das sich uns im Selbstwerdungsprozess in der Schöpfung und im fairen Gestalten von Beziehungen aller Art zeigt. So suchte und fand ich die lebensbejahende Dimension des Christentums und anderer Religionen in der Mystik, denn sie ist interreligiös.

Als junger Erwachsener hat mich Frère Roger von Taizé aus den damals engen Grenzen des Glaubens befreit und mich geprägt mit seinen Worten: »Lebe, was du vom Evangelium begriffen hast, und sei es auch noch so wenig, aber lebe es!« Ein zweites Wort von Frère Roger ist mir in ähnlicher Weise wichtig geworden: »Du bist geliebt vor aller Leistung, weil du bist, wie du bist, nicht, weil du etwas leistest.« Damals entdeckte ich zudem die Bibel und insbesondere die Psalmen als Bücher, in denen alle Gefühle betend vertieft werden können, auch und gerade in den Fluch- und Klagepsalmen. Der Gipfel war und ist für mich die heilende und befreiende Botschaft Jesu, sein Umgang mit Außenseitern, seine zärtlichen Gesten, sein radikaler Einsatz für die Menschen, für die Schöpfung. Das hat mich bis heute nicht mehr losgelassen. Seine Botschaft trägt mich im Alltag. Ein Text aus dem Ersten und einer aus dem Zweiten Testament sind dabei für mich lebensprägend geworden: »Liebe will ich, nicht Opfer« (Hosea 6,6) – ergänzt durch die Einsicht der Mystikerin Teresa von Ávila: »Wo die Liebe aufhört, fängt das Opfer an«. Und: »Der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Sabbats willen« (Markus 2,27). Oder wie es der Autokonzern Toyota heute formuliert: »Erst der Mensch, dann die Maschine«. Für mich stehen Strukturen im Dienst der Menschen und nicht umgekehrt. Das hat meine Art des Arbeitens und meinen Umgang mit Menschen nachhaltig geprägt.

In der Auseinandersetzung mit den vielen Facetten der Mystik habe ich mit der Zeit meine eigene Haltung dazu gefunden: Mystik ist für mich Leben in dem Bewusstsein, dass Gott in den Herzen aller Menschen lebt, und zwar im konkreten Alltag. So ist für Gott und den Glauben nichts zu banal, und es braucht erst recht keine Sonderwelt der Religion dafür.

Die Herausforderung, die die Mystik meines Erachtens für uns heute bereithält, ist, dass ich als Mensch möglichst bewusst lebe, denn es geht ja um mich, um jeden Einzelnen als von Gott geliebte Person. Das Verdrängen ist so gesehen für mystisch denkende und fühlende Menschen nicht mehr nötig. Zusammenfassend geht es also um direkte, gelebte Nachfolge, nicht um Hierarchien oder Glaubensaussagen. Das wird in den Biografien und den Texten von MystikerInnen deutlich. Sie haben gelebt, was sie von der Botschaft Jesu verstanden haben und es durch ihr Leben verkündet.

Mystik bedeutet für mich die Möglichkeit, mich nicht allzu sehr an den verfassten Kirchen, ihren Strukturen und Ordnungen zu stoßen und darauf zu warten, dass sich »von oben« etwas tut und verändert, sondern die Veränderung, die ich mir wünsche für diese Welt, einfach im Alltag zu leben. Das hat mich beileibe nicht immer beliebt gemacht – aber im Großen und Ganzen ziemlich glücklich!

Noch ein Wort zur Sprache dieses Buches: Ich habe lange überlegt, es gendergerecht zu formulieren, denn die Gleichberechtigung der Geschlechter ist für mich ein wichtiges und noch lange nicht erreichtes Ziel. Wenn ich aber inklusiv schreibe, muss der / die Lesende sich ständig Gedanken darüber machen, ob die Person, um die es geht, nun männlich oder weiblich oder divers ist. Die eigentliche Sache, um die es im Text geht, rutscht so in die Bedeutungslosigkeit. Das möchte ich nicht. Ich denke, wer im Herzen ein Macho ist, wird unbelehrbar bleiben, daran ändert auch Sprache nichts. Deshalb schreibe ich, »wie mir der Schnabel gewachsen ist«, und meine selbstverständlich immer alle Geschlechter gleichberechtigt mit (siehe unten bei Exodus / 2 Mose 3, der Erzählung vom brennenden Dornbusch).

Ich bedanke mich sehr bei meiner Lektorin Marlene Fritsch für freundschaftliche, kompetente und kritische Begleitung, die sowohl das Buch als auch mich persönlich sehr bereichert hat, und Dr. Matthias E. Gahr vom Vier-Türme-Verlag, der sich ebenfalls sehr für das Projekt eingesetzt hat. Ohne sie wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Dankbar bin ich auch meiner Partnerin Kristin Schäfer für den Titel und die viele Geduld während des Entstehungsprozesses.

Last not least sei auch Ihnen, den Leserinnen und Lesern, gedankt. Wenn Sie ganz persönlich wieder oder neu Zugang zu mystischer Spiritualität finden, dann hat sich unser aller Arbeit mehr als gelohnt.

Nürnberg, im Frühjahr 2022Johannes Schleicher

Mystische Spiritualität in der Bibel

Ist die Bibel ein mystisches Buch? So pauschal gefragt, lautet meine Antwort zuerst einmal: Nein. Denn die Bibel ist nicht ein Buch, es sind viele Bücher, genauer gesagt, im Ersten Testament 39 und im Zweiten Testament 27. Hinzu kommt, dass es sich meistens nicht um einheitliche Werke handelt, sondern darin verschiedene Erzähl- und Überlieferungsstränge einen Platz haben. Mystische Elemente lassen sich in der Bibel aber in jedem Fall finden, sagt doch sogar das Zweite Vatikanische Konzil: »In der Heiligen Schrift kommt ja der Vater ... seinen Kindern in Liebe entgegen und nimmt mit ihnen das Gespräch auf«. Im Gottesdienst wird die Bibel sogar als »Wort des lebendigen Gottes« verkündet. Und immerhin ist sie für den ganzen christlichen Glauben und für alle christlichen Kirchen die norma normans non normata, also die Norm, die alle anderen Normen bestimmt und an der alle anderen Normen in der Kirche gemessen werden. In den biblischen Büchern gibt es fraglos viele Stellen (Perikopen), die man einer mystischen Spiritualität zuordnen kann, mehr noch, die vielleicht sogar die Fundamente jeglicher mystischen Spiritualität sind und später von berühmten MystikerInnen rezipiert und ausgelegt wurden. Auf diese Bibelstellen möchte ich mich im Folgenden – nach Themen geordnet – stützen und versuchen, sie für eine alltagstaugliche Spiritualität fruchtbar zu machen.

Ein Tipp zum Weiterlesen: Sie haben es leichter, wenn Sie für die nächsten Abschnitte eine Bibel neben sich legen, dann können Sie die genannten Stellen aufschlagen und mitlesen. Oder Sie öffnen im Internet die Seite www.bibleserver.com, dann haben Sie direkt Zugriff auf viele verschiedene Bibelübersetzungen.

Mystische Spuren im Ersten (Alten) Testament

Bevor ich mich dem eigentlichen Thema zuwende, scheint es mir notwendig, einer schlimmen, offenbar unausrottbaren »Falschmeldung« entgegenzutreten, nämlich, dass Gott im Ersten Testament als ein strafender, ja rächender Gott und im Zweiten Testament als ein liebender, ja lieber Gott erscheint. Diese Mär hält sich leider so hartnäckig wie das Unkraut in unserem Garten und taucht immer wieder auf, vor allem, wenn man meint, es sei endgültig ausgerottet. Mir ist gerade im Hinblick auf mystische Spiritualität wichtig festzustellen, dass der Gott Jesu – und das ist der Gott des Ersten Testaments! – nicht ein brutaler Tyrann, sondern ein Gott der Barmherzigkeit ist. Das hebräische Wort für Barmherzigkeit, rachamim, bedeutet wörtlich übersetzt »Mutterschoß« und weist damit auf die weibliche, die mütterliche Seite Gottes hin. Der gerechte Gott des Ersten Testaments ist keiner, der zugrunde-, sondern aufrichtet. Umgekehrt hat Gott im Neuen Testament an manchen Stellen durchaus bedrohliche Züge und lässt als Mahnworte erkennen, dass sein Erbarmen und seine Liebe an Grenzen stoßen könnten. Auch hier ist Gott also kein harmloser »Kuschelgott«, der mit seinem Rauschebart im Himmel thront und beständig sagt: »Ist ja gut, ich liebe euch alle.« Mir geht es darum, dass wir vom Gott beider Testamente (es ist ein und derselbe) mit respektvollem Vertrauen sprechen, dass wir die Spannung zwischen dem Gott, der kompromisslos das Böse bekämpft und für die Benachteiligten eintritt, und dem Gott, der in seiner Gnade alle liebt, aushalten und aus ihr unseren Glauben kreativ und vertrauensvoll gestalten. Das beginnt schon bei der Erschaffung des Menschen, beim Menschenbild.

Der Mensch – Abbild Gottes

Viele Menschen werfen heute der Bibel vor, sie ginge grundsätzlich von keinem positiven Menschenbild aus und betone stattdessen ständig dessen Sündhaftigkeit und mache ihn dadurch klein. Wer demgegenüber die erste Schöpfungserzählung in der Bibel liest, wird sofort etwas anderes erfahren: Gleich zu Beginn wird uns zugesagt, dass der Mensch von Gott als sein Bild, sein Abbild, sein Ebenbild, erschaffen wurde (Genesis / 1 Mose 1,26f). Diese Verse sind höchstwahrscheinlich in einer der größten Krisen des Volkes Israel entstanden: dem sogenannten Babylonischen Exil (ca. 587–539 vor Christus). Tausende Menschen hatte man nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem nach Babylon verschleppt oder gleich umgebracht. In dieser trostlosen Situation sagt das Buch Genesis den Menschen eine einmalige Würde zu, nämlich ein »Abbild Gottes« zu sein, und zwar als Frau und als Mann – heute ist zu ergänzen: allen Geschlechtsidentifikationen, die zwischen diesen beiden Polen liegen. Kann der Mensch mehr sein als Gottes Abbild? Noch etwas ist bemerkenswert: Diese Würde der Gottebenbildlichkeit haben alle Menschen. Niemand ist weniger »Bild Gottes« als ein anderer. Kann man dann aus christlicher Sicht sagen, dass auch Angehörige anderer Kulturen und Religionen Abbild Gottes sind? Selbstverständlich ja, und zwar ohne sie zu vereinnahmen.

Immer wieder ist heute die Rede von der Krise des Glaubens, der Kirchen, ja der ganzen Welt. Und oft wird als Ursache auf die Sündhaftigkeit, die Schlechtigkeit der Menschen hingewiesen, dass wir uns »vom Weg Gottes entfernt haben«, dass wir »Gott vergessen haben« und so weiter. Solche Rede ist – wenn ich Genesis 1 zugrunde lege – biblisch nicht begründet, denn Gott hat seine Zusage, dass jeder Mensch sein Ebenbild ist, nie zurückgenommen. Das macht mir gerade in Krisenzeiten Mut, mich darauf zu besinnen. Und aus diesem Mut kann ich mich daranmachen, positiv meinen Alltag zu bestehen, in Solidarität mit allen Menschen guten Willens. Dieses Abbild-Gottes-Sein des Menschen ist gleichsam eine Voraussetzung der mystischen Spiritualität, hebt es ihn doch auf Augenhöhe zu seinem Schöpfer.

Der Name Gottes

Diese unverbrüchlich positive Sicht des Menschen wird verstärkt durch den Namen, den Gott dem Mose offenbart. Ich wurde schon oft erstaunt gefragt, ob Gott denn überhaupt einen Namen habe und wenn ja, warum. Diesbezüglich gibt das zweite Buch der Bibel in einer wunderbaren Geschichte Auskunft (Exodus / 2 Mose 3,1–6.13–15): die Erzählung vom brennenden Dornbusch.

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Da kommt jemand in einer Situation seines Lebens, die sich anfühlt wie ein Gang durch die Wüste, an einen ihm fremden Ort und sieht auch noch dazu ein ihm fremdes Naturphänomen. Natürlich interessiert es ihn, was das wohl ist und was er jetzt tun soll. Eine seltsame Stimme spricht zu ihm, er solle die Schuhe ausziehen, denn der Boden sei heilig. Wer sich so etwas denken kann, der mag Mose am Sinai verstehen, als er zu einem Busch kam, der brannte und doch nicht verbrannte. »Zieh deine Schuhe aus, denn der Ort ist heilig«, hört er und gehorcht aufs Wort. Vielleicht hat sich Mose damals überlegt, wer oder was das sein könne, das brennt und doch nicht verbrennt. Für mich heute – tausende Jahre später – gibt es eigentlich nur ein einziges, das brennen und nicht verbrennen kann: wirkliche Liebe! Ob Mose das auch so geahnt hat?

Aber die Geschichte geht noch unerklärlicher weiter: Natürlich will Mose wissen, wer da aus dem Dornbusch zu ihm spricht, und fragt nach seinem Namen. Da passiert es: Die Antwort lautet (so hat man es mir viele Jahre lang erzählt und so habe ich diese Stelle verstanden): »Ich bin, der ich bin!« Leider ist es auch so in der Einheitsübersetzung der Bibel 2016 wiedergegeben. Ganz schön schroff, der Antwortende – und von Liebe keine Spur. Eher arrogant, anmaßend, herrisch: »Ich bin, der ich bin, basta, aus, fertig!« Mir tat Mose leid, wurde er doch von seinem Gott mit diesem Satz buchstäblich abgespeist. Und ich fühlte mich genauso abgespeist mit diesem Satz. Für mich war Gott zwar souverän, groß und majestätisch, aber eben auch herrisch und unnahbar. »Transzendent« habe ich es genannt und war damals einigermaßen zufrieden. Einigermaßen.

Bis ich dann am Anfang des Theologiestudiums eine Vorlesung über das Alte Testament hörte, in der es um den Namen Gottes ging. So erfuhr ich, dass die Antwort Gottes auf Hebräisch lautet: »Eijä ascher eijä«, wörtlich übersetzt: »Ich bin der ›Ich bin für euch da‹« (= Jahwe). Mir fiel es wie Schuppen von den Augen und ich bin meinem hochverehrten Lehrer Professor Alfons Deissler heute noch dankbar, dass er uns Theologiestudierenden den Gottesnamen so erklärt hat. Ich begann Mose zu verstehen, dass er und das ganze Volk Israel nachfolgend auf diesen »Ich bin für euch da« gesetzt und ihm vertraut haben.

Das veränderte auch mein Gottesbild. Ich begann, einige Kirchenlieder besser zu verstehen, wie zum Beispiel: »Gott ist gegenwärtig« des Mystikers Gerhard Tersteegen. Der Dualismus zwischen der Zeit, dem Leid, dem Tod, der Freude hier auf Erden und dem transzendenten Gott dort im Himmel war aufgehoben. Gott ist hier auf der Erde unter uns Menschen, er begibt sich mitten in unsere Erlebniswelt hinein. Wir können die Welt bei aller Gefährdung und bei allem Elend als befreiende Gegenwart Gottes erfahren. Jeden Tag.

»Ich bin der ›Ich bin für euch da‹« – jedes einzelne Wort hat für mich eine meist neue Bedeutung bekommen:

»Ich«: Gott ist personal, kann »Ich« sagen, ist selbstbewusst, spricht von sich selbst, gebraucht nicht das heute so allgegenwärtige »man«. Das macht ihn mir nahe, nahbar, und gibt mir Mut, auch von mir als »Ich« zu sprechen. Die Vorstellung von Gott als Person kam in unserer abendländischen Kultur erst durch das Judentum und Christentum auf. Für die griechische Philosophie (zum Beispiel Aristoteles) war Gott ein Prinzip, aber keine Person.

»bin«: Es mag auf den ersten Blick banal klingen, aber Gott ist, er existiert, er begegnet als persönliches Gegenüber und – wie wir noch sehen werden – als noch viel mehr. Er ist ein Gott der Gegenwart, ein Gott im Hier und Jetzt, nicht nur der Vergangenheit. Er war nicht nur damals bei seinem Volk, sondern ist genauso bei uns heutigen Menschen. Wenn man sich Gott als Person vorgestellt, die sich um die Menschheit als globale Familie sorgt, gleichwohl aber nicht wie menschliche Väter und Mütter erfahren werden kann, dann kann man sich sehr wohl fragen, ob es ein solches göttliches Wesen wirklich gibt oder ob es ein reines Denkkonstrukt ist. In zahllosen Gottesbeweisen haben Philosophen und Theologen Argumente für die Existenz Gottes zusammengetragen. Für mystische Spiritualität stellt sich die Frage nicht beziehungsweise anders, denn sie geht davon aus, dass Gott erfahren werden kann.

»der«: Hier kommt die Sprache an ihre Grenzen. Wenn ich von Gott als »der« rede und schreibe, lege ich ihn nicht einseitig auf das männliche Geschlecht fest – was leider jahrhundertelang geschehen ist und bis heute noch geschieht. Auch hier bin ich Alfons Deissler mit vielen anderen sehr dankbar, der uns schon 1977 gelehrt hat: Gott ist übergeschlechtlich, wir können über ihn in weiblichen und männlichen Bildern reden. Von ihm angeregt habe ich 1981 meine Diplomarbeit über »Mütterliche Züge im alttestamentlichen Gottesbild« geschrieben, zu einer Zeit, als die feministische Theologie noch in den Kinderschuhen steckte. Wenn ich also von Gott hier als »der« spreche, meine ich selbstverständlich die weibliche Seite mit, ohne sie im Geringsten abzuwerten.

»für«: Dieses Wörtchen ist mir sehr wichtig, sagt es doch aus, dass Gott nicht selig in sich selbst oben im Himmel ruht, sondern ein Gott für Welt und Mensch ist. Wir sind ihm nicht egal. Wir sind auch nicht auf Erden, um Gott nur zu loben und zu preisen, also für ihn da zu sein, im Gegenteil: Gott ist zuerst für uns da. Dank, Lob, aber auch Klage, ja Fluch können dann in einem zweiten Schritt unsere menschliche Antwort sein. Die erste Bewegung geht also von Gott zum Menschen, erst die zweite dann vom Menschen zu Gott.

»euch«: Darin steckt, dass wir mit Gott von Du zu Du sprechen. Nicht die hocherhabene Majestät liegt im Namen Gottes, sondern das vertraute und vertrauliche Du, hier im Plural: euch. Niemand hat folglich einen individualistischen »Nur-Ich-Anspruch« auf Gott, seine Zuwendung gilt allen Menschen, der ganzen Schöpfung.

»da«: Als ob Gott es noch einmal wiederholen wollte – er ist nicht nur bei sich selbst, sondern ganz einfach da. Hier. Heute. Immer. Gott ist da – das steckt wie gesehen schon in seinem Namen. Von Bedingungen ist hier nicht die Rede. Gott ist kein »Wenn-Gott«, er heißt nicht: »Ich bin für euch da, wenn ... ihr glaubt, ihr betet, ihr in die Kirche geht, ihr katholisch seid.« Nein, Gott ist bedingungslos da für uns, die Menschen, die Schöpfung.