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Unzählige Legenden ranken sich um das "letzte große Geheimnis" der Wissenschaft, unser Gehirn. Mal ist es die perfekte Rechenmaschine, dann nutzt es nur zehn Prozent seiner Kapazität, mal kann es trainiert werden wie ein Muskel oder ist je nach Bedarf empathisch oder egoistisch. Gleichzeitig haben Hirnforscher heute zu allem etwas zu sagen – von der Pädagogik und Psychologie bis zur Ernährung –, und zwar nicht selten Unsinn. Unterhaltsam und verständlich erklärt Henning Beck, Neurobiologe und deutscher Meister im Science Slam, warum nichts dran ist an den Mythen über Hirnjogging und Brainfood –, und zeigt uns, welch faszinierenden Rätseln die Hirnforschung wirklich auf der Spur ist. Ein provokantes, ein augenöffnendes Buch.
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Seitenzahl: 292
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Henning Beck
Hirnrissig
Die 20,5 größten Neuromythen – und wie unser Gehirn wirklich tickt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
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© 2014 Carl Hanser Verlag München
Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de
Herstellung: Thomas Gerhardy
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
unter Verwendung einer Fotografie von © Sabine Lohmüller
Illustrationen: © Angela Kirschbaum
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
ISBN 978-3-446-44038-8
E-Book-ISBN 978-3-446-44066-1
Inhalt
Einleitung: Ein Grußwort ans Gehirn
Mythos n° 1
Hirnforscher können Gedanken lesen
Mythos n° 2
Wird es primitiv, denken wir mit dem Reptiliengehirn
Mythos n° 3
Das Gehirn besteht aus Modulen
Mythos n° 4
Links die Logik, rechts die Kunst: Unsere Gehirnhälften denken unterschiedlich
Mythos n° 5
Je größer ein Gehirn, desto besser
Mythos n° 6
Hirnzellen gehen durch Vollrausch und Kopfbälle unwiederbringlich verloren
Mythos n° 7
Weibliche und männliche Gehirne denken verschieden
Mythos n° 8
Wir nutzen nur 10 Prozent unseres Gehirns
Mythos n° 9
Hirnjogging macht schlau
Mythos n° 10
Wir lernen in Lerntypen
Mythos n° 11
Die kleinen grauen Zellen machen die ganze Arbeit
Mythos n° 12
Endorphine machen high
Mythos n° 13
Im Schlaf macht das Gehirn mal Pause
Mythos n° 14
Mit Brainfood essen wir uns schlau
Mythos n° 15
Das Gehirn rechnet wie ein perfekter Computer
Mythos n° 15,5
Der Speicherplatz im Hirn ist praktisch unbegrenzt
Mythos n° 16
Wir können Multitasking
Mythos n° 17
Spiegelneuronen erklären unser Sozialverhalten
Mythos n° 18
Intelligenz ist angeboren
Mythos n° 19
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr
Mythos n° 20
Die Hirnforschung wird den menschlichen Geist erklären
Ein Selbstverteidigungskurs gegen Neuromythen
Quellenverzeichnis
Einleitung: Ein Grußwort ans Gehirn
Liebes Gehirn,
dieses Buch ist für dich. Denn du tust mir leid.
Was bist du doch für ein wundervolles Organ: Seltsam geformt und ein bisschen glitschig thronst du über den Dingen – und sagst unserem Körper, was zu tun ist. Seit wir denken können, kreisen unsere Gedanken um dich. Wir wissen, wie wichtig du für uns bist. Du erschaffst Ideengebäude, entwirfst die schönsten Bilder und Texte, komponierst und fantasierst.
Und dann das: Als wüssten wir es nicht besser, erzählen wir Unwahrheiten über dich, allerlei Märchen und Legenden. So kannst du mit Fug und Recht behaupten, das mit Abstand sagenumwobenste Organ von allen zu sein. Um keines ranken sich so viele Mythen und Gerüchte.
Du reizt uns einfach zum Spekulieren. Warum? Weil du über unser gesamtes Leben bestimmst: vom Heißhunger auf Vanillepudding bis zum Liebeskummer, vom Lesen der Sonntagszeitung bis zum Kick in der Achterbahn, für alles bist du verantwortlich. In dir wurzeln Empathie und die Fähigkeit zur Kooperation, du machst uns zu Kommunikationswundern, die gleichzeitig chatten, telefonieren und E-Mails schreiben – und zu kreativen Genies, die die dafür nötigen Smartphones erfinden. An dieser Stelle möchte ich daher einmal Danke sagen. Zu selten wird gewürdigt, was und wie du das alles für uns hinbekommst.
Doch gerade weil wir nicht so richtig verstehen, wie du funktionierst, erdreisten wir uns zu glauben, wir seien kurz davor, deine letzten Geheimnisse zu entschlüsseln – schließlich sind wir dir zuletzt mit diversen Apparaten auf den Leib gerückt und behaupten frech, dass wir dir beim Denken zuschauen und deine Gedanken lesen können. Und wir finden eingängige Vergleiche, mit denen wir deine Funktionsweise erklären. Denn was sollst du nicht alles sein!
Die perfekte Rechenmaschine, aufgebaut aus einem ganzen Arsenal an Modulen und Zentren. Geteilt in eine kreative rechte und eine logische linke Hirnhälfte. Bestehend aus Milliarden von kleinen grauen Zellen, die die ganze Arbeit machen. Praktisch unbegrenzt in deiner Speicherkapazität (dabei arbeitest du, angeblich, gerade mal mit 10 Prozent deiner Maximalleistung). Ein Muskel, den wir mit gesunder Ernährung und Hirnjogging leistungsfähiger machen können.
Du weißt es am besten, was von diesen Gerüchten stimmt: das Wenigste.
Wir erzählen Sachen über dich, die nicht der Wahrheit entsprechen. Und das fällt uns noch nicht mal schwer, denn je weniger wir über dich wissen, desto leichter können wir etwas ungestraft behaupten. Soll doch erst mal jemand beweisen, dass du mehr als 10 Prozent deiner Leistungsfähigkeit ausnutzt, oder dass nicht nur die rechte, sondern auch die linke Hirnhälfte kreativ ist, das geht gar nicht so leicht.
Das ist alles sehr schade, denn du bist deutlich spannender und interessanter als jede Legende über dich. Du hast diese ganzen Halbwahrheiten und Gerüchte nicht verdient, denn erstens gebietet es schon der Respekt vor dir, dich nicht mit allerlei Neuromythen zu überschütten. Und zweitens haben wir auch schon eine ganze Menge gesichertes Wissen über dich. Genug eigentlich, um es nicht nötig zu haben, irgendeinen Quatsch zu erzählen. Von wegen Brainfood, Multitasking und Glückshormone – euch geht’s gleich an den Kragen!
Alles muss heute „Neuro“ sein (sogar mein Buchtitel). Und es genügt uns nicht, zu erklären, wie du mit ein paar Hirnzellen ein kleines Netzwerk aufbaust oder wie du deine Impulse hin und her schickst (was wirklich faszinierend ist), denn wir wollen ans Eingemachte: deine Gedanken lesen, alle Krankheiten heilen, den „neuronalen Code“ knacken, wissen, wie aus Nervenimpulsen Bewusstsein entsteht und wie wir es verändern können.
Deswegen bauen wir superteure Maschinen, die dir „beim Denken zuschauen“ sollen. Und weil wir so stolz sind auf die Erkenntnisse der modernen und coolen Hirnforschung, schießen wir gleich mal deutlich über das Ziel hinaus, erklären alles, wirklich alles, mit ihrer Hilfe und nennen es dann Neuroethik, Neurokommunikation, Neuroökonomie oder sonstwie. Da geraten harte Fakten und populäre Übertreibung gerne durcheinander. Wir sind einfach so beeindruckt von unseren kleinen Fortschritten, dass wir die reißerischsten Schlagzeilen verwenden, um auch banale Forschungsergebnisse als „Durchbruch zum Verständnis unseres Bewusstseins“ zu feiern. Die verkaufen sich ja auch viel besser.
Ich gestehe: Auch ich bin Hirnforscher geworden, weil ich dich so wahnsinnig spannend finde. Auch ich dachte mir, dass du die Antwort auf die elementaren Fragen der Menschheit bereithältst. Wenn man herausfindet, wie du funktionierst, sollte man bitteschön auch irgendwann verstehen können, wie die Menschen generell denken und warum sie das tun. Glücklicherweise habe ich bald erkannt, dass es nicht ganz so einfach ist – und dass du zwar komplexer, aber auch noch viel faszinierender bist als alle Gerüchte über dich.
Hirnforschung ist nämlich ein mühsames Geschäft. Neue Erkenntnisse muss man sich oft langwierig erarbeiten, und Erklärungsmodelle für dein Tun sind manchmal ziemlich kompliziert. Genau hier beginnt das Problem, denn heute muss alles schnell und einfach gehen. Aus einem deiner vielen Nervenzell-Netzwerke, das an der Verarbeitung von positiven Emotionen beteiligt ist, machen wir kurzerhand ein „Glückszentrum“. Und weil wir nicht so genau wissen, was alles passieren muss, damit du einen Gedanken entwickelst, behaupten wir rasch, dass du funktionierst wie ein Computer mit Festplatte, Arbeitsspeicher und Prozessor – weil wir so was aus unserer eigenen Welt kennen.
Nun habe ich dich, liebes Gehirn, durchaus studiert, untersucht und erforscht, weil ich dich besonders mag. Ich fühle mit dir, wenn man Un- oder Halbwahrheiten über dich verbreitet. Damit soll nun Schluss sein. Ich will an dieser Stelle also zwar ebenfalls auf den „Neurozug“ aufspringen – aber nicht, um mithilfe der Hirnforschung neue Legenden zu verkünden. Können andere gerne machen. Ich finde vielmehr, dass erst mal aufgeräumt werden muss, und sage den populärsten Gerüchten und Mythen über dich den Kampf an. Natürlich mithilfe der Neurowissenschaften, denn an vielen Stellen liefert sie doch ganz hilfreiche Erkenntnisse.
Um dir einen Gefallen zu tun, fange ich im Kleinen an: Ich knüpfe mir eine Hirnlegende nach der anderen vor und zeige, was davon stimmt und was nicht. Manche Gerüchte sind einfach nur grottenfalsch und dreist gelogen, andere bewegen sich mit viel gutem Willen sogar schon ein Stück in Richtung Wahrheit. Denn oftmals steckt in einem Märchen ja ein wahrer Kern, der dann allerdings übertrieben ausgeschmückt wird (das kennst du ja selbst: Wie oft hast du dir schon einen Riesenspaß daraus gemacht, unsere Erinnerungen aufzuhübschen, zu verfremden und sie besser zu machen, als es tatsächlich gewesen ist?).
Das Tolle ist: Man muss nicht selbst kompliziert und unverständlich werden, wenn man erklären will, wie komplex du bist. Klar, Hirnforschung ist nichts für Anfänger. Trotzdem hilft es, wenn man komplizierte Vorgänge so erklärt, dass sie jeder versteht. Bringt ja nichts, wenn ich hier wissenschaftliche Abhandlungen aneinanderreihe. Denn ich möchte die Mythen über dich mit ihren eigenen Waffen schlagen: plakativ, provokant, eingängig – aber wissenschaftlich korrekt. Das, liebes Gehirn, bin ich dir einfach schuldig.
Und jetzt schnallt euch an, ihr Neuromythen, die Hirnforschung schlägt zurück.
Mythos n° 1
Hirnforscher können Gedanken lesen
Aufgepasst, verehrte Leserin, lieber Leser! Mein Name ist Henning Beck und ich kann Ihre Gedanken lesen! Schließlich bin ich Hirnforscher. Und die verfügen bekanntermaßen über ultramoderne technische Verfahren, die Ihr Gehirn beobachten, während es gerade denkt: Wir schieben Menschen einfach in einen „Hirnscanner“ (z. B. eine Kernspin-Röhre), und schon können wir auslesen, was im Gehirn so los ist.
Wenn ich mich auf diese unbescheidene Weise vorstelle, ist mir Ihre Aufmerksamkeit gewiss. Doch allzu überrascht werden Sie wohl auch nicht sein. Schließlich prangt die Aussage, die Wissenschaft könne Gedanken lesen, regelmäßig auf Zeitschriftencovern. Das PM-Magazin titelte etwa Anfang 2013:1 „Ich weiß was du denkst – Die Kunst des Gedankenlesens hat sich vom Zirkusspektakel zum Topthema der Hirnforschung entwickelt“. Das Handelsblatt bediente schon 2011 Zukunftsvisionen: „Gehirnscan – Fortschritte beim Gedankenlesen“.2
Die Faszination, unsere Gedanken lesen zu können, ist riesig, einer der ältesten Menschheitsträume. Wer würde nicht gerne wissen, was sein Gegenüber beim Frühstücken denkt, wenn es sich sein Brötchen mit Marmelade bestreicht?
Damit man Gedanken lesen kann, braucht man zwei Dinge: ein Gehirn, das denkt, und etwas, das seine Gedanken „liest“. Zumindest an denkenden Gehirnen herrscht schon mal kein Mangel. Denn (das wird vielleicht manchen überraschen): Gehirne denken immer. Ohne Pause. So wirr uns zum Beispiel Boris Beckers Tweets manchmal erscheinen, auch sein Gehirn ist immer aktiv. Vielleicht nicht immer im sinnstiftendsten Sinn. Aber Nervenzellen sind ständig bei der Arbeit, sie tauschen permanent Impulse untereinander aus. Tatsächlich ist Denken, also die Aktivität des Gehirns, notwendige Bedingung für unser Leben. Wir haben die Wahl: denken – oder hirntot sein.
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