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Jeder Fünfte ist hochsensibel und sieht, hört und fühlt intensiver als seine Mitmenschen. Doch gerade in Liebe und Partnerschaft spielen Empfindungen und Wahrnehmungen eine große Rolle und viele Beziehungsprobleme haben ihren Ursprung in den verschiedenen Temperamenten der Partner. In ihrem zweiten Band zum Thema Hochsensibilität erläutert Elaine N. Aron wichtige Fragen: Welche Gefühle werden ausgelöst, wenn sich Hochsensible verlieben? Wodurch kann Stress reduziert werden? Wie können beide Partner voneinander profitieren - egal, ob einer oder beide hochsensibel sind.
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Seitenzahl: 517
Elaine N. Aron
Wie Ihre Empfindsamkeit die Partnerschaftbereichern kann
Aus dem Amerikanischen übersetztvon Ulrike Laszlo und Sabine Schilasky
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Für Fragen und Anregungen:
8. Auflage 2019
© 2006 by mvg Verlag, ein Imprint der FinanzBuch Verlag GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die englische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel The Highly Sensitive Person – How Relationships Can Thrive When the World Overwhelmes You.
© 2000 by Elaine N. Aron. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Ulrike Laszlo und Sabine Schilasky
Redaktion: Pia Gelpke
Umschlaggestaltung: Atelier Seidel, Teising
Satz: Jürgen Echter, Landsberg am Lech
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN Print: 978-3-86882-557-2
ISBN E-Book (PDF): 978-3-86415-726-4
ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-86415-729-5
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ebook by ePubMATIC.com
Für meinen Ehemann Art
Für meinen Sohn Elijah
Für die Menschen im Leben meiner Leser,
denen sie auf ähnliche Weise in Liebe zugetan sind
Danksagung
Vorwort zur neuen Auflage 2015
Einleitung
1. Sind Sie eine HSP? Temperament, Liebe und Sensibilität
2. Die Angst vor dem anderen Geschlecht und Sensibilität: sich selbst finden und Stereotypen vergessen
3. HSP und die Angst vor Nähe: Gründe für Ihre Sorge und Möglichkeiten, sich sicher zu fühlen
4. Sich verlieben: Sensibilität und der große Sprung
5. HSP und Nicht-HSP: Wie man die Liebe zwischen zwei entgegengesetzten Temperamenten erhält
6. Wenn Sie beide hochsensibel sind: Wie Sie den Frieden bewahren, wenn Sie einander ähnlich sind
7. Wege zu einer befriedigenden, sensiblen Partnerschaft: Beziehungsratschläge für HSP
8. Unsere Sexualität: sensible Menschen im Bett
9. Der spirituelle Weg der HSP: Die sichere Liebe weist den Weg, der Weg führt zur sicheren Liebe
Quellenverzeichnis
Über die Autorin
Ich kann mich glücklich schätzen, dass Tracy Behar als Lektorin und Betsy Amster als Agentin für mich da waren. Beide haben mich auf freundliche und kluge Art während des langen Prozesses begleitet, in dem ich alle Gedanken niedergeschrieben habe, die in meinem HSP[1]-Kopf herumschwirrten, als ich mich mit Liebe und Temperament beschäftigte. Die Redakteurin Sarah Whitmire hat mein Manuskript gründlich lektoriert, ebenso wie mein Ehemann Art. Dankbar bin ich auch für die Arbeit meines Sohnes Elijah an meinem Text.
Großen Dank schulde ich darüber hinaus den HSP, die bereit waren, sich stundenlang von mir über ihre Beziehungen ausfragen zu lassen, sowie den vielen anderen, die meine Umfragen beantwortet haben. Und ich bedanke mich bei denjenigen, die sich bei mir in Psychotherapie begeben haben. Wenn ich einen Teil ihrer Geschichten für dieses Buch verwendet habe, wurden die Fakten gründlich vermischt, während die Erkenntnisse erhalten blieben. Nur mit Hilfe dieser Geschichten konnte ich diesem Buch die nötige Tiefe geben. Ich empfinde es als großes Privileg, dass sie mir anvertraut wurden.
Willkommen zu Hochsensibilität in der Liebe. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist das Buch bereits im Jahr 2000 erschienen. Dennoch gibt es nur sehr wenig, was ich daran ändern würde, und die Aspekte, die ich hinzufügen möchte, finden Sie gleich in diesem Vorwort. Am wichtigsten sind die Erkenntnisse der jüngsten Forschung über Hochsensibilität im Allgemeinen sowie einige interessante Forschungsergebnisse speziell zum Thema enge Beziehungen. Zum Schluss möchte ich noch einige Erkenntnisse im Bereich Liebe und hochsensible Menschen aufzeigen, die ich in der Zwischenzeit sammeln konnte.
Warum spielt die jüngste Forschung eine so große Rolle? Damit hochsensible Personen (HSP) erfolgreiche Beziehungen führen können – sei es mit einem Freund, mit einem bestimmten Verwandten oder einem Lebenspartner –, müssen sie die ererbte Charaktereigenschaft Hochsensibilität ernst nehmen. Sie muss sich einfach real anfühlen. Der Wesenszug kann über Glück und Unglück entscheiden, abhängig davon, wie gut die hochsensible und die andere beteiligte Person diesen verstehen. Auch für jeden, der ein Paar mit einer HSP unterstützen möchte – wie zum Beispiel ein Eheberater –, ist es wichtig, Hochsensibilität zu begreifen. Die neue Forschung macht es leicht, Hochsensibilität zu verstehen und sie als real einzuschätzen. Selbstverständlich können Sie, wenn Sie diesen Wesenszug bereits als real erleben und ernst nehmen und, zumindest im Augenblick, nichts zur wissenschaftlichen Forschung darüber lesen möchten, dieses Vorwort überspringen.
Warum wird Hochsensibilität oft nicht ernst genommen? Zum einen liegt es daran, dass der Wesenszug erst erkennbar wird, wenn man lange genug mit einer HSP zusammen ist, um deren bestimmte Bedürfnisse und Vorlieben zu bemerken. Das kann sich zum Beispiel auf das Verlangen nach mehr Pausen oder die Abscheu vor lauten Geräuschen beziehen. Hochsensibilität ist keine Eigenschaft wie die Haarfarbe, die Größe oder das Geschlecht. Trotzdem hat dieser Wesenszug meiner Meinung nach eine ebenso große Bedeutung wie das Geschlecht, denn er beeinflusst alle Aspekte des Lebens – die Art, wie Sie die Welt wahrnehmen und darüber denken, die Art von Arbeit, die zu Ihnen passt, und wie Sie mit anderen und diese mit Ihnen zurechtkommen. Manche Menschen beantworten jede Frage des Selbsttests Sind Sie hochsensibel? in diesem Buch mit Ja, und manche kreuzen bei jeder Frage „Nein“ an. Wir leben alle in den gleichen Gemeinschaften, aber wir haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse und wir können nicht sofort erkennen, wer sensibel ist und wer nicht. Solange man den Wesenszug nicht erkennt oder ihn nicht einmal benennen kann, werden die gewaltigen Unterschiede im Verhalten von Menschen allem Möglichen, nur nicht dem wahren Grund zugeschrieben. HSP neigen dazu, andere als grob oder dickfellig einzuschätzen; Nicht-HSP (nicht hochsensible Personen) halten HSP oft für eigen oder komplett neurotisch.
Ein weiterer Grund, warum Hochsensibilität von einigen Menschen nicht ernst genommen wird, ist die Tatsache, dass die Mehrheit der Menschen, nämlich 80 %, nicht hochsensibel ist. Da der Unterschied nicht sichtbar ist, glauben Nicht-HSP, dass alle anderen so sind wie sie, und selbst HSP denken manchmal, sie müssten so sein wie Nicht-HSP. Das kann in Beziehungen zu großen Problemen führen, denn wir neigen zu der Annahme, dass ein Mensch, der uns wirklich liebt, bereit sein müsste, bestimmte Verhaltensweisen zu ändern. Zum Bespiel sind Nicht-HSP oft davon überzeugt, dass doch jeder laute Restaurants oder Small Talk mag, und wenn nicht, dann ist er eben verschroben, schwierig oder zu anspruchsvoll. Dabei ist es genau dieser Unterschied, der geräuschvolle Lokale und triviale Unterhaltungen für die einen Menschen angenehm und für hochsensible Personen beinahe unerträglich macht. Noch einmal: Diese Charaktereigenschaft gibt es!
In Hochsensibilität in der Liebe geht es weniger um die Grundlagenforschung und mehr um die Recherchen, die ich für dieses Buch betrieben habe. Dabei habe ich mich mit Beziehungen befasst, in denen ein oder beide Partner hochsensibel sind. Zu der Forschung, die seit der Veröffentlichung dieses Buchs betrieben wurde, möchte ich jedoch anmerken und bekräftigen, dass das Konzept der Hochsensibilität zu jener Zeit bereits von anderen gründlich erforscht war – teilweise unter anderen Begriffen, die weniger genau waren. Auch ich und mein Mann haben uns mit unseren Forschungskollegen ausgiebig dem Thema gewidmet.
Unsere erste Forschungsarbeit wurde 1997 im Journal of Personality and Social Psychology, der am meisten geschätzten Fachzeitschrift in diesem Bereich, veröffentlicht. (Die Literaturhinweise zu allen anderen Forschungsergebnissen, die ich hier erwähne, finden Sie auf meiner Website www.hsperson.com unter dem Register „Forschung“.) Diese Abhandlung zeigte sieben Studien über das, was ich im wissenschaftlichen Kontext als „sensory processing sensitivity“, also ausgeprägte Sinnesverarbeitung, bezeichne. Der Selbsttest in diesem Buch wurde anhand dieser Studien entwickelt und statistisch belegt. Dafür wurden mehrere Hundert Personen, unter anderem mittels einer nach dem Zufallsprinzip durchgeführten Telefonumfrage, befragt. Dabei konnten wir nachweisen, dass sich Sensibilität sowohl von Introvertiertheit als auch vom sogenannten Neurotizismus, also der Tendenz, ängstlich oder depressiv oder beides zu sein, grundlegend unterscheidet. In dieser Veröffentlichung von 1997 begann ich auch, die evolutionären Gründe dafür zu erläutern, dass dieser Wesenszug (manchmal auch Plastizität, Flexibilität, Empfänglichkeit oder Kontextsensibilität genannt) prozentual etwa gleich oft, nämlich zu 20 %, bei vielen unterschiedlichen Spezies zu finden ist. Der Grund hierfür liegt darin, dass es je nach Situation zwei optimale Überlebensstrategien in den jeweiligen Lebensumständen geben kann. Die Strategie sensibler Menschen ist, alles gründlich zu beobachten und alle Faktoren auszuwerten, bevor sie handeln. Da sensible Menschen zögerlich handeln und manchmal einer Situation entfliehen, wurde dieser Wesenszug früher mit den Begriffen schüchtern, ängstlich oder furchtsam in Verbindung gebracht. Die andere Strategie besteht darin, rasch und „mutig“ zu handeln, ohne sich große Gedanken über die Situation zu machen.
In der Abhandlung von 1997 haben wir festgestellt, dass Hochsensibilität mit Neurotizismus in Verbindung gebracht werden kann, allerdings nur bei Personen mit einer unglücklichen Kindheit. In dem Bestreben, diese Tatsache mittels noch stärker fokussierten Methoden zu belegen, haben wir eine weitere Studie durchgeführt, die 2005 im Personality and Social Psychology Bulletin veröffentlicht wurde. Anhand von vier Umfragen und einem Experiment konnten wir darlegen, dass erwachsene HSP, die eine schwierige Kindheit hatten – besonders hinsichtlich der Beziehung zu ihren Eltern –, eher als Nicht-HSP dazu neigen, depressiv, ängstlich oder schüchtern zu sein. HSP mit einer normalen, im Großen und Ganzen guten Kindheit wiederum hatten als Erwachsene nicht stärker mit diesen Problemen zu tun als Nicht-HSP. Bei unserem Experiment fanden wir heraus, dass HSP im Allgemeinen emotionaler auf positive wie negative Kritik reagierten, während Nicht-HSP kaum Reaktionen zeigten. Das erklärt möglicherweise, wodurch HSP in ihrer Kindheit stärker beeinflusst wurden.
Seit 1997 traten bei einer Reihe von Forschungsprojekten die gleichen Resultate zutage: HSP (und andere Menschen mit einem außergewöhnlichen Temperament), die in einer liebevollen Umgebung aufgewachsen sind, hatten als Erwachsene sogar noch weniger Probleme als Nicht-HSP und reagierten außerdem positiver auf Hilfsangebote. Diese Ergebnisse sind so eindeutig, dass Michael Pluess und Jay Belsky 2012 im Psychological Bulletin den Artikel „Vantage Sensitivity“ veröffentlichten. Sie trugen darin die Erkenntnisse aus vielen verschiedenen wissenschaftlichen Studien zusammen, die belegten, dass sensible Personen ein gutes Umfeld besser nutzen können als andere. Es ist natürlich richtig, dass viele sensible Menschen eine schwierige Vorgeschichte haben, welche ihre Beziehungen beeinflusst – ängstliches oder depressives Verhalten ist einer der häufigsten Gründe für das Scheitern einer Beziehung. Aber die gute Nachricht ist, dass HSP nicht zwangsläufig solche Probleme haben, und wenn doch, lassen sich diese sehr gut lösen, sofern sie die Unterstützung ihrer Partner oder, falls nötig, von Fachleuten bekommen.
Möglicherweise habe ich in diesem Buch nicht deutlich genug darauf hingewiesen, dass hochsensible Menschen manchmal als neurotisch oder problembelastet angesehen werden, auch wenn das gar nicht der Fall ist. In einer Partnerschaft mit einem Nicht-HSP kann sich das sehr störend auswirken, da dann beide glauben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Die Forschung aus dem Jahr 2006 und weitere seitdem durchgeführte Studien über das Zusammenspiel von Umwelt und Sensibilität sollten hier hilfreich sein.
Auf manche Weise können sich HSP wie Neurotiker verhalten, aber das Verhalten hat andere Gründe. Zum Beispiel können beide ängstlich reagieren, wenn sie bei ihrem Tun beobachtet werden. Bei Neurotikern kann das daran liegen, dass sie als Kind sehr oft kritisiert wurden. HSP hingegen sind in aufregenden oder ungewohnten Situationen, wie etwa wenn sie von anderen beobachtet werden, schnell übererregt.
Die Erkenntnis, dass HSP aufgrund ihrer Sensibilität manchmal wie Neurotiker reagieren, hat unsere Forschungsmethoden verbessert. Da der HSP-Selbsttest in diesem Buch eine Reihe negativ klingender Aussagen enthält, die man entweder als HSP oder als Neurotiker mit „zutreffend“ beantworten könnte, stellen wir unter Berücksichtigung dieser Tatsache einige Fragen über Neurotizismus und werten diesen Faktor statistisch aus, wenn wir unsere Forschungsdaten analysieren. Bei den meisten der nachfolgend genannten Studien wurde das ebenso gehandhabt.
Natürlich gibt es auch einige neurotische HSP, und diese ängstlichen, gestressten, „überempfindlichen“ HSP werden wohl von anderen Menschen am stärksten wahrgenommen. Das kann den Eindruck hinterlassen, dass alle HSP so wären. Die typische HSP passt sich jedoch so gut an, dass ihre Andersartigkeit meist nur von denjenigen bemerkt wird, die sie sehr gut kennen. Auch beim Ausfüllen unseres Selbsttests zeigen sich diese Unterschiede. Schließlich ist Anpassung ein wesentliches Merkmal ihres Wesenszugs; HSP nehmen ihr Umfeld sehr genau wahr und reagieren darauf in einer Weise, die ihnen am ehesten hilft, sich zurechtzufinden und Erfolg zu haben.
Um noch besser zu erklären, warum Sensibilität oft mit Neurotizismus verwechselt wird, möchte ich darauf, und auf die neuen Forschungsergebnisse, unter Berücksichtigung der vier Aspekte der Hochsensibilität eingehen. Ich habe sie erstmals in dem im Jahr 2010 erschienenen Fachbuch für Experten, Psychotherapy and the Highly Sensitive Person, aufgelistet. Sie scheinen für HSP im Allgemeinen und für die Personen in ihrem Umfeld sehr wichtig zu sein. Diese vier Aspekte sind: Tiefe der Verarbeitung, leichte Übererregung, stärkere Gefühlsreaktionen – und größere Empathie – als bei anderen Menschen, und die Wahrnehmung von Feinheiten in der Umgebung, die von anderen übersehen werden.
HSP sinnen im Stillen über ihre Erlebnisse nach, verarbeiten Informationen gründlich, wenn auch nicht immer bewusst, denken über die Bedeutung des Lebens nach, sind sehr gewissenhaft und haben Schwierigkeiten damit, Entscheidungen zu treffen. Das sind einige der Folgen der tiefen Verarbeitung von Eindrücken, und auch der Schlüssel, um Sensibilität als spezialisierte Überlebenstaktik zu sehen. Andere Personen sehen das Nachdenken über ein aufwühlendes Ereignis manchmal eher als „Grübeln“ und neurotisches Verhalten an. HSP nehmen zum Beispiel mögliche Gefahren (und Gelegenheiten) wahr, die anderen gar nicht auffallen, und scheinen dann im Vergleich zu den weniger dafür empfänglichen Menschen „überängstlich“ zu sein (es kommt nicht selten vor, dass HSP die Lage der Notausgänge überprüfen). Auch hier kommt es natürlich vor, dass HSP sich manchmal tatsächlich zu stark auf negative Erlebnisse konzentrieren, aber das liegt dann daran, dass sie zu viele schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht haben. Sie haben diese sorgfältig verarbeitet und erwarten naturgemäß, dass die Zukunft ihnen etwas Ähnliches bescheren könnte. Oft liegen sie damit sogar richtig, aber eben nicht immer – und dann erscheinen sie unangepasst. Wie wir jedoch sehen werden, konzentrieren sich HSP im Durchschnitt tatsächlich mehr auf positive Ereignisse als Nicht-HSP.
Auch die Tatsache, dass HSP sehr leicht übererregt oder überstimuliert sind – was in etwa dasselbe bedeutet –, kann dazu führen, dass sie von ihren Mitmenschen als neurotisch angesehen werden. Niemand fühlt sich wohl oder erbringt gute Leistungen, wenn er überregt ist, aber sensible Menschen überschreiten den entscheidenden Punkt schneller und geraten natürlich dementsprechend auch leichter in einen Zustand, in dem sie sich sehr unwohl fühlen und nicht mehr fähig sind, etwas zu leisten. Und das geschieht oft gerade dann, wenn sie ihr Bestes geben wollen. Bei einem Gespräch mit einem Fremden auf einer lauten Party kann es zum Beispiel passieren, dass sie verstummen, da ihnen einfach nichts mehr einfallen will, was sie noch sagen könnten. Dann wirken sie schüchtern, aber im Grunde genommen ist ihr Gehirn einfach von zu vielen Reizen überfordert. Natürlich sind sie sich darüber im Klaren, dass sie versagt haben. Und wenn das Nicht-HSP vielleicht auch noch so sehen, kann es leicht sein, dass eine HSP (aus Angst vor sozialer Verurteilung) beim nächsten Mal in einer ähnlichen Situation tatsächlich ängstlich und scheu reagiert. All das kann definitiv neurotisch wirken.
Schließlich kann auch die Gefühlsintensität von HSP neurotisch erscheinen. Wenn HSP einen guten Grund dafür haben, verhalten sie sich eher ängstlich, depressiv, wütend und dergleichen mehr, während andere weitaus weniger stark reagieren. Dafür gibt eine gute evolutionär bedingte Begründung. Ohne emotionalen Antrieb kann niemand etwas tief verarbeiten. Das heißt, der entscheidende Wesenszug, nämlich die Tiefe der Verarbeitung, wird notwendigerweise durch die intensiven Gefühlsreaktionen angetrieben. Eines ohne das andere funktioniert nicht. HSP lernen mehr aus ihren Erlebnissen, weil sie nach jeder Erfahrung mehr erfreut oder bestürzt sind und viel mehr darüber nachdenken als andere.
Die Verbindung zwischen Gefühlsempfindung und Lernprozess lässt sich gut an dem speziellen Fall der „Überreaktion“ auf Kritik erkennen. Zur Überlebensstrategie von HSP gehört es, ihr Verhalten zu ändern, wenn sie einen Fehler gemacht haben. (Auch hier ist denkbar, dass eine HSP tatsächlich deshalb überreagiert, weil sie in der Vergangenheit stark kritisiert worden ist.) Jeder lernt aus seinem Verhalten oder korrigiert es, wenn ihn das Geschehen emotional berührt. Daher neigen Erzieher dazu, Noten zur Lernmotivation einzusetzen. Die meisten Schüler sind erfreut über eine gute und betroffen von einer schlechten Note, und das veranlasst sie dazu, sich mehr anzustrengen, um eine gute Bewertung zu bekommen. HSP gehen dabei einfach nur gründlicher vor. Wir hoffen, dass unser Chirurg aufgrund seiner vergangenen Fehler bestürzt ist, und aus diesen Fehlern lernt!
Ich hoffe, ich habe klar zum Ausdruck gebracht, dass Hochsensibilität keine Erkrankung ist, und dass die meisten HSP recht normal, gut angepasst und wunderbare Partner sind. Ja, einige haben ernsthafte Probleme, einschließlich Depressionen und Angstzuständen, aber, wie man anhand der Studien erkennen kann, treten sie nur unter bestimmten Umständen auf.
Diese vier Aspekte – gründliche Verarbeitung von Informationen, leichte Überstimulierung oder Übererregbarkeit, stärkere Gefühlsreaktionen begleitet von Empathie und eine sensible Wahrnehmung – sind wichtig für die Einschätzung von Hochsensibilität. Deshalb ist eine Person ohne alle diese vier Aspekte wahrscheinlich nicht hochsensibel – zumindest nicht nach meiner Definition. Diese Trennlinie ziehe ich in meiner Forschung, und diese vier Aspekte hängen tatsächlich sehr stark miteinander zusammen: Ohne intensive Gefühle kommt es nicht zur Tiefe der Verarbeitung; Erfahrungen gründlich zu verarbeiten bedeutet auch, Feinheiten wahrzunehmen, und Übererregung tritt eher bei HSP auf, wenn sie viele Dinge auf einmal verarbeiten müssen.
Es gibt eine große Zahl von Studienergebnissen zum Thema Verarbeitungstiefe bei Hochsensibilität. Eine Studie von Jadzia Jagiellowicz und ihren Kollegen, die 2011 in der Fachzeitschrift Social Cognitive and Affective Neuroscience veröffentlicht wurde, verglich die Gehirntätigkeit (unter Anwendung funktioneller Magnetresonanztomografie, auch fMRI genannt) von HSP und Nicht-HSP bei der Betrachtung von zwei sich nur leicht voneinander unterscheidenden Bildern und zwei ganz offensichtlich unterschiedlichen Bildern. Bei den HSP, die sich die Bilder mit den feinen Unterschieden ansahen, zeigte sich eine verstärkte Gehirntätigkeit in den Bereichen, die genau dafür zuständig sind – nämlich für die Wahrnehmung von Feinheiten und Details und nicht nur für oberflächliche Aspekte. Das heißt, dass bei HSP, zumindest in dieser Situation, die entsprechenden Teile des Gehirns aktiv waren, die stärker für die „tiefere“ oder gründlichere Verarbeitung zuständig sind.
In einer weiteren Studie, die von uns und auch anderen durchgeführt wurde und 2010 ebenfalls in der Fachzeitschrift Social Cognitive and Affective Neuroscience erschien, wurde verglichen, wie in Asien oder den Vereinigten Staaten geborene und aufgewachsene HSP und Nicht-HSP Wahrnehmungsaufgaben mit dem bereits bekannten unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad lösten – also welche Gehirnaktivität und Anstrengung dafür verwendet wurden. Ausgewertet wurde dies in Abhängigkeit vom jeweiligen kulturellen Hintergrund, der in Asien mehr kollektivistisch und in den Vereinigten Staaten eher individualistisch ist. Die Gehirntätigkeit der Nicht-HSP zeigte die übliche zusätzliche Anstrengung beim Lösen der Aufgaben, die für Menschen ihrer Kultur schwieriger ist. Die HSP jedoch bewältigten beide Aufgaben ohne Unterschiede bei der Gehirntätigkeit, unabhängig davon, ob sie aus Asien oder den Vereinigten Staaten stammten. Es schien, als könnten sie über ihr kulturell geprägtes Wahrnehmungsmuster hinaus auf einer tieferen Ebene sehen, wie die Dinge „wirklich“ sind.
In einer Forschungsarbeit von Bianca Acevedo und Kollegen, veröffentlicht 2014 in der Fachzeitschrift Brain and Behaviour, wurde ebenfalls das Verhalten von HSP und Nicht-HSP beim Betrachten von Bildern untersucht. Es handelte sich um Aufnahmen von Fremden und nahestehenden Personen, und die Ergebnisse glichen denen aus Jagiellowiczs Studie. Im Vergleich zu Nicht-HSP stellte man bei den HSP eine stärkere Aktivität in dem Bereich des Gehirns fest, der für die Wahrnehmungsverarbeitung zuständig ist. Und, was wahrscheinlich der Aufgabenstellung zuzuschreiben war, man sah im Gegensatz zu anderen Personen auch eine stärkere Gehirntätigkeit im Bereich der sogenannten Inselrinde. Diese wird manchmal auch als Sitz des Bewusstseins bezeichnet, weil dort die augenblickliche Kenntnis über unseren inneren Zustand, über unsere Gefühle, unsere Köperhaltung und über äußere Eindrücke miteinander verknüpft werden und somit das hervorbringt, was wir im Augenblick wahrnehmen.
Eine Person, die sich ihrer Umwelt und der eigenen inneren Vorgänge mehr bewusst ist und all diese Eindrücke gründlicher verarbeitet, ist fast zwangsläufig schneller erschöpft als andere Menschen – psychisch und auch physisch (das Gehirn ist Teil des Körpers). Friederike Gerstenberg hat in einer 2012 in Personality and Individual Differences veröffentlichten Studie durch ein Experiment den Nachweis erbracht, dass HSP schneller übererregt werden. In der Studie wurde sensiblen und nicht sensiblen Personen eine schwierige Wahrnehmungsaufgabe gestellt: Sie mussten so schnell wie möglich erkennen, ob sich am Computerbildschirm ein „T“ unter vielen „Ls“ versteckte, wobei alle Buchstaben auf unterschiedliche Weise am Bildschirm erschienen. HSP meisterten die Aufgabe schneller und genauer als Nicht-HSP. Eine Befragung nach dem Test jedoch ergab, dass HSP unter wesentlich höherer Anspannung standen als die anderen Teilnehmer. Lag es an der Bearbeitung der anstrengenden Aufgabe oder eher an der emotionalen Belastung durch die Experiment-Situation? Was auch immer der Grund gewesen sein mochte, sie fühlten sich jedenfalls angespannt.
Bei Hochsensibilität geht es jedoch nicht hauptsächlich um Anspannung und leichte Übererregbarkeit, die zum Beispiel durch Lärm, einen überfüllten Raum oder ständige Veränderung verursacht wird. Unbehagen in Bezug auf die Sinneswahrnehmung als solche, ohne weitere Begleiterscheinungen von Hochsensibilität, können auf eine Sinnesverarbeitungsstörung hinweisen, bei der man unfähig ist, Sinnesempfindungen richtig einzuordnen, im Gegensatz zu einer ungewöhnlich tiefen oder gründlichen Sinnesverarbeitung. Zum Beispiel klagen Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung manchmal über Reizüberflutung, neigen aber in anderen Situationen zu einer sehr geringen Reaktion auf Reize. Vor allem bei sozialen Stimuli wirkt es, als könnten sie die Bedeutung dieser Reize nur schwer einschätzen.
Fragebogenstudien wie Experimente beweisen also, dass HSP laut ihrer Aussagen sowohl auf positive als auch auf negative Erlebnisse stärker reagieren. Eine Reihe von Tests und Studien über Gehirnaktivitäten, die Jadzia Jagiellowicz für ihre Dissertation (abgeschlossen 2012 an der State University, New York, Stony Brook) durchgeführt hat, zeigen, dass HSP stärker als Nicht-HSP sowohl auf schöne Fotos (z. B. von Hundewelpen, kleinen Kätzchen und Geburtstagstorten) wie auch auf unerfreuliche Bilder (z. B. von Schlangen und Spinnen) reagieren. Eine besonders starke Reaktion zeigte sich bei ihnen jedoch beim Anblick der schönen Bilder, und das vor allem bei denjenigen HSP, die eine schöne Kindheit erlebt hatten. Bei dieser Reaktion auf positive Fotos waren nicht nur diejenigen Gehirnbereiche aktiv, die mit dem ursprünglichen Erleben starker Emotionen verbunden sind, sondern wieder auch die „höheren“ Regionen des Denkens und Wahrnehmens mit eben denjenigen Bereichen, die bei Gehirnstudien zur Tiefenverarbeitung beobachtet wurden.
Empathie, unsere spezielle Gefühlsreaktion, wenn wir die Gefühle anderer Personen einschätzen, spielt selbstverständlich eine sehr wichtige Rolle in einer engen Beziehung. Ich habe bereits eine Gehirnstudie von Bianca Acevedo erwähnt, in der sich HSP und Nicht-HSP Porträts von Fremden und Bilder ihrer Liebespartner anschauten. HSP zeigten dabei eine stärkere Aktivität im Bereich der Inselrinde, die mit dem Bewusstsein als solchem verbunden ist. Dieses Ergebnis zeigte sich während der gesamten Studie, aber noch stärker trat diese Aktivität zum Vorschein, wenn die Gesichter der Partner Emotionen zeigten – eben Glück oder Trauer im Gegensatz zu einem neutralen Gesichtsausdruck. Das schien ein Hinweis darauf zu sein, dass HSP sich in diesen Momenten in einem besonders gesteigerten Bewusstseinszustand befanden.
Auch in ihrem Spiegelneuronensystem zeigte sich bei den HSP eine stärkere Aktivität als bei anderen Studienteilnehmern. Das war vor allem dann der Fall, wenn sie die glücklichen oder traurigen Gesichter nahestehender Menschen oder aber glückliche Gesichter von Fremden betrachteten – ein weiteres aussagekräftiges Ergebnis, das beweist, dass HSP zum einen sehr stark auf Personen reagieren, mit denen sie sich verbunden fühlen, aber auch auf positive Bilder im Allgemeinen. Spiegelneuronen im Gehirn wurden erst vor etwa zwanzig Jahren entdeckt. Diese Neuronen werden aktiv, wenn wir jemanden dabei beobachten, wie er etwas tut oder fühlt, und wir uns an seine Stelle versetzen und praktisch dasselbe tun oder fühlen. Spiegelneuronen sind also zum Beispiel aktiv, wenn wir jemanden sehen, der einen Fußball tritt, das entsprechende Geräusch hören oder wenn wir nur das Wort „kicken“ hören oder sagen. Andere Neuronen bewirken, dass wir das Verhalten der anderen Person nicht einfach nachahmen, aber nicht immer können diese Neuronen uns vollständig davon abhalten. Wenn Sie schon einmal ein Muskelzucken bei sich bemerkt haben, während ein Sportler oder ein Tänzer eine kraftvolle oder riskante Bewegung ausführt, dann waren Ihre Spiegelneuronen aktiv.
Diese erstaunlichen Neuronen helfen uns nicht nur dabei, durch Nachahmung zu lernen. Gemeinsam mit anderen Bereichen des Gehirns, die bei HSP in dieser Studie besonders aktiv waren, tragen Spiegelneuronen dazu bei, dass wir genau erkennen können, was eine andere Person fühlt oder vorhat. Das bedeutet, dass diese besonderen Gehirnareale uns zur Empathie befähigen. Dadurch erkennen wir nicht nur anhand von Worten und anderen Hinweisen, wie es einem anderen Menschen geht, sondern wir fühlen sogar tatsächlich bis zu einem gewissen Grad genau wie er. Und auch hier zeigte sich bei HSP in den entsprechenden, uns zur Empathie befähigenden Gehirnarealen eine stärkere Aktivität als bei Nicht-HSP.
Natürlich ist es ein Aspekt von Hochsensibilität, sogar leise Geräusche, zarte Gerüche, Details und dergleichen wahrzunehmen. Bei manchen Menschen ist ein bestimmter Wahrnehmungssinn besonders gut entwickelt, wobei dies nicht an den Sinnesorganen selbst liegt, sondern an der Verarbeitungsebene und der feinen Unterscheidung von Eindrücken. Zu diesem Thema der Gehirnaktivität gibt es natürlich bereits Studien. Dazu zählt auch die erstgenannte Studie, bei der man den Testpersonen Fotos mit eindeutigen und auch feineren Unterschieden vorlegte. Beim Betrachten der feineren Abweichungen war die Gehirntätigkeit bei HSP viel stärker als bei den Nicht-HSP. Ein weiteres bereits erwähntes Beispiel dazu ist die kulturelle Studie. Hier zeigte sich, dass die kulturelle Prägung nur die Nicht-HSP beeinflusste, wenn es um das Erkennen von subtilen Unterschieden ging. Und zuletzt erwähnt wurde noch die Studie von Gerstenberg, in der HSP und Nicht-HSP unter einer Menge verschieden angeordneter Ls einige ebenfalls unterschiedlich dargestellte Ts finden mussten. HSP lösten diese Aufgabe schneller und genauer.
Wir waren schon immer fast sicher, dass Hochsensibilität angeboren ist, aber jetzt wissen wir mehr darüber, welche Gene daran beteiligt sind. Die verschiedenen Gen-Kombinationen sind zum Beispiel dafür verantwortlich, dass wir verschiedene Augenfarben haben. Dasjenige Gen, das für die Ausschüttung von Serotonin im Gehirn zuständig ist, wird Serotonin-Transportergen genannt und hat drei Variationen – kurz-kurz, kurz-lang und lang-lang. 2012 haben Cecilie Licht und einige andere vom Center for Integrated Molecular Brain Imaging in Kopenhagen berichtet, dass die meisten HSP eine der beiden kurzen Variationen des Serotonin-Transportergens in sich tragen.
Seit Jahren weiß man, dass die kurzen Versionen dieses Gens mit Depressionen und anderen emotionalen Problemen in Zusammenhang stehen. Allerdings trifft das nicht durchgehend zu – zwar sind bei Menschen, die an Depressionen leiden, üblicherweise diese kurzen Variationen zu finden, aber nicht jeder Mensch, der sie aufweist, ist zwangsläufig depressiv. Tatsächlich gibt es einige Menschen mit einer der kurzen Variationen, die außergewöhnlich glücklich und emotional sehr ausgeglichen sind. Mittlerweile ist bekannt, dass die kurzen Variationen normalerweise nur bei denjenigen Menschen zu Depressionen führen, die vor allem in der Kindheit negative Erfahrungen gemacht haben.
Da diese genetische Variation auf der ganzen Welt sehr häufig vorkommt (allerdings mehr in Asien), muss sie noch eine andere Funktion haben, außer Menschen depressiv zu machen. Letztlich wurden Forscher bei ihrer Suche nach positiven Auswirkungen dieser kurzen Variationen auch fündig: Zum Beispiel bewirken diese eine bessere Entscheidungsfähigkeit und lassen die betreffende Person einen höheren Nutzen aus der Unterstützung von Seiten des sozialen Umfelds ziehen – einige sehr angenehme Vorteile in einer Partnerschaft.
Rhesusaffen sind wahrscheinlich die einzige andere Spezies, die diese Variation besitzt. Diejenigen mit dieser Variation wurden zunächst nur als „nervös“ bezeichnet, weil sie leicht unter Stress gerieten (also überstimuliert und gefühlsgeladen waren), aber wenn sie von erfahrenen Müttern aufgezogen wurden, stiegen sie oft bis an die Spitze der Gruppenhierarchie auf (denken wir dabei an die gründliche Verarbeitung von Informationen und die ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit). Interessanterweise sind sowohl Menschen als auch Rhesusaffen hochsoziale Wesen und können sich mehr als alle anderen Primaten an ihr jeweiliges Umfeld anpassen. Möglicherweise ist diese Anpassungsfähigkeit den hochsensiblen Mitgliedern einer Gruppe zu verdanken, die Feinheiten eher wahrnehmen und daher leichter herausfinden, welches Essen ungiftig ist und welche Gefahren es zu vermeiden gilt, und somit das Überleben in einer neuen Umgebung sicherstellen.
Nicht jede HSP besitzt diese genetische Variation hinsichtlich des verfügbaren Serotonins. Wir glauben, dass es viele genetische Gründe für Hochsensibilität gibt. 2011 haben Chunhui Chen und Kollegen in China in der Fachzeitschrift PloS ONE berichtet, dass sie Variationen in sieben Dopamin-Genen entdeckt haben, die oft mit den Trefferquoten auf der HSP-Skala übereinstimmten. Sicher gibt es noch einige andere Gene, die dabei eine Rolle spielen. Berücksichtigt man die vielen neuen Entdeckungen im Bereich der Epigenetik – hier geht es um Gene, die sich durch ihr Umfeld verändern –, gibt es möglicherweise andere Gründe, warum ein Mensch im Mutterleib oder kurz nach der Geburt durch Anpassung an das Stressniveau oder an den jeweiligen Umfang an Rückhalt im Familienbereich hochsensibel wird. Meiner Meinung nach ist Sensibilität meistens genetisch bestimmt, wie aus weiterer wissenschaftlicher Forschung ersichtlich wird. Hier geht es um die evolutionären Gründe für Hochsensibilität.
Wenn man bedenkt, dass sich Hochsensibilität bei über 100 Spezies außer unserer entwickelt hat, zeichnet sich immer deutlicher ab, dass es sich dabei nicht um eine Erkrankung, ein Problem oder einen ständigen Nachteil handeln kann. Bei all diesen Spezies ist immer nur die Minderheit der Mitglieder empfänglich für die Feinheiten in ihrer Umwelt. In einer Abhandlung, veröffentlicht 2008 in Proceedings of the National Academy of Sciences, beschreiben Max Wolf und seine Kollegen eine mögliche evolutionäre Erklärung, die mittels einer Computersimulation und auf der Basis anderer Ergebnisse und Folgerungen entwickelt wurde. Wolf erklärt, dass es sich manchmal auszahlt, kleinste Details wahrzunehmen und Informationen über das Geschehen auf der Welt gründlich zu verarbeiten und alles mit ähnlichen, in der Vergangenheit erlebten Situationen zu vergleichen. Zum Beispiel profitiert ein grasendes Tier davon, kleine Unterschiede in der Qualität des Grases an verschiedenen Orten auszumachen, wenn wesentliche Unterschiede in der Nährstoffqualität bestehen. Freilich ist all dies manchmal auch nur Zeitverschwendung, wenn es nur unbedeutend kleine Unterschiede gibt. Das gilt vor allem, wenn man den zusätzlichen Energieaufwand eines solchen Nervensystems berücksichtigt, mit dem Feinheiten wahrgenommen werden und von diesen Eindrücken später Gebrauch gemacht werden kann. Daher ist auch nicht jedes Individuum sensibel. Tatsächlich sind sensible Wesen interessanterweise immer in der Minderheit; denn wenn jedes Lebewesen sensibel wäre, ergäbe sich daraus kein Vorteil für irgendjemanden. Ich finde dazu das Beispiel eines Verkehrsstaus sehr passend: Würde jeder eine Ausweichstrecke kennen und nutzen, wäre auch diese schnell ebenso überfüllt wie die andere Straße. (Das Beispiel finde ich deshalb so schön, weil ich immer eine geheime alternative Route finde!)
Eine weitere Ansicht, die in diesem Buch bereits geäußert wurde, konnte mittlerweile besser erforscht werden: Hochsensibilität ist keine Maßeinheit wie Größe oder Gewicht, bei denen die meisten Menschen im mittleren Bereich liegen. Sie ist eher zu verstehen wie Rechts- oder Linkshändigkeit – alles oder nichts, wobei die Mehrheit so und die Minderheit anders ist. Das wurde bereits für ein der Hochsensibilität scheinbar ähnliches Wesensmerkmal bewiesen: Gehemmtheit, in dem Fall bei Kindern. Die 2012 an der Universität Bielefeld in Deutschland abgeschlossene Dissertation von Franziska Borries konnte jetzt jedoch einen Nachweis für Sensibilität an sich erbringen. In einer Studie mit über 900 Teilnehmern, bei der die HSP-Skala und andere Mittel (zum Vergleich der Probanden-Antworten) herangezogen wurden, verwendete Borries eine spezielle statistische Methode. Sie unterschied damit zwischen Kategorien und Dimensionen und fand heraus, dass Sensibilität im Gegensatz zu anderen erforschten Wesenszügen tatsächlich eine Kategorie ist.
Einen perfekten Selbsttest gibt es natürlich nicht. Viele Leser werden im Mittelbereich Punkte erzielen, ohne dass das etwas mit Hochsensibilität zu tun hat. Zum Beispiel liegen die meisten hochsensiblen Männer in den Vereinigten Staaten knapp unter dem Mittelbereich, und manche Menschen neigen dazu, alle Fragen so zu beantworten, dass sie das mittlere Punktfeld erreichen. Außerdem kann ein anderer, von der Hochsensibilität unabhängiger Wesenszug wie etwa „High Sensation Seeking“[2] (der in diesem Buch ebenfalls besprochen wird) dazu führen, dass man letztlich näher am Mittelbereich liegt. Am Ende sind wir doch alle einzigartig.
2010 haben mein Mann und ich eine Studie durchgeführt, über die wir bereits zweimal auf Konferenzen gesprochen haben. Sie wurde jedoch noch nicht in einem Buch oder einer Zeitschrift veröffentlicht. Wir waren schon immer interessiert daran, welche Rolle Langeweile in Beziehungen für die Zufriedenheit der Partner spielt. Also haben wir HSP und Nicht-HSP darüber befragt, wie es sich damit in ihren Partnerschaften verhält. In zwei verschiedenen Studien haben wir herausgefunden, dass HSP eindeutig mehr Langeweile verspüren, obwohl sie ansonsten in ihren Beziehungen ebenso zufrieden waren wie die befragten Nicht-HSP. Diese Studie haben wir dann mit einer dritten Gruppe durchgeführt, die wir allerdings danach befragten, was sie sich, wenn sie denn Langweile verspürten, eher wünschten: auszugehen und etwas Neues, Aufregendes zu erleben, oder sich tiefgründig über ein persönliches Thema zu unterhalten. Vor allem wenn HSP sagten, dass sie gerne über die Bedeutung ihrer Erfahrungen nachdächten (was auf die meisten zutrifft), gaben sie fast immer an, dass sie sich eine tiefgründige Unterhaltung wünschten, um der Langeweile in der Beziehung entgegenzuwirken.
Und hier die schlechte Nachricht: Ohne ernsthafte Gespräche langweilen sich HSP in ihren Beziehungen sehr schnell, und das umso mehr, wenn ihr Partner ein Nicht-HSP ist. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: HSP fühlen sich deshalb nicht gleich unwohl in ihrer Beziehung. Vielleicht haben sie sich einfach schon daran gewöhnt. Beides deutet jedoch darauf hin, dass sich beide Partner um tiefsinnige Gespräche bemühen sollten, um ihre Beziehung erfüllender zu gestalten. Und das wäre sie dann wahrscheinlich für beide Partner.
Beim erneuten Durchlesen dieses Buchs war ich überrascht, wie viel ich damals schon wusste und wie viel ich beim Schreiben schon vermittelt hatte. Ich war vor allem froh darüber, dass ich bereits über die spirituellen Aspekte von engen Beziehungen geschrieben habe. (Ich bin immer noch froh darüber, dass ich das Thema Spiritualität nicht ganz habe fallen lassen, so wie es mir von einem der damaligen Lektoren empfohlen wurde. Für viele HSP nimmt Spiritualität einen zentralen Punkt in ihrem Leben ein.) In gewisser Weise habe ich zu diesem Thema auch nichts mehr hinzuzufügen, außer, dass ich das Gefühl habe, damals beim Schreiben noch nicht wirklich darüber Bescheid gewusst zu haben.
Ich möchte damit sagen, dass mir die spirituelle Seite von Beziehungen im Laufe der Jahre immer deutlicher bewusst geworden ist und mir immer mehr am Herzen liegt. Das mag natürlich auch an der jetzigen Phase meines Lebens liegen. Tatsächlich habe ich jedoch schon immer an spirituelle Praktiken und Erlebnisse geglaubt, nicht nur an vage spirituelle Gefühle oder Vorstellungen. Vor allem für HSP erscheint mir das wichtig. Es gibt so viele Wege, und wir finden irgendwann alle den richtigen. Und dabei spielt Liebe üblicherweise eine wichtige Rolle, nicht wahr?
Ich selbst habe dreierlei praktische Erfahrungen gemacht. An erster Stelle ist hier natürlich meine Ehe zu nennen, obwohl ich das nicht immer so gesehen habe. Ich bin seit siebenundvierzig Jahren mit meinem Mann zusammen. Wir haben die leidvolle Konfliktphase ebenso hinter uns gebracht wie die komfortablen Zeiten, in denen wir alles für selbstverständlich angesehen haben, und dabei hat sich unsere Liebe mehr und mehr vertieft und immer mehr an spiritueller Bedeutung gewonnen. Ich merke heute auch, dass mein Verhalten und all meine Launen oft weit davon abweichen, wie ich gerne mit meinem Mann umgehen möchte. Doch auch diese Erkenntnis ist ein Abschnitt des Wegs. Mittlerweile unterstützen wir uns gegenseitig bei unseren spirituellen Bestrebungen und wollen das in der Zukunft noch weiter ausbauen. Die früheren Schwierigkeiten – und davon gab es viele – waren die Mühe wert.
Wie ich in diesem Buch bereits zu erklären versucht habe, kann jede enge Beziehung zu einem spirituellen Weg werden. Dafür gibt es zwei Leitfäden (beide in mehreren Sprachen erhältlich), die helfen könnten. Zum einen möchte ich Marriage Dead or Alive von Guggenbuhl-Craig erwähnen, das sich ganz speziell dem Thema der Ehe widmet. Guggenbuhl-Craigs Ansicht nach ist die Institution der Ehe zum Scheitern verurteilt, wenn wir allein deshalb heiraten, weil wir glücklich werden wollen. Wenn wir allerdings die Ehe als Möglichkeit sehen, unseren Charakter weiterzuentwickeln und unsere Seele zu bereichern, dann hat sie Bestand, auch wenn wir dafür Höhen und Tiefen in Kauf nehmen müssen.
Ein weiterer erwähnenswerter Autor ist Martin Buber. Manche Leser finden sein klassisches Werk Ich und Du zu schwierig und bevorzugen die leichter lesbaren wichtigen Stellen in Das dialogische Prinzip. Buber sieht in jeder Beziehung Potential für ein tiefes Ich-Du-Verhältnis (im Gegensatz zum Ich-Es), selbst wenn sie nicht von langer Dauer ist. In Bubers Anschauung können sich solche Beziehungen im Umgang mit der Natur entwickeln, natürlich auch mit anderen Menschen und mit Gott. Tatsächlich glaubte er, dass selbst ein Atheist, der genügend Ich-Du-Momente mit anderen Menschen erlebt, letztlich auch auf ein Ich-Du mit Gott stoßen würde.
Meine zweite spirituelle Praktik ist Meditation. Im Vergleich zu den Schwierigkeiten, mit denen ich in engen Beziehungen stets zu kämpfen hatte, ist es mir nie schwer gefallen zu meditieren. Das mag daran liegen, dass ich Transzendentale Meditation praktiziere, eine wirklich einfache Methode. (Bedeutende Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass unterschiedliche Methoden verschiedene Auswirkungen auf das Gehirn und die Stimmung und das Verhalten während und nach der Meditation haben.) Ich meditiere seit dreiundvierzig Jahren und verbringe mittlerweile zwei Stunden am Tag damit. Wie ich festgestellt habe, treten die versprochenen „höheren Ebenen des Bewusstseins“ wirklich ein, aber sie entwickeln sich erst nach und nach über einen längeren Zeitraum. Auf einer dieser höheren Ebenen vertieft sich auf ganz natürliche Weise eine Liebe zu etwas oder jemandem, wie Buber sie aufgelistet hat: die Liebe für die Schönheit der Natur, für die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen und für alles oder jeden, das oder den Sie in Ihrem Herzen tragen – die Quelle für alles. Auf dem Weg zu dieser höheren Ebene ist es wichtig, jemanden zu haben, den Sie lieben, obwohl das ganz von selbst kommt, wenn die Zeit dafür reif ist. Entscheidend dabei ist, dass der Weg der Meditation mit anderen Menschen in Verbindung steht.
Zum Dritten habe ich während meines gesamten Erwachsenenlebens Carl Jungs Gedanken genutzt, um den Begriff des „Schattens“ zu verstehen, d. h. die Summe all unserer Komplexe. (Ich gehe in diesem Buch näher auf Komplexe ein.) Wird ein Komplex ausgelöst, dann bringt er uns dazu, die Menschen, die wir lieben, nicht mehr als eigenständige Personen anzusehen; stattdessen sehen wir sie wie Spieler auf unserer inneren Bühne. Was immer sie auch sagen, scheint in diesem Moment lediglich einer Art Drehbuch zu entsprechen, das von unserem Komplex geschrieben wird. Und dann antworten wir mit Sätzen wie „Du liebst mich nicht wirklich“, „Ich kann ohne dich nicht leben“ oder „Du hast mich enttäuscht“.
Es mag persönliche Gründe dafür geben, dass der eine oder andere Komplex stärker hervortritt. Aber wenn Sie solange wie ich daran arbeiten, werden Sie feststellen, dass diese Skripte sich als instinktive Selbstschutzkomplexe herausstellen, wie wir alle sie uns zulegen. Wie soll man jemanden lieben, wenn man weiß, dass man ihn verlieren kann? Wenn der andere einen schwer enttäuschen könnte? Viel zu oft entgegnen wir diesen Zweifeln mit dem Versuch, nicht zu sehr zu lieben. Und es gibt viele Möglichkeiten, das zu tun, auch wenn das üblicherweise unbewusst abläuft. Zum Beispiel kann sich hinter „Du liebst mich nicht wirklich“ der Gedanke „Ich weiß, dass du mich wirklich liebst, und das macht mir Angst“ verbergen. „Ich kann nicht ohne dich leben“ kommt der eigentlichen Wahrheit schon näher, aber dahinter versteckt sich vielleicht der angstvolle Gedanke: „Was würde es über unsere Liebe aussagen, wenn ich eben schon ohne dich leben könnte?“ Und hinter „Du hast mich enttäuscht“ versteckt sich sehr oft „Ich weiß, dass ich dich enttäuscht habe“.
Kurz gesagt führt der Weg der Liebe oft direkt in einen trüben Sumpf, und Jung hat unsere kollektive dunkle Seite ebenso ernst genommen wie ich. In unserer Welt läuft derzeit einiges falsch, wogegen menschliche Liebe noch nichts ausrichten kann. Wir müssen noch viel mehr über uns selbst lernen.
Schamanen teilen die Welt in drei Bereiche ein: die obere Welt, die „reale“ Welt und die untere Welt. Für ihre Tätigkeit des Helfens und Heilens ist es wichtig, mit allen drei Welten vertraut zu sein. Ich betrachte Meditation als Weg in die obere Welt und das Vertiefen meiner engen Beziehungen als Weg in die „reale“ Welt. Und in die untere Welt werde ich geführt, wenn ich die Rolle der archetypischen, unbewussten Schattenwelt der menschlichen Psyche, meiner Psyche, besser verstehe. Obwohl heutzutage die Lehrer dieser drei Pfade oft zwei davon außer Acht lassen oder sogar verspotten, sind Schamanen davon überzeugt, dass sich diese drei Pfade nicht widersprechen, sondern sich gegenseitig ergänzen und Teil einer größeren Wirklichkeit sind.
In dieses Buch sind die drei genannten Pfade bereits eingebunden, und zweifellos gibt es auch bei Ihnen einzigartige Verkettungen, die sich durch Ihr Leben ziehen. Ich möchte damit betonen, dass zumindest einige spirituelle Praktiken zu etwas Wundervollem, Erstaunlichem und wirklich Erstrebenswertem führen können, aber erst im Lauf von vielen Jahren. Man bringt uns bei, dass es zwar nie zu früh ist, finanziell für seinen Ruhestand zu sorgen, aber auch nie zu spät, um damit zu beginnen. Und vor allem sollen wir auch in Krisenzeiten weiter ansparen. Aber wie wird der Ruhestand tatsächlich aussehen, zumindest für eine HSP, wenn wir nicht auch in etwas Tiefergehendes investieren? Mein Meditationslehrer brachte mir bei, dem Älterwerden mutig ins Auge zu schauen. Egal, wie alt wir gerade sind, wir werden alle älter. Aber wenn wir auch auf eine feinsinnigere und spirituellere Weise wachsen, bleibt am Ende um so vieles mehr übrig als nur ein alter, sterbender Körper. Ich hoffe für Sie nicht nur, dass Sie eine HSP in einer Liebesbeziehung sind oder dazu fähig sind, Liebe zu geben und zu empfangen, sondern auch, dass Sie eine HSP sind, die sich auf der Reise zu den endgültigen, vollkommensten Tiefen der Liebe befindet.
Ich habe nicht nur ein rein wissenschaftliches Interesse an den Auswirkungen der ererbten Charaktereigenschaft Hochsensibilität auf Liebesbeziehungen. Ich habe sie selbst erfahren, und ich habe daraus gelernt – ob ich wollte oder nicht. Mein eigener Fall zeigt nur eine Möglichkeit auf, wie Sensibilität eine Beziehung beeinflussen kann, doch diese Erfahrung hat dazu beigetragen, dass ich ein tiefes Verständnis für diesen bisher wenig beachteten Einfluss entwickelt habe.
Mein Ehemann Art, ein Sozialpsychologe, ist ein ruheloser Mensch. Wenn er allein einen Spaziergang macht, setzt er einen Walkman auf. Lieber geht er allerdings mit mir los.
Ich hingegen gehe gern allein spazieren. Und ich kann fünf Stunden Auto fahren, ohne dabei das Radio anzustellen. Ich denke dann einfach nur nach.
Unter Druck reagiert Art großartig. Es gibt niemanden, den ich in einer Krisensituation lieber an meiner Seite hätte; er scheut sich nicht davor und regelt alles. Aber er kann auch hundert Mal den gleichen Raum betreten, ohne zu bemerken, dass es gemütlicher wäre, wenn er die Neonbeleuchtung ausknipsen und den Teppichvorleger gerade rücken würde. Ich habe eine natürliche Begabung dafür, die feinen Unterschiede zu erkennen, die eine Situation verbessern können.
Wenn wir an einer Konferenz teilnehmen, mischt er sich vom Frühstück an bis zwei Uhr morgens unter die Leute und wandert von Gruppe zu Gruppe. Ich besuche die Sitzungen, begleite ihn vielleicht zum Abendessen oder auf eine Party, halte mich aber ansonsten meist in meinem Zimmer auf, mache Spaziergänge oder führe eine lange Unterhaltung mit einem anderen Einzelgänger. Für Art ist jede Handlung von spiritueller Bedeutung. Das Alltagsleben ist ihm heilig. Ich verspüre dagegen immer das Bedürfnis, mich zurückzuziehen. Ich fühle mich hin- und hergerissen zwischen äußeren Zwängen und der inhaltsreichen, geistig spannenden Welt, zu der ich nur Zugang finde, wenn ich mich nach innen wende.
Ich necke ihn noch immer damit, dass er mich einmal fragte, wo ich den wunderschönen neuen Druck in der Küche gefunden hätte, der dort bereits seit eineinhalb Jahren hing. Er zieht mich so gut wie nie auf – ich würde es mir allzu sehr zu Herzen nehmen.
Wir können beide sechzehn Stunden durcharbeiten, wenn es sein muss. Ich hasse es; für ihn ist es in Ordnung. Wenn ich zu Bett gehe, bin ich hellwach und zu überstimuliert, um einzuschlafen. Er legt sich an meine Seite, und eine halbe Minute später schläft er tief und fest wie ein Grizzlybär im Winter.
Art träumt nicht so oft wie ich. Er hat schöne Träume, oder sie handeln von Dingen, die er regeln muss. Meine Träume sind sehr intensiv, manchmal auch beunruhigend.
Jahrelang hielten wir mich daher für seltsam stark gefühlsbetont, während er uns als Mensch galt, den nichts wirklich berührt. Aber natürlich dachte ich auch hier wieder viel intensiver über alles nach als er. Ich wusste nicht, ob ich mich als krank und ihn als Ausbund an psychischer Gesundheit betrachten sollte, oder ob ich mich lieber als Genie empfinden sollte, eingeengt durch einen Ehemann, der auf frustrierende Weise oberflächlich und unsensibel war. Unter Berücksichtigung dieser zwei Gesichtspunkte, zog ich es vor, bei mir selbst das Problem zu suchen. Ich wünschte mir so sehr, meinen Mann zu lieben. Aber manchmal sehnte ich mich nach einem tiefgründigeren Partner, der mich vielleicht Gott näher bringen könnte. Art hätte es wahrscheinlich vorgezogen, eine spontanere, kontaktfreudigere Partnerin an seiner Seite zu haben – jemanden, der mehr redete und mehr Freude am Leben hatte. Aber ihn störte es nicht wirklich, dass wir verschieden waren. Mich schon.
Und ich war auch mit mir selbst unzufrieden. Ich dachte allen Ernstes, dass etwas mit mir nicht stimme, obwohl ich Art zugute halten muss, dass er nie dieser Ansicht war. Er mochte meine Intensität, Kreativität und Intuition, meine Vorliebe für tiefsinnige Gedanken und Unterhaltungen, meine Beobachtungsgabe für Feinheiten und meine intensiven Gefühle. Ich betrachtete diese als annehmbare äußere Zeichen eines schrecklichen, verborgenen Makels, dessen ich mir schon mein Leben lang bewusst gewesen war. Aus meiner Sicht liebte er mich wie durch ein Wunder trotzdem.
In anderen Bereichen sind wir natürlich nicht vollkommen verschieden. Dieses Buch handelt auch nicht nur von Liebesbeziehungen zwischen hochsensiblen (HSP) und nicht hochsensiblen Menschen (Nicht-HSP). Es geht auch um HSP, die sich selbst und einander lieben. Außerdem ist Art auch nicht ausgesprochen unsensibel. Er ist sehr gewissenhaft und stets bemüht, mit dem Innenleben anderer Menschen und seinem eigenen im Einklang zu sein. In dem HSP-Selbsttest auf Seite 51ff. beantwortete er neun Punkte mit Z für „zutreffend“ – das ist ein mittlerer Wert. (Mittelwerte sind nicht die am häufigsten vorkommenden – meistens sind Menschen entweder HSP oder nicht.) Und er liebt Liebe, Vertrautheit, Nähe. Tatsächlich waren und sind auch das Hauptgebiet unserer wissenschaftlichen Forschungen Liebe und enge Beziehungen.
Trotzdem war ich mir in meinem Privatleben bis vor wenigen Jahren nicht immer sicher, ob ich jemandem nahe sein wollte oder konnte. Meistens hielt ich meine negativen Gedanken zurück – sie galten mir als ein weiterer Aspekt meines scheinbaren Makels –, bis in einer Midlife-Crisis alles hervorbrach. Diese Zeit war sehr schwer für Art, denn ich sagte ihm sehr unverblümt, womit ich nicht zufrieden war. Aber das ermöglichte mir auch, eine Lösung für unsere Schwierigkeiten zu finden und dieses Buch zu schreiben.
Der Durchbruch kam, als der Psychotherapeut, den ich zu dieser Zeit aufsuchte, beiläufig erwähnte, dass ich hochsensibel sei. Da ging mir ein Licht auf. Konnte es sich dabei um meinen scheinbaren Makel handeln? Und war es etwa gar kein Makel? So begann ich mit meinen Studien über hochsensible Menschen.
Für diejenigen, denen dieser Begriff noch neu ist: HSP sind die 15 bis 20 Prozent der menschlichen Bevölkerung, die mit einem Nervensystem geboren wurden, das genetisch bedingt dazu führt, dass sie Feinheiten besser wahrnehmen. Sie neigen eher dazu, sich tiefgründige Gedanken über innere Erlebnisse zu machen, und werden daher unvermeidlicherweise leichter von äußeren Erlebnissen überwältigt. Auf die Details dieses Wesenszugs werden wir in Kapitel 1 näher eingehen. Übrigens handelt es sich hier nicht nur um meine Vorstellung, sondern um eine Auffassung, die auch durch Studien von anderen belegt wurde. Es ist wichtig zu verstehen, dass ich hier nicht von einer kleinen Macke rede, sondern von einem bedeutenden, normalen, ererbten Unterschied in den Funktionen des gesamten Nervensystems, der jeden Aspekt des Lebens beeinflusst. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung ist davon betroffen, und in gewissem Maße liegt der Prozentsatz noch höher. Werden Menschen nämlich zufällig zusammengeführt, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Partnerschaft von diesem Wesenszug betroffen ist, bei mindestens 36 Prozent.
Für Sie ist jetzt natürlich wichtig, herauszufinden, ob Sie und/ oder Ihr Partner eine HSP sind. Machen Sie den Selbst- und Partnertest auf Seite 51 sowie den Test auf Seite 58. In diesem zweiten Teil geht es um einen weiteren ererbten Wesenszug, der ebenfalls in Kapitel 1 besprochen wird: Sensation Seeking. Übrigens werden ebenso viele Männer wie Frauen hochsensibel geboren, obwohl Frauen häufig per se als empfindsam und empfänglich für Feinheiten stereotypisiert werden, während Männer als hart und wenig aufmerksam gelten. Klischeevorstellungen betreffend Männer, Frauen und Sensibilität werden in Kapitel 2 behandelt.
Ich habe viele Menschen interviewt, Untersuchungen durchgeführt, mich mit Tausenden beraten und Fragebögen gesammelt, und ich stellte fest, dass dadurch mein eigenes Leben und meine Ehe viel mehr Sinn erhielten. Nach und nach konnte ich mich selbst und meinen Mann immer stärker lieben und respektieren, so verschieden wir auch sein mögen. Tatsächlich erkenne ich jetzt, dass die Konfrontation mit den tiefverwurzelten Unterschieden unserer Wesensart zur Entwicklung unseres Charakters beigetragen und auf unvergleichbare Weise Leidenschaft und Freude in unser Leben gebracht hat.
Ich spreche in diesem Buch von meiner persönlichen Erfahrung und der starken Überzeugung, dass wir HSP und unsere Partner Hilfe dabei benötigen, die Bedeutung unserer sehr intensiven Gefühle und unserer Verschiedenartigkeit zu durchdenken. Ohne diese Hilfe können Liebe und enge Beziehungen bei HSP bittere Enttäuschung hervorrufen, und dann können wir auch anderen unabsichtlich Schmerz zufügen. Gewährt man uns Hilfe sind wir HSP jedoch auf ideale Weise dafür geschaffen, unserer Familie und der Welt ein ungewöhnlich großzügiges Maß an Liebe zu geben.
Ich würde niemals behaupten, dass es entscheidend für Glück oder Erfolg in Beziehungen ist, ob man eine HSP ist oder nicht. Natürlich mussten Art und ich uns auch mit vielen anderen Aspekten unserer Beziehung beschäftigen, unabhängig von unserer unterschiedlich stark ausgeprägten Sensibilität. Aber ich bin davon überzeugt, dass der Grad der eigenen Sensibilität und der ererbten Wesenszüge im Allgemeinen der am meisten vernachlässigte Faktor ist, wenn es darum geht, den Erfolg oder das Misslingen von Beziehungen zu verstehen.
Das wird anders werden. Obwohl dieses Ergebnis wenig Beachtung fand, haben zum Beispiel die Psychologen Matt McGue und David Lykken1 von der Universität Minnesota herausgefunden, dass 50 Prozent des Risikos einer Scheidung durch die genetische Veranlagung der Ehepartner bestimmt wird! Auch wenn ich die Bedeutung kritisch sehe, die wir dieser Zahl beimessen sollten, ist der Anteil des genetischen Einflusses erstaunlich. Das Thema wird auch in der Öffentlichkeit bald mehr Aufmerksamkeit erregen, da das Interesse an Genetik in unserer Gesellschaft zunimmt.
Entscheiden Gene tatsächlich, ob Ihre Liebesbeziehungen funktionieren? Offensichtlich nicht, mögen Sie jetzt sagen. Menschen lernen Ansichten und Werte, wenn sie aufwachsen, und sie können diese auch ändern – zum Beispiel, indem sie den Ratschlägen eines Selbsthilfebuches wie diesem folgen. Aber die oben genannte Studie passt zu dem allgemeinen Trend festzustellen, dass der größte Teil Ihrer momentanen psychischen Situation – also zum Beispiel wie glücklich Sie mit Ihrem Job und Ihrem Privatleben sind – das Resultat Ihrer Gene ist, und nicht Ihrer Erfahrungen oder Ihrer Erziehung.
Ich glaube, wir sollten durchaus skeptisch sein, wenn man Genen eine so große Bedeutung beimisst. Erstens sind Ehe und Scheidung offensichtlich sozialer Natur. (Gene sind sicher nicht dafür verantwortlich, dass es in Kalifornien mehr Scheidungen gibt als in Minnesota.) Zweitens kann die Annahme, dass unser Verhalten von Genen kontrolliert wird, zu einer versteckten, aber auch hinterlistigeren Idee führen: Lassen wir es doch einfach bleiben, Menschen dabei zu helfen, ihr Leben zu ändern, oder sie für ihr Verhalten verantwortlich zu machen, denn die Ärmsten sind ja schon auf diese Weise auf die Welt gekommen. Dann folgen Bezeichnungen für „auf diese Weise“: neurotisch, ängstlich, pessimistisch, nicht sehr intelligent, gewalttätig, an ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) leidend und so weiter. Ja, es gibt Studien, die zeigen, das bei alldem Gene ein Faktor sind. Aber auf welche Weise? Und was sollten wir daraus lernen? Und warum leidet bei eineiigen Zwillingen mit identischen Genen oft nur einer unter ererbten Problemen?
Ich mag in den gleichen Wäldern auf Pilzsuche gehen wie die Charakterforscher, die der Meinung sind, dass der Großteil unserer Psyche von Genen bestimmt wird, aber ich komme ganz sicher mit einem anderen Fund nach Hause. Erstens halte ich Beziehungsprobleme immer noch für eine soziale und nicht für eine genetische Angelegenheit. Der Zusammenhang zwischen erblicher Veranlagung und Scheidung bedeutet lediglich, dass etwas in den Genen eines Menschen Einfluss auf seine Beziehungen nimmt. Ich glaube aber, dass es nicht unser ererbtes Temperament ist, das zu Schwierigkeiten führt, sondern dass wir mit einigen Charakterzügen schlecht umgehen. Zweitens, je mehr ich über Temperament erfahre, umso mehr komme ich zu der Überzeugung, dass der Schlüssel, Menschen zu verändern, darin liegt, etwas über die unterschiedlichen Temperamente zu lernen. So setzt man die anderen weniger unter Druck und wird ihnen und sich selbst gegenüber toleranter. Ein Charakterzug ist kein Grund, Menschen unverändert zu lassen und sie als unveränderbar zu betrachten.
Nichtsdestotrotz wird Ihr Scheidungsrisiko zu 50 Prozent von Ihren Genen mitbeeinflusst. Somit sind ererbte Wesenszüge ein sehr wichtiger und bisher vernachlässigter Faktor für die Harmonie von Beziehungen.
Wie jeder, der über Humanpsychologie schreibt, komme auch ich nicht um Verallgemeinerungen herum. HSP sind besonders argwöhnisch, wenn jemand generalisiert, etikettiert oder stereotypisiert, weil wir immer sofort über Implikationen und andere Möglichkeiten nachdenken. Vielleicht sagen Sie gerade zu sich selbst: „Ich dachte, ich sei eine HSP, aber eigentlich bin ich eher wie Art – ich schlafe gut, ich bin extrovertiert, rastlos, optimistisch.“
Tatsächlich gibt es HSP mit all diesen Eigenschaften. Zum Beispiel sind 30 Prozent der HSP in ihrem sozialen Leben extrovertiert. Dank unserer verschiedenen Erfahrungen, der genetischen Vielschichtigkeit und vielleicht auch einer Prise persönlichen Schicksals sind wir alle einzigartige Individuen. Auch jede Beziehung ist einmalig. Also lesen Sie dieses Buch mit Vorbehalt und wählen Sie aus, was für Sie nützlich ist.
Möglicherweise denken Sie auch: „Das hat uns gerade noch gefehlt – wieder eine Grundlage für Vorurteile.“ Gut für Sie. Das ist die unvermeidliche Kehrseite von Verallgemeinerungen – sie werden zu Stereotypen und dann zu Vorurteilen. Wir beginnen zu glauben, HSP seien genau so, und das sei gut, und Nicht-HSP seien wiederum so, und das sei schlecht.
Wir HSP kennen Vorurteile – wenn wir nicht einfach ignoriert werden, werden wir bemitleidet oder als scheu, furchtsam oder neurotisch abstempelt (Wesenszüge, mit denen meiner Meinung nach niemand geboren wird). Natürlich brauchen wir zum Ausgleich eine Extraportion Stolz, das Gefühl, dass wir in einigen Bereichen überlegen sind. Aber mit diesem Buch müssen Sie und ich sehr vorsichtig sein. Wenn wir die Unterschiede akzeptieren möchten, müssen wir lernen, uns selbst zu schätzen, ohne Nicht-Hochsensible abzuwerten. Verwenden Sie dieses Buch also mit Bedacht – und ich bin sicher, das wird Ihnen gelingen. Machen Sie sich aber keine Vorwürfe (wir alle haben solche Ausrutscher), wenn Sie sich selbst oder andere auf einen einzigen Punkt oder einen einzigen Charakterzug reduzieren, oder sich deshalb überlegen oder unterlegen fühlen.
Obwohl in diesem Buch hauptsächlich Liebesbeziehungen behandelt werden, lieben wir Freunde und Verwandte offensichtlich ebenso stark. Vieles trifft also auf gleiche Weise auf diese Beziehungen zu – sich mit Freunden treffen, engen Kontakt zu Verwandten halten, die Verbindung mit Kollegen vertiefen, sich mit HSP und Nicht-HSP verstehen, die man mag. Ich glaube, dass Liebesbeziehungen auf Dauer nicht halten können, wenn sie nicht durch solche andere Arten von Beziehungen bereichert werden. Kein Partner kann alles für den anderen sein oder alles an ihm gut finden. Und HSP können besonders ausgeprägte, komplizierte Persönlichkeitsmerkmale und Interessen haben, über die sie sprechen möchten und die sie anerkannt sehen wollen. Wenn Ihr Partner nicht hochsensibel ist, brauchen Sie vor allem HSP-Freunde, und Ihr Partner braucht Freunde, die nicht hochsensibel sind. Wenn Sie beide HSP sind, werden Sie beide davon profitieren, mit verschiedenen Nicht-HSP befreundet zu sein.
Ein größeres Themengebiet als die Liebe hätte ich nicht wählen können. Ihre Bedürfnisse werden sich stark voneinander unterscheiden, je nachdem, ob Sie sich gerade verlieben, glücklich mit jemandem zusammenleben, Schwierigkeiten in einer langjährigen Beziehung haben oder sich in keiner Beziehung befinden und es entweder gerne wären oder nicht. Deshalb möchte ich mich kurz gezielt an einige von Ihnen wenden.
Gut für Sie beide – das ist die beste Methode. Vielleicht können Sie sich sogar gegenseitig einiges vorlesen. Ich glaube, Sie werden überrascht sein, wie sehr gemeinsames Nachdenken über Ihre Wesenszüge Ihrer Beziehung gut tut.
Das ist auch in Ordnung. Sie können mit Ihrem Partner teilen, was Sie gelernt haben, ihm möglicherweise einige für Sie besonders wichtige Stellen vorlesen, aber es ihm ersparen, das ganze Buch zu lesen. Wenn er oder sie überhaupt nicht daran interessiert ist, lassen Sie sich davon nicht irritieren. Üblicherweise lehnen Menschen eine Idee ab, weil sie sich davon in irgendeiner Weise bedroht fühlen. Machen Sie sich Gedanken darüber, warum Ihr Partner sich davor fürchtet, dieses Buch zu lesen. Vielleicht können Sie dann nach und nach sein oder ihr Vertrauen so weit aufbauen, dass er oder sie sich Ihnen öffnet. Wenn Sie ärgerlich und verletzt sind, werden Sie dieses Vertrauen nicht erhalten.
So verständnisvoll zu sein ist natürlich manchmal ein bisschen viel verlangt und nicht immer ein weiser Rat. Wenn das mangelnde Interesse Ihres Partners Ihnen sehr zu schaffen macht, können Sie wahrscheinlich Ihre Gefühle nicht verbergen, und das sollen Sie auch nicht. Aber vergessen Sie nicht – Interessen kommen und gehen, ebenso wie Ängste. Menschen stehen neuen Ideen offener gegenüber, wenn sie entspannt sind und sich sicher sein können, dass sie akzeptiert werden. Betrachten Sie das Ganze – die Dinge, die Sie an Ihrem Partner lieben – und warten Sie ab, wie es weitergeht.
Sie sollten wissen, dass ich während des Schreibens oft über Sie nachgedacht habe, denn ich habe sehr viele HSP kennen gelernt, die nicht in einer festen Beziehung leben – weil sie sich bewusst dafür entschieden haben oder auch nicht. Unabhängig davon, in welcher Situation wir uns derzeit befinden, neigen wir HSP dazu, durch unsere Liebesbeziehungen stärker geformt zu werden als andere Menschen. Wir verlieben uns seltener, aber heftiger als andere. Daher können wir immer einen Nutzen daraus ziehen, wenn wir über unsere vergangenen Liebesbeziehungen nachdenken. Angeblich war es Goethe, der eine Empfindung beschrieb, die mir gefällt: Ich liebe dich, und das hat nichts mit dir zu tun. Genau aus diesem Grund betone ich im Titel dieses Buch die Liebe und nicht die Beziehungen – Liebe scheint ein viel weitreichenderes, persönlicheres und subjektiveres Thema für HSP zu sein als Beziehungen. Ich glaube nicht, dass Beziehungsratgeber oft von Menschen geschrieben werden, die sehr nach innen gerichtet sind und die die Einsamkeit suchen – so wie ich oder viele von Ihnen – und bei denen sich ihr Liebesleben hauptsächlich im Privaten abspielt. Ich war der Meinung, dass wir ein solches Buch brauchen, und dass Sie alle es besonders wertschätzen werden.
Denken Sie auch daran, dass wir alle enge Freunde brauchen und dass Liebe in der Psychologie eine Kraft ist, die niemals nachlässt. Den ganzen Tag über denken wir an andere Menschen, selbst wenn wir allein sind. Diejenigen, an die wir denken, können wir auch lieben. Menschen brauchen es, geliebt zu werden – einschließlich der eigenen Person. Ich hoffe, dieses Buch wird Ihnen helfen, mehr Selbstliebe und Liebe zu anderen freizusetzen.
Wie schön, dass Sie mehr über Ihren HSP-Partner und Ihre HSP-Freunde erfahren wollen. Ich entschuldige mich dafür, dass ich dieses Buch an HSP richte – ich will Nicht-HSP nicht ausschließen –, aber ich denke, Sie verstehen das.