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Wie hochsensiblen Menschen in der Therapie geholfen werden kann Aufgrund besonderer Eigenschaften ihres Nervensystems nehmen Hochsensible mehr und intensiver wahr als andere Menschen. Dies hat manche Vorteile, führt allerdings auch zu schneller Überstimulation und scheinbar geringerer Belastbarkeit. Für einen Psychotherapeuten ergeben sich dadurch besondere Herausforderungen. Sein Verständnis für dieses zentrale Wesensmerkmal ist die Grundlage für eine vertrauensvolle Beziehung zu seinem Klienten und für alle Behandlungsziele. Elaine Aron, die Pionierin auf dem Gebiet der Hochsensibilität, führt in das Thema fundiert und kurzweilig ein. Sie erklärt, wie die Lebensqualität sensibler Patienten durch Psychotherapie verbessert und deren Selbstwertgefühl dauerhaft gestärkt werden kann. Die Patienten lernen, welche Vorzüge die Hochsensibilität hat und wie sie mit Problemen umgehen können.
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Seitenzahl: 632
Elaine N. AronHochsensible Menschen in der Psychotherapie
Aufgrund besonderer Eigenschaften des Nervensystems sind hochsensible Menschen empfindlicher gegenüber äußeren und inneren Reizen. Sie haben beispielsweise eine überdurchschnittlich detailreiche Wahrnehmung, reagieren stärker auf Schmerzen und gehen empathischer auf ihre Umwelt ein. Ebenso sind sie aber auch anfälliger für Reizüberflutung und Stress.
Suchen hochsensible Menschen Unterstützung in der Psychotherapie, kann eine entsprechend angepasste Herangehensweise den Behandlungserfolg wesentlich steigern. Elaine N. Aron erläutert in diesem Buch, woran der Psychotherapeut erkennt, dass sein Patient hochsensibel ist, wie eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut werden kann und wie die Betroffenen lernen, mit ihren Problemen effektiv und selbststärkend umzugehen. Die Lebensqualität hochsensibler Menschen wird durch die bewusst abgestimmte Therapie verbessert und ihr Selbstwertgefühl dauerhaft gestärkt.
Elaine N. Aron, US-amerikanische Psychotherapeutin in eigener Praxis. Sie ist Bestsellerautorin und gilt als Pionierin auf dem Gebiet der Hochsensibilität.
Copyright: © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2014
Copyright: © der Originalausgabe: 2010 by Taylor & Francis Group, LLC
Die Originalausgabe ist 2010 unter dem Titel Psychotherapy and the Highly Sensitive Person. Improving Outcomes for That Minority of People Who Are the Majority of Clients bei Taylor & Francis Group, LLC, erschienen.
Übersetzung: Christa Broermann, Stuttgart
Fachlektorat: Ulrike Hensel, Aidlingen
Coverfoto: © bruniewska – Fotolia.com
Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2014
Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn
ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-022-4
ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-024-8 (EPUB), 978-3-95571-316-4 (PDF), 978-3-95571-315-7 (MOBI).
Jedes Baby hat ein einzigartiges Temperament. Wir wissen, dass es keine Einbildung ist, wenn Eltern sagen: „Er ist sehr pflegeleicht und immer zufrieden“ oder „Sie ist lebhafter, als es ihr Bruder war“. Aus Kindern werden selbstverständlich Erwachsene, die ihr Temperament behalten, aber wenn wir einen erwachsenen Patienten vor uns haben, ist es weitaus schwieriger, zu unterscheiden, was angeboren und was anerzogen ist. Wir wissen, dass die grundlegenden Wesenszüge noch da sind und es verdienen, als unveränderlicher Kern der Patienten gewürdigt zu werden. Aber wie können wir ihnen helfen, eine gute Beziehung zu ihrer genetischen Ausstattung zu entwickeln, besonders wenn sie bedeutet, dass sie hochsensibel sind?
Hochsensibilität, die der Definition in meinen Forschungsarbeiten (Aron & Aron, 1997) entspricht, findet sich bei rund 20 Prozent der Bevölkerung (Kagan, 1994; Suomi, 1991 in einer Untersuchung von Primaten), daher sind zweifellos einige Ihrer Freunde und Angehörigen hochsensibel und außerdem ein hoher Prozentsatz Ihrer Patienten. Sie nehmen Feinheiten wahr und leiden mehr als andere, wenn sie starken Reizen ausgesetzt sind, wie etwa lauten Geräuschen, dem Trubel in Einkaufszentren und dergleichen, Temperaturextremen oder langen Sightseeing-Tagen mit vielen Eindrücken. Sie haben starke emotionale Reaktionen und brauchen mehr Erholungsphasen. Meist sind sie umsichtig und beobachten gut. Etwa 70 Prozent von ihnen sind introvertiert und wirken in mancher Hinsicht verletzlicher, gedeihen aber durchaus auf ihre eigene Weise. (Differenzierter können Sie diesen Wesenszug erfassen, wenn Sie sich die Skala für Hochsensible Personen, abgekürzt HSP, in Anhang A ansehen.)
Warum jetzt ein neues Merkmal?
Dieses Merkmal ist natürlich nicht neu: Es findet sich sowohl bei Tieren als auch bei Menschen (Sih & Bell, 2008; Suomi, 1991; Wilson, Coleman, Clark & Biederman, 1993; Wolf, van Doorn & Weissing, 2008), sodass es schon lange bekannt ist. Dabei erhielt es eine Reihe unterschiedlicher Namen, je nach Schwerpunkt der jeweiligen Forschungsarbeit – so etwa bei Babys „niedrige Reizschwelle“ (Chess & Thomas, 1987); „tauen langsam auf“ (Thomas, Chess & Birch, 1968); „affektive Negativität“ (Marshall & Fox, 2005); „Gehemmtheit“ (Kagan, 1994), „differenzielle Suszeptibilität“ für sowohl positive als auch negative Umgebungen (Belsky, Bakermans-Kranenburg & Van Ijzendoorn, 2007); „psychobiologische Reaktivität“ (Boyce et al., 1995; Gannon, Banks & Shelton, 1989); „biologische Kontextsensibilität“ (Boyce & Ellis, 2005). „Sensibilität“ bietet anscheinend einen Schirm, unter dem die tiefer liegende angeborene Überlebensstrategie hinter dem Merkmal gut Platz hat, eine Tendenz, die im Immunsystem ebenso wie im Nervensystem zu finden ist, und zwar nicht nur bei Menschen, sondern auch bei über 100 Tierarten (Wolf et al., 2008), von Taufliegen und Fischen bis zu Hunden und Rhesusaffen. Diese Strategie ermöglicht einem, Information gründlich zu verarbeiten, ehe man reagiert.
Wie verhält sich dieses Merkmal zur Psychotherapie?
Obwohl sich Hochsensibilität nur bei 20 Prozent der Bevölkerung findet, haben sie in den meisten Praxen wohl eher fast 50 Prozent der Patienten. Sie zeigt sich hauptsächlich bei Menschen mit einer schwierigen Kindheit, die sie anfälliger für Depression, Angst und Schüchternheit macht als Nichthochsensible. Diejenigen, deren Kindheit glücklich verlief, weisen diese Probleme allerdings nicht häufiger auf als nichthochsensible Menschen (Aron, Aron & Davies, 2005; Liss, Timmel, Baxley & Killingsworth, 2005). Es gibt sogar zahlreiche Belege dafür, dass hochsensible Kinder mehr als andere von einer glücklichen Kindheit profitieren (eine Übersicht über die wachsende Literatur zu diesem Thema findet sich bei Belsky et al., 2009 und Boyce & Ellis, 2005). Das ist einer von zahlreichen Gründen dafür, dieses Merkmal nicht als Störung anzusehen.
Ein ebenso wichtiger Grund für den Wunsch so vieler Hochsensibler nach einer Therapie ist, dass sie selbst glauben, sie hätten vielleicht eine Störung, auch wenn sie gar keine haben. Sie sind eine wenig verstandene Minderheit und verstehen sich nicht einmal selbst, deshalb suchen sie uns mit der Frage auf, warum sie anscheinend so anders sind.
Außerdem kommen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit in Therapie und möchten auch mehr Sitzungen haben als andere Patienten, weil sie für psychologische Zusammenhänge offener sind und sich mehr dafür interessieren, weil sie Symptome und ihre Langzeitfolgen stärker wahrnehmen und ihren anfänglichen Widerstand leichter erkennen und überwinden können. Sie benötigen häufig auch mehr Sitzungen, weil es mehr Zeit erfordert, ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen, und weil sie neben der Bearbeitung des Problems, das sie in die Therapie führt (Präsentierproblem), ihr Wesensmerkmal verstehen und damit umgehen lernen müssen. Sie haben auch mehr Gewinn, wenn sie ihre Therapieerfahrung längere Zeit verarbeiten können, und wahrscheinlich mehr Freude daran. Da sie mehr und eine längere Behandlung benötigen, werden sie zu einem bestimmten Zeitpunkt insgesamt einen höheren Prozentsatz einer breiten Patientenpopulation ausmachen.
Da so viele hochsensible Patienten aus den unterschiedlichsten Gründen Therapeuten aufsuchen, ist es sehr wichtig, Hochsensibilität von den vielen Störungen unterscheiden zu können, mit denen man sie verwechseln kann. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass Hochsensibilität häufig zusammen mit psychischen Störungen und anderen Problemen auftritt, daher muss man wissen, in welcher Weise sich das Erscheinungsbild dieser Probleme bei hochsensiblen Patienten verändert und wie das Verständnis für ihre Sensibilität die Arbeit mit ihnen verbessern kann. Das Ziel dieses Buches ist, diese Fragen zu klären, und außerdem Wege vorzuschlagen, wie man den Bedürfnissen dieser Patienten gerecht werden kann.
Welchen Gewinn bringt mir dieses Buch?
Zunächst werden Sie eine kurze, aber gründliche Einführung in die Hochsensibilität erhalten. Obwohl dieses Buch als solide wissenschaftliche und professionelle Abhandlung gedacht ist, habe ich an den Anfang und ans Ende eines jeden Kapitels eine Zusammenfassung gestellt und nach jedem Abschnitt ein Fazit gezogen, damit Sie es auch zeitsparend lesen können. Außerdem finden Sie darin durchgängig Fallbeispiele und Dialogausschnitte. Das erste Kapitel gibt Ihnen ein Gefühl für die wichtigsten Merkmale der Hochsensibilität und verweist auf die wissenschaftliche Forschung, die dahinter steht (eine umfassendere Darstellung der Forschung enthält Anhang C), und das zweite Kapitel hilft Ihnen bei der zentralen Aufgabe, zu erkennen, ob jemand, der zur Therapie zu Ihnen kommt, hochsensibel ist. Kapitel drei, vier und fünf zeigen Wege auf, diesen Patienten bei den typischsten Problemen zu helfen und Ihre gemeinsame Arbeit für sie passend zu gestalten, sodass Sie ein möglichst gutes Ergebnis erzielen. Kapitel sechs, sieben und acht befassen sich vorrangig mit Beziehungen und Arbeit. Schwerpunkt des letzten Kapitels ist, Ihnen zu helfen, Sensibilität inmitten eines breiten Spektrums anderer Persönlichkeitsvarianten und auch Varianten bei den Hochsensiblen selbst zu identifizieren.
Allgemeiner gesagt, werden Sie durch dieses Buch die Fähigkeit erlangen, die Lebensqualität aller hochsensiblen Patienten in Ihrer Praxis in Gegenwart und Zukunft erheblich zu verbessern. Sie werden ihnen genaue Informationen über ihre Sensibilität geben, sie bestätigen und dadurch ihr Selbstwertgefühl dauerhaft steigern können. Zudem werden Sie ihnen helfen, ihr angeborenes Temperament von dem zu trennen, was sonst noch für sie von Bedeutung ist. Die Patienten werden von Ihnen lernen, welche Vorzüge dieses Wesensmerkmal hat und wie sie mit dem umgehen können, was ihnen Nachteile einbringen könnte. Bei vielen wird Ihr Verständnis für dieses zentrale Wesensmerkmal, das von anderen Therapeuten so oft übersehen und missverstanden wird, die Grundlage ihres Vertrauens in Sie sein und auch die Basis des Erfolgs bei Ihren übrigen Behandlungszielen.
Den befriedigendsten Gewinn ziehen Sie aber vielleicht daraus, dass Sie viele dieser Patienten mehr als andere von Ihren therapeutischen Bemühungen profitieren sehen. Wie ich bereits gesagt habe, gibt es eine wachsende Forschungsliteratur, die zeigt, dass sensible Kinder eine „biologische Kontextsensibilität“ (Boyce et al., 1995) besitzen, die ihnen ermöglicht, mehr als andere Kinder die Vorteile einer anregenden und förderlichen Umgebung zu nutzen. Zwar reagieren Kinder mit einer erhöhten Sensibilität für psychosoziale Prozesse empfindlich auf eine negative Umgebung, aber „vielleicht sind sie dafür auch empfänglicher für soziale Signale, die Ermutigung und Akzeptanz ausdrücken“ (S. 420). Sehr wahrscheinlich könnte eine ausgezeichnete Psychotherapie die gleichen differenziell positiven Wirkungen für sensible Erwachsene haben und ihnen helfen, ihre Verletzlichkeit in eine Empfänglichkeit für all das Gute in ihrer Umgebung zu verwandeln.
Ist diese „Hypersensibilität“ nicht doch eine Beeinträchtigung?
Diese Frage wird natürlich noch immer gestellt, weil die erwähnte Literatur über die Normalität und die Vorzüge dieser Eigenschaft noch nicht sehr bekannt ist. Außerdem bekommen Therapeuten keinen repräsentativen Querschnitt aller hochsensiblen Menschen zu Gesicht, weil diejenigen, die in einer günstigen Umgebung aufgewachsen sind, sich oft gut anpassen, sich in den Alltag einfügen und unauffällig die Situationen für sich auswählen, in denen sie die besten Leistungen erbringen, während sie die anderen Situationen meiden. Man nimmt sie kaum als besonders sensibel wahr, selbst wenn man sie gut kennt. Das sind nicht diejenigen, an die man bei Hochsensibilität typischerweise denkt.
Andererseits geraten aufgrund ihrer größeren Verletzlichkeit mehr hochsensible Menschen in seelische Nöte als andere, und dann fallen sie auf. Leiden und Sensibilität gehören in unserem Kopf zusammen. Selbst wenn es nicht um Patienten geht, bemerken wir hohe Sensibilität oft nur dann, wenn jemand „viel zu schnell“ verletzt reagiert oder sich schon von „ein bisschen Lärm“ sehr gestört fühlt. Da sensible Menschen eine Minderheit bilden, sind sie auch nicht normal in dem Sinne, dass sie so sind wie die meisten anderen Leute (und die meisten Therapeuten). Die Hochsensiblen sind wirklich anders. Auf der HSP-Skala gibt es Leute, die jede Frage mit einem Ja beantworten, und solche, die alle mit einem Nein beantworten. Das ist eine beträchtliche Bandbreite im Verhalten, aber dennoch alles normal.
Weitere Verwirrung entsteht daraus, dass sehr ausgeprägte Hochsensibilität einigen Krankheiten ähneln kann. So haben Hochsensible beispielsweise stärkere emotionale Reaktionen, die man mit Zyklothymie verwechseln könnte – und bei manchen sensiblen Menschen geht es auch so weit. Ihr Wunsch, erst innezuhalten und zu überlegen, ehe sie sich auf neue Situationen einlassen, kann nach Schüchternheit aussehen und auch dazu werden. Ihre Vorliebe dafür, nach einem Fehlschlag erst einmal ihre kognitiven Koordinaten zu überprüfen, statt sofort wieder loszulegen (Patterson & Newman, 1993), kann man mit Zwanghaftigkeit verwechseln, und ihr Wunsch, alle Konsequenzen eines Vorgehens zu bedenken, kann nach chronischer Angst aussehen – und manche hochsensiblen Personen entwickeln diese Störung auch.
Vor allem aber kann die potenzielle Überstimulation, die zu diesem Merkmal gehört, zu einer Übererregung in genau den Situationen führen, die für alle die wichtigsten sind, und Übererregung (oder Untererregung) führt bei jedem kurzfristig zu Unbehagen und einer eingeschränkten Leistung und langfristig zu geschwächtem Selbstwertgefühl und geringerer Risikobereitschaft. Wenn man also einige natürliche Folgen dieses Merkmals mit dem Merkmal selbst verwechselt, mag es so aussehen, als sei es nichts weiter als eine Störung oder ein Syndrom. Aber dieser Wesenszug an sich ist keine Beeinträchtigung. Er kann sogar große Vorzüge bieten.
Heißt das, man wird schon schüchtern geboren?
„Hochsensibilität“ beschreibt zutreffender, was einem Verhalten zugrunde liegt, das wir sonst als schüchtern, ängstlich, gehemmt, reaktiv, neurotisch oder Rückzugsverhalten bezeichnen. Diese Begriffe verwendet man nach längerer Beobachtung von Individuen, vor allem Kindern und Tieren, die nichts sichtbar Ungewöhnliches tun, also versucht man, eine Hypothese für den Grund ihres Nichttuns zu bilden. Aber Wörter wie „schüchtern“ decken nicht alle Möglichkeiten ab. Genau genommen bedeutet „schüchtern“, dass man soziale Verurteilung fürchtet. Wie können wir sicher sein, dass ein Kind, das zögert, ehe es ein Klassenzimmer betritt, Angst hat? Der Begriff „Hochsensibilität“ ist besser geeignet, um eine Lernstrategie zu erklären, bei der man seine Umgebung eher durch Beobachtung als durch Erforschung erkundet. Gleichzeitig lässt er Raum für die Tatsache, dass ein sensibles Kind, das gelernt hat, beim Betreten eines Klassenzimmers Ablehnung zu erwarten, mit höherer Wahrscheinlichkeit schüchtern wird.
Der Begriff „sensibel“ ist hoffentlich auch weniger negativ besetzt oder hat zumindest ebenso viele positive wie negative Implikationen. Der Begriff für ein Wesensmerkmal entscheidet ja durchaus darüber, wie wir es einschätzen, und wirklich neutrale Begriffe gibt es nicht. So wird etwa Spontaneität als Eigenschaft positiv betrachtet, unkontrollierte Impulsivität eher negativ, ebenso ist es bei Durchhaltevermögen im Gegensatz zu Starrsinn oder Extraversion versus Grenzüberschreitung. Im Falle der Sensibilität heben die meisten Ausdrücke das hervor, wozu sie manchmal, aber nicht immer führt, nämlich sozialen Rückzug, Angst, Grübelei, niedriges Selbstwertgefühl, Schüchternheit und Pessimismus. Tatsächlich ist nichts davon die zwangsläufige Folge von Sensibilität, kann aber durch das Zusammenwirken dieses angeborenen Merkmals mit verschiedenen Lebenserfahrungen und Schwierigkeiten entstehen. Da es viele sensible Menschen ohne diese negativen Eigenschaften gibt, wird ihnen der Gebrauch der negativ gefärbten Bezeichnungen nicht gerecht und schadet ihnen, führt Forscher in die Irre und verwirrt Kliniker.
Ist das nicht eigentlich Introversion?
Sensibilität und Introversion sind in dem Sinne dasselbe, in dem C. G. Jung diese Begriffe ursprünglich verstand (1921 / 1961): als Vorliebe dafür, eine Erfahrung subjektiv durch den Vergleich mit anderen Erfahrungen zu verstehen, statt ihre objektiven Qualitäten zu erforschen. In Forschungsarbeiten über Introversion (Koelega, 1992) wird zudem immer wieder festgestellt, dass Introvertierte in vielerlei Hinsicht sensibler sind als Extravertierte. Aber dann reden alle, einschließlich Jung, so weiter, als wäre jede Introversion soziale Introversion. Zwar sind etwa 70 Prozent der Hochsensiblen sozial introvertiert, aber 30 Prozent sind sozial extravertiert, denken aber viel über ihre Erfahrungen nach und brauchen dafür mehr Erholungsphasen als andere Extravertierte. Sie blieben außen vor, würde man Sensibilität mit sozialer Introversion gleichsetzen, und gerade für diese Gruppe ist es besonders nötig, verstanden zu werden.
Sensibilität scheint fundamentaler und angeboren zu sein, während Introversion das Ergebnis mehrerer Ursachen ist, von denen Sensibilität nur eine ist. Introversion und Extraversion sind dennoch hilfreiche Begriffe, aber wenn man sehr sensible Patienten als hochsensibel bezeichnet, erfassen ihre Therapeuten ihr grundlegendes Naturell besser. Nicht minder wichtig ist, dass Patienten sich dann eher verstanden und gestärkt fühlen, weil sie in diesem Begriff mehr ihnen geläufige Erfahrungen wiedererkennen, auch jenseits ihres Sozialverhaltens.
Warum sollte Therapie für hochsensible Menschen anders aussehen als für andere?
Weil die Unterschiede bereits im Wartezimmer und im Behandlungsraum des Therapeuten beginnen: Sensible Menschen reagieren stark auf ihre Umgebung, und wenn Sie das wissen, können Sie einen Raum leicht so gestalten, dass sie sich darin wohlfühlen. Auch ihre erste Sitzung sieht anders aus – sie werden aufgeregter sein als andere, was leicht falsch interpretiert oder durch Verhaltensweisen verstärkt werden kann, die ihnen eine unnötig leidvolle Erfahrung bescheren.
Im weiteren Verlauf der Therapie werden diese Patienten am meisten profitieren, wenn Sie sie behutsam behandeln und keinen übermäßigen Reizen aussetzen. Niemand lernt gut, wenn er übererregt ist. Und das geschieht bei diesen Patienten viel leichter, deshalb müssen Sie Ihren Stil auf sie einstellen. Sie sind auch empfindlicher gegen Kritik und fühlen sich schnell beschämt. Diese Reaktionen können Sie vermeiden, wenn Sie alles, was Sie vorzubringen haben, behutsamer ausdrücken, als Sie es vielleicht bei anderen täten. Das sind nur einige Beispiele.
Ist das nicht eher eine populäre Idee zur Selbsthilfe?
Das Thema wurde erstmals in meinem für Laien geschriebenen Buch The Highly Sensitive Person angesprochen, das 1996 veröffentlicht wurde (dt. Sind Sie hochsensibel?, 2005), ehe 1997 die ersten empirischen Forschungsarbeiten erschienen. Das Buch stieß auf breites öffentliches Interesse, doch für mich war Hochsensibilität in erster Linie ein Forschungsthema. Ich hatte nie die Absicht gehabt, ein populärwissenschaftliches Buch über Sensibilität oder was auch immer zu schreiben. Aber als ich mit der Forschung begann, arbeitete ich im Rahmen der University of California in Santa Cruz, und es wurde eine Pressemitteilung darüber veröffentlicht, die in der Sonntagsausgabe einer Lokalzeitung erschien. Obwohl dort nur mein Name angegeben war, hatten mich innerhalb der folgenden beiden Wochen Hunderte von Menschen ausfindig gemacht, riefen mich an oder schrieben mir und wollten Näheres wissen. Ich erklärte mich zu einem Vortrag in der Stadtbücherei bereit, und es kamen so viele, dass sie nur stehend Platz fanden. Anschließend wurde ich vielfach um irgendeine Art von Kurs über das Thema gebeten. Ich hatte keine Ahnung, was ich über das hinaus, was ich bereits in der Bibliothek gesagt hatte, noch lehren sollte. Aber ich sagte zu, dass ich einen kleinen Kurs anbieten würde, und stellte bald fest, dass ich mehr zuhörte als unterrichtete, während einige Dutzend hochsensible Personen sich darüber austauschten, wie sie ihr Leben bewältigten.
Bald hatte ich viele Seiten von Bewältigungsstrategien festgehalten, die ich in drei Folgekursen weitergab. Ich war aber ganz entschieden nicht daran interessiert, fortan beruflich Selbsthilfeseminare abzuhalten, deshalb schien es mir das Beste, das offenkundige Bedürfnis nach einschlägigen Informationen in Form eines Buches zu erfüllen. Das erschien mir fast wie eine ethische Verpflichtung, weil das Interesse so groß und die Forschung dazu noch nicht veröffentlicht war. Als das Buch ein Bestseller wurde, gab es noch viel mehr Möglichkeiten, hochsensible Menschen zu erreichen und ihnen mit The Highly Sensitive Person’s Workbook (1999) und The Highly Sensitive Person in Love (2001; dt. Hochsensibilität in der Liebe, 2006) zu helfen. Dieses Thema ergab sich ganz natürlich daraus, dass mein Mann und ich jahrelang gemeinsam über Anziehungskraft und Nähe geforscht haben. Zuletzt erschien The Highly Sensitive Child (2002, dt. Das hochsensible Kind, 2008). Dieses Buch erschien mir nötig, als ich erkundete, wie eine ungünstige häusliche Umgebung und hohe Sensibilität korrelieren und wie daraus bei Erwachsenen Angst, Depression und Schüchternheit entstehen.
Dass ich der breiten Öffentlichkeit die Informationen zugänglich machte, die sie brauchte, ließ mir wenig Zeit, meine Forschung voranzutreiben oder an Konferenzen teilzunehmen, auf der ich sie hätte diskutieren können. Das wiederum hätte zu weiteren Studien anderer Wissenschaftler geführt, die dann irgendwann die erforderliche kritische Anzahl erreicht hätten, die eine Idee in akademischen Kreisen bekannt macht. So kommt es, dass manche Fachleute Hochsensibilität vielleicht noch immer nicht als ernsthaftes Thema innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie ansehen.
Und was gilt für die Autorin?
Ich bin selbst hochsensibel, und obwohl man meinen könnte, dass das meine Objektivität gefährdet, bedeutet es vielmehr, dass ich diesen Wesenszug von innen her kenne, was mir sehr geholfen hat, weil zur Sensibilität so viel nicht beobachtbares Verhalten gehört. Außerdem habe ich als Psychotherapeutin, die sich nach und nach zur Spezialistin für die Behandlung sensibler Patienten entwickelt hat, viele Tausend Stunden klinische Erfahrung in der Arbeit mit dieser Gruppe erworben. Ebenso viele Stunden habe ich mit Unterricht, Interviews und Beratung für die viel zahlreicheren nicht klinischen hochsensiblen Menschen zugebracht, sodass ich die beiden Gruppen gut vergleichen kann. Ich habe mich bemüht, all dieses Material so objektiv wie möglich auszuwerten, und da ich vom Typ her skeptisch bin, ist es ebenso gut möglich, dass ich dabei übermäßig vorsichtig war.
Wie Sie dieses Buch nutzen können
Die in diesem Buch vorgestellten Ideen sollten für alle gleichermaßen hilfreich sein, ungeachtet ihrer theoretischen Ausrichtung. Ich habe vermieden, generell einen bestimmten Ansatz zu empfehlen, auch wenn mein eigener Ansatz gelegentlich durchschimmern mag. Die Vorschläge, die ich mache, lassen sich als Hausaufgaben in einer kurzen kognitiven Verhaltenstherapie nutzen oder können zu allmählich gewonnenen Einsichten in einer langfristigen psychodynamischen Therapiearbeit führen. Die Beispiele stammen vor allem von komplizierten Langzeitpatienten, weil ich annehme, dass Sie nicht so viel Anschauungsmaterial für die Arbeit mit Menschen brauchen, die nur eine Beratung wegen ihrer Hochsensibilität benötigen.
Die Fallbeispiele setzen sich jeweils aus mehreren Quellen zusammen (und die Namen sind folglich Pseudonyme). Ich habe mich gefragt, ob diese Lösung wirklich stimmig ist, da bei einer Mischung eine Person herauskommen kann, die es so vielleicht niemals gibt. Aber dieses Problem dürfte sich bei allen klinischen Schilderungen ergeben.
Bitte beachten Sie auch die Anhänge. Zuerst erschien es mir vernünftig, mit der Forschung zu beginnen, aber zugleich fühlte es sich verkehrt an, die Leser zu zwingen, zunächst einmal mehrere Kapitel mit komplexem Stoff zu verdauen, der sie vielleicht gar nicht interessiert. Daher präsentiere ich die Details der Forschung in Anhang C.
Kapitel 2 schien mir nach sorgfältiger Überlegung die Erwähnung der Kategorien im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) der American Psychiatric Association zu erfordern sowie den Hinweis, dass Sensibilität leicht mit verschiedenen Störungen zu verwechseln ist und dass die Sensibilität eines Patienten das Erscheinungsbild mancher Störungen verändern kann. Aber auch dieser Einstieg kam mir recht beschwerlich vor, sodass das entsprechende Material in den Anhang B wanderte.
Terminologie
Die Begriffe „Hochsensibilität“, „Sensibilität“ und „Sensory Processing Sensitivity“ (Hochsensibilität in der Sinnesverarbeitung) werden im folgenden Text ohne Bedeutungsunterschied verwendet. „Sensibler Mensch“ oder „sensible Person“ bezieht sich auf jemanden, der Teil der Gruppe aller hochsensiblen Personen in der Gesamtbevölkerung ist, und „sensibler Patient“ bezieht sich auf jemanden, der zur Untergruppe derjenigen gehört, die Psychotherapie in Anspruch nehmen. Diese Unterscheidung ist wichtig.
Dass ich mich dafür entschieden habe, öfter „Patient“ als „Klient“ zu schreiben, erklärt sich am besten aus den Überlegungen, die Patt Denning im Vorwort zu ihrem Buch Practicing Harm Reduction Psychotherapy (2000 / 2004) angestellt hat:
Wenn ich jemanden als meinen Patienten / meine Patientin bezeichne, dann spüre ich eine andere, weiter reichende Verantwortung in meiner Rolle als Therapeutin. Wenn ich mir bewusst bin, dass dieser Mensch mit Schmerzen und oft mit erheblicher Angst zu mir gekommen ist … gelobe ich mir, mich als Anker und aktive Helferin anzubieten, denn ich erkenne seine Verletzlichkeit und achte sorgfältig darauf, sie nicht zu nutzen, um ihn zu erniedrigen oder Kontrolle über sein Leben zu erlangen. Aus irgendeinem Grund löst das Wort „Klient“ in mir nicht dieses Empfinden von ehrfürchtiger Verantwortung, Respekt und Nähe aus (S. xx-xxi).
Ich möchte meinen Patienten und Patientinnen und den vielen anderen sensiblen Menschen danken, die ich kennengelernt habe. Sie haben mich vieles von dem gelehrt, was Sie in diesem Buch finden. Das ganze Konzept hätte niemals so viele Menschen mit solcher Klarheit und empirischer Validität erreicht, hätte mir nicht mein Mann, Art Aron, mit seiner Hilfe zur Seite gestanden. Mein früherer Lektor Jim Nageotte war ebenfalls sehr hilfreich. Aber der ausschlaggebende Grund dafür, dass Sie dieses Buch lesen, ist George Zimmer bei Routledge. Er war von Anfang an von diesem Projekt begeistert.
Auch andere haben bei der Forschung mit uns zusammengearbeitet, allen voran Kristen Davies, Hal Ersner-Hershfield und Jadzia Jagiellowicz. Wertvolle klinische Vorschläge machten mir Chauncy Irvine, Carole Kennedy, Gary Linker, Ellen Nakhnikian, Ellen Siegelmann und viele andere.
Sehr viel verdanke ich meiner lieben Freundin und Kollegin Jan Kristal, die zu früh starb, um alles weiterzugeben, was sie über Temperamente wusste. Ihr widme ich dieses Buch.
Ich glaube jedoch an die Aristokratie – wenn das das rechte Wort ist und wenn ein Demokrat es benutzen darf. Nicht an eine Aristokratie der Macht … sondern … eine der Sensiblen, der Rücksichtsvollen … Ihre Mitglieder sind in allen Nationen und Gesellschaftsschichten zu finden und auch durch alle Zeitalter hindurch … Wenn sie einander begegnen, herrscht zwischen ihnen ein geheimes Einvernehmen. Sie repräsentieren die wahre menschliche Tradition, den einzigen dauerhaften Sieg unserer sonderbaren Rasse über Grausamkeit und Chaos. Tausende von ihnen gehen unbeachtet dahin, ein paar haben große Namen. Sie sind sich selbst ebenso wie anderen gegenüber sensibel … rücksichtsvoll, aber nicht übertrieben besorgt, ihr Mut zeigt sich nicht in Angeberei, sondern in der Kraft, etwas zu ertragen.
(E. M. Forster, „What I Believe in“, in: Two Cheers for Democracy)
Dieses Kapitel vermittelt Ihnen ein Verständnis für hochsensible Menschen, die nicht unbedingt Patienten sein müssen, ehe es sich denjenigen zuwendet, die Patienten sind. Es bietet Ihnen eine Definition der Hochsensibilität, grenzt sie von Störungen ab, die eine Behandlung erfordern, und vergleicht sie mit anderen gut bekannten Persönlichkeitsmerkmalen. Es enthält eine Liste von Eigenschaften sensibler Menschen und schließlich eine Diskussion der Forschungsarbeiten, die darauf hinweisen, dass sensible Menschen mit einer schwierigen Kindheit tatsächlich anfälliger für Depression, Angst und Schüchternheit sind als andere.
„Ich war schon immer schüchtern.“ „Alle sagen, ich sei viel zu sensibel.“ „Ich verstehe das nicht. Es gibt Leute mit einer viel schlimmeren Kindheit, als ich sie hatte, die trotzdem keine Therapie brauchen.“ Diese Art von Äußerungen hören Therapeuten und Therapeutinnen häufig in der ersten Sitzung mit neuen Patienten und lassen sich dann mehrere Hypothesen für die Gründe dafür durch den Kopf gehen. Ist die Schüchternheit so groß, dass sie als Sozialphobie gelten muss? Ist „zu sensibel“ ein Zeichen für eine Persönlichkeitsstörung? Warum leidet dieser Mensch bei einer solchen Lebensgeschichte so sehr?
Viele Kliniker haben schon das Wort „sensibel“ auf einen Patienten angewandt oder das Wort beiläufig in der Literatur erwähnt gesehen. Zum Beispiel: „Individuen, die durch elterliche Bedürfnisse überstimuliert werden oder die von Haus aus besonders sensibel sind, können sowohl Schmerz als auch Freude intensiv erleben.“ (Perera, 1986, S. 34) Und auf der ersten Seite des ersten Kapitels seines Buches The Inner World of Trauma schrieb Donald Kalsched: „In den meisten Fällen waren diese Patienten außerordentlich intelligente, sensible Personen, die aufgrund eben dieser Sensibilität in der frühen Kindheit ein akutes oder kumulatives emotionales Trauma erlebt hatten.“ (1996, S. 11 f.) Aber diese Autoren lassen sich, wie die meisten Kliniker, nicht darauf ein, den Begriff zu definieren.
Die Begriffe „Hochsensibilität“, „Sensibilität“ und „Sensory Processing Sensitivity“ (Hochsensibilität in der Sinnesverarbeitung) sind Begriffe, mit denen in diesem Buch ein einzelner, angeborener Wesenszug benannt wird, der sich einerseits als Wahrnehmung von Feinheiten bei Reizen ausdrückt und andererseits als Potenzial, von zu starken Reizen überwältigt zu werden (Aron & Aron, 1997; eine umfassende Diskussion dieses Wesenszuges enthält Anhang C). Diese erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit ist keine Eigenschaft der Sinnesorgane, sondern vielmehr des Gehirns, das als Strategie die Eigenheit an den Tag legt, Information besonders gründlich zu verarbeiten. Daher sind die beobachtbaren Verhaltensweisen, die aus dieser Strategie resultieren, sehr vielfältig, wie man am breiten Spektrum der Fragen in der HSP-Skala sehen kann, die in Anhang A abgedruckt ist.
Hochsensibilität findet sich bei etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung (Kagan, 1994; Kristal, 2005). Interessanterweise hat man sie in ungefähr gleichen Prozentsätzen auch bei den meisten Tieren festgestellt, von Taufliegen (Renger, Yao, Sokolowski & Wu, 1999) bis zu Primaten (Suomi, 1987, 1991), obwohl natürlich ihre genetische Form und ihr Ausdruck bei den verschiedenen Arten variieren. Ihre Verteilung ist eher bimodal als normal (Kagan, 1994; Korte, Kohlhaas, Wingfield & McEwen, 2005); d. h., Individuen tendieren dazu, dieses Merkmal aufzuweisen oder eben nicht. Es gibt nicht viele in der Mitte.
Biologen sprechen heute von zwei generellen Strategien bei Tieren, aus denen zwei angeborene Persönlichkeitstypen hervorgehen, für die unterschiedliche Benennungen verwendet werden, wie etwa mutig versus schüchtern (Wilson et al., 1993), Falke versus Taube (Korte et al., 2005) oder reaktionsbereit (responsive) versus nicht reaktionsbereit (unresponsive) (Wolf et al., 2008). Die jeweils Erstgenannten stellen im Allgemeinen die Mehrheit. Ihre Strategie besteht darin, sich bei Bedarf schnell und kraftvoll auf mögliche Nahrungsquellen und Partner zuzubewegen, ohne die Situation vorher lange zu beobachten. Im Vergleich zu den impulsiveren oder kühneren 80 Prozent hat die sensible Minderheit eine Überlebensstrategie entwickelt, bei der sie Risiken vermeidet, indem sie aufmerksam die Feinheiten einer Situation beobachtet, ehe sie handelt. Beide Strategien – „erst denken“ und „sofort handeln“ – können erfolgreich sein, je nach den Bedingungen der Umgebung.
Beim Menschen wurde die sensiblere Strategie, erst die Umgebung zu sondieren und sich um die Details von Stimuli zu kümmern, mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie beobachtet (fMRT, Jagiellowicz, Xu et al., 2011) und allgemeiner beim Denken und Fühlen vor und während eines Verhaltens. Diese Strategie ermöglicht eine stärkere Wahrnehmung von Feinheiten und Konsequenzen. Das wiederum führt beispielsweise zu einem hohen Maß an Kreativität und Gewissenhaftigkeit. Auf der negativen Seite erzeugt diese umfangreiche Verarbeitung ein größeres Potenzial für Überstimulation und Belastung durch Lebensereignisse, die Stress mit sich bringen.
Was das Geschlecht angeht, so werden ebenso viele Männer wie Frauen hochsensibel geboren (Buss, 1989; Rothbart, 1989), und obwohl bei Männern vielleicht später das Testosteron eine gewisse Rolle spielt, erleben sie Sensibilität weitgehend unterschiedlich, je nach der Kultur, in der sie leben. Missbilligt die Kultur Sensibilität bei Männern, lernen sie im Allgemeinen, ihre Sensibilität zu verstecken, um mehr wie ein typischer Mann zu wirken. Auf der HSP-Skala (Anhang A) erreichen sie oft etwas niedrigere Werte, obwohl geschlechtsspezifische Punkte aus der Skala entfernt wurden. So enthielt die Skala z. B. ursprünglich die Frage, ob man leicht weine, die viele Befragte bejahten, Männer jedoch wesentlich seltener. Sensible Männer sagten sogar mit etwas geringerer Wahrscheinlichkeit als andere, dass sie leicht weinen. Aber die Eliminierung solcher Punkte hat das Gesamtbild für die Geschlechter auf der Skala nicht verändert, nämlich dass die Männer niedrigere Werte erreichten, vermutlich aufgrund ihres Gesamteindrucks von der Skala. Bei sensiblen Männern geht es definitiv um andere Dinge als bei sensiblen Frauen, und insgesamt haben sie wahrscheinlich größere Probleme. Die für beide Geschlechter jeweils relevanten Themen werden ausführlicher in Kapitel 5 behandelt.
Fazit: Hochsensibilität ist ein angeborenes Wesensmerkmal, das sich bei 20 Prozent aller Menschen und auch der meisten Tiere findet. Sie scheint das Ergebnis einer Strategie zu sein, Information sorgfältig auszuwerten, ehe man handelt, und führt zur Wahrnehmung von Feinheiten, aber auch leicht zur Überreizung. Es gibt ebenso viele sensible Männer wie Frauen, aber die Männer verbergen dieses Merkmal eher und haben normalerweise auch mehr Schwierigkeiten damit.
Hochsensibilität ist eine normale Variante von angeborenem Temperament. Sie kommt häufig vor und bringt viele Vorzüge mit sich. Sie ist keine diagnostische Kategorie. Vielmehr verhält sie sich orthogonal zu psychischen Störungen. Manche sensible Menschen haben diagnostizierbare Störungen, ebenso wie manche nichtsensible Menschen, die meisten jedoch nicht, ebenso wie die meisten nichtsensiblen Menschen.
Man hat jedoch festgestellt, dass Hochsensible anfälliger für Depression, Angst und Schüchternheit sind, wenn sie eine schwierige Kindheit hatten. Bei einer ausreichend guten Kindheit gibt es jedoch nicht mehr Hinweise auf eine solche Anfälligkeit als bei nichtsensiblen Menschen (Aron et al., 2005; Liss et al., 2005). Wie bereits im Vorwort erwähnt, profitieren sensible Kinder anscheinend sogar mehr als andere von einer guten Kindheit (Besprechungen der wachsenden Literatur darüber finden sich in Belsky et al., 2009; Boyce & Ellis, 2005). Dennoch haben viele in unterschiedlichem Maße Beeinträchtigungen, besonders Stimmungsschwankungen und Angststörungen.
Andererseits gibt es auch hochsensible Menschen, die keine Störung aufweisen, bei denen man jedoch eine diagnostiziert hat; andere haben eine Störung, jedoch wurde die falsche Diagnose gestellt. (Es werden auch einige wenige Patienten zu Ihnen kommen, die glauben, sie seien hochsensibel, weil sie davon gelesen haben, es aber wahrscheinlich nicht sind, sondern eine Störung haben.) Spezifische DSM-Diagnosen, die man mit Sensibilität verwechseln kann, werden in Anhang B besprochen. Ein Beispiel sind Störungsbilder des autistischen Spektrums. Manchmal wird behauptet, das hier diskutierte Merkmal trete in diesem Spektrum häufig auf. Die Kriterien für eine autistische Störung wie das Asperger-Syndrom überschneiden sich jedoch nicht mit der Hochsensibilität, wie sie hier definiert wird und die bei 20 Prozent der Bevölkerung zu finden ist. Viele autistische Menschen leiden unter allzu starker Stimulation durch spezifische Reize, können jedoch von anderen Reizquellen unbeeindruckt bleiben, besonders von sozialen Stimuli. Im Gegensatz dazu können sensible Menschen ein hohes Maß an Stimulation tolerieren, ohne völlig verwirrt oder gewalttätig zu werden, und sie nutzen bei zunehmender Reife immer wirksamere Methoden, um die Stimulation zu dämpfen. Außerdem ist die Sensibilität bei Autismus auf eine gestörte Umsetzung von Sinneswahrnehmungen zurückzuführen, nicht auf eine Verarbeitung bis in tiefere Schichten. Sensible Menschen beharren nicht in derselben Weise auf etwas wie Autisten, und sie legen ein hohes Maß an Empathie sowie angemessene bis ausgezeichnete soziale Fähigkeiten an den Tag, besonders in einem vertrauten Umfeld.
Probleme bei der Integration von Sinneswahrnehmungen werden ebenfalls mit Hochsensibilität verwechselt. Aber von einer Sinneswahrnehmungsstörung spricht man bei spezifischen leichten neurologischen Problemen, die normalerweise gut auf Behandlung ansprechen. Manche sensible Menschen (und auch die meisten Leute mit einer sitzenden Lebensweise, ganz gleich, welches Temperament sie haben) können von solchen Behandlungen profitieren. Diese werden jedoch nicht die weiter unten aufgeführten Merkmale beseitigen.
Eine Krankheit ist etwas, das man gerne loswerden oder auskurieren möchte. Zwar kann sich das Leben von sensiblen Menschen bessern, wenn sie um ihr Wesensmerkmal wissen, und sie können lernen, sich entsprechend zu verhalten, aber keine Behandlung wird eine angeborene Hochsensibilität beseitigen, und es gibt auch keinen Grund dafür, das überhaupt zu wollen, wenn man ihre Vorzüge in manchen Kontexten bedenkt.
Fazit: Hochsensibilität im hier gemeinten und dargestellten Sinne ist keine Störung.
Besser kann man sich dieses Merkmal als weitverbreiteten individuellen Unterschied vorstellen, ganz ähnlich wie das Geschlecht, der aber nur bei einer Minderheit zu finden ist, ähnlich wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie. Da viele Menschen jede Frage der HSP-Skala mit Ja beantworten (s. Anhang A), viele andere jedoch alle Fragen mit Nein beantworten, kann man durchaus die Meinung vertreten, dieser Unterschied sei in seiner Auswirkung ein mindestens ebenso einflussreicher Faktor wie Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit. Außerdem ist dieser Unterschied weitgehend unsichtbar, und das schafft einzigartige soziale Schwierigkeiten für die davon betroffenen Menschen (Frable, 1993).
Wie auch bei Geschlecht und Ethnie gehen mit hoher Sensibilität spezifische Probleme einher, von denen manche auf diesem Merkmal selbst beruhen, wie die Neigung, schnell übererregt zu reagieren, während andere der Kultur geschuldet sind, in der sie auftritt. So sind beispielsweise in China Grundschulkinder mit diesem Merkmal bei Gleichaltrigen beliebt, in Kanada hingegen nicht (Chen, Rubin & Sun, 1992). So können, abhängig von der Kultur, sensible Menschen ein hohes oder ein niedriges Selbstwertgefühl haben.
Es gibt auch Störungen, die nichts mit Sensibilität selbst zu tun haben, die jedoch durch dieses Merkmal eine eigene Färbung bekommen. Beispielsweise können Hochsensible, die unter Panikanfällen leiden, relativ leicht eine Besserung erzielen, sobald sie die Rolle der Überstimulation bei ihren Symptomen verstanden haben, während sich Panikattacken bei Nichtsensiblen weniger leicht auf diese Weise lösen lassen.
Fazit: Dieses Merkmal wirkt sich als individueller Unterschied aus, ähnlich wie das Geschlecht oder die ethnische Zugehörigkeit.
Die HSP-Skala weist Überschneidungen mit dem Maß an Introversion auf, ist aber nicht mit Introversion identisch (s. Aron & Aron, 1997 und Anhang B), denn rund 30 Prozent der Hochsensiblen sind extravertiert. Diese Zahl hängt davon ab, welche Messung für Introversion angewendet wird (die Korrelationen variieren von .12 bis .52, Aron & Aron, 1997), da diese Messungen untereinander nicht gut korrelieren.
Die Korrelation mit Neurotizismus ist im Allgemeinen höher. Ein Grund dafür ist wiederum, dass sehr sensible Menschen mit einer schwierigen Kindheit leichter depressiv, ängstlich und schüchtern werden – also mehr negative Affekte haben (was die allgemeine Definition von Neurotizismus als Persönlichkeitsmerkmal ist) – verglichen mit nichtsensiblen Menschen mit demselben Ausmaß von Kindheitsproblemen und Traumata. Bei jeder Zufallsstichprobe von Hochsensiblen haben manche eine schwierige Kindheit gehabt und sie heben den Durchschnitt des Neurotizismuswertes für die ganze Untergruppe der Hochsensiblen an, wenn das Kindheitsumfeld nicht statistisch kontrolliert wird.
Für Schüchternheit zeigt sich dasselbe Muster, sie tritt aber nur auf, wenn auch viele negative Affekte vorliegen (Aron et al., 2005). Das heißt, sensible Menschen sind eher schüchtern, wenn sie eine schwierige Kindheit hatten und wenn diese zu einem hohen Maß von negativen Affekten geführt hat. Nicht jede schwierige Kindheit führt bei Hochsensiblen zu negativen Affekten. Schüchternheit und negative Affektlage sind das Ergebnis unglücklicher Erfahrungen, nicht des Merkmals selbst.
Fazit: Hochsensibilität ist nicht dasselbe wie Introversion, Neurotizismus oder Schüchternheit.
Die gründlichere Reizverarbeitung, die alle Hochsensiblen gemeinsam haben, führt zu den unten aufgeführten Eigenschaften. Wo nicht anders angegeben, beruht diese Liste auf Daten, die von mir oder anderen veröffentlicht wurden, und in einigen Fällen auf meiner umfangreichen Erfahrung, die ich in der klinischen Arbeit oder bei Interviews für die Forschung gesammelt habe. Kein sensibler Mensch wird alle diese Eigenschaften besitzen, sollte jedoch viele davon in breiter Streuung aufweisen, statt nur einige wenige davon zu haben (wie eine Vorliebe für die Beobachterposition oder Gewissenhaftigkeit), die auch andere Gründe haben könnten als einen grundlegenden genetischen Unterschied.
Sie ziehen es vor, sich eine Zeit lang am Rande einer Situation zu halten, ehe sie sich hineinstürzen, und erkunden eine Situation generell eher durch Beobachtung und Reflexion als durch aktive Beteiligung daran. „Manchmal wünsche ich mir, die Leute würden mich in Ruhe in einer Ecke sitzen und zuschauen lassen, ehe ich mitmache.“ „Ich sehe mir die Dinge lieber erst einmal an – mache mir ein Bild, worauf ich mich einlasse.“
Sie nehmen Feinheiten und kleine Veränderungen wahr. „Bei Ihrer Antwort auf meine Nachricht habe ich gesehen, dass Sie jetzt den Doktor haben – möchten Sie, dass ich Sie auch so anspreche?“ „Dieses Bild (dieser Teppich, diese Frisur) ist neu, nicht wahr?“
Sie möchten jedes Detail und jede mögliche Folge bedenken, ehe sie handeln – „mach es nur einmal und dann richtig“ – im Gegensatz zur Tendenz der Mehrheit, sich schneller zu entscheiden. Das führt z. B. dazu, dass sie langsamer zu einer Entscheidung gelangen als Nichtsensible, Risiken und Nutzen schärfer wahrnehmen und als langsam, aber akkurat gelten. „Ich bin schrecklich, wenn es um Entscheidungen geht.“ (Sie sind auch tatsächlich langsam, aber ihre Entscheidungen sind meist gut.) „Ich bin ein echter Perfektionist.“
Sie nehmen die Gedanken und Gefühle anderer stärker wahr, weil sie mehr Informationen aus nonverbalen Signalen gewinnen und oft richtig raten, weil sie die vermutlichen Auswirkungen einer Situation auf andere intuitiv erfassen. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich könnte die Gedanken anderer Menschen lesen.“ „Die Stimmungen anderer beeinflussen mich ziemlich.“
Sie haben bei einer ungünstigen Umgebung in der Kindheit oder im Erwachsenenalter größeren Schaden erlitten, aber möglicherweise auch mehr als andere von einer ungewöhnlich förderlichen Umgebung profitiert (durch kluge und geschickte Eltern und Lehrer in der Kindheit oder überlegtes Verhalten im Erwachsenenalter).
Sie handeln gewissenhafter, weil sie intensiv über Ursachen und Wirkungen nachdenken – wie die Dinge so geworden sind, wie sie jetzt sind, und wie sie sich entwickeln werden, je nachdem was getan wird. Sie überlegen häufiger: „Wie wäre es, wenn alle ihren Müll liegen lassen würden?“ „Wenn ich nicht rechtzeitig mit meiner Arbeit fertig werde, bin ich eine Bremse für die anderen.“
Sie sind ungewöhnlich besorgt um soziale Gerechtigkeit und die Umwelt und legen ein ungewöhnliches Maß an Mitgefühl an den Tag, sogar schon in der Kindheit. „Ich konnte nicht einfach danebenstehen und zuschauen, wie man ihr das antat.“ „Ich versuche schon seit Jahren, anderen die Folgen der globalen Erwärmung begreiflich zu machen.“
Sie fühlen sich leicht überstimuliert und daher leicht übererregt. Zwar gilt für jeden: Je mehr Stimulation, desto mehr Erregung, und Übererregung führt bei allen zu einer schwächeren Leistung. Aber Hochsensible sind schon früher und durch geringere Stimulation übererregt und berichten daher über mehr Schwierigkeiten oder Misserfolge in stark stimulierenden Situationen (dazu zählen Wettbewerbe, musikalische Auftritte, öffentliches Reden, das Kennenlernen von Autoritätspersonen, Lernsituationen, Beobachtung durch andere, Tests mit Zeitlimit, volle, laute Orte usw.). „Es ist niederschmetternd – beim Üben bin ich gut, aber im Wettkampf miserabel.“ „Ich kann einfach keine Prüfungen ablegen.“
Sie sind künstlerisch begabt oder haben eine Leidenschaft für Kunst, Literatur und Musik. „Ich war nach Opern verrückt, seit ich fünf war und zum ersten Mal eine im Radio gehört habe.“
Sie haben ein starkes Interesse an Spiritualität und üben sich häufig in einer spezifischen Praxis. „Gebet ist unverzichtbar für mein Leben.“ „Ich bin Buddhist/in – ich meditiere jeden Tag.“
Sie berichten von einer stärkeren emotionalen Reaktion auf Ereignisse, die bei anderen ähnliche Gefühle auslösen, aber in geringerem Maße. „Ich weine wegen jeder Kleinigkeit.“ „Alle waren aufgewühlt, aber ich war am Boden zerstört.“
Sie empfinden ungewöhnlich großen Stress bei Veränderungen. „Ich hatte keine Ahnung, dass mich ein Umzug so aus dem Tritt bringt.“ „Es fällt mir wirklich schwer, mit dieser scheinbar so kleinen Veränderung in meinem Leben fertig zu werden.“
Sie berichten auf Nachfrage von ungewöhnlich lebhaften Träumen. „Ich träume immer in Farbe.“ „Meine Träume dauern immer ewig und sind sehr detailreich.“
Sie erinnern sich daran, dass diese Eigenschaften erstmals in der Kindheit aufgetreten sind. „Alle haben gesagt, ich sei so sensibel.“ „Ich habe mich gerne unter Tischen oder im Gebüsch oder in einer Besenkammer versteckt und einfach zugehört, was geredet wurde.“
Sie beklagen sich über eine überstimulierende oder hässliche Umgebung. „Ich hasse fluoreszierendes Licht.“ „Ich musste zweimal umziehen, bis ich endlich eine ruhige Wohnung gefunden hatte.“ (Sensible Jugendliche tolerieren laute Musik, Menschenmengen und Multitasking anscheinend leichter, aber das ändert sich, wenn sie Ende zwanzig sind.)
Sie sind auch körperlich empfindlich – sie haben schneller eine Schreckreaktion, ein reaktiveres Immunsystem (z. B. mehr Kontaktallergien; Bell, 1992) – und eine größere Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen, Stimulanzien (wie z. B. Koffein) und den meisten Medikamenten (Jagiellowicz, Aron & Aron, 2007). „Ich kann keinen Kaffee trinken – er putscht mich zu sehr auf.“ „Mein Arzt kann es kaum glauben, dass ich von einer so geringen Dosis etwas spüre, aber es stimmt, und wenn ich mehr nehme, bekomme ich alle möglichen Nebenwirkungen.“
Ihre Sprache ist rücksichtsvoll und sie drücken sich manchmal indirekt aus. Sie machen gern Andeutungen. „Ist es dir hier drinnen zu warm?“ „Ich habe ihm vorgeschlagen, wir sollten vielleicht essen gehen. Ich war zu müde zum Kochen.“
Sie empfinden die Natur als ungewöhnlich heilsam und beruhigend oder finden ihre Schönheit besonders bewegend. Sie mögen Tiere und Pflanzen und sind gerne am oder im Wasser.
Ein Grund dafür, dass es so interessant und anspruchsvoll ist, mit sensiblen Patienten zu arbeiten, und dass man bei ihnen so leicht Fehldiagnosen stellt, ist die Tatsache, dass alle sensiblen Menschen zwar normal, aber intensiver auf eine Situation reagieren, die Gefühle weckt. Dieser Punkt wird auf dem Fragebogen nicht direkt angesprochen, unter anderem, um einen geschlechtsbezogenen Verzerrungseffekt zu vermeiden.
Wenn die Neigung, Information gründlicher zu verarbeiten, der unterschwellige Grund für verschiedene Verhaltensweisen der Hochsensiblen ist, wie hängt diese dann mit stärkeren emotionalen Reaktionen zusammen? Man könnte vermuten, dass das Nachdenken eine beruhigende Wirkung hat, aber tatsächlich bedeutet die Hochsensibilität bei der Sinnesverarbeitung aus mindestens zwei Gründen eine größere Emotionalität. Erstens fördert die Emotion die kognitive Verarbeitung, da nichts lange ausgewertet wird, was als emotional unwichtig oder uninteressant eingeschätzt wird. Zweitens verstärkt die Verarbeitung die Emotion, denn je länger etwas, das eine emotionale Bedeutung hat, ausgewertet wird, desto mehr Emotion wird es hervorrufen.
Diese größere Emotionalität hat mit dem bereits geschilderten Zusammenhang zu tun, dass nämlich Hochsensible mit einer schwierigen Kindheit empfänglicher für Depression, Angst und Schüchternheit sind als Nichtsensible mit dem gleichen Maß an Belastung. Aber die Hochsensiblen neigen auch stärker zu positiven Emotionen als andere (Aron & Aron, 1997), etwa bei der Reaktion auf Belohnung (Bar-Haim et al., 2009). Dieses Merkmal als angeborene „hohe Verletzlichkeit“ oder „Neigung zu negativen Affekten“ oder, in diesem Sinne, zu „Neurotizismus“ zu bezeichnen, wäre eine ebenso enge Definition wie die Bezeichnung „anfällig für Hautkrebs“ als einziger Begriff für hellhäutige Menschen. Dennoch ist es eine Tatsache, dass hochsensible Menschen stärkere emotionale Reaktionen haben, und das ist ein signifikanter Faktor, den Psychotherapeuten stets im Hinterkopf haben müssen. Schon eine milde Kritik kann Schamgefühle auslösen. Schon ein kleines Lob kann eine Euphorie oder möglicherweise ein Missverstehen ihrer Gefühle herbeiführen.
Fazit: Hochsensible Menschen haben stärkere Affekte, sowohl im Positiven als auch im Negativen.
Es lohnt sich auch, im Hinterkopf zu behalten, wie nichtsensible Menschen sich präsentieren. Da sie die Mehrzahl der Menschen stellen, kann eine ganze Menge allein dadurch ermittelt werden, dass man sich vor Augen hält, was den meisten Leuten Freude macht oder was ihnen normalerweise nichts ausmacht. Sie stören sich meist nicht an Lärm, an optischem Durcheinander, plötzlichen Veränderungen oder anderen Aspekten einer Umgebung oder Erfahrung, die ein sensibler Mensch als überstimulierend empfinden würde. Das akzeptable Niveau von Stimulation am Arbeitsplatz und das angenehme Niveau von Stimulation in Freizeit und Medien illustrieren das sehr gut. Die nichtsensible Mehrheit mag vor allem die rasch wechselnden visuellen Stimuli von Videospielen, Werbespots im Fernsehen und Actionfilmen. Sie lieben im Urlaub Volksfeste, große Sportereignisse und Einkaufszentren. Viele haben auch Spaß an Horrorfilmen, Risikosportarten und Dramen mit schockierenden Gewaltszenen. Sie denken nicht übermäßig viel über die Zukunft nach, bis man sie auf die Folgen eines Verhaltens hinweist oder bis es teuer wird. Beispielsweise nehmen viele Leute nicht die Vorsorgeuntersuchungen für Prostata-, Darm- und Brustkrebs wahr.
Sieht man sich nur einmal durchaus übliches Verhalten an, dann geht die Mehrheit Risiken mit deutlich weniger umfangreichen Vorbereitungen ein. („Ich hätte einfach nie damit gerechnet, dass das passiert.“) Die Hochsensiblen gehen ebenfalls Risiken ein, aber mit Vorsicht. So sind sie etwa bei gefährlichen Sportarten oft Sicherheitsexperten und ziehen sich viel seltener Verletzungen zu. Wenn den Nichtsensiblen etwas misslingt, möchten sie es sofort noch einmal probieren und nicht über Fehler nachdenken oder die Strategie wechseln, wie es die Sensiblen machen (Patterson & Newman, 1993). Die Mehrheit mit ihrem robusteren Temperament hat Spaß an allen Arten von Glücksspielen und Spekulation. Der Gedanke an mögliche und tatsächliche finanzielle oder sonstige Verluste beeindruckt sie deutlich weniger, ebenso wie eigene Fehler. Sie reagieren generell emotional weniger stark. Dafür zeigen sie ihre Emotionen manchmal deutlicher, z. B. Ärger über eine schlechte Serviceleistung, obwohl öffentlich ausgedrückter Ärger normalerweise sozial riskant ist und starke Erregung mit sich bringt. Für die meisten Menschen unserer Zeit ist es auch normal, direkt und ohne Umschweife zu sprechen, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, wie ihr Ton oder ihre Wortwahl beim Zuhörer ankommt, weil sie davon ausgehen, dass andere, genau wie sie selbst, relativ unerschütterlich sind.
Viele Menschen lieben die Natur und viele finden dort Trost. Aber die Nichtsensiblen betrachten sie eher als Gelände für Aktivitäten und kümmern sich weniger um die Leiden von Tieren, wenn es nicht gerade ihre eigenen Haustiere sind. Sie haben vielleicht eine Religion und praktizieren sie auch, stellen sie aber weniger infrage. Relativ gesehen beschäftigen sich weniger Nichtsensible mit spirituellen Fragen, Philosophie oder dem „Sinn des Lebens“. Doch kehren wir wieder zu unserem Ziel zurück, ein Gefühl für hochsensible Menschen zu bekommen, und schildern eine Patientin, die so bei Ihnen in der Praxis erscheinen könnte.
Fazit: Es hilft Ihnen durchaus weiter, wenn Sie beachten, dass sensible Patienten anders sind als Ihre anderen Patienten, die sich nicht leicht überstimuliert fühlen – etwa durch Lärm oder eine plötzliche Veränderung – und die viel seltener Feinheiten wahrnehmen, wie beispielsweise Veränderungen in Ihrer Praxis. Auch wenn das Folgende eine Übergeneralisierung darstellt, werden Ihre nichtsensiblen Patienten meist mehr Freude an Videospielen, Menschenmengen, Mannschaftssportarten und Actionfilmen haben; sie lassen sich weniger von Gewalt beeindrucken, gehen mehr Risiken ein und finden das lustvoll; sie bereiten sich weniger gründlich auf ein Vorhaben vor und sprechen Dinge direkt aus, statt etwas nur dezent anzudeuten. Natur ist für sie eher ein Ort für Freizeitsport als für Trost und Zuflucht, und wenn sie spirituell sind, haben sie weniger über ihren Glauben nachgedacht.
Beispiel
Susan, 34, ist ein Beispiel für eine Patientin, die vor allem umfangreiche Hilfe dafür brauchte, ihr Leben mit ihrer Sensibilität in Einklang zu bringen, obwohl sie von jemandem, der dieses Wesensmerkmal nicht verstanden hätte, vielleicht anders beurteilt und behandelt worden wäre. In unserer ersten Sitzung begann sie zu weinen, kaum dass sie sich gesetzt hatte. Sie hatte auch „Panikgefühle“ beim Gedanken an eine Rückkehr an ihren Arbeitsplatz nach ihrem Mutterschaftsurlaub und stellte sich häufig vor, ihrer acht Monate alten Tochter Katy würde etwas passieren. „Aber vor allem fühle ich mich so überwältigt“, schluchzte sie. „Ich halte das nicht mehr aus.“ Dann richtete sie sich auf. „Aber das muss ich natürlich und das werde ich auch. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich schaffe das schon.“ Ihr Ton drückte aus, dass sie mich nicht belasten wollte, und nicht, dass sie plötzlich ihre Probleme verleugnete.
Susan hatte eine neue Stelle angenommen, die einen beträchtlichen Zuwachs an Status und Gehalt mit sich brachte, war jedoch in ein Großraumbüro gesetzt worden, „zur Förderung maximaler Kommunikation“ mit denjenigen, die sie als Mitarbeiterin der Firma managen sollte. Für sie förderte das nur maximales Chaos und ermöglichte ständige Beobachtung durch andere, während sie sich in ihre neue Rolle einarbeitete. Der Geschäftsführer hatte sie beauftragt, kürzere Lieferfristen einzuhalten, aber sie hatte sofort Anzeichen dafür wahrgenommen, dass das Produkt der Firma die Bedürfnisse der Kunden langfristig nicht zufriedenstellen würde. Wenn sie ihre Meinung bei Konferenzen ausdrückte, wurde sie als „Kassandra“ bezeichnet und kritisiert, weil sie nie einfach etwas abzeichnete.
Außerdem war es auch schwierig, diesen Job und ein neugeborenes Baby unter einen Hut zu bringen. Susan hatte einen sehr langen Weg zur Arbeit, was bedeutete, dass sie entweder weniger Zeit für ihr Kind hatte oder weniger Schlaf bekam. Meist entschied sie sich für Letzteres und gab zu, dass sie „am Anschlag war“, aber sie kannte viele andere Frauen in einer ähnlichen Lebenslage, die genauso lebten wie sie, das aber anscheinend viel besser wegsteckten.
Susan hatte gleich nach dem ersten Studienabschluss den Grad eines MBA (Master of Business Administration) erworben, seither aber mehrmals die Stelle gewechselt. Ich achtete aufmerksam auf Zeichen für Manie, Impulsivität oder Geschichten von tatsächlicher oder subjektiv wahrgenommener Schikane. Aber die Erklärungen für diese Stellenwechsel kamen mir durchweg vernünftig vor. In einem Fall störte sie die Ethik der Geschäftspraktiken einer Firma, in einem anderen zweifelte sie am Wert des Produkts. Hauptsächlich war sie auf ihrem Gebiet rasch die Leiter hochgeklettert, manchmal hatte sie nach nur wenigen Monaten eine weitere Sprosse erklommen. Dabei hatte sie ihr Wissen erfolgreich auf ganz neue Gebiete übertragen, so auch diesmal.
Sie schätzte ihre Ehe als ganz ordentlich ein, nur ging es mit der Karriere ihres Mannes Phil gleichfalls steil nach oben. Als sie vor fünf Monaten an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war, hatten sie ein Kindermädchen angestellt, das bei ihnen wohnte. Eine andere Lösung kam für ihr Gefühl nicht infrage, nachdem sie nun beide einen zeitlich anspruchsvollen Vollzeitjob hatten.
Susan schilderte ihre Mutter in liebevoller Weise als eine fürsorgliche Frau, die zu Hause bei ihren Kindern – zwei Töchtern – geblieben war, bis beide in die Schule gingen. Mutter und Tochter telefonierten sonst einmal in der Woche und derzeit etwas häufiger, weil die Mutter an den wichtigsten Entwicklungsschritten von Katy teilhaben sollte. Die Vorstellung, dass ein Kindermädchen Katy großzog, gefiel der Mutter nicht, aber sie stand trotzdem hinter den Entscheidungen der jungen Familie.
Susan war der Liebling ihres Vaters gewesen. Er war ein erfolgreicher Investmentbanker und hatte nicht so viel Zeit, wie sie es gerne gehabt hätte, daher lernte sie, mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Sie hatte außerordentlich großes Investmenttalent. Ihr Vater stellte in seinem Büro stolz eine Grafik von den Gewinnen ihrer Aktien aus, die sie ausgesucht und die er dann für sie gekauft hatte. Manche scherzten, sie hätten lieber Tipps von Susan als von ihrem Vater. Mit zwölf Jahren hatte sie Golf spielen gelernt, damit er sie mitnehmen konnte, wenn ihm jemand für eine Viererpartie fehlte.
Susan war sich ein Stück weit bewusst, dass ihr Vater der Grund dafür war, dass sie selbst in der Welt des Business gelandet war und das Ziel hatte, eines Tages irgendwo Geschäftsführerin zu werden. Er war immer noch stolz auf sie, obwohl selbst ihm aufgefallen war, dass seine Tochter angegriffen aussah, und er sich wünschte, sie würde ein wenig kürzertreten.
Angesichts dieser doch recht glücklichen Kindheit, die sie mit dem angemessenen Affekt geschildert hatte, beschloss ich, mich auf ihre Sensibilität zu konzentrieren. Sie hatte mein Buch gelesen, daher erinnerte ich sie an einige inhaltliche Punkte. Als Reaktion begann sie wieder zu weinen und sprach von dem Stress, unter dem sie litt. Ihre Muttergefühle waren sehr stark und sie sehnte sich nach einem weiteren Kind, aber sie liebte auch die Geschäftswelt. Sie wollte, dass ich ihr erkläre, warum sie nicht so viel Verantwortung für Arbeit und Familie verkraften konnte wie andere Frauen, die in Spitzenpositionen aufstiegen.
„Haben Sie nicht in Ihrem Buch geschrieben, diese Sensibilität würde uns kreativer machen? Wenn ich so kreativ bin, warum finde ich dann keine Lösungen für all das? Stattdessen weine ich die ganze Zeit. Ist das das wahre Gesicht der Sensibilität? Und warum haben Sie das nicht in Ihrem Buch geschrieben?“
„Das habe ich“, sagte ich sehr behutsam. „Aber ich glaube, Sie wollten diese Stellen nicht zur Kenntnis nehmen. Was sehr verständlich ist.“
„Heißt das, ich muss zu Hause bei Katy bleiben, wie Mutter damals bei uns? Ich würde mich zu Tode langweilen.“
Ich bat sie, sich selbst so anzuschauen, als sei sie jemand, den sie managen solle. Wie ging es ihr? Sie gab zu, dass es ihr schlecht ging.
„Und was meinen Sie? Sollte sich etwas ändern?“
Das bejahte sie, aber sie beharrte immer noch darauf, dass sie in diesem Job Erfolg haben wolle, also konzentrierten wir uns auf neue Strategien. Sie wollte gleitende Arbeitszeiten vereinbaren, früh kommen und früh wieder gehen und damit ihre Fahrtzeiten verkürzen. Das würde ihr eine ruhige Arbeitszeit im Büro verschaffen, sodass sie keine Arbeit mit nach Hause nehmen müsste und mehr Zeit mit Katy gewinnen würde.
Wir sprachen über den stets kritischen Ton ihres Geschäftsführers und einigten uns darauf, dass er ein ganz normaler Typ war, immer unter Zeitdruck und nichtsensibel. Susan kam zu dem Schluss, sie könne ihren Arbeitsstil mit ihm bereden – dass sie ihre beste Leistung erbrachte, wenn man ihr sagte, sie sei auf dem rechten Weg, dass sie auf Kritik leicht überreagierte und dann allzu viel änderte. Da es überzählige Konferenzräume gab, die früher einmal Büros gewesen waren, wollte sie außerdem einen davon in ein Büro zurückverwandeln, sodass sie einen Raum hatte, in dem sie sich auf ihr Projekt konzentrieren und unter vier Augen mit einzelnen Mitgliedern des Teams sprechen konnte.
Ihre Skepsis über das Design eines Produkts wollte sie bei Konferenzen für sich behalten, bis sie mindestens zwei Mitarbeiter in Zweiergesprächen überzeugt hatte, dass sie recht hatte, und von ihnen unterstützt wurde. Zusätzlich wollte sie sie ermutigen, auch mit anderen solche Gespräche zu führen, sodass sie die meisten auf ihrer Seite hatte, ehe die Konferenzen begannen. Wir einigten uns darauf, uns in einem Monat wieder zu treffen, da sie nicht die Zeit hatte, öfter zu kommen.
Bei unserer zweiten Sitzung sah sie noch abgespannter aus. Sie hatte versucht, unsere Ideen umzusetzen, aber jetzt kam sie früh und ging immer noch spät, was das Ergebnis des wachsenden Respekts des Geschäftsführers für ihre Arbeit war, der zu noch mehr Verantwortung führte. Ihr neues eigenes Büro brachte mit sich, dass sie noch mehr um Rat gefragt wurde. Noch immer hatte sie nicht genug Zeit für Katy.
Ich machte sie darauf aufmerksam, dass all dies die Folge davon war, dass sie in ihrer Arbeit sehr gut war, wobei ihre Sensibilität wahrscheinlich eine große Rolle spielte. Sie war an ihrem Arbeitsplatz und zu Hause die einzige hochsensible Person. Die anderen konnten 14-Stunden-Tage bewältigen und liebten sie für ihre Sensibilität, die sich in Kreativität, Gewissenhaftigkeit und Enthusiasmus ausdrückte. „Übrigens hassen es auch nichtsensible Mütter, ihre Kinder alleinzulassen, aber Sie leiden stärker darunter.“
„Eine sensible Mutter mit einem sensiblen Kind“ wurde das Thema dieser Sitzung. Katy war hochsensibel und Susan machte sich Sorgen, dass ihr Kindermädchen das nicht verstand. Auch Phil war keine Hilfe. „Sie wollen sie antreiben, wenn sie zurückscheut. Das ist genau die falsche Methode, um sie herauszulocken. Sie meinen, man müsse Katy dazu bringen, Dinge zu tun, die ihr Angst machen, sogar wenn sie weint und bittet, in Ruhe gelassen zu werden. Ich weiß genau, wie sie sich fühlt.“
So brachte uns ihre Tochter auf ihre eigene Kindheit. „Und Ihr Vater?“
„Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat er immer von mir verlangt, ‚mich meinen Ängsten zu stellen‘. Ich lernte, mich ihm zuliebe zu zwingen. Er gab so gerne mit mir an. Das war ein schrecklicher Druck. Er brachte mir das Golfspielen bei, damit ich die Vierte bei einer Viererpartie sein konnte. Ich konnte gut putten.“
„Das war wegen Ihrer Sensibilität, nicht wahr?“
„Aber sie nannten mich Lost Balls Suzy.“
Ihre erste Erinnerung, nach der ich bei der Anamnese immer frage, war, dass sie sich unter einem Busch versteckt hatte, um dem ersten Haarschnitt zu entgehen. Sie glaubte, Haareschneiden täte weh. Als ihr Vater davon erfuhr, ging er mit ihr zum Friseur und verkündete dort lauthals vor allen, sie hätte Angst. „Die vielen lauten Frauen dort machten ein schreckliches Theater um mich und ich schrie wie am Spieß. Aber er sagte, ich brächte es in dieser Welt nie zu etwas, wenn ich nicht lernen würde …“
„… sich Ihren Ängsten zu stellen. Wie alt waren Sie da?“
„Drei.“
Beinahe hätte ich hörbar nach Luft geschnappt. „Folglich gehen Sie mit Katys Ängsten anders um?“
„Das ist nicht schwer. Sie macht alles, wenn wir uns Zeit nehmen und ihr zeigen, wie es geht, aber sie will ihrem Vater so gerne gefallen. Ich fürchte, sie wird einfach lernen müssen, etwas auszuhalten.“
„Wie Sie. Lernen, auszuhalten, mehr zu leisten, als Sie eigentlich können, ohne jeden Protest.“
Sie brachte noch einmal ihren Wunsch nach einem weiteren Kind zum Ausdruck und gab zu, dass sie das mit diesem Job nicht schaffen würde. Aber bei dem Gedanken ihn aufzugeben, empfand sie sich als „Versagerin“.
Ich finde es wichtig, bei solchen Fragen beide Seiten zu unterstützen und so vorzugehen, dass der Konflikt ein innerer bleibt, daher schlug ich vor, Pro und Kontra verschiedener Handlungsmöglichkeiten zu erörtern. Das taten wir dann in den folgenden beiden Monaten.
Unterdessen rutschte Susan weiter ab – sie war von Selbstzweifeln erfüllt, verlor an Gewicht, empfand mehr Angst, konnte sich schlecht konzentrieren und schlief nicht, auch wenn sie Zeit dazu hatte. Ich erklärte, ihr gehe einfach der Treibstoff aus – die Neurotransmitter. Nach einer ausgiebigen Diskussion und nachdem sie selbst die Forschungsliteratur durchgesehen hatte, beschloss sie, sechs Monate lang ein Antidepressivum auszuprobieren. (Die Psychiater, an die ich Patienten überweise, wissen, dass sie mit sehr geringen Dosierungen beginnen müssen, wenn sie sensiblen Patienten etwas verschreiben, da diese häufig mehr Nebenwirkungen haben oder mehrere Medikamente probieren müssen, bis das richtige gefunden ist.)
Bald hatte sie wieder ihr normales Gewicht erreicht, weinte weniger und konnte sich besser konzentrieren. Das tiefer liegende Problem verschwand nicht, aber sie konnte objektiver darüber nachdenken. Wir erforschten ihre Tendenz, die konkurrenzorientierte Haltung ihres Vaters nachzuahmen, sehr viel tiefer. In den Büchern ihres Vaters über Erfolg in der Unternehmenswelt stand, dass man jegliche Schwäche in sich überwinden und die Schwächen der anderen ausnutzen müsse. Jetzt konnte sie auch über die dunklere Seite dieser Einstellung sprechen, sowohl bei ihm als auch bei sich selbst.
Über das Motto „Bloß keine Schwäche“ stießen wir auf die fundamentale Ablehnung ihrer eigenen Sensibilität. Sie musste viele Male hören, welche Vorzüge dieses Merkmal hat und wie sehr andere diese genossen, obwohl sie zugleich kritisierten, was ihnen nicht gefiel.
„Sie verstehen einfach nicht, dass es ein Gesamtpaket ist – was sie an Ihnen lieben, ist nicht von dem zu trennen, was sie Ihnen am liebsten austreiben würden. Dieselbe Sensibilität, die dafür sorgte, dass Sie beim Putten und bei der Aktienwahl gut waren, und die Sie zu einer so guten Mutter macht, ließ Sie auch scheitern, wenn Sie unter Druck einen Ball schlugen oder versuchten, zu vieles gleichzeitig zu sein.“ Ihr Hass auf diesen Wesenszug verschwand nicht sofort, aber sie glaubte, sie hätte genug von unserer Arbeit profitiert, „um dieses Problem allein lösen zu können“. Ich konnte förmlich hören, wie sie die Zähne zusammenbiss.
Ein Jahr später bekam ich eine Anzeige mit der Mitteilung, dass sie soeben ein eigenes Unternehmen gestartet hatte. Es spezialisierte sich darauf, Menschen mit anspruchsvollen Berufen, die gerade Eltern geworden waren, mit erstklassigen professionellen persönlichen Assistenten und Anbietern von Kinderbetreuung zusammenzubringen. An den Rand hatte sie geschrieben: „Ich nehme keine Medikamente mehr. Und Sie wären stolz auf mich – ich halte dieses Unternehmen vorerst sehr klein und arbeite nur halbtags. In zwei Monaten soll unser kleiner Sohn auf die Welt kommen. Ich fühle mich so ausgeruht und empfangsbereit wie nur möglich. Ich bin sicher, wir werden landesweit operieren – wenn ich so weit bin.“