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Intensiver sehen, hören, fühlen – wenn Ihre Empfindungen Sie zu überwältigen drohen Wie nehmen Sie Ihre Welt wahr? Beeinträchtigen Lärm, Gerüche oder Stress Ihr Wohlbefinden? Haben Sie eine reiche Vorstellungskraft und lebendige Träume? Spüren Sie Feinheiten in Ihrer Umgebung auf und können Sie sich auf Ihre Intuition verlassen? Wenn Sie diese Fragen mit „ja“ beantworten, dann sind Sie wahrscheinlich hochsensibel und äußerst feinfühlig in der Wahrnehmung äußerer Eindrücke. Hochsensible Menschen stoßen im Alltag jedoch auf viele Schwierigkeiten und werden oft fälschlicherweise als schüchtern stigmatisiert. Elaine N. Aron ist selbst hochsensibel. Einfühlsam und fundiert, basierend auf wissenschaftlichen Untersuchungen und Hunderten von Gesprächen, gibt sie einen umfassenden Einblick in das Phänomen Hochsensibilität. Sie gibt Ratschläge im Umgang mit Hürden im Alltag und erläutert, wie hochsensible Menschen zu einem ganz neuen Selbstbewusstsein finden.
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Seitenzahl: 487
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
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10. Auflage 2015 © 2005 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH Nymphenburger Straße 86 D-80636 München Tel.: 089 651285-0 Fax: 089 652096
Die englische Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel The Highly Sensitive Person – How To Thrive When the World Overwhelmes You © 1996 by Elaine N. Aron. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Cornelia Preuß Redaktion: Pia Gelpke, Berlin Umschlaggestaltung: Atelier Seidel, Teising Satz: Manfred Zech, Landsberg am Lech Druck: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Printed in Germany
ISBN Print: 978-3-636-06246-8 ISBN E-Book (PDF): 978-3-86415-328-0 ISBN E-Book (ePub, Mobi): 978-3-86415-329-7
Weitere Informationen zum Verlag finden sie unter
www.mvg-verlag.de
Für Irene Bernadicou Pettit, Ph.D., die sowohl Dichterin als auch Bäuerin war. Sie wusste, wie man die Saat sät und wie man sie pflegt, bis sie blüht.
Für die Kunst, die besonders die Blumen liebt – eine Liebe, die wir teilen.
Ich glaube an den Adel – falls dies das richtige Wort ist und ein Demokrat es benutzen darf – nicht an die Macht des Adels ... sondern an die Sensibilität und Rücksichtnahme des Adels ... Seine Mitglieder lassen sich in allen Nationen und Gesellschaftsschichten finden, durch alle Altersstufen hindurch. Wenn sie sich treffen, besteht eine geheimnisvolle Übereinstimmung zwischen ihnen. Sie repräsentieren die wahre menschliche Kultur, den einzigen beständigen Sieg unserer sonderbaren Rasse über Gemeinheit und Chaos. Tausende von ihnen gehen im Ungewissen unter, wenige erlangen Ruhm. Sie sind feinfühlig anderen und sich selbst gegenüber, nehmen Rücksicht ohne viel Aufhebens zu machen und ihr Mut zeichnet sich nicht durch Protzerei aus, sondern ihre Stärke liegt im Ertragen.
E. M. Forster „What I Believe“ in Two Cheers for Democracy
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Sind Sie hochsensibel? Testen Sie sich selbst!
1. Hochgradige Sensibilität und die wichtigsten Fakten: Von der (falschen) Annahme mit einem Makel behaftet zu sein
2. Den Dingen auf den Grund gehen: Verstehen Sie Ihren Wesenszug mit allem, was ihn ausmacht
3. Gesundheitliches Wohlbefinden und der Lebensstil hochsensibler Menschen: Lieben Sie Ihren Körper und lernen Sie von ihm
4. Neubewertung Ihrer Kindheit und Jugend: Lernen Sie für sich selbst „elterlich“ zu sorgen
5. Soziale Beziehungen: Die Tendenz zur Schüchternheit
6. Erfolgreiches Arbeiten: Folgen Sie Ihrer Neigung und zeigen Sie, was Sie wirklich können
7. Enge Beziehungen: Die Herausforderung sensibler Liebe
8. Tiefe Wunden heilen: Ein anderer Bewältigungsprozess für Hochsensible
9. Ärzte, Medikamente und hochsensible Menschen: „Soll ich auf Medikamente vertrauen oder mit meinem Arzt Klartext reden?“
10. Seele und Geist: Wo der wahre Schatz vergraben liegt
Ratschläge für medizinisches Fachpersonal im Umgang mit Hochsensiblen
Ratschläge für Arbeitgeber hochsensibler Menschen
Ratschläge für Lehrer hochsensibler Schüler
Danksagung
Quellenverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Über die Autorin
VORWORT
„Heulsuse!“
„Angsthase!“
„Sei kein Spielverderber!“
Erinnert Sie das an früher? Und wie wäre es mit dieser wohlgemeinten Warnung: „Du bist eben empfindlicher, als es gut für dich ist.“
Wenn Sie so sind wie ich, dann haben Sie vielleicht auch bereits viele solcher Sätze gehört und es hat Ihnen das Gefühl vermittelt, dass irgendetwas an Ihnen anders ist. Ich selbst war davon überzeugt, dass ich einen verhängnisvollen Makel besitze, den ich verstecken muss und der mich zu einem zweitklassigen Leben verdammt. Ich dachte, dass mit mir etwas nicht stimmt.
Tatsächlich allerdings sind Sie und ich völlig in Ordnung. Wenn Sie allerdings zwölf oder mehr Aussagen des Tests „Sind sie hochsensibel?“ (Seite 21 ff.) mit „zutreffend“ ankreuzen können oder wenn die Beschreibung in Kapitel 1 auf Sie zutrifft (was noch aussagekräftiger ist), dann sind Sie eine besondere Art von Mensch, nämlich ein hochsensibler* 1, und dieses Buch ist für Sie bestimmt. Alle, die diesen Wesenszug teilen, werde ich von jetzt an als HSM (Hochsensible Menschen) bezeichnen.
Ein empfindsames Nervensystem zu haben ist normal und Empfindsamkeit ist eigentlich ein neutrales Merkmal. Das haben Sie wahrscheinlich geerbt. Es kommt bei ungefähr 15–20 Prozent der Bevölkerung vor. Dies bedeutet, dass Sie Feinheiten in Ihrer Umgebung eher wahrnehmen – ein großer Vorteil in manchen Situationen. Dies bedeutet allerdings auch, dass Sie sich viel leichter überfordert fühlen, wenn Sie über einen zu langen Zeitraum starken Reizen ausgesetzt sind, von Geräuschen und visuellen Eindrücken bombardiert werden, bis Ihnen Ihr Nervensystem Erschöpfung signalisiert. Sensibilität hat also sowohl Vorteile als auch Nachteile.
In unserer Kulturgemeinschaft wird es jedoch nicht als Vorzug betrachtet, wenn man diese Eigenschaft besitzt und diese Tatsache hat sich wahrscheinlich besonders stark auf Sie ausgewirkt. Wohlmeinende Eltern und Lehrer haben vermutlich versucht, Ihnen zu helfen diesen Wesenszug zu überwinden, so als ob er eine Schwäche sei. Andere Kinder konnten auch nicht gerade gut damit umgehen. Als Erwachsene(r) war es wahrscheinlich auch schwierig den passenden Beruf zu finden, die richtigen zwischenmenschlichen Beziehungen einzugehen und überhaupt ein Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit zu entwickeln.
Was dieses Buch Ihnen bietet
Dieses Buch enthält grundlegende, detaillierte Informationen über diesen Wesenszug, die so nirgendwo sonst existieren. Es ist das Produkt einer fünf Jahre lang andauernden Untersuchungsreihe tiefgründiger Gespräche, klinischer Erfahrung, Kursen und individuellen Beratungen für Hunderte von HSM. Ihm liegt das gründliche Lesen zwischen den Zeilen dessen zugrunde, was die Psychologie zwar schon über dieses Persönlichkeitsmerkmal herausgefunden, aber noch nicht wirklich begriffen hat. In den ersten drei Kapiteln werden Sie alle grundlegenden Tatsachen über Sensibilität kennen und verstehen lernen. Sie werden erfahren, wie Sie mit der Überreizung und Übererregung Ihres Nervensystems umzugehen haben.
Außerdem beleuchtet dieses Buch die Auswirkung Ihrer Sensibilität auf Ihre persönliche Geschichte, Ihre berufliche Laufbahn, zwischenmenschliche Beziehungen und Ihr Innenleben. Es richtet Ihr Augenmerk auf die Vorteile, die Sie vielleicht noch nicht bedacht haben. Zudem gibt es Ratschläge zu einigen typischen Problemen, mit denen HSM zu tun haben, wie zum Beispiel Schüchternheit oder die Schwierigkeit, die richtige Art von Arbeit zu finden.
Wir werden eine ziemlich weite Reise unternehmen. Die meisten der HSM, denen ich mit Informationen aus diesem Buch geholfen habe, haben mir erzählt, dass sich ihr Leben dramatisch verändert hat – und sie haben mir gesagt, dass ich das an Sie weitergeben soll.
Ein Wort an die nicht ganz so Sensiblen
Zunächst einmal sind Sie hier besonders willkommen, wenn Sie zu diesem Buch gegriffen haben, weil Sie Eltern eines HSM sind beziehungsweise mit ihm oder ihr befreundet oder verheiratet sind. Ihre Beziehung zu HSM wird sich entscheidend verbessern.
Zweitens hat eine Telefonumfrage unter dreihundert zufällig ausgewählten Personen aller Altersgruppen ergeben, dass 20 Prozent extrem oder ziemlich sensibel sind, während weitere 22 Prozent sich als mäßig sensibel einschätzen. Diejenigen, die in diese gemäßigt sensible Kategorie fallen, werden ebenso von diesem Buch profitieren wie HSM.
Übrigens meinten 42 Prozent, sie seien überhaupt nicht sensibel, was darauf hindeutet, dass ein HSM das Gefühl haben muss, mit dem größten Teil der Menschheit nicht Schritt halten zu können. Denn es ist natürlich genau dieser Teil der Bevölkerung, der das Radio viel zu laut aufdreht oder ständig auf die Hupe drückt.
Außerdem kann man mit Sicherheit sagen, dass jeder Mensch zuweilen höchst empfindsam werden kann – beispielsweise nach einem Monat Abgeschiedenheit in einer Berghütte. Menschen werden auch mit zunehmendem Alter sensibler. Wahrscheinlich haben die meisten Leute, ob sie es nun zugeben oder nicht, eine Seite, die ungemein feinfühlig sein kann, die aber nur in bestimmten Situationen in Erscheinung tritt.
Einige Mitteilungen für Nichtsensible
Manchmal fühlen sich die Nicht-HSM ausgeschlossen und verletzt durch die Vorstellung, dass wir anders sind als sie und vielleicht so klingen, als glaubten wir irgendwie besser zu sein. Sie sagen dann: „Meinst du, ich wäre nicht sensibel?“ Ein Problem liegt darin, dass sensibel auch bedeutet einfühlsam zu sein und Dinge bewusster wahrzunehmen. Diese Qualitäten können sowohl HSM als auch Nicht-HSM besitzen und sie werden optimiert, wenn wir uns wohl fühlen und aufmerksam gegenüber Feinheiten sind. Wenn sie gelassen sind, können HSM aber noch viel feinere Nuancen wahrnehmen als andere. Wenn ihre Nerven jedoch überreizt sind, was ein häufiger Zustand bei HSM ist, sind sie alles andere als verständnisvoll oder sensibel. Stattdessen fühlen sie sich überfordert, stehen neben sich und wollen allein sein. Im Gegensatz dazu benehmen sich Ihre unsensibleren Freunde in solch chaotischen Situationen anderen gegenüber noch immer verständnisvoll.
Ich habe lange und intensiv darüber nachgedacht, wie ich diese Eigenschaft eigentlich nennen könnte. Ich wollte nicht den Fehler wiederholen, sie mit Introvertiertheit, Schüchternheit, Gehemmtsein oder einer Menge anderer fälschlicher Bezeichnungen zu verwechseln, die andere Psychologen uns auferlegt haben. Keiner der Begriffe drückt nämlich den neutralen und erst recht nicht den positiven Aspekt dieser Eigenschaft aus. Der Begriff „Sensibilität“ macht auf neutrale Weise die größere Empfänglichkeit gegenüber Reizen deutlich. Es schien an der Zeit, mit der Voreingenommenheit gegenüber HSM abzurechnen, indem eine Bezeichnung gewählt wurde, die uns gerecht wird.
Andererseits ist die Tatsache hochsensibel zu sein, für einige alles andere als positiv. Während ich in meinem Haus ganz in Ruhe sitze und dies zu einer Zeit schreibe, da niemand dieses Persönlichkeitsmerkmal thematisiert, gebe ich Folgendes zu bedenken: Dieses Buch wird mehr als genügend verletzende Witze und Bemerkungen über HSM hervorrufen. Denn die Vorstellung, hochsensibel zu sein, besitzt bereits ein enormes Diskussionspotenzial in der Gesellschaft, das fast so stark ist wie die Faszination, die von Fragen rund um die viel diskutierten Geschlechterdifferenzen ausgeht. Diese beiden Themenkomplexe werden übrigens häufig miteinander vermischt: Es gibt genauso viele sensible männliche wie weibliche Neugeborene. Angeblich aber besitzen Männer diese Eigenschaft nicht, sondern nur Frauen. Beide Geschlechter zahlen einen hohen Preis für dieses Missverständnis. Schützen Sie also sowohl Ihre Sensibilität als auch Ihr gerade entwickeltes Verständnis dafür, indem Sie, sofern Ihnen das vielleicht am vernünftigsten erscheint, erst gar nicht darüber reden.
Genießen Sie einfach das Bewusstsein, dass es da draußen viele Gleichgesinnte gibt. Wir haben uns zwar noch nicht kennen gelernt, aber das tun wir jetzt und sowohl wir als auch die Gesellschaft wird davon profitieren. In den Kapiteln 1, 6 und 10 werde ich dazu Stellung nehmen, wie wichtig HSM für die Gesellschaft sind.
Was Sie brauchen
Ich habe herausgefunden, dass HSM von einer Vorgehensweise in vier Schritten profitieren und habe diese deshalb auch für dieses Buch übernommen:
1. Selbsterkenntnis: Sie müssen verstehen, was es bedeutet, ein HSM zu sein, wie dies mit Ihren anderen Persönlichkeitsmerkmalen zusammenpasst und wie sich die negative Haltung der Gesellschaft auf Sie ausgewirkt hat. Außerdem sollten Sie Ihren empfindlichen Körper sehr gut kennen. Ignorieren Sie die Signale Ihres Körpers nicht länger, nur weil er anscheinend zu schwach beziehungsweise wenig kooperativ ist.
2. Neubewertung: Sie müssen viele Teile Ihrer Vergangenheit in einem neuen Licht sehen und zwar in dem Bewusstsein, dass Sie hochsensibel geboren wurden. Dadurch waren viele Ihrer scheinbaren Misserfolge unvermeidbar, weil weder Ihre Eltern, Lehrer, Freunde und Kollegen noch Sie selbst sich verstanden haben. Zu begreifen, wie Sie Ihre Vergangenheit erlebt haben, kann Ihre Selbstachtung fördern. Selbstachtung ist besonders wichtig für HSM, denn sie vermindert Reaktionen der Überreizung in ungewohnten (und daher höchst stimulierenden) Situationen. Aber diese Neubewertung geschieht nicht automatisch. Deswegen beziehe ich die praktische Umsetzung am Ende jedes Kapitels mit ein, wenn es nötig ist.
3. Heilung: Falls Sie es noch nicht getan haben, müssen Sie jetzt damit beginnen, Ihre tieferen Wunden zu heilen. Sie waren schon als Kind sehr sensibel, Familien- und Schulprobleme, Kinderkrankheiten und dergleichen haben Sie mehr als andere betroffen. Darüber hinaus haben Sie sich von anderen Kindern unterschieden und sicherlich auch deswegen gelitten. Gerade HSM schrecken vor der notwendigen inneren Arbeit zurück, die Wunden der Vergangenheit zu heilen, weil sie ahnen, welche intensiven Gefühle dabei geweckt werden. Vorsicht und eine langsame Vorgehensweise sind gerechtfertigt, aber Sie betrügen sich selbst, wenn Sie diese Arbeit aufschieben.
4. Hilfe: Sie lernen, wie Sie sich draußen in der Welt wohl fühlen und wann Sie sich eher zurückziehen sollten: Sie können, sollen und müssen sich am Leben in der Welt beteiligen. Sie werden wirklich gebraucht, aber Sie müssen die Fertigkeit erwerben, dabei jedes zu viel oder zu wenig zu vermeiden.
Dieses Buch enthält keine verwirrenden Mitteilungen einer wenig sensiblen Gesellschaft, sondern handelt davon, einen neuen Weg zu entdecken.
Ich werde Ihnen auch die Auswirkungen Ihres Persönlichkeitsmerkmals auf Ihre engsten Beziehungen nahe bringen. Und ich werde das Thema Psychotherapie behandeln und der Frage nachgehen, welche HSM eine Therapie machen sollten und warum, welche Therapieform geeignet ist, von wem sie durchgeführt werden sollte und insbesondere, inwiefern die Therapie für HSM anders ausfallen muss. Außerdem werde ich die medizinische Behandlung von HSM betrachten und über Medikamente wie Beruhigungsmittel und Antidepressiva informieren. Am Ende dieses Buches werde ich außerdem auf die hohe spirituelle Empfänglichkeit von HSM eingehen.
Über mich selbst
Ich bin als Psychologin in der Forschung tätig und arbeite als Universitätsprofessorin, Psychotherapeutin und Romanschriftstellerin. Am bedeutsamsten ist jedoch die Tatsache, dass ich wie Sie hochsensibel bin. Ganz bestimmt schreibe ich nicht vom hohen Sockel aus um Sie, arme Seele, zu belehren und Ratschläge zu geben, wie Sie Ihr Syndrom loswerden können. Ich kenne unsere besondere Eigenschaft ganz persönlich, einschließlich ihrer Vorzüge und Herausforderungen.
Als Kind habe ich mich zu Hause vor dem Chaos meiner Familie versteckt. In der Schule bin ich dem Sport, dem Spiel im Freien und anderen Kindern im Allgemeinen aus dem Weg gegangen. Ich erlebte eine Mischung aus Erleichterung und Demütigung, wenn meine Strategie erfolgreich war und man mich einfach ignorierte.
In der High School nahm mich eine Extravertierte unter ihre Fittiche. Während der Schulzeit hielt diese Beziehung an, und außerdem habe ich die meiste Zeit mit Lernen verbracht. Im College wurde mein Leben viel schwieriger. Nach vielen Anfängen und Abbrüchen, inklusive einer nur vier Jahre andauernden Ehe, die ich viel zu früh eingegangen war, graduierte ich schließlich mit Auszeichnung an der Universität in Berkeley, Kalifornien. Aber ich habe genügend Zeit heulend auf Toiletten zugebracht und gedacht, ich würde durchdrehen. Meine Untersuchung hat ergeben, dass es typisch für HSM ist sich zurückzuziehen. Oft passiert das sehr tränenreich.
Bei meinem ersten Anlauf höhere akademische Grade zu erreichen, erhielt ich ein Büro, in das ich mich auch zurückziehen, wo ich weinen und versuchen konnte, meine innere Ruhe zurückzugewinnen. Solche Reaktionen trugen dazu bei, dass ich mein Studium als Magistra beendet habe, obwohl ich hochmotiviert war, bis zum Doktortitel weiterzumachen. Ich habe fünfundzwanzig Jahre gebraucht, bis ich die notwendige Informationen über mein Persönlichkeitsmerkmal erhielt, die es mir ermöglichten, meine Reaktionen zu verstehen und infolge dessen auch zu promovieren.
Als ich dreiundzwanzig war, traf ich meinen jetzigen Mann, ich führte dann ein sehr behütetes Leben und widmete mich dem Schreiben und der Erziehung unseres Sohnes. Ich war begeistert und gleichzeitig schämte ich mich dafür, nicht da draußen zu sein. Ich war mir nur vage bewusst, welche Gelegenheiten ich verpasste, um dazuzulernen, um öffentliche Anerkennung für meine Fähigkeiten zu genießen und Kontakt zu Menschen unterschiedlichster Art zu knüpfen. Aber aufgrund bitterer Erfahrungen dachte ich, ich hätte keine andere Wahl.
Einige aufwühlende Ereignisse ließen sich jedoch nicht vermeiden. Ich musste mich eines medizinischen Eingriffs unterziehen, von dem ich dachte, mich in ein paar Wochen zu erholen. Stattdessen schien mein Körper monatelang sowohl physisch als auch emotional auf diesen Eingriff zu reagieren. Ich wurde wieder einmal gezwungen, mich mit meinem geheimnis- und gar verhängnisvollen Makel, der mich so anders sein ließ, auseinander zu setzen. Also versuchte ich es mit Psychotherapie und hatte Glück. Nachdem mir meine Therapeutin einige Sitzungen lang zugehört hatte, sagte sie: „Es ist völlig klar, dass Sie aus der Fassung gerieten – Sie sind ja auch äußerst sensibel.“
Was denn das für eine Entschuldigung sei, meinte ich. Sie antwortete, dass sie noch nicht viel darüber nachgedacht hätte, aber ihre Erfahrung habe ihr gezeigt, dass die Toleranz gegenüber Reizen sowie die Bereitschaft schönen und schlimmen Erlebnissen eine tiefere Bedeutung beizumessen von Fall zu Fall wohl sehr unterschiedlich sei. Solch eine Empfindsamkeit sei für sie kein Zeichen einer Geistesstörung oder einer mentalen Desorientierung. Zumindest hoffe sie das nicht, denn schließlich sei sie selbst sehr sensibel. Ich erinnere mich an ihr Grinsen, als sie sagte: „Das trifft übrigens auf die meisten Leute zu, deren Bekanntschaft ich schätze.“
Ich verbrachte mehrere, nicht vergeudete Jahre in Therapie, in der ich diverse Probleme meiner Kindheit aufarbeitete. Aber meine Sensibilität entwickelte sich zum zentralen Thema. Da war mein Gefühl mit einem Makel behaftet zu sein. Dann gab es die Bereitschaft anderer, mich zu beschützen als Gegenleistung dafür, dass ich sie durch meine Fantasie, Kreativität, Weitsicht und mein Mitgefühl bereicherte – Eigenschaften, die ich selbst kaum zu schätzen wusste. Und dann war da noch die Isolation, in die ich mich aufgrund meiner Empfindsamkeit zurückzog. Aber als ich Einsicht in alles gewann, war ich in der Lage ins Leben zurückzukehren. Heute freue ich mich sehr, dass ich an vielen Dingen teilhabe, eine Fachfrau auf meinem Gebiet bin und die besonderen Gaben meiner Sensibilität mit anderen teilen kann.
Forschungen, die dem Buch vorausgehen
Da das Wissen um meinen Wesenszug mein Leben veränderte, entschloss ich mich, mehr darüber zu lesen. Es war aber kaum Literatur erhältlich. Bei genauerem Hinsehen erschien mir Introvertiertheit als die Eigenschaft, die vielleicht am engsten mit der Sensibilität verwandt ist. Der Psychiater C. G. Jung hat sehr viel Kluges zu diesem Thema geschrieben und sprach von der Neigung, sich nach innen zu wenden. Die Arbeit von Jung, der übrigens selbst ein HSM war, hat mir sehr geholfen. Wissenschaftlichere Arbeiten zum Thema Introvertiertheit konzentrierten sich aber vor allem auf die Feststellung, dass Menschen mit dieser Eigenschaft nicht gesellig seien und gerade diese Vorstellung ließ mich darüber nachdenken, ob Sensibilität nicht fälschlicherweise mit Introvertiertheit gleichgesetzt wurde.
Es stand mir nur wenig Informationsmaterial für meine weitere Arbeit zur Verfügung. Also entschloss ich mich, eine Anzeige in den Rundbrief für die Mitarbeiter der Universität zu setzen, an dem ich zur damaligen Zeit mitarbeitete. Ich bat darin um ein Interview mit allen, die sich als äußerst empfänglich für Reize bezeichneten, die sich für introvertiert hielten oder gefühlsmäßig schnell reagierten. Ich hatte bald mehr Freiwillige als ich brauchte.
Die Lokalzeitung veröffentlichte einen Artikel über diese Untersuchungsreihe. Obwohl in dem Artikel nicht gesagt wurde, wie ich zu erreichen sei, meldeten sich mehr als hundert Leute telefonisch oder schriftlich bei mir, um mir entweder zu danken, ihre Hilfe anzubieten oder bloß um „ich auch“ zu sagen. Zwei Jahre später kontaktierte man mich immer noch. HSM müssen manchmal länger über etwas nachdenken bevor sie handeln!
Ich erstellte einen Fragenkatalog, der sich auf die Interviews bezog (vierzig Gespräche, die jeweils zwischen zwei und drei Stunden dauerten) und verteilte ihn an 1.000 Leute in ganz Nordamerika. Ich leitete eine Telefonstudie, für die dreihundert Leute per Zufallsgenerator ausgewählt wurden. Was für Sie wichtig sein wird, ist die Tatsache, dass dieses Buch auf gründlicher Forschungsarbeit – meiner eigenen und der von anderen – basiert. Außerdem spreche ich über meine wiederholten Beobachtungen hochsensibler Menschen, von meinen Kursen, Gesprächen, individuellen Beratungen beziehungsweise der Psychotherapie mit HSM. Es sind mehr als tausend Aufzeichnungen, die sich mit dem persönlichen Leben von HSM beschäftigen. Trotz alledem werde ich die Wörter „wahrscheinlich“ und „vielleicht“ öfter benutzen, als Sie es im Allgemeinen von anderen Büchern gewohnt sind, aber ich denke, HSM werden das wertschätzen.
Der Entschluss, diese Untersuchungen durchzuführen, darüber zu schreiben und zu lehren hat mich zu einer Art Pionierin auf diesem Gebiet gemacht. Aber auch das ist irgendwie typisch für HSM. Oft sind wir die ersten, die spüren, was getan werden muss. Wenn das Vertrauen in unsere eigenen Tugenden wächst, werden vielleicht mehr und mehr von uns mit der Sprache herausrücken – auf unsere sensible Art und Weise.
Hinweise für den Leser
1. Nochmals erwähne ich, dass ich den Leser mit HSM anreden werde, aber dieses Buch ist gleichermaßen für solche geschrieben, die einen HSM zu verstehen versuchen, ob als Freund, Verwandter, Arbeitgeber, Ausbilder, Erzieher oder Arzt.
2. Dieses Buch berücksichtigt, dass der Wesenszug, mit dem Sie ausgestattet sind, zwar viele betrifft, dass er Sie aber dennoch auszeichnet und in seiner Ausprägung jeweils einzigartig ist. Sie können sich normal fühlen und von der Erfahrung und Forschung anderer profitieren, ohne dass Ihnen Ihre Einzigartigkeit genommen wird. Jeder HSM unterscheidet sich wesentlich von anderen HSM – trotz der gemeinsamen Eigenschaft. Denken Sie immer daran, wenn Sie weiterlesen.
3. Während Sie dieses Buch lesen, werden Sie wahrscheinlich alles in Ihrem Leben im Lichte dieser hochgradigen Sensibilität betrachten. Das ist zumindest zu erwarten und das ist ja gerade beabsichtigt. Auch wenn man eine neue Sprache lernt, hilft es, sich vollkommen in sie zu versenken – das ist auch sinnvoll, wenn Sie lernen sich selbst neu zu verstehen. Wenn sich andere dabei ein wenig unwohl, ausgeschlossen oder verärgert fühlen, bitten Sie diese um Geduld. Eines Tages wird das Konzept verinnerlicht sein und Sie werden weniger darüber sprechen.
4. Dieses Buch enthält auch einige Übungen für HSM, die ich für sinnvoll halte. Aber ich sage damit nicht, dass man diese durchführen muss, um etwas zu lernen. Vertrauen Sie Ihrer eigenen Intuition und tun Sie, was Sie für richtig halten.
5. Jede dieser praktischen Umsetzungen kann starke Gefühle hervorrufen. Falls das passiert, bitte ich Sie dringend darum, professionelle Hilfe aufzusuchen. Wenn Sie sich bereits in Therapie befinden, wird dieses Buch die Arbeit noch unterstützen. Die Ausführungen werden vielleicht sogar die notwendige Zeit in der Therapie verkürzen, weil Sie eine neue Vorstellung von Ihrem Selbst bekommen, die nicht der Idealvorstellung unserer Kulturgesellschaft entsprechen muss. Bedenken Sie jedoch, dass dieses Buch einen guten Therapeuten nicht ersetzen kann, wenn Ihre Empfindungen zu intensiv oder verwirrend sein sollten.
Dies ist ein spannender Moment für mich, da ich mir vorstelle, wie Sie die Seite umblättern und sich eine neue Welt erschließen – meine, Ihre, unsere! Nachdem Sie so lange geglaubt haben, Sie wären der/die Einzige, ist es doch nett sich in Gesellschaft zu befinden, oder?
SIND SIE HOCHSENSIBEL? TESTEN SIE SICH SELBST!
EINGANGSTEST
Beantworten Sie diesen Fragebogen nach Ihrem persönlichen Empfinden. Kreuzen Sie „Zutreffend“ an, wenn die Aussage zumindest irgendwie auf Sie zutrifft. Falls die Aussage nicht oder überhaupt nicht auf Sie zutrifft, kreuzen Sie „Nicht zutreffend“ an!
Mir scheint, dass ich Feinheiten um mich herum wahrnehme.
Z
N
Die Launen anderer machen mir etwas aus.
Z
N
Ich neige zu Schmerzempfindlichkeit.
Z
N
Koffein wirkt sich besonders stark auf mich aus.
Z
N
Ich habe ein reiches, komplexes Innenleben.
Z
N
Laute Geräusche rufen ein Gefühl des Unwohlseins in mir hervor.
Z
N
Kunst und Musik können mich tief bewegen.
Z
N
Ich bin gewissenhaft.
Z
N
Ich erschrecke leicht.
Z
N
Veränderungen in meinem Leben lassen mich aufschrecken und beunruhigen mich.
Z
N
Wenn viel um mich herum los ist, reagiere ich schnell gereizt.
Z
N
Ich bin sehr darum bemüht, Fehler zu vermeiden beziehungsweise nichts zu vergessen.
Z
N
Es nervt mich sehr, wenn man von mir verlangt mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen.
Z
N
Ich werde fahrig, wenn ich in kurzer Zeit viel zu erledigen habe.
Z
N
Ich achte darauf, mir keine Filme und TV-Serien mit Gewaltszenen anzuschauen.
Z
N
An stressigen Tagen muss ich mich zurückziehen können – ins Bett oder in einen abgedunkelten Raum beziehungsweise an irgendeinen Ort, an dem ich meine Ruhe habe und keinen Reizen ausgesetzt bin.
Z
N
Helles Licht, unangenehme Gerüche, laute Geräusche oder kratzige Stoffe beeinträchtigen mein Wohlbefinden.
Z
N
Wenn Menschen sich in ihrer Umgebung unwohl fühlen, meine ich zu wissen, was getan werden müsste, damit sie sich wohl fühlen (wie zum Beispiel das Licht oder die Sitzposition verändern).
Z
N
Ein starkes Hungergefühl verursacht heftige Reaktionen, es beeinträchtigt meine Laune und meine Konzentration.
Z
N
Ich bemerke und genieße feine und angenehme Gerüche, Geschmacksrichtungen, Musik und Kunstgegenstände.
Z
N
Als ich ein Kind war, schienen meine Eltern und Lehrer mich für sensibel und schüchtern zu halten.
Z
N
Es zählt zu meinen absoluten Prioritäten, mein tägliches Leben so einzurichten, dass ich aufregenden Situationen oder solchen, die mich überfordern, aus dem Weg gehe.
Z
N
Wenn ich mich mit jemandem messen muss oder man mich bei der Ausübung einer Arbeit beobachtet, werde ich so nervös und fahrig, dass ich viel schlechter abschneide als unter normalen Umständen.
Z
N
AUSWERTUNG
Wenn Sie zwölf oder mehr Aussagen mit „zutreffend“ angekreuzt haben, sind Sie wahrscheinlich hochsensibel.
Aber, offen gestanden, ist kein psychologischer Test so genau, dass Sie Ihr Leben danach ausrichten sollten. Falls nur eine oder zwei Aussagen auf Sie zutreffen, aber dafür umso stärker, so ist es vielleicht gerechtfertigt, Sie dennoch als hochsensibel zu bezeichnen.
Lesen Sie weiter, und wenn Sie sich in der detaillierteren Beschreibung der HSM in Kapitel 1 wiedererkennen, betrachten Sie sich als solchen. Der Rest des Buches wird Ihnen helfen sich selbst besser zu verstehen und Ihnen beibringen, sich in der heutigen, wenig sensiblen Welt wohlzufühlen.
HOCHGRADIGE SENSIBILITÄT UND DIE WICHTIGSTEN FAKTEN
VON DER (FALSCHEN) ANNAHME MIT EINEM MAKEL BEHAFTET ZU SEIN
In diesem Kapitel werden Sie die wichtigsten Fakten über Ihr Naturell erfahren und lernen, inwiefern Sie sich dadurch von anderen Menschen unterscheiden. Sie werden auch andere Züge Ihrer Persönlichkeit entdecken und Sie werden verstehen, wie unsere Kulturgesellschaft Sie sieht. Aber zuerst sollten Sie Kristen kennen lernen:
Sie dachte, sie sei verrückt
Mit Kristen führte ich das dreiundzwanzigste Interview meiner HSM-Untersuchungsreihe. Sie war eine intelligente College-Studentin mit einem klaren Blick. Doch schon bald während des Gesprächs fing ihre Stimme an zu zittern. „Es tut mir leid“, flüsterte sie, „aber ich habe mich eigentlich nur in die Liste eingetragen, um Sie zu treffen, weil Sie Psychologin sind und ich mit jemandem reden muss, der es mir sagen kann ...“ Hier versagte ihre Stimme. „Bin ich verrückt?“ Ich betrachtete sie mit Mitgefühl. Sie war offensichtlich verzweifelt, aber nichts, was sie bis dahin gesagt hatte, vermittelte mir den Eindruck irgendeiner Geisteskrankheit. Doch zu jenem Zeitpunkt hörte ich Menschen wie Kristen ja schon anders zu.
Sie versuchte es noch einmal – so, als ob sie sich vor meiner Antwort fürchtete: „Ich fühle mich so anders. Das habe ich immer schon getan. Ich meine nicht ... Also, meine Familie war großartig. Meine Kindheit war fast idyllisch, bis ich zur Schule gehen musste. Obwohl meine Mutter sagt, dass ich auch schon als Kleinkind leicht reizbar gewesen bin.“
Sie holte Luft, ich sagte etwas Beschwichtigendes, und sie fuhr fort: „Im Kindergarten hatte ich vor allem Angst, sogar vor den Zeiten mit Musik. Wenn man die Teller und Tassen mit lautem Geschepper verteilte, habe ich die Hände auf die Ohren gepresst und geweint.“
Jetzt hatte sie Tränen in den Augen und schaute zur Seite. „In der Grundschule war ich der Liebling meiner Lehrer. Dennoch hielten sie mich wohl für verdreht“.
Diese Verdrehtheit gab den Ausschlag für eine Serie von enervierenden medizinischen und psychologischen Tests. Zunächst einmal folgte eine Untersuchung auf geistige Retardiertheit. Das Resultat war, dass man sie in einem Programm für Begabte unterbrachte, was mich nicht überraschte.
Aber das Urteil: „Mit diesem Kind stimmt etwas nicht.“, blieb weiterhin bestehen. Ihre Hörfähigkeit wurde überprüft. Normal. In der vierten Klasse wurde eine Aufnahme ihres Gehirns gemacht, um die Theorie zu belegen, dass ihre Unpässlichkeiten wohl auf eine Funktionsstörung zurückzuführen seien. Ihre Gehirnfunktionen waren aber völlig in Ordnung.
Die abschließende Diagnose? Sie habe „Schwierigkeiten Reize zu verarbeiten“. Das Ergebnis des Ganzen war aber ein Kind, das glaubte, nicht normal zu sein.
Einzigartig, aber völlig missverstanden
An sich war die Diagnose ja richtig. HSM nehmen eben viel mehr in sich auf, nämlich all die Feinheiten, die andere gar nicht bemerken. Doch was anderen völlig normal vorkommt, wie zum Beispiel laute Musik oder Menschenansammlungen, kann auf HSM so starke Reize ausüben, dass es als Stress empfunden wird.
Die meisten Menschen ignorieren Sirenen, grelles Licht, unangenehme Gerüche und Unordnung. HSM fühlen sich dadurch sichtlich beeinträchtigt.
Nach einem langen Einkaufsbummel oder einem Museumsbesuch schmerzen vielleicht die Füße der meisten Menschen, aber sie sagen sofort begeistert zu, wenn man ihnen danach einen Partybesuch vorschlägt. HSM müssen nach so einem Tag allein sein, weil sie sich nervlich übererregt und aufgedreht fühlen.
Die meisten Leute bemerken vielleicht die Möbel und die anderen Menschen, wenn sie ein Zimmer betreten, mehr aber auch nicht. HSM können, ob sie es nun wollen oder nicht, sofort auch die frische oder verbrauchte Luft im Raum wahrnehmen, die vorherrschende Stimmung, die Freundschaften und Feindschaften sowie die Persönlichkeit desjenigen erahnen, der die Blumen arrangiert hat.
Wenn Sie ein HSM sind, ist es jedoch schwer, diese bemerkenswerte Fähigkeit zu verstehen. Wie vergleicht man innere Erlebnisse miteinander? Das ist nicht einfach. Meistens stellen Sie fest, dass Sie nicht in der Lage sind, so viel zu ertragen wie andere. Dabei vergessen Sie, dass Sie zu denjenigen zählen, die oftmals große Kreativität, Leidenschaft, Erkenntnis und Anteilnahme an den Tag legen – alles Eigenschaften, die von der Gesellschaft überaus geschätzt werden.
Unsere Eigenschaft hat viele Vorteile, aber auch Nachteile. Hochsensibel zu sein, bedeutet oft auch, dass man sich lieber zurückhält, dass man häufig in sich gekehrt ist und dass man das Bedürfnis verspürt, eine gewisse Zeit allein zu verbringen. Da die Mehrheit der Menschen diesen Wesenszug nicht teilt, versteht sie unser Verhalten auch nicht. Sie schätzt uns als ängstlich, schüchtern, schwach oder – die größte Sünde überhaupt – als nicht gesellig ein. Da wir diese Stigmatisierung fürchten, versuchen wir so zu sein wie die anderen. Das führt aber nur dazu, dass wir uns überdreht oder ausgelaugt fühlen. Und damit bekommen wir wieder einen Stempel aufgedrückt (zuerst von anderen und später von uns selbst): Wir werden als neurotisch oder verrückt bezeichnet.
Ein gefährliches Jahr für Kristen
Früher oder später durchlebt jeder einmal stressige Lebenssituationen, HSM reagieren aber verstärkt auf solche Reize. Wenn man diese Reaktion dann auch noch als Makel seiner Persönlichkeit auffasst, wird der ohnehin in jeder Lebenskrise vorhandene Stress noch intensiviert. Später gesellen sich Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Wertlosigkeit hinzu.
Kristen erlitt beispielsweise solch eine Krise, als sie mit dem Studium begann. Sie hatte zuvor eine private High School besucht und war noch nie von zu Hause fort gewesen. Plötzlich lebte sie unter Fremden und riss sich in der Menschenmenge um Kurse und Bücher – sie befand sich in einem Zustand ständiger Überreizung. Dann verliebte sie sich und zwar Hals über Kopf bis über beide Ohren (wie es HSM gut können). Kurz darauf flog sie nach Japan, um die Familie ihres Freundes kennen zu lernen. Vor diesem Moment hatte sie sich aus guten Gründen schon im Vorfeld gefürchtet. Während ihres Aufenthalts in Japan „flippte sie aus“ – so ihre eigenen Worte.
Kristen hatte sich selbst nie als ängstlich eingeschätzt, aber in Japan überkamen sie plötzlich alle möglichen Ängste und sie konnte nicht schlafen. Dann wurde sie depressiv. Ihre eigenen Gefühle verstörten sie vollkommen und ihr Selbstbewusstsein litt darunter. Ihr junger Freund konnte mit diesem verrückten Verhalten nicht umgehen und wollte die Beziehung beenden. Als ich mit ihr sprach, hatte sie ihr Studium mittlerweile wieder aufgenommen, befürchtete aber, dass sie es nicht schaffen würde. Kristen fühlte sich am Ende.
Sie schaute mich an, nachdem sie beim Rest ihrer Geschichte nur noch geschluchzt hatte: „Ich hörte von dieser Untersuchungsreihe über sensible Menschen und fragte mich, ob ich hochsensibel sein könnte. Aber das bin ich nicht, oder?“
Ich sagte ihr, dass ich dies nach einer so kurzen Unterhaltung nicht mit Sicherheit sagen könnte, aber dass ich doch glaubte, dem zustimmen zu können. Eine hohe Sensibilität in Kombination mit all den Stressfaktoren würde ihre Verfassung gut erklären. Auf diese Weise hatte ich den Vorzug, Kristen ihr eigenes Wesen zu erklären – was offensichtlich schon lange überfällig war.
So lässt sich hochgradige Sensibilität erklären
FAKT 1: Jeder Mensch, ob HSM oder nicht, fühlt sich am wohlsten, wenn er weder gelangweilt noch überbeansprucht ist.
Jedes Individuum wird seine anstehenden Aufgaben, sei es nun die Teilnahme an einem Gespräch oder am Pokalendspiel, am besten ausführen, wenn sein Nervensystem einer optimalen Reizstärke ausgesetzt ist. Wenn der Reiz zu schwach ist, fühlen wir uns teilnahmslos oder schwerfällig. Um unsere körperliche Verfassung zu ändern, trinken wir dann Kaffee, drehen das Radio auf, rufen einen Bekannten an, fangen eine Unterhaltung mit einem Wildfremden an oder wechseln den Beruf – alles ist möglich!
Im anderen Extrem, wenn unser Nervensystem übererregt ist, reagieren wir ungeschickt, genervt und überanstrengt. Wir können nicht mehr klar denken oder Handlungen des Körpers koordinieren – wir fühlen uns nicht mehr Herr unserer selbst. Aus dieser misslichen Lage gibt es wiederum verschiedene Auswege. Manchmal ruhen wir uns aus oder schalten mental ab. Einige von uns trinken dann Alkohol oder nehmen Beruhigungstabletten.
Das gesunde Maß an emotionaler Erregung liegt irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Und tatsächlich ist der Wunsch und das Verlangen nach einer optimalen Reizschwelle ein wichtiger Basisgedanke in der Psychologie. Das trifft auf jeden zu, sogar auf Säuglinge: Auch sie hassen sowohl Langeweile als auch Überbeanspruchung.
FAKT 2: In der gleichen Situation und bei ein und demselben Reiz ist das Erregungsniveau des Nervensystems individuell unterschiedlich.1
Dieser Unterschied wird hauptsächlich vererbt und ist ganz normal. Man kann ihn sogar bei allen höheren Tierarten wie etwa Mäusen, Katzen, Hunden, Pferden und Affen feststellen – und eben auch beim Menschen. Innerhalb der Arten ist die Zahl der, die gegenüber Reizen sehr empfänglich reagieren, übrigens fast gleich hoch: 15–20 Prozent. Genauso wie innerhalb einer Spezies Unterschiede im Wuchs und in der Größe der Individuen bestehen, existieren diese auch in Bezug auf Sensibilität. Bei sorgfältiger Züchtung von Tieren, bei der man die sensiblen unter ihnen miteinander kreuzt, kann man bereits nach ein paar Generationen eine sensible Linie erkennen. Kurz gesagt: Von allen angeborenen Temperamentsmerkmalen sind die Unterschiede hier am deutlichsten zu beobachten.2
Gute und nicht so gute Nachrichten
Aufgrund dieser unterschiedlich ausgeprägten Erregbarkeit können Sie Stimulationsgrade wahrnehmen, die anderen gar nicht auffallen.3 Das bezieht sich sowohl auf feine Geräuschunterschiede, visuelle Eindrücke und körperliche Empfindungen als auch auf Schmerzen. Dies liegt nicht etwa daran, dass Ihr Hör-, Seh- oder irgendein anderer Sinn besser ausgeprägt ist (viele HSM tragen Brillen). Der Unterschied liegt irgendwo auf dem Weg zwischen Nerv und Gehirn oder im Gehirn selbst, in der Verarbeitung von Informationen.4 Wir HSM denken genauer über alles nach und machen bei allem feine Unterschiede. Ähnlich wie Maschinen, die Früchte nach ihrer Größe sortieren, besitzen wir die Fähigkeit ganz genau zu differenzieren, während vielleicht andere nur zwei oder drei Differenzierungsmerkmale wahrnehmen können.
Ihr größeres Wahrnehmungsvermögen gegenüber Feinheiten trägt auch zu einer ausgeprägten Intuition bei, was ganz einfach bedeutet, dass Sie Informationen unbewusst beziehungsweise halbbewusst aufnehmen und weiterverarbeiten. Das Ergebnis ist, dass Sie oft etwas einfach so wissen, ohne dass Ihnen klar ist wieso. Darüber hinaus bewirkt diese Fähigkeit, dass Sie über Vergangenes und Zukünftiges mehr als andere nachdenken. Sie wissen einfach, wie die Dinge sein sollten, damit sie ihre Richtigkeit haben, oder wie etwas enden wird. Das ist wohl der sechste Sinn, von dem man spricht. Dieser muss nicht immer stimmen, genauso wie unsere Augen und Ohren getäuscht werden können, aber Ihre Intuition gibt Ihnen oft genug recht. So gibt es zum Beispiel unter den HSM Hellseher, begabte Künstler oder Erfinder, ebenso wie besonders gewissenhafte, vorsichtige und gebildete Menschen.
Die Kehrseite der Sensibilität zeigt sich erst bei intensiveren Reizen. Was bei den meisten Menschen zu einem mittleren Erregungsniveau führt, bewirkt bei HSM eine hochgradige Erregung des Nervensystems. Was die Nerven der meisten Leute sehr erregt, führt bei HSM dazu, dass sie so überdreht reagieren, bis schließlich eine so genannte transmarginale Hemmung* 2 ausgelöst wird. Diese wurde erstmals von dem russischen Physiologen Iwan Pawlow Anfang des 20. Jahrhunderts thematisiert. Er war davon überzeugt, dass der grundlegendste, vererbbare Unterschied zwischen Menschen darin besteht, wie schnell bei dem Einzelnen diese Schwelle erreicht wird, und dass das Nervensystem derjenigen, die sie schnell erreichen, ganz anders funktioniert.
Niemand, ob HSM oder nicht, mag es, wenn seine Nerven stark gereizt werden. Man gerät außer Kontrolle und der ganze Körper sendet Warnsignale, die anzeigen, dass etwas nicht stimmt. So eine Übererregung bedeutet oft, dass man seine Aufgaben nicht mehr so gut wie sonst erledigen kann. Sie kann auch auf eine Gefahr hinweisen und Furcht auslösen. Weil Neugeborene weder weglaufen noch kämpfen noch überhaupt Gefahren erkennen können, ist es für sie am besten, in jeder ungewohnten Situation zu schreien, damit die Großen kommen, um sie zu retten.
Wie die Feuerwehr reagieren wir HSM auf jeden ausgelösten Alarm – meistens also auf Fehlalarm. Wenn aber mithilfe unserer Sensibilität auch nur ein Menschenleben gerettet werden kann, dann ist dies ein Wesenszug, der sich genetisch auszahlt. Sicherlich, wenn diese Eigenschaft dazu führt, unsere Nerven zu sehr zu erregen, ist das lästig. Aber wie jede andere Charaktereigenschaft auch birgt hochgradige Sensibilität sowohl Vorteile als auch Nachteile in sich.
SCHÄTZEN SIE IHRE SENSIBILITÄT
Denken Sie an ein oder zwei Gelegenheiten, bei denen Ihre Feinfühligkeit Sie oder jemand anderen vor Leid, Verlust oder sogar vor dem Tod bewahrt hat. In meinem eigenen Fall wären meine ganze Familie und ich umgekommen, wenn ich damals nicht schon beim geringsten Flackern von Feuer im Dach unseres alten Holzhauses wach geworden wäre.
Mehr zum Thema „Stimulation“
Eine Stimulation (ein Reiz) kann alles sein, was das Nervensystem wachrüttelt, seine Aufmerksamkeit fordert und die Nerven dazu bewegt, elektrische Signale zu senden. Normalerweise denken wir bei einem Reiz an etwas, das von außen kommt, aber natürlich kann er auch aus unserem Körper kommen (wie zum Beispiel verursacht durch Schmerzen, Muskelanspannung, Hunger, Durst oder sexuelle Bedürfnisse). Genauso kann er auch durch Erinnerungen, Vorstellungen, Gedanken oder Absichten ausgelöst werden.
Ein Reiz kann in seiner Dauer oder Stärke (wie etwa unterschiedliche Lautstärken) ganz verschieden sein. Er kann sehr intensiv sein, wenn er überraschend erfolgt, zum Beispiel wenn man sich durch eine Hupe oder einen Schrei erschreckt, oder wenn der Reiz sehr komplex ist, beispielsweise wenn man auf einer Party vier Gesprächen gleichzeitig zuhört und nebenher noch Musik läuft.
Oft gewöhnen wir uns an Stimuli, aber manchmal meinen wir das auch nur und denken, sie würden uns nichts mehr ausmachen, doch dann fühlen wir uns plötzlich erschöpft und es wird uns klar warum: Wir waren unbewusst einer Sache ausgesetzt, die uns in Wirklichkeit stark zugesetzt hat. Selbst ein mittelmäßiger oder bekannter Reiz wie ein Arbeitstag kann für HSM Ruhe am Abend erfordern. An diesem Punkt könnte ein weiterer, vielleicht nur kleiner Stimulus der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Das Reizreaktionsschema ist aber noch komplizierter, weil derselbe Reiz bei verschiedenen Personen unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. Eine mit Menschen überfüllte Einkaufsstraße zur Weihnachtszeit mag den einen an fröhliche Einkäufe mit der Familie erinnern und verursacht ein zufriedenes Urlaubsgefühl. Eine andere Person ist vielleicht immer zum Einkaufen mit anderen gezwungen worden, sie musste Geschenke besorgen, ohne genug Geld zur Verfügung zu haben oder ohne zu wissen, was man kaufen könnte. Sie besitzt keine schönen Erinnerungen und leidet deswegen schrecklich unter den obligatorischen Weihnachtseinkäufen.
Eine allgemeine Regel lautet, dass uns ein Reiz viel mehr ausmacht, wenn wir ihn nicht kontrollieren können und wenn wir das Gefühl haben ihm ausgeliefert zu sein. Während uns Musik, die wir selbst auflegen, angenehm erscheint, kann sie uns nerven, wenn wir sie von nebenan hören. Falls wir die Nachbarn noch vor kurzem darum gebeten haben, die Lautstärke zu drosseln, wird das Ganze für uns zum feindlichen Übergriff.
Sogar dieses Buch kann Sie verärgern, da Sie anfangen zu begreifen, dass Sie zu einer Minderheit gehören, deren Forderung, der Reizüberflutung Einhalt zu gebieten, im Allgemeinen ignoriert wird.
Unterscheidet sich nervliche Erregung wirklich von Angst und Furcht?
Es ist wichtig, eine Erregung der Nerven nicht mit Angst zu verwechseln. Angst kann zwar verantwortlich sein für diese Erregung, aber diese kann auch von anderen Empfindungen wie Freude, Neugier oder Ärger ausgelöst werden. Unsere Nerven können aber auch durch Gedanken erregt werden, die uns nur halbbewusst sind, oder durch ein geringes Maß an Aufregung, das zunächst einmal keine sichtbaren Empfindungen erzeugt. Oft merken wir gar nicht, was unsere Nerven erregt, wie zum Beispiel eine neue Situation, ein ungewohntes Geräusch oder ein Übermaß an visuellen Eindrücken.
Genauer gesagt, gibt es mehrere Möglichkeiten, wodurch unsere Nerven erregt werden und nochmals andere, wie wir diesen Reiz empfinden. Beides unterscheidet sich von Fall zu Fall und von Mensch zu Mensch. Die Erregung kann sich bemerkbar machen durch Erröten, Zittern, Denkblockaden, Magenkrämpfe, Herzklopfen, Muskelverspannungen und Schwitzen der Hände oder anderer Körperteile. Der meisten dieser körperlichen Reaktionen ist man sich in solchen Situationen oft gar nicht bewusst. Anderseits gibt es auch Menschen, die sagen, dass sie sich nervlich angespannt fühlen, obwohl sie kaum eines der genannten Symptome aufweisen. Dennoch beschreibt der Ausdruck „Erregung“ etwas, das die genannten Zustände und körperlichen Reaktionen gemeinsam haben. Wie der Begriff „Stress“ vermittelt uns auch „Erregung“ die Vorstellung eines Zustands, den wir alle kennen, selbst wenn dieser unterschiedlich bewertet wird. Natürlich ist auch Stress eng damit verbunden: Unsere Reaktion auf Stress ist nämlich durchaus eine Erregung der Nerven.
Sobald wir eine Reizung der Nerven verspüren, wollen wir sie bestimmen und den Grund dafür wissen, um eine mögliche Gefahr auszumachen. Oft denken wir auch, dass diese Erregung einer Angst entspringt. Wir erkennen dann nicht, dass unser Herz vielleicht nur deswegen rast, weil es sich bemüht, zusätzliche Stimuli zu verarbeiten. Oder wir glauben anderen, die annehmen, wir hätten Angst, da sie unsere offensichtliche nervliche Anspannung feststellen. Nachdem wir nunmehr überzeugt sind Angst zu haben, werden unsere Nerven noch stärker gereizt. In Zukunft werden wir deshalb vermeiden in eine entsprechende Situation zu geraten, dabei hätten wir uns vielleicht beruhigt, wenn wir die Situation ausgehalten oder uns an sie gewöhnt hätten. Wir werden in Kapitel 5, wenn es um das Thema „Schüchternheit“ geht, noch einmal darauf zurückkommen, wie wichtig es ist, Angst und nervliche Erregung nicht miteinander zu verwechseln.
Ihr Merkmal macht Sie wirklich einzigartig
Ihre Feinfühligkeit kann für Sie von großem Vorteil sein. Auch Ihr Verstand arbeitet aufgrund dieser Charaktereigenschaft anders. Bitte bedenken Sie, dass das Folgende für den Durchschnitt gilt, niemand besitzt all diese Eigenschaften gleichzeitig. Verglichen mit Nicht-HSM sind die meisten von uns aber:
• besser im Aufspüren von Irrtümern und besser darin, sie zu vermeiden5,
• höchst gewissenhaft6,
• fähig, sich gut zu konzentrieren (wenn wir nicht abgelenkt werden)7,
• besonders gut bei Aufgaben, die Umsicht, Sorgfalt, Schnelligkeit und das Aufspüren von feinen Unterschieden erfordern8,
• fähig, Wahrgenommenes auf einer tieferen Ebene des so genannten semantischen Gedächtnisses zu verarbeiten9,
• nachdenklich, was ihre eigenen Gedanken betrifft10,
• fähig, etwas zu lernen, ohne sich des Lernvorgangs bewusst zu sein11 und
• durch die Launen und Gefühlsäußerungen anderer sehr beeinflussbar.
Selbstverständlich gibt es viele Ausnahmen – insbesondere in Hinblick auf unsere Gewissenhaftigkeit. Wir wollen in dieser Hinsicht auch nicht selbstgerecht sein, denn viel Unrecht kann unter dem Deckmantel geschehen, etwas Gutes tun zu wollen. Tatsächlich haben alle oben erwähnten Vorzüge unserer Sensibilität ihren wunden Punkt. Wir haben so viele Fähigkeiten, aber leider können wir unsere Kompetenzen oft nicht nutzen, beispielsweise wenn man uns beobachtet, uns unter Zeitdruck setzt oder unsere Leistung bewertet. Die Tatsache, dass wir Dinge intensiver verarbeiten, mag zuerst den Eindruck erwecken, dass wir nicht mithalten können, aber mit der Zeit verstehen wir mehr und erinnern uns besser als andere. Deswegen lernen HSM Sprachen vielleicht besser12 (obwohl das flüssige Reden durch unterschiedliche Reize beeinträchtigt werden kann).
Übrigens ist die Tatsache, dass wir mehr als andere über uns selbst nachdenken, kein Egoismus. Es bedeutet aber, dass wir auf die Frage, was in unserem Kopf vorgeht, weniger auf äußere Geschehnisse eingehen, sondern eher innere Abläufe und Reflexionen nennen. Nicht selten sprechen wir allerdings auch über die Gedanken, die wir uns über andere machen.
Auch unser Körper funktioniert anders. Die meisten von uns haben ein Nervensystem, das uns:
• zu Spezialisten bei feinmotorischen Arbeiten macht13,
• geduldig abwarten lässt14,
• zu den Frühaufstehern zählen lässt15 (hier gibt es viele Ausnahmen),
• auf Stimulanzien wie Koffein empfindlicher reagieren lässt16, es sei denn, wir sind bereits daran gewöhnt,
• mehr von der rechten Gehirnhälfte aus steuert17 (kreatives Gestalten liegt uns eher als lineares Denken),
• empfindlicher auf alles in der Luft reagieren lässt18 (jawohl, das begünstigt auch Heuschnupfen und Hautirritationen).
Insgesamt scheint unser Nervensystem so konstruiert zu sein, dass es einerseits auf unterschwellige Dinge reagiert und dass es andererseits nach der Konfrontation mit heftigen Reizen einer längeren Erholung bedarf.
HSM befinden sich aber nicht fortwährend in einem Zustand nervlicher Erregung.19 Wir sind nicht immer chronisch angespannt. Nur durch ungewohnte oder ausgeprägte Reize werden unsere Nerven mehr erregt. Hochsensibel ist nicht dasselbe wie neurotisch zu sein. Letzteres bedeutet nämlich, ohne ersichtlichen Grund in einem ständigen Angstzustand zu leben.)
Wie Sie über Ihre Andersartigkeit denken sollten
Ich hoffe, dass Sie Ihre Sensibilität mittlerweile in einem positiven Licht sehen. Am besten betrachtet man diesen Wesenszug als neutral. Er wird erst dann zum Vor- oder Nachteil, wenn man in ganz bestimmte Situationen gerät. Da erhöhte Reizempfänglichkeit bei allen höheren Tierarten vorkommt, ist anzunehmen, dass diese Eigenschaft durchaus in vielen Situationen ihre Berechtigung besitzt. Ich vermute, dass Hochsensibilität bei allen höheren Lebewesen in einem bestimmten Prozentsatz vorhanden ist, weil es immer notwendig ist, wenigstens ein paar Artgenossen um sich herum zu haben, die ständig auf der Hut sind und bereits kleinste Signale wahrnehmen können. 15 bis 20 Prozent scheint genau der richtige Anteil zu sein, den man braucht, um wachsam zu bleiben gegenüber Gefahren, neuen Futterquellen, den Bedürfnissen der Jungen und Kranken und gegenüber den Gewohnheiten anderer.
Selbstverständlich ist es ebenso gut, auch einige in der Gruppe zu haben, die nicht in jeder Situation eine Gefahr oder verhängnisvolle Folgen wittern. Sie stürmen vorwärts in der Absicht, alles Neue zu erforschen oder für die Gruppe oder ihr Gebiet zu kämpfen. Jede Gesellschaft braucht beide Typen. Vielleicht benötigen wir nur deswegen mehr von den Nichtsensiblen, weil tendenziell auch mehr von ihnen umkommen. Das sind natürlich alles Spekulationen.
Ich nehme jedoch auch an, dass die menschliche Spezies von HSM mehr profitiert als irgendeine andere Tierart. HSM sind gerade in den Dingen gut, die Menschen eben von Tieren unterscheiden: Wir überlegen uns Auswege. Wir Menschen und besonders HSM sind uns der Vergangenheit und der Zukunft ganz deutlich bewusst. Wenn nämlich die Notwendigkeit Vater des erfinderischen Gedankens ist, dann müssen HSM häufiger Zeit damit verbringen Lösungen für menschliche Probleme zu finden, da sie ja gegenüber Hunger, Kälte, Unsicherheiten, Erschöpfung und Krankheiten viel sensibler reagieren als andere.
Manchmal wird von Menschen mit unserem Persönlichkeitsmerkmal gesagt, dass sie weniger fröhlich sind oder sich weniger freuen können.20 Natürlich können wir unglücklich und schlecht gelaunt erscheinen, zumindest in den Augen von Nicht-HSM, weil wir so viel Zeit damit verbringen, über den Sinn von Leben und Tod nachzudenken und darüber, wie schwierig alles ist – diese Gedanken sind aber alles andere als Schwarz-Weiß-Malerei. Da die meisten Nicht-HSM sich über solche Dinge nicht gerne Gedanken machen, nehmen sie an, dass wir so viel grübeln, weil wir unglücklich sind. Wir werden aber auch nicht gerade glücklicher, wenn sie uns sagen, dass wir unglücklich aussehen (ihrer Definition von Glücklichsein zufolge) und dass wir ein Problem für sie darstellen, weil wir uns nicht zu freuen scheinen. Solche Vorwürfe können jeden traurig stimmen.
Aristoteles brachte es auf den Punkt, indem er die rhetorische Frage stellte: „Möchten Sie lieber ein glückliches Schwein oder ein unglücklicher Mensch sein?“ HSM bevorzugen das gute Gefühl, alles bewusst zu erleben, sehr menschlich zu sein, selbst wenn man nicht immer Grund zur Freude hat, weil man sich der Dinge genau bewusst ist.
Allerdings bedeutet das nicht, dass Nicht-HSM Schweinen ähneln. Ich weiß genau, dass irgendjemand sagen wird, ich würde aus uns eine Elite machen wollen. Mit den meisten HSM würde das aber sowieso nur fünf Minuten lang gut gehen, weil sie sich schon sehr bald schuldig fühlen würden für ihr Überlegenheitsgefühl. Ich bin bloß da, um uns zu ermutigen, damit wir uns gleichwertig gegenüber anderen fühlen.
Vererbung oder Erziehung
Einige von Ihnen werden vielleicht überlegen, ob Sie dieses Persönlichkeitsmerkmal wirklich geerbt haben, besonders dann, wenn Sie sich an die Zeit erinnern, als Sie Ihre Sensibilität das erste Mal wahrnahmen beziehungsweise als diese sich zu verstärken begann.
In den meisten Fällen wird Sensibiltät vererbt.21 Die Beweislage dafür ist eindeutig und hauptsächlich anhand von Studien eineiiger Zwillinge belegt, die zwar getrennt aufwuchsen, aber ähnliche Verhaltensmuster zeigten – was die Vermutung nahe legt, dass Verhalten zumindest zum Teil genetisch bedingt ist.
Auf der anderen Seite stimmt es nicht immer, dass nach einer Trennung beide Zwillinge denselben Wesenszug haben müssen, selbst wenn es sich um eineiige Zwillinge handelt. Beispielsweise wird jeder Zwilling dazu neigen, eine Persönlichkeit zu entwickeln ähnlich der Person, die ihn großzieht, selbst wenn es sich dabei nicht um die biologischen Eltern handelt. Fakt ist, dass es wahrscheinlich gar kein vererbtes Persönlichkeitsmerkmal gibt, das nicht auch vergrößert, verringert oder durch bestimmte Lebenserfahrungen verschwinden beziehungsweise neu aufkommen kann. Zum Beispiel hat ein Kind, das nur mit einer leicht sensiblen Neigung geboren wurde, das Bedürfnis sich bei Stress zu Hause oder in der Schule zurückzuziehen. Dies erklärt vielleicht die Tatsache, dass Kinder mit älteren Geschwistern eher HSM sind22 – und das liegt dann überhaupt nicht an den Genen. Ähnlich haben Untersuchungen an neugeborenen Menschenaffen ergeben, dass jene, die durch die Trennung von der Mutter traumatisiert wurden, sich als erwachsene Affen ähnlich verhalten wie solche, die bereits sensibel geboren worden sind.23
Die Lebensumstände können auch bewirken, dass Hochsensibilität sich nicht mehr zeigt. Viele Kinder, die hochsensibel geboren wurden, werden von ihren Eltern, Schulen oder Freunden dazu getrieben unerschrockener zu sein. In einer lauten und mit Menschen überfüllten Umgebung zu leben, in einer großen Familie aufzuwachsen oder dazu gebracht zu werden, körperlich aktiver zu sein, kann die Feinfühligkeit manchmal minimieren. Genauso legen scheue Tiere, mit denen Menschen sich viel beschäftigen, ein wenig von ihrer angeborenen Vorsicht ab24 – zumindest bei bestimmten Personen und in spezifischen Situationen. Es erscheint jedoch eher unwahrscheinlich, dass der zugrunde liegende Wesenszug völlig ausgelöscht wird.
Wie ist das bei Ihnen?
Es ist für einen Erwachsenen schwierig zu sagen, ob er diese Eigenschaft geerbt oder im Laufe des Lebens entwickelt hat. Der beste Beweis, obwohl auch dieser nicht stichhaltig ist, besteht darin, herauszufinden, ob Ihre Eltern Sie schon von Ihrer Geburt an als sensibel bezeichnen würden. Wenn es möglich ist, fragen Sie Ihre Eltern oder die Menschen, die sich während Ihrer Kindheit um Sie gekümmert haben. Bitten Sie sie darum, Ihnen alles über Ihr Verhalten in den ersten sechs Monaten Ihres Lebens zu erzählen.
Wahrscheinlich werden Sie mehr herausfinden, wenn Sie nicht von vornherein fragen, ob Sie sensibel waren. Fragen Sie nur, wie Sie sich als Baby verhalten haben. Oft werden die Geschichten über Sie alles verraten. Nach einer Weile erkundigen Sie sich dann, inwieweit einige typische Anzeichen für höchst sensible Babys auf Sie zutrafen. Waren Sie schwierig, wenn es Veränderungen gab – beim Baden oder Anziehen, bei neuem Essen oder Geräuschen? Haben Sie oft Bauchschmerzen gehabt? Taten Sie sich schwer ein- beziehungsweise durchzuschlafen oder haben Sie, besonders wenn Sie übermüdet waren, nur kurz geschlafen?
Falls Ihre Eltern noch keinerlei Erfahrung mit anderen Kleinkindern hatten, bedenken Sie, dass ihnen zu jenem Zeitpunkt vielleicht nichts Ungewöhnliches aufgefallen ist, einfach weil sie keine Vergleichsmöglichkeiten besaßen. Außerdem kann es sein, dass Ihre Eltern sich selbst und Sie zu überzeugen versuchen, dass Ihre Kindheit völlig problemlos verlief, bloß weil Eltern oft die Schuld gegeben wird, wenn Kinder schwierig sind. Wenn Sie möchten, sollten Sie Ihren Eltern versichern, dass Sie davon überzeugt sind, dass sie das Beste für Sie getan haben und alle Kleinkinder Probleme bereiten, nur dass Sie sich fragen, welche davon speziell auf Sie zutrafen.
Vielleicht können Sie ihnen auch den Eingangstest zeigen. Bitten Sie Ihre Mutter und/oder Ihren Vater darum Ihnen zu sagen, ob sie oder er selbst oder irgendein anderes Familienmitglied diese Eigenschaft besitzt. Falls Sie sensible Verwandte sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits ausmachen können, dann spricht alles dafür, dass Sie die Eigenschaft geerbt haben.
Aber was ist, wenn Sie keine hochsensible Verwandtschaft ausfindig machen können oder falls Sie sich nicht sicher sind? Wahrscheinlich ist das überhaupt nicht relevant. Alles, was zählt, ist Ihre gegenwärtige Sensibilität. Also zerbrechen Sie sich über diese Frage nicht zu sehr den Kopf. Das nächste Thema ist außerdem viel wichtiger.
Schützen Sie sich vor den Idealvorstellungen unserer Kulturgesellschaft
Sie und ich lernen mehr und mehr unser Persönlichkeitsmerkmal als neutral anzusehen – in einigen Situationen ist es nützlich, in anderen nicht. Unsere Kulturgesellschaft sieht dagegen weder Sensibilität noch irgendeinen anderen Wesenszug als neutral an. Die Anthropologin Margaret Mead hat das gut erklärt. Obwohl alle, die in eine Kultur hineingeboren werden, eine breite Palette an ererbten Eigenschaften aufweisen, wird nur eine kleine Auswahl von diesen – ein ganz bestimmter Typus – als ideal angesehen. Diese als Vorbild geltende Persönlichkeit ist nach Meads Worten ausgerichtet an „jeder einzelnen Abteilung des gesellschaftlichen Gebäudes [...]: der Pflege der kleinen Kinder, den Spielen der größeren, den Volksliedern, der Struktur politischer Organisation, den religiösen Bräuchen, der Kunst und der Philosophie.“25 Abweichende Merkmale werden ignoriert, außer Kraft gesetzt oder, wenn alles andere scheitert, lächerlich gemacht.26
Wie sieht denn das Idealbild unserer Gesellschaft aus? Filme, Werbung, Kommerz, die Gestaltung öffentlicher Plätze – alles vermittelt uns, dass wir so unerschrocken wie Clint Eastwood, so extravertiert wie Goldie Hawn und so tough wie der Terminator sein sollten. Wir sollen uns im grellen, farbigen Licht, bei Lärm und in der Gegenwart fröhlicher Menschen in einer Kneipe wohlfühlen – falls wir uns von den Eindrücken überwältigt und unangenehm beeinträchtigt fühlen, können wir dann ja immer noch ein Schmerzmittel einwerfen.
Wenn Sie sich nur eine Sache aus diesem Buch merken können, dann sollte es die folgende Untersuchungsreihe sein: Xinyin Chen und Kenneth Rubin von der Waterloo Universität im kanadischen Ontario und Yuerong Sun27 von der Pädagogischen Hochschule in Shanghai verglichen 480 Schulkinder aus Shanghai mit 296 Kindern aus Kanada, um festzustellen, aufgrund welcher Wesensmerkmale die Kinder am beliebtesten waren. In China gehörten Schüchternheit und Sensibilität zu den häufigsten Eigenschaften, die von Freunden und Spielkameraden genannt wurden. In der Sprache Mandarin bedeutet der Ausdruck „schüchtern“ oder „ruhig“, dass man sich gut und richtig verhält. Sensibilität kann man mit „verständnisvoll“ übersetzen, was ein Lob ist. In Kanada gehörten schüchterne und sensible Kinder zu denjenigen, die am seltensten als beliebt bezeichnet wurden. Die Chancen stehen gut, dass Sie häufig mit der zuletzt genannten Einstellung konfrontiert waren, während Sie heranwuchsen.
Denken Sie einmal über die Wirkung dieser Tatsache nach, dass Sie für Ihre Kultur kein Vorbild darstellen. Es muss Sie beeinflusst haben, wie Sie von anderen behandelt wurden und wie Sie selbst gelernt haben mit sich umzugehen.
1. Welche Einstellung haben Ihre Eltern gegenüber Ihrer Sensibilität gezeigt? Haben sie Sie dazu ermutigt diese zu pflegen oder etwa sie zu bekämpfen? Setzten sie diese Eigenschaft mit anderen als negativ geltenden Charakterzügen wie etwa Schüchternheit, Feigheit und Unmännlichkeit gleich? Oder galt ihre Sensibilität als Ausdruck künstlerischer Begabung? Wie standen Ihre anderen Verwandten, Freunde oder Lehrer dazu?
2. Denken Sie an die Medien, besonders an die Ihrer Kindheit. Welche Rollen fanden Sie erstrebenswert und wer waren Ihre Idole? Waren diese hochsensiblen Menschen ähnlich? Oder waren es Menschen, von denen Sie heute sagen würden, dass Sie nie so sein könnten.
3. Wie hat das Ihre Einstellung beeinträchtigt und was hat sich daraus für Ihr Leben ergeben? Hat es Ihren Beruf, Ihre Liebesbeziehungen, Freundschaften und Freizeitgestaltung beeinflusst?
4. Welches Bild transportieren die Medien heutzutage? Denken Sie an positive und negative Darstellungen von HSM. Welche überwiegen? Merken Sie sich, dass das Opfer in einem Film oder Buch sehr oft als von Natur aus sensibel, verletzlich und nervlich angeschlagen dargestellt wird. Dies ist gut für die dramatische Wirkung, weil das Opfer sichtlich erschüttert und aufgeregt ist. Diese stereotype Darstellung wirkt sich aber auf HSM negativ aus, denn die Opferrolle wird allzu schnell mit Sensibilität als Charaktereigenschaft in Verbindung gebracht.
5. Überlegen Sie, welchen Beitrag HSM für die Gesellschaft geleistet haben. Suchen Sie Persönlichkeiten, die Sie selbst kennen oder über die Sie gelesen haben. Mit Abraham Lincoln könnten Sie beispielsweise anfangen.
6. Denken Sie über Ihren eigenen Beitrag für die Gesellschaft nach. Was immer Sie auch machen – Kinder aufziehen, Physik studieren, Skulpturen gestalten, zur Wahl gehen – Sie neigen dazu, intensiver über Sachverhalte nachzudenken, achten auf Details, blicken weiter voraus und bemühen sich um Gewissenhaftigkeit.
Die Voreingenommenheit der Psychologie
Die psychologische Forschung hat wertvolle Einblicke in das menschliche Innenleben erarbeitet und vieles in diesem Buch basiert auf diesen Erkenntnissen, aber die Psychologie ist eben nicht vollkommen. Sie kann nur die Missstände der Kulturgesellschaft reflektieren, der sie selbst entstammt. Ich könnte aus der psychologischen Forschung ein Beispiel nach dem anderen nennen, das eine Voreingenommenheit gegenüber HSM widerspiegelt, weil sie für weniger glücklich, mental beeinträchtigt und sogar als weniger kreativ und intelligent gehalten werden (die ersten beiden Merkmale stimmen definitiv nicht). Ich werde mir diese Beispiele zur Unterweisung meiner Kollegen jedoch sparen. Seien Sie bitte vorsichtig, wenn Sie Adjektive wie „gehemmt“, „introvertiert“ oder „schüchtern“ für sich selbst akzeptieren. Sie werden beim Weiterlesen erkennen, wieso jede dieser Bezeichnungen ihr Wesensmerkmal verfälscht. Im Allgemeinen wird dabei der Kern Ihrer Persönlichkeit verfehlt und mit einem negativen Beigeschmack versehen. Untersuchungen haben beispielsweise ergeben, dass die meisten Menschen das Bedürfnis, sich in sich zurückzuziehen, fälschlicherweise mit einer geistigen Beeinträchtigung in Beziehung setzen.28 Wenn sich HSM mit solchen Stigmatisierungen identifizieren, nimmt ihr Selbstbewusstsein Schaden und ihre Erregung nimmt in Situationen, in denen bereits von ihnen erwartet wird, dass sie sich unwohl fühlen, noch zu.
Es ist hilfreich zu wissen, dass in Japan, Schweden und China, wo Feinfühligkeit mehr wertgeschätzt wird, die Forschungsergebnisse anders ausfallen. Japanische Psychologen erwarten beispielsweise von ihren sensiblen Klienten, dass sie leistungsfähiger sind – und diese sind es dann auch tatsächlich.29 Bei Untersuchungen zum Thema Stress machten die japanischen Kollegen größeres Fehlverhalten aufseiten der unsensibleren Kandidaten aus.30
Es gibt aber keinen Grund unsere Psychologie oder all ihre wohlmeinenden Forscher generell zu verteufeln. Sie tun ihr Bestes.
Priesterliche Ratgeber und kriegerische Könige
Aggressive Kulturen, die gerne über ihre Grenzen schauen, sich ausbreiten, einen Wettstreit führen und gewinnen, dominieren in zunehmendem Maße unsere Welt in guter und schlechter Hinsicht. Das liegt daran, dass aggressive Kulturen eher die Führung übernehmen, wenn sie mit anderen Gesellschaften zusammentreffen.
Wie sind wir in diese Lage geraten? Die Wiege der meisten Menschen stand ursprünglich in Asien, wo die indogermanische Kultur ihren Ursprung hat. Jene Reiter-Nomaden überlebten, weil sie ständig ihre Pferde- und Viehherden vergrößerten, indem sie Vieh und Land von anderen stahlen. Vor ungefähr siebentausend Jahren breiteten sie sich im Mittleren Osten und nach Südasien aus und ein bisschen später auch nach Europa. Vor ihrer Ankunft gab es dort keine oder nur selten Kriege, Sklaverei, Monarchie oder die Beherrschung einer Klasse durch eine andere. Die Neuankömmlinge machten sich die Ansässigen zu Dienern oder Sklaven. Diejenigen, die keine Pferde besaßen, bauten friedliche Ansiedlungen zu Städten um, die sie mit Mauern umgaben, und andere rückten aus, um zu größeren König- oder Kaiserreichen zu expandieren.