Höhenflüge und Bruchlandungen - Pater Walter Maader - E-Book

Höhenflüge und Bruchlandungen E-Book

Pater Walter Maader

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Beschreibung

Der dienstälteste Flughafen-Seelsorger Deutschlands erzählt von spannenden Begegnungen: von Hochstaplern, Heiratsschwindlern und Journalisten, die sich die Zeit mit falschen Beichten vertreiben; von Treffen mit dem Papst oder Mutter Teresa, von verzweifelten Asylsuchenden, von wilden Protesten oder Katastrophen wie dem Bombenanschlag 1985. Inzwischen ist Walter Maader über 90 Jahre alt, topfit und ein begnadeter Erzähler. Es ist der 19. Juni 1985. Sogar an die Uhrzeit kann sich Pater Walter Maader genau erinnern: 14.42 Uhr ist es, als die Bombe hochgeht und den schrecklichsten Tag in seinen mehr als 30 Jahren als Flughafen-Seelsorger in Frankfurt markiert. Vier Tote, vier Verletzte – und der Seelsorger mittendrin. »Die Not der Menschen war groß: der Schock, der sinnlose Verlust der lieben Angehörigen. Und immer die Frage: Warum?« Der Frankfurter Flughafen ist ein Tummelplatz der Globalisierung: Über 150 000 Fluggäste werden jeden Tag verfrachtet, rund um die Uhr herrscht Hochbetrieb. Und genau hier, inmitten von dringenden Geschäftsterminen, vorfreudigen Urlaubsgästen und gehetzten Geschäftsleuten hat Pater Walter Maader eine Insel der Stille geschaffen, einen Sehnsuchtsort, an dem Menschen Hilfe finden und zur Ruhe kommen können, wenn das Leben ihnen ein Bein gestellt hat. Pater Walter Maader hat hier 1972 die erste Flughafen-Seelsorge in Deutschland aufgebaut und mehr als drei Jahrzehnte geleitet. »Am Flughafen kommt alles zusammen: Menschen aus allen Ländern der Erde, beeindruckende Persönlichkeiten und schillernde Gestalten. Hier pulsiert das Leben!« Walter Maader

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Pater Walter Maader

Höhenflüge und Bruchlandungen

Der dienstälteste Flughafenseelsorger Deutschlands erzählt

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der dienstälteste Flughafen-Seelsorger Deutschlands erzählt von spannenden Begegnungen: von Hochstaplern, Heiratsschwindlern und Journalisten, die sich die Zeit mit falschen Beichten vertreiben; von Treffen mit dem Papst oder Mutter Teresa, von verzweifelten Asylsuchenden, von wilden Protesten oder Katastrophen wie dem Bombenanschlag 1985. Inzwischen ist Walter Maader über 90 Jahre alt, topfit und ein begnadeter Erzähler.

Es ist der 19. Juni 1985. Sogar an die Uhrzeit kann sich Pater Walter Maader genau erinnern: 14.42 Uhr ist es, als die Bombe hochgeht und den schrecklichsten Tag in seinen mehr als 30 Jahren als Flughafen-Seelsorger in Frankfurt markiert. Vier Tote, vier Verletzte – und der Seelsorger mittendrin. »Die Not der Menschen war groß: der Schock, der sinnlose Verlust der lieben Angehörigen. Und immer die Frage: Warum?«

Der Frankfurter Flughafen ist ein Tummelplatz der Globalisierung: Über 150 000 Fluggäste werden jeden Tag verfrachtet, rund um die Uhr herrscht Hochbetrieb. Und genau hier, inmitten von dringenden Geschäftsterminen, vorfreudigen Urlaubsgästen und gehetzten Geschäftsleuten hat Pater Walter Maader eine Insel der Stille geschaffen, einen Sehnsuchtsort, an dem Menschen Hilfe finden und zur Ruhe kommen können, wenn das Leben ihnen ein Bein gestellt hat. Pater Walter Maader hat hier 1972 die erste Flughafen-Seelsorge in Deutschland aufgebaut und mehr als drei Jahrzehnte geleitet.

Inhaltsübersicht

Auftakt

Widmung

Aus heiterem Himmel

Abflug und Ankunft

Bei allen landen

Fahrrad-Seelsorge

Treten und treten

Horizonterweiterung

Beruf und Berufung

Für wen sind wir da?

Kein Lichtspalt

Spannweite

Nichts fällt vom Himmel

Durchstarten

In die Luft gehen

Weiche Landung, harte Landung

Höhenflüge

Keine Siegeszüge

Erleichterung

In Gottes Hand

Kirche zwischen Koffern

Drei Flieger für den Sudan

Flipflops und Plastiktüte

Heimweh

Luftnummern

Abstürze

Zugvögel

Kondensstreifen

Höhenflug

Ein bisschen fliegen

Sicher?

Bombenalarm

Widerstand

Himmelfahrtskommando

Fliegen

Flugabwehr

Gott kommt an

Der große Adler

Die Flügel des Morgenrots

Luftbrücke

Am Boden

Dem Himmel so nah

Flughafenseelsorge

© Fraport AG, Frankfurt am Main

Meinen selbstlosen und treuen Helferinnen und Helfern im Dienst für die Menschen unterwegs und in der Welt der Arbeit.

© Fraport AG, Frankfurt am Main

Aus heiterem Himmel

Als ich das erste Mal in meinem Leben feindliche Flugzeuge bedrohlich nahe sehe, habe ich keine Zeit, sie genauer zu betrachten. Ich bin 16 Jahre alt und fürchte um mein Leben. In den ersten Frühlingstagen des letzten Kriegsjahres 1945 ist am Himmel über Würzburg die Hölle los. Riesige Bomberverbände greifen die Stadt an, laden ihre todbringende Fracht ab und verschwinden wieder. Einmal, zweimal, dreimal wogt eine Angriffswelle. Zigtausende Stabbrandbomben und dazwischen schwere Luftminen regnen vom Himmel – sie bringen den Tod. Als der Angriff vorüber ist und die ganze Stadt wie eine riesige Fackel brennt, bricht Panik aus. Rette sich, wer kann! Nichts wie weg! Raus aufs Land, in die umliegenden Ortschaften.

Unser Haus wurde nicht getroffen. Es liegt am Stadtrand. Aber alle unsere Verwandten leben in der Stadtmitte, dort sind fast alle Häuser zerstört. Als das Schlimmste vorüber ist, beginnen wir mit der Suche nach ihnen. Die meisten haben in ihren Kellern überlebt, auch unsere Oma. Aber uns ist klar: Das ist noch nicht alles. Mit weiteren Attacken ist zu rechnen. Also nichts wie raus aus der Stadt. Nur weniges können wir mitnehmen.

Oma soll mit uns nach Rottendorf, weit weg von der brennenden Stadt. Wir finden einen herrenlosen, klapprigen Leiterwagen, setzen die Oma auf die Ladefläche, legen unsere wenigen Habseligkeiten dazu und ziehen los. Ich an der Deichsel, die Mutter schiebt. Unser Weg führt im Zickzack durch die Trümmer, die auf der Straße liegen. Dann erreichen wir das freie Feld. Da wird es richtig gefährlich.

Tiefflieger greifen uns an. Meine Mutter und ich suchen am Straßenrand Deckung, rollen uns eine Böschung hinunter, bis uns Sträucher Sichtschutz gewähren, und warten ab, bis der Angriff vorüber ist. Oma sitzt im Leiterwagen, der auf der Straße steht.

Die MG-Salven rattern über uns hinweg.

So überraschend wie der Angriff kam, so schnell ist er auch wieder vorüber. Als das Knattern aufhört, blicke ich hoch, am ganzen Leib zitternd – schaue meine Mutter mit angsterfüllten Augen an und stelle erleichtert fest: Niemand von uns dreien ist verletzt.

Es geht weiter. Niemand sagt ein Wort. Das Zittern in den Knien lässt langsam nach. Noch einige Male landen wir an diesem Tag im Straßengraben, suchen Deckung vor den Tieffliegern. Endlich sind die acht Kilometer bis Rottendorf geschafft.

Bei einem zweiten großen Angriff auf Würzburg wird unser Haus, wie viele andere, die den ersten Angriff einigermaßen heil überstanden haben, total zerstört. Von der Stadt sind nur hohläugige Fassaden übrig, und kaum jemand hat noch ein Dach über dem Kopf. Gott sei Dank, wir sind noch am Leben. In Rottendorf finden wir als Ausgebombte, so nennt man diejenigen, deren Häuser zerstört und damit unbewohnbar sind, Unterschlupf. Aber wir sind beileibe nicht die Einzigen, die mit ihren wenigen Habseligkeiten den Weg zwischen Bombenkratern und Schutthaufen hindurch bis hierher gefunden haben. Jede Menge Menschen drängen sich auf engem Raum, die Stimmung schwankt zwischen der Erleichterung, dem Inferno entkommen zu sein, und der Angst vor der Ungewissheit. Wie wird es weitergehen? Was wird noch kommen? Immer wieder schauen wir nervös zum Himmel. Sonnenschein und blauer Himmel sind wunderbar, aber dichte Wolken wären uns momentan lieber, denn dann hätten wir etwas Sichtschutz, wenn es zu weiteren Angriffen aus der Luft kommt.

Die Ereignisse vor mehr als einem Dreivierteljahrhundert haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. Seit diesem Tag, als ich mit meiner Mutter um mein Leben rannte und, gemeinsam mit meiner Oma, dem Tod entging, lebe ich sozusagen auf Abruf, und zwar bis heute, nach einem erfüllten Leben, das so nicht hätte folgen müssen. Auf meinem späteren Weg als Seelsorger, als Priester, als Pater der vom heiligen Vinzenz Pallotti gegründeten religiösen Priestergemeinschaft, begleitet mich diese Gewissheit: Das Leben ist ein reines Geschenk! Es hängt an einem seidenen Faden. Keiner kann den spinnen, nur Gott allein.

Ich bin der dienstälteste Flughafenseelsorger Deutschlands. 1972 habe ich am Flughafen Frankfurt am Main meinen Dienst angetreten. An einem Ort voller Hektik und Sehnsucht, Freude und Leid, Leichtigkeit und Druck. Und ich habe seitdem eine Menge Flugzeuge am Himmel gesehen. Wie damals, aber mit ganz anderen Augen.

Der Kranich der Lufthansa am Heck einer Maschine und gleich daneben, an den nächsten Gangways, die Symbole der American Airlines, der British Airways oder der Air France. Ich muss mich vor nichts und niemandem mehr verstecken. Es herrscht seit langer Zeit Frieden, zumindest in unserem Land. Ich bin dankbar und froh, dass ich am Flughafen jahrzehntelang den Menschen dienen konnte.

In diesem Buch erzähle ich von Höhenflügen und Bruchlandungen, von riskanten Flugmanövern, Turbulenzen und sensationellen Aussichten. Schön, dass Sie mitfliegen.

Abflug und Ankunft

Flughäfen sind ein Gleichnis für das Leben: Kommen und Gehen, Landen und Abflug. 1500 Flugbewegungen waren es zeitweilig allein in Frankfurt, an einem Tag, 150000 Fluggäste und 50000 Menschen, die jemanden hinbringen oder abholen. Normalerweise. Es fällt schwer, mir den ausgebremsten Flugbetrieb während der Corona-Pandemie bildlich vorzustellen. Die wenigen Menschen in den weiten Hallen. Der Eindruck, den vielen metallenen Vögeln seien die Flügel erlahmt. Die stillstehenden Gepäckförderbänder. Die spärlich besuchten Geschäfte, Cafés und Restaurants – und die ausgestorbene Flughafenkapelle.

In lausigen wie in sorgloseren Zeiten gilt: Wer fliegt, erlebt einen Abflug und dann eine Landung. Und wer am Flughafen arbeitet, egal, ob als Fluglotse, Zollbeamter oder Seelsorger, erlebt das andersherum. Zunächst die Ankunft, die Leute sind auf einmal da, und dann fliegen oder fahren sie weiter. Ein Flughafen ist nie das Ziel. Man kommt nicht wegen des Airports nach Frankfurt, sondern um in Deutschland etwas zu erleben oder zu erledigen. Das Ziel der Reise ist ein geschäftlicher Anlass, ein Verwandtenbesuch, ein Urlaub.

Darin gleicht ein Flughafen dem Alltag. Wir durcheilen ihn. Das Leben, wie wir es auf der Erde führen, ist ein Dazwischen. Abflug und Ankunft, Anfang und Ende, langatmiges Warten und kurzzeitiger Trubel. Begrüßung und Abschied, entspannte Stunden und ärgerliche Vorfälle, außerdem vieles, was nicht vorhersehbar oder planbar ist.

Wie zum Beispiel der Auftrag vom damaligen Bischof Wilhelm Kempf von Limburg und dem Provinzial Pater Ludwig Münz SAC an mich, eine Seelsorgestelle am Frankfurter Flughafen aufzubauen. Bis dahin hatte ich noch nie einen Flughafen betreten, nie ein Flugzeug von innen gesehen. Und es gab keine religiös geprägte Tätigkeit auf einem deutschen Airport. Ob ich dafür der richtige Mann bin, wie mein Vorgesetzter, der Provinzial der Pallottiner, meinte, weiß ich nicht. Wenn ein Bischof anfragt, sagt man Ja und Amen. So habe ich es gelernt. Es wird grundsätzlich nicht viel nachgefragt in der katholischen Kirche der frühen Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Wer geweiht ist, hat zu parieren. Das habe ich versprochen, darauf bin ich gefasst. Auf die Frage, ob mir das im Innersten entspricht, komme ich gar nicht. Der Blickwinkel fehlte in unserer Ausbildung völlig.

Ich werde also gerufen und melde mich beim Bischof. Der empfängt mich in seinem ehrfurchtgebietenden Arbeitszimmer und reicht mir die Ernennungsurkunde über den Schreibtisch. »Was habe ich als Flughafenseelsorger im Einzelnen zu tun?«, erkundige ich mich. »Das weiß ich auch nicht«, entgegnet er. »Es gibt so etwas in Deutschland bislang nicht. Probieren Sie aus, was möglich ist. Wenn es nicht gelingt, können wir die Sache wieder abblasen.« Mit diesen Sätzen und einem Segenswunsch verabschiedet mich der Bischof. So schnell geht das: vom Gemeindeseelsorger in Limburg zum Flughafenseelsorger des größten deutschen Verkehrsflughafens. »Aufgeben ist nicht deine Art«, sage ich zu mir selbst, als ich aus der Pforte des Bischofshauses trete.

An einem Märztag 1972, wenige Monate vor den Olympischen Spielen in München, fahre ich zum ersten Mal zum Flughafen. Ich parke meinen Kleinwagen, gehe zum hoch aufragenden Terminal und betrete eine völlig andere, mir unbekannte Welt. Überall emsiges Treiben: Menschentrauben vor Abfertigungsschaltern, Reisende, die mit großen Schritten durch die Halle eilen. Kleine Fahrzeuge, die Wagen voller Gepäckstücke hinter sich herziehen. In einem solchen Hochbetrieb soll ich als Seelsorger arbeiten? Das frage ich mich, als ich im schwarzen Habit, der Ordenskleidung, mit meiner Lederaktentasche durch eine Schwingtür das weitläufige Gebäude betrete.

Hier gibt es keine Traditionen und kein Brauchtum wie in einer Gemeinde. Hier ist nichts gewachsen, hier ist alles neu. Hier bin ich ganz auf mich allein gestellt. Alle anderen, die gerade am Flughafen unterwegs sind, scheinen zu wissen, wie es geht, wie man sich richtig verhält, wo was zu klären ist und wann man ungeduldig oder ergeben zu warten hat. Ob das für mich nicht alles eine Nummer zu groß ist? Es kommt mir vor, als wäre ich zu einem Einsatz befohlen worden, den ich nicht recht abschätzen kann.

Und stehe ich hier, im seelsorglichen Neu- und Niemandsland, nicht auf verlorenem Posten? Flughafenseelsorger, das ahne ich jetzt, heißt Pfarrer sein ohne Netz und doppelten Boden. Es gibt keine Gemeinde, keine festen Gruppen, die einen kennen und erwartungsvoll begrüßen. Nur eines ist sicher: dass hier keiner der Reisenden länger als nötig verweilt.

Heute weiß ich: Flughäfen sind nicht nur eine Metapher für das Leben, sondern auch für das, was Kirchen sein sollten: Orte, an denen der Himmel nah ist. Nicht eng, sondern voller Freiräume. Und ich habe gelernt, den Trubel zu genießen.

Damals, an meinem ersten Tag, im nagelneuen Seelsorgeraum, fühle ich mich jedenfalls sehr verloren. Ein leerer Schreibtisch und ein Stuhl – ansonsten ist der Raum völlig kahl. Ich setze mich und ziehe aus der Aktentasche ein Blatt mit dem Briefkopf des Ordinariats, der Limburger Bischofsbehörde. Darauf eine Art Stellenbeschreibung. Ich fange aber nicht sofort an zu lesen. Meine Gedanken wandern stattdessen zurück in die Vergangenheit.

Bei allen landen

Sieben Jahre Gemeindeseelsorge liegen hinter mir. Der Pfarrer der Gemeinde, Pater Andreas Stock SAC, und ich sind jeden Abend unterwegs. Wir warten nicht darauf, dass uns jemand aufsucht. Wir gehen in die Gemeinde hinein, besuchen die Familien, Einzelne und Gruppen, Vereinstreffen, Chorabende und vieles mehr. Wir sind dort, wo Menschen zusammen sind. Oft kommen wir erst um elf Uhr abends ins Pfarrhaus zurück und tauschen uns über das Erlebte aus. Wir verstehen uns, ohne in allem einer Meinung zu sein. Der Gedanke, einer von uns beiden könnte wichtiger sein, rechtgläubiger oder beliebter als der andere, würde uns belustigen.

Ob konservativ oder progressiv; das zählt für uns nicht viel. Es geht nicht um uns, sondern um die Menschen, die uns anvertraut sind, deren Bemühungen wir achten, die wir ermutigen wollen, von denen wir uns auch etwas sagen lassen. Was ihnen dient, liegt uns am Herzen.

Die Gemeindemitglieder sollen möglichst viel selbst in die Hand nehmen. Wir lassen den Einzelnen machen. Spannungen und Kontroversen sind uns lieber, als dass die Leute abspringen. Leiten heißt für uns vermitteln. Ich bin für die Jugendarbeit zuständig. Eine Fußballmannschaft wird gegründet, Freizeiten eingeführt, Feste gefeiert, eine Disco eingerichtet. Viele junge Leute finden ins kirchliche Leben und in die Gottesdienste. Die Aufbruchsstimmung unter den Jugendlichen der 68er-Jahre verlangt dabei genaues Hinschauen und Hinhören, um zu verstehen, was da vor sich geht und vor sich hin gärt. Bei den monatlichen Treffen der Pfarrjugend-Leitung und insbesondere bei der Jahresversammlung, zu der alle eingeladen sind, sorge ich dafür, dass es genügend Raum für eine Aussprache gibt.

Auf Augenhöhe signalisiere ich den jungen Leuten, dass ihre Anliegen ernst genommen werden. Die Jugendlichen kommen mit ihren Gitarren zu mir, sie wollen ihre Musik im Gottesdienst spielen. Unser Organist, vormals Kapellmeister in Salzburg, ein hochgebildeter Musiker, ist vehement dagegen. Mit ›Klampfen‹, wie er das nennt, sei kein Gottesdienst zu machen. Wir weichen deshalb mit unserer wöchentlichen Jugendmesse in die Unterkirche aus. Dort sind wir frei und machen es so, wie wir es wollen. Der Hauptgottesdienst bleibt, wie er ist, und wird mit klassischer Kirchenmusik – Orgel und Choralgesang – gestaltet.

Als Seelsorger versuche ich auf möglichst viele Ansprüche der Gemeindemitglieder einzugehen. Diese Art von Beweglichkeit braucht einen festen Standpunkt, den ich in meinem Glauben habe. Jesus Christus, seine Art, mit Menschen unterwegs zu sein, inspiriert mich. Auch später, in meinem neuen Job.

*

Im Transitbereich der Halle B im Terminal 1, gegenüber von Flugsteig B 32, befindet sich eine Flughafenkapelle. Sie soll den Fluggästen vor dem Abflug oder nach der Ankunft die Gelegenheit für ein kurze Andacht und eine persönliche Gebetszeit geben. Passagiere, die im Transitbereich auf den Anschlussflieger warten, könnten die Kapelle nutzen, um sich für eine Weile in die Stille zurückzuziehen oder an einem Gottesdienst teilzunehmen. Die Verantwortlichen gehen von einem hohen Bedarf aus, und es ist ihnen wichtig, dass ein geweihter Priester für die Gäste als Ansprechpartner zur Verfügung steht.

So sieht die Welt vom Schreibtisch aus. Aber schon nach wenigen Tagen stelle ich fest, dass diese Vorstellungen der Wirklichkeit nicht standhalten. Für ein Angebot in dieser Form ist der Flughafen zu groß, und die Passagiere sind oftmals zu angespannt, um selbst auf den Gedanken zu kommen, sich in die Flughafenkapelle zurückzuziehen. Manche befürchten, dass sie durch eine Flugplanänderung ihren Anschluss verpassen könnten, die Wege sind weit. Deshalb setzen sich viele ganz nah an ihr Abflugsgate, um dort zu warten. Nur jene, die im Umkreis der Kapelle abfliegen, nutzen diese, soweit sie den Weg von den Kofferbändern dorthin überhaupt finden.

Gar nicht im Blick ist bei der ursprünglichen Planung die andere Hälfte der Menschen, die den Flughafen bevölkern: die Zigtausenden Beschäftigten, außerdem all diejenigen, die Passagiere zum Flughafen bringen oder von dort abholen, sowie die täglichen Besucher. All diese Menschen laufen vor Ort durcheinander, arbeiten Einsatzpläne ab, suchen Auskünfte oder sind einfach nur interessiert zu sehen, was so alles geschieht.

Schon in den ersten Tagen meiner neuen Tätigkeit erstelle ich meine eigene Jobbeschreibung: Ich will selbst immer wieder auf die Leute zugehen, gleich, wie sie darauf reagieren. 35000 Menschen sind am Airport beschäftigt. Mitarbeiter treffe ich regelmäßiger als Passagiere, und mit ihnen muss ich zuerst Verbindung aufnehmen. Sie haben den ganzen Flughafen im Auge, überblicken die Abläufe und können Multiplikatoren sein. Ebenso auf die, die hier zwischenlanden, die ankommen oder abfliegen. Alle sollen erfahren, dass sie sich bei der Seelsorge ausruhen können und hier jemanden finden, der ein offenes Ohr für ihre Fragen hat.

Das Büro im Terminal betrete ich jeden Tag nur kurz. Ich mache mich stattdessen meistens gleich nach meiner Ankunft wieder auf den Weg und erkunde den Flughafen. Wie ein Pilger, der nach dem Wesentlichen sucht.

Fahrrad-Seelsorge

So bin ich von früh bis spät unterwegs. Ich weiß nie, was der Tag bringt, kann mich selten auf eine Situation vorbereiten und vergebe keine Termine. Es ist ausreichend, auf alles gefasst zu sein. Die Menschen laufen mir über den Weg. Das lässt sich in keinen Kalender eintragen. Es geschieht das, was gerade anliegt. Wenn sich jemand aussprechen oder beichten will, möchte ich für sein Anliegen sogleich bereit sein. Ich will zu niemandem sagen: Kommen Sie später wieder. Es muss in dem Augenblick geschehen, in dem das Bedürfnis da ist – sonst ist die Chance vielleicht verpasst.

Was mich antreibt, sind die Sorgen und die Freuden der Menschen. Ihr Vertrauen, auch ihr Unwillen, ihre Unzufriedenheit, oder dass sie sich am Ende fühlen. Einfach alles, was sie mir sagen. Auf Jesus kam auf den Straßen und Wegen zwischen Galiläa und Jerusalem ständig Unerwartetes zu, geht mir einmal mitten in einem Gespräch auf. Auch er wurde im Laufe des Tages immer wieder mit Begegnungen konfrontiert.

Im Unterschied zu ihm bin ich auf dem riesigen Flughafengelände anfangs mit einem alten Fahrrad auf Achse. Es ist das Dienstfahrzeug eines Angestellten, das er mir großzügig zur Verfügung stellt. »Hier, nehmen Sie’s, ich brauche es nur einmal am Tag«, meint der nette Mann und legt mir eines Tages die Lenkstange in die Hände, nachdem er mich überholt hat, als ich mich zu Fuß durch das Terminal bewege. Mit so viel Aufmerksamkeit habe ich nicht gerechnet. Das geht mir nahe. Ich habe mitten in der Betriebsamkeit jemanden gefunden, der ein Auge für andere hat.

So radle ich fortan langsam zwischen den verschiedenen Gates und auch auf dem Flugfeld herum, um wahrzunehmen, was am Rande der Rollbahnen vorgeht. Ich fahre hinaus und suche die Arbeiter auf dem Vorfeld auf, die unter den riesigen Fliegern zu tun haben. Passagiere sehen nur einen Bruchteil dessen, was einen Flughafen ausmacht, stelle ich fest. Unter der Erde befinden sich eine riesige Gepäckförderanlage, Fahrstraßen, Parkplätze und vieles mehr.

Zuerst schwinge ich mich im Ordenskleid auf den Sattel, merke allerdings schnell, dass das unzweckmäßig ist. Und zwar nicht nur wegen der Speichen, in denen sich der Habit verfangen kann. Anfang der Siebzigerjahre ist man für die Leute zugänglicher, wenn man als Seelsorger ›in Zivil‹ auftritt. Und ich muss mir die »Würde des Amtes« bei keinem Kleidungsstück leihen. Den Leuten kommt es auch nicht auf Äußerlichkeiten an, sondern vor allem auf Glaubwürdigkeit. Das Fahrrad bewährt sich für die äußere wie die innere Beweglichkeit. Sobald der Angestellte morgens damit die Post ausgeteilt hat, steht es mir zur Verfügung. Es könnte nicht besser passen. Was bin ich anderes als ein Bote? Auch ich habe meine Sendungen unter die Menschen zu bringen. Und es passt zu mir, dass ich für den Dienst kein eigenes Fahrrad beanspruche, sondern mir eines ausleihe. Eine Seelsorge, die mit wenig auskommt, ist nah bei den Menschen. Es ist mir leicht ums Herz. Taugt ein Fahrrad vielleicht dazu, innerlich zu fliegen?

Treten und treten

© Fraport AG, Frankfurt am Main

Mein Flughafenfortbewegungsmittel ist nicht das erste Rad, das ich besteige. In den Jahren nach dem Krieg habe ich mich auf zwei Rädern durch meine Heimatstadt geschlängelt, auf den allmählich sich verbreiternden Schneisen durch die Trümmerwüsten. Links und rechts sehe ich die Gerippe der stehen gebliebenen Häuserfassade, durch deren Fensterhöhlen der Himmel wahrzunehmen ist. Es dauert fast 20 Jahre, bis in Würzburg die letzten Trümmer beiseitegeräumt sind.

Nach Kriegsende ist ganz Deutschland zu Fuß unterwegs. Von der Front und den Gefangenenlagern nach Hause oder aus der alten, verlorenen Heimat in eine neue, unbekannte Zukunft. Etwas Neues und Positives liegt in der Luft, eher der lässige Swing der Fünfziger anstatt der vormaligen Marschmusik. Für den neuen Schwung reichen durchgelaufene Schuhe nicht, deshalb ist für uns jungen Leute ein Fahrrad Gold wert. Das erste kaufe ich mir auf Pump, wie meine Freunde auch. Jeden Monat ist eine Rate fällig. Und ohne gute Beziehungen wären wir nicht so schnell an diesen Luxus gekommen. Ich erhalte das Rad über einen Freund aus der Katholischen Jugend. Seine Eltern haben neuerdings eine Niederlassung von Citroën. Sie verkaufen auch Fahrräder und überlassen mir das Gefährt zu einem günstigen Preis. Nur so kann ich mir das leisten. Mit dem Fahrrad durchquere ich in den nächsten Monaten ganz Bayern. Meine Freunde und ich sind so oft wie möglich im Sattel, wir treten und treten. Der Erkundungsbereich weitet sich, überhaupt wird alles gefühlt ein wenig weiter in dieser Zeit. Schließlich wagen wir uns mit den Rädern über die Alpen. Ohne Gangschaltung. Es klappt.

Später, in den Wirtschaftswunderzeiten zählt ein Fahrrad nicht mehr viel. Aber das Motiv eines radelnden Paters am Flughafen verleitet einige zum Schmunzeln und zum Fotografieren. Ein Foto, das mir jemand geschenkt hat, hängt in meinem Büro gerahmt an der Wand. Ein Besucher sagt: »Ich habe das Bild genauer angesehen. Sie, in klösterlichem Gewand auf dem Rad, schauen darauf zur Seite, nicht nach vorne.«

»Da sehe ich wohl Bekannte und Unbekannte links und rechts und grüße sie mit einem freundlichen Lächeln«, antworte ich. Denn mit dem Grüßen beginnt die Seelsorge – mit nichts anderem. Ein guter Pfarrer schaut aus meiner Sicht am besten nach allen Seiten, zu den Menschen. Das schließt freilich ein, dass er auch auf seinen Weg achtet, unterwegs nichts und niemanden anfährt.

*

Auf meinem Weg durchs Terminal grüße ich immer wieder einen Mitarbeiter, der am Flughafencounter zu tun hat. Er grüßt nie zurück. Das nehme ich hin. Ich grüße ihn weiterhin täglich. Lange geht das so. Bis er eines Tages sein Schweigen bricht und mir seine Geschichte erzählt: »Sie grüßen mich immer, wenn Sie vorbeikommen. Wissen Sie, ich bin evangelisch. Aber meine Frau ist katholisch. Als wir heiraten wollten, gingen wir zur Vorbereitung zum katholischen Pfarrer. Der kennt meine Frau gut. Unvermittelt sagt er zu ihr gewandt: ›Du hättest doch auch einen katholischen Mann heiraten können. Gemeint hat er sicher, dann wäre alles einfacher zu regeln; weniger Schreibkram, zum Beispiel. Aber seine Bemerkung hat mich dermaßen geschockt, dass ich meine Braut direkt bei der Hand genommen und mit ihr das Pfarrhaus verlassen habe. Wir haben dann evangelisch geheiratet. Meine Frau leidet aber darunter, dass sie seit diesem Tag gefühlt mit ihrer Kirche in Zwietracht lebt. Ich selbst habe auch ein ungutes Gefühl. Was kann man denn da machen?«

Ich sage zu ihm: »Das bringen wir in Ordnung.« Gesagt. Getan. Wenige Tage später sitze ich bei den beiden zu Hause und kann den beiden helfen, den Ärger aus der Welt zu räumen, indem ich danach auch mit dem zuständigen katholischen Mitbruder spreche.

Das Ehepaar und ich werden gute Freunde. Merke: Ein unbedachtes Wort genügt, und dein Grüßen bleibt in der Folge ohne Antwort. Immerhin, diese Geschichte ist gut ausgegangen. Vergessen kann ich sie nicht.

Meine Grundidee bewährt sich: Wenn du hier arbeiten willst, dann musst du sichtbar sein. Ich lebe quasi den ganzen Tag auf dem Flughafen. Eine gelbe Kennkarte weist mich als offiziellen Flughafenmitarbeiter aus. Auf die Uhr schaue ich während meiner Dienstzeiten kaum. Manchmal wird es recht spät, manchmal fangen wir sehr früh an. Der Flughafen schläft nie. Ich bin immer da, wenn es sein muss. Ganz in der Nähe habe ich mir am Frankfurter Stadtrand eine einfache Bleibe gesucht. Selbst nachts kann das Telefon klingeln, wenn mich der Verkehrsleiter vom Dienst anruft und einen Notfall meldet. Jemanden, der völlig verzweifelt am Flughafen gestrandet ist. Manche ohne Ticket für den Weiterflug, ohne Geld, ohne Hoffnung. Das passiert immer wieder. Der Diensthabende hat meine Telefonnummer und kann mich jederzeit erreichen. Und je länger ich unterwegs bin, umso bekannter werde ich auf allen Ebenen des Flughafens.

Horizonterweiterung

Ich ernte für meine quasi permanente Präsenz ungläubiges Staunen und aufgeweckte Skepsis. »Was, wir haben hier jetzt auch einen Pfarrer?«, erwidert unwirsch ein Monteur im Blaumann, dem ich mich beherzt vorstelle, während er sich in seiner kurzen Pause eine Zigarette dreht. »Was wollen Sie denn hier machen? Schauen Sie sich doch um, da geht für Sie nichts.«

»Warten wir es ab«, sage ich, wohl eine Spur zu verhalten. Den leisen Ton scheint er mit dem Auftreten eines gestandenen Kirchenmannes nicht zu verbinden. Sein Blick kommt mir auf einmal etwas weniger hart vor. Vielleicht täusche ich mich auch.

Dem einen oder anderen, mit dem ich in Kontakt bin, kann ich in dienstlichen und auch in privaten Angelegenheiten helfen. Das Eis bricht. Einige machen andere auf mich aufmerksam, schicken die Leute zu mir. Andere rufen mich an und bitten, sie aufzusuchen, da sie den Arbeitsplatz nicht verlassen können. Es ist meine Chance, dass nicht alles am Flughafen reibungslos verläuft. Klar, dass Konflikte nicht ausbleiben, wenn Menschen aus 80 Nationen an einem Ort zusammenarbeiten. Ich versuche, den Einzelnen beizustehen, wenn ihnen etwas das Leben schwer macht.