Honeydew - Edith Pearlman - E-Book

Honeydew E-Book

Edith Pearlman

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Beschreibung

Eine Schuldirektorin muss sich nicht nur um ein magersüchtiges Mädchen kümmern, sondern auch die Affäre mit deren Vater geheimhalten. Da sie schwanger ist, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis man der alleinstehenden Frau Fragen stellt, doch am Ende fügt sich alles auf eine etwas unkonventionelle, aber für alle Seiten irgendwie gute Art. Ein Au-pair-Mädchen bei einer New Yorker Akademikerfamilie findet eine Reihe verstörender Zeichnungen von entstellten Kindern, die einem überraschenden Zweck dienen. Zwei Cousinen unternehmen eine Kreuzfahrt und machen seltsame Beobachtungen, deren Höhepunkt die Entdeckung der Parallelgesellschaft des taubstummen Schiffspersonals ist. Zwanzig Erzählungen von einer ungekrönten Königin des Genres. Edith Pearlman ist eine genaue Beobachterin menschlicher Beziehungen und eine Meisterin darin, komplexe Gefühle und uneindeutige Situationen zu schildern. Ihre Sprache ist von zurückhaltender Virtuosität, ihre Geschichten sind von jener schlichten Größe, wie sie Klassikern zu eigen ist. Eine literarische Entdeckung.

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Zu diesem Buch

Eine Schuldirektorin muss sich nicht nur um ein magersüchtiges Mädchen kümmern, sondern auch die Affäre mit deren Vater geheimhalten. Da sie schwanger ist, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis man der alleinstehenden Frau Fragen stellt, doch am Ende fügt sich alles auf eine etwas unkonventionelle, aber für alle Seiten irgendwie gute Art. Das Au-pair-Mädchen einer New Yorker Akademikerfamilie findet eine Reihe verstörender Zeichnungen von entstellten Kindern, die einem überraschenden Zweck dienen. Zwei Cousinen unternehmen eine Kreuzfahrt und machen seltsame Beobachtungen, deren Höhepunkt die Entdeckung der Parallelgesellschaft des taubstummen Schiffspersonals ist.

Zwanzig Erzählungen von einer ungekrönten Königin des Genres. Edith Pearlman ist eine genaue Beobachterin menschlicher Beziehungen und eine Meisterin darin, komplexe Gefühle und uneindeutige Situationen zu schildern. Ihre Sprache ist von zurückhaltender Virtuosität, ihre Geschichten sind von jener schlichten Größe, wie sie Klassikern zu eigen ist. Eine literarische Entdeckung.

Über die Autorin

© Suzanne Kreiter

Edith Pearlman, Jahrgang 1936, hat bisher vier Sammlungen von Kurzgeschichten veröffentlicht, die jüngste davon, »Binocular Vision« (2011), hat den PEN/Malamud Award und den National Book Critics Award gewonnen und war auf der Shortlist für den National Book Award. Ihre Kurzgeschichten, Essays und Reisereportagen erschienen u. a. in Best American Short Stories, The O. Henry Prize Collection, The Pushcart Prize Collection, The Atlantic Monthly und der New York Times. Sie lebt in Brookline, Massachusetts.

Edith Pearlman

Honeydew

Erzählungen

Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel

Ullstein

Beschen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015bei Little, Brown and Company, New York.© 2015 by Edith PearlmanThis edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

ISBN 978-3-8437-1075-6

© der deutschsprachigen Ausgabe2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Sandy Siler

Zartfuß

ZARTFUSS IST EIN FUSSPFLEGESALON auf der Main Street nahe der Channing Street. Zwei verstellbare Sessel – meistens war nur einer in Benutzung – standen so, dass man durch das Schaufenster einen Blick auf die Straße hatte. Paiges Kunden genossen auf diese Weise eine Art öffentlicher Privatsphäre – jeder konnte sie sehen, aber nur Paige konnte sie hören. Paige war eine ausgezeichnete Zuhörerin – selten machte sie Bemerkungen zu dem Gehörten, nie wiederholte sie etwas.

Sie war Witwe, neunundvierzig Jahre alt und kinderlos. Sie wohnte hinter und über dem Laden. Jeden Samstagabend spielte sie mit fünf anderen Frauen Poker. Die Frauen nannten sich beim Nachnamen und rauchten Zigarren. Paige hatte ihren Mann, einen fähigen Mechaniker, an den Krieg verloren. Carl war für den Krieg gewesen, mehr oder weniger, aber in erster Linie hatte er sich gemeldet, um auf Kosten des Militärs eine Weiterbildung als Mechaniker machen zu können. Sie war nicht damit einverstanden, dass er ihre gemeinsame Zukunft, ihr Glück aufs Spiel setzte … aber schließlich hatte sie ihre Einwände fallengelassen. Die Marines nahmen ihn trotz seines Alters. Und dann, am dritten Tag in der Wüste, fuhr der Panzer, in dem er saß, auf eine Mine. Sein Körper wurde in viele Stücke gerissen, und er selbst – so wie er als Mann war – wurde Paige entrissen.

Paiges Praxis expandierte. Sie war immer schon bei den Frauen der Professoren, aber auch bei Anwälten und Zahnärzten beliebt gewesen, die verstanden, dass ein Fußbad, von einer diskreten, auf einem Schemel sitzenden Kraft vorgenommen, zu einer Art weltlichen Beichte werden konnte. Jetzt, vielleicht wegen des jüngsten traurigen Ereignisses in ihrem Leben, suchten auch Buchhändler und Highschool-Lehrer und Krankenschwestern sie auf. Sie entdeckten, dass es leicht war, mit ihr zu reden. Ärzte schickten ihr Patienten – ältere Frauen, die zu ungelenkig waren, um sich selbst die Füße zu säubern und die Zehennägel zu schneiden. Auch ältere Männer, deren Gelenke so steif waren wie die ihrer Frauen.

In jenem Herbst – dem Herbst, in dem Bobby Farraday am College anfing, Kunstgeschichte zu unterrichten – kamen auch andere männliche Klienten, die nicht von ihren Ärzten geschickt worden waren. Ein emeritierter Professor für Physik war der Erste. Dann ein zweiter Professor, er war nicht emeritiert. Der Direktor der Highschool ließ sich in einem Moment des Übermuts die Zehennägel himbeerrosa lackieren und plauderte dabei die ganze Zeit.

Die Wohnung, die Bobby gemietet hatte, war ideal für jemanden, der frisch getrennt war und kein Interesse daran hatte, seine Lebensumstände zu ändern. Er hängte die Stiche, die ihm und nicht Renée gehörten, im Wohnzimmer und in dem schmalen Schlafzimmer mit Einzelbett auf. Die winzige Küche war gerade so groß, dass er und eine unsichtbare, dort heimische Maus hineinpassten. Die Zimmer und die Küche befanden sich im ersten Stock eines viktorianischen Hauses, und das Badezimmer füllte das ganze Turmgeschoss im zweiten aus. Das Haus stand in der Channing Street, ganz in der Nähe der Kreuzung mit der Main Street, und damit fast diagonal gegenüber von dem Fußpflegesalon. Am frühen Abend begegneten sich Bobby und Paige oft – auf dem Weg zum Gemüsemarkt, beim Zeitungs- und Zigarettenladen, in der Buchhandlung. Manchmal sprachen sie miteinander, wie Nachbarn das tun.

Insgeheim betrachtete er sich nicht nur als ihr Nachbar. Eher war er ihr unsichtbarer Hausgenosse, so wie die Maus seiner war. Sein hohes Badezimmer hatte neben der Toilette ein breites, vorhangloses Fenster, von dem aus er in einem schrägen Winkel den Praxisraum und einen Teil von Paiges Wohnraum dahinter sehen konnte. Diesen Vorteil machte er sich zunutze. Manchmal stand er am Fenster und sah bei der Pediküre zu, aber meistens saß er auf dem Toilettendeckel, wie der Besucher einer Peepshow. Er sah gern zu, wenn die Kunden sich im Sessel entspannten, als würde die fast biblische Erfahrung sie in einen schaumigen Himmel transportieren, als wären sie einen Moment lang gestorben und konnten ihre Sünden als vergeben betrachten. Vielleicht waren sie aber auch einfach glücklich über die Möglichkeit, sich die Schuhe abzustreifen und ihrem Herzen Luft zu machen.

Er gab seinen Unterricht, zeigte Dias, empfing seine Studenten in den Sprechstunden. Er stellte fest, dass Unterrichten und die Studenten ihn ablenkten. Eine der blonden jungen Frauen erinnerte ihn an Renée – nach außen kenntnisreich, innerlich verunsichert. Aber selbst mit einer Studentin ins Kino zu gehen war verboten, und deshalb eilte er am Ende des Unterrichtstags nach Hause, um sich das unschuldige Schauspiel in der Main Street anzusehen.

Die Tage wurden kürzer. Paiges letzte Kunden kamen im matten Licht der Straßenlaternen und betraten den hell erleuchteten Salon. Eines Nachmittags sah Bobby den rotwangigen Chemieprofessor neben seiner Frau auf den Sesseln, als führen sie ins Kino. Paige schob ihren Schemel sacht zwischen ihnen hin und her.

Bobby in seinem Arbeitszimmer zog sich die Schuhe aus und dann die rechte Socke. Seit dem Unfall hatte er sich nicht mehr um seine Füße gekümmert. Aber jetzt – wie schauderhaft die flusigen Zehen mit den Hühneraugen, ein Bild des Jammers die eingerissenen Zehennägel. Kein Wunder, dass seine Socken Löcher hatten. Er zog die linke Socke aus und legte den linken Fuß auf das rechte Knie. Die Fersen waren von Rissen durchzogen, als könnte man daran die Zukunft ablesen. Barfuß erklomm er die Treppe zu seinem unbeleuchteten Turmgeschoss und sah aus dem Fenster. Paige, die über die Zehen des Chemieprofessors gebeugt war, bot ein Bild konzentrierter Arbeit, so wie Renée, wenn sie sich über ihre Akten beugte. Renée in New York hatte ihr Ziel unbeirrt verfolgt – sie wollte zum Partner gemacht werden; Bobby hingegen hatte Gleichgültigkeit und Unaufmerksamkeit gezeigt, hatte sorglose Kritiken für kurzlebige Kunstzeitschriften geschrieben und sich für die Kunstgalerien, die er beriet, Zuschreibungen aus dem Ärmel geschüttelt. Ihre unterschiedlichen Einstellungen hatten zu Streit geführt.

Oft, wenn ihr letzter Kunde gegangen war, kam Paige aus dem Laden, setzte sich auf die breite Stufe und zündete sich eine dünne Zigarre an. Bobby saß auf der Toilette und las im Licht seiner Taschenlampe. Er schaltete die Taschenlampe aus und sah ihr beim Rauchen zu. Um Mitternacht ging sie ins Bett. Er auch.

So ging es eine Weile. Er überlegte, ob er sich ein Fernglas kaufen sollte, aber sie war kein Vogel. Er überlegte, ob er sein Opernglas rausholen sollte, aber sie war keine Sängerin. Er überlegte, ob er seine Lupe benutzen sollte, aber sie war auch kein Kunstwerk, und selbst wenn sie ein Gemälde gewesen wäre, hätte er aus der Entfernung den Pinselstrich nicht prüfen können. Nachdem der erste Schnee gefallen war, trug sie draußen einen Parka und eine Fellmütze. Eigentlich brauchte sie einen Pelzmantel, vielleicht einen Otterpelz, wie Renée, aber die Tierschützer unter den Studenten würden ihr das Leben schwermachen. Außerdem konnte sie sich wahrscheinlich keinen Pelzmantel leisten. Wie viel kriegte man für einen toten Marine ausgezahlt? Und selbst ein florierender Fußpflegesalon würde keinen großen Gewinn abwerfen. Notfalls konnte sie in der Apotheke arbeiten, vermutete er. Sie hatte Pharmazie studiert, das hatte sie ihm einmal erzählt, aber ihr gefiel diese Arbeit – sie war ihre eigene Chefin, und sie diente den Menschen unmittelbar.

Endlich befeuchtete der Frühling die Stadt. Blätter in kräftigen Farben statt pastellfarbener Knospen. Er zog eine persönliche Weiterbildung in Erwägung. Vielleicht würde er Veganer. Soll die Maus doch seinen Käse essen. »Und wie viel kostet es?«, sagte er eines Nachmittags unvermittelt. Sie waren sich im Naturkostladen begegnet, er hielt ein Glas mit Pflaumenmus in der Hand, das er hastig aus dem Regal genommen hatte, sie betrachtete prüfend eine Flasche.

»Das hier kostet einen Dollar pro Unze. Aber um die gewünschte Wirkung zu erzielen, muss man es mit …«

»Nicht das Schlangenöl. Eine Pediküre.«

Sie sah zu ihm auf. Ihre Augen in dem von zarten Fältchen durchzogenen Gesicht waren so blau wie der Veroneser Himmel. »Fünfzig Dollar. Zehn extra für Lackieren. Trinkgeld nicht erlaubt.«

»Oh. Kann ich eine bekommen?«

»Na klar.«

»Wann?«

»Freitag um acht.«

»Acht? Mein Kubismus-Seminar fängt um halb neun an.«

Sie lächelte. »Acht Uhr abends.«

»Oh … dann sehen wir uns?«

»Wir sehen uns«, bestätigte sie.

Am Freitagabend schrubbte er sich die Füße. Er zog sich saubere Socken an. Er griff nach einem Buch, das er gerade nicht las, Das spätrömische Reich.

Er setzte sich in den linken Sessel. Wenn er den Kopf zur Seite neigte und die Augen hob, konnte er das Fenster seines Badezimmers sehen, wo er das Licht angelassen hatte und so den Strom verschwendete, den seine Vermieterin bezahlte.

Während Paige eine längliche Wanne mit warmem Wasser füllte und einen kräftigen Spritzer einer weißen Substanz hinzufügte, zog er sich die Schuhe aus. Sie selbst streifte ihm die Socken ab und legte sie gefaltet auf den Tisch zwischen den Stühlen. Früher hatte Renée sie vom Fußboden aufgehoben und ihm die Zunge rausgestreckt.

»Weißen oder roten, oder lieber Tee?«, fragte Paige.

»… weißen.«

Sie ging in den hinteren Raum, eine Kühlschranktür wurde geöffnet und geschlossen. Sie stellte ein Glas Wein neben die Socken auf den Tisch. »Sie können sich weiter zurücklehnen. Drücken Sie einfach auf den kleinen Knopf an der Lehne.« Er lehnte sich weiter zurück. Die Fußraste mit seinen nackten Füßen darauf hob sich. Sie zog den Schemel heran und setzte sich. Er legte Das spätrömische Reich auf seine Erektion. Sie rollte ihm beide Hosenbeine bis zur Hälfte des Unterschenkels hoch.

Dann betrachtete sie ihren neuen Kunden. »Haben Sie schon mal eine Pediküre gehabt?«

»Nein. Zehn kleine Jungfrauen.«

»Manche Männer finden den Vorgang verweichlichend.«

»Aha … ohne Lackieren, bitte.«

»Keinen Pinselstrich. Und manche finden es dekadent. Wie Ihre Römer da. Wir gucken mal, wie es Ihnen damit geht.«

Sie zog sich Gummihandschuhe an und prüfte seine schrecklichen Füße – die Hühneraugen, die eingerissenen Nägel, die Verfärbungen, der Ansatz eines Ballens, die Fersen, die aus tierischem Horn zu sein schienen. Dann holte sie die Wanne mit dem Wasser. Sie hob seine Füße mit dem Arm an, klappte die Fußraste an seinem Stuhl zurück, schob die Wanne zurecht und legte die Füße in das warme Wasser. Das Zeug, das wie Crème fraÎche ausgesehen hatte, war, wie sich herausstellte, eine leicht schäumende Seife, und das darunter sichtbare Wasser war rauchgrau. Er schloss die Augen und stellte sich eine Zukunft voller fürstlicher Zuwendungen vor.

Nach einer Weile machte er die Augen auf. Er sah, dass sie immer noch auf dem Schemel saß, mit einem dicken Handtuch auf dem Schoß, und dass seine inzwischen sauberen, aber immer noch unansehnlichen Füße auf dem Handtuch lagen. Sie schienen von seinem Körper, von seinen aufgerollten Jeans getrennt. Sie waren ein paar überflüssige Fußnoten. Ebd. und Sic nannte er sie mit lauter Stimme.

»Jetzt kommt die Exfoliation«, sagte sie.

»Exfoliation?« Er wusste, was das bedeutete, aber ihre Stimme klang so melodisch. »Es bedeutet, dass man die Haut abschält, in Schuppen oder Placken oder Lagen.«

Sie begann, seine Sohlen und Fersen mit einem zarten Skalpell abzukratzen. Er sah sie an. Ihr dunkler Kopf war gesenkt, und sie machte keine Anstalten, sich mit ihm zu unterhalten. Deshalb schloss er wieder die Augen und dachte an seine Mutter und an die Badezeiten von früher. Doch dann drängte sich eine andere Erinnerung nach vorn.

Sie fuhren in einem Schneesturm. Sie wollten nach Hause. Alle auf dem Highway, in welche Richtung sie auch fuhren, wollten nach Hause. Dreißig Zentimeter Neuschnee wurden erwartet. Der Schneefall erlaubte kein schnelles Fahren. Immer weißer wurde es um sie herum, und alle Autos im Umkreis waren von einem teigigen Weiß, als wäre eine Paste mit dem Messer aufgestrichen worden. Plötzlich drehte sich auf der anderen Seite des Mittelstreifens ein lilafarbenes buckliges Ding wie ein Tänzer um sich selbst, reckte sich in die Höhe wie ein Tier, streckte vier runde Füße in die Luft und fiel rückwärts aufs Dach. Es lag auf der Straße. Die anderen Autos manövrierten sich langsam daran vorbei.

»Hast du das gesehen?«, fragte Renée flüsternd.

»Ja.«

»Fahr zurück.«

»Nein.«

»Weiter vorne gibt es bestimmt eine Möglichkeit zu wenden. Wir müssen zurückfahren.«

»Damit wir auch durch die Luft fliegen? Es gibt die Straßenpolizei. Es gibt andere Autos, die in dieselbe Richtung fahren wie der Volkswagen.«

»Andere Autos? Niemand hält an. Wir sind die Einzigen.«

»Nicht wir, Schatz.«

Er hörte das Klicken ihres Sicherheitsgurts, sie rutschte zu seinen Füßen hinunter und versuchte, seinen Schuh vom Gaspedal zu heben.

»Lass das, Renée. Sonst muss ich dich treten.«

»Mach doch.«

Er trat sie nicht: Mit dem Rist schob er ihre Hände weg. Die Schnalle seines Stiefels berührte ihr Gesicht und bohrte sich in ihr Fleisch – aber das erfuhr er erst später. Da gab sie auf, sie ließ sich auf ihren Sitz sinken und weinte und weinte.

»Schnall dich wieder an.«

Klick. Sie hörte auf zu weinen und sprach kein Wort. Nach weiteren gefahrvollen Stunden waren sie zu Hause. Sie schlief auf der Couch. Und am nächsten Tag ging sie mit einem Pflaster auf der Wange und einem kleinen roten Streifen, wo die Infektion zum Kinn kroch, schweigend zur Arbeit.

Danach formte sie die Episode zu einer Auseinandersetzung über moralische Verantwortung um. Das konnte sie am besten, und deshalb tat sie es – Abend für Abend, dann einmal in der Woche, dann einmal im Monat. Er ließ sich darauf ein, weil er ihr zeigen wollte, dass ihm ethisches Verhalten wichtig ist, was ihn jedoch quälte, waren die Bilder. Immer und immer wieder sah er, wie sich das Ding drehte und überschlug. Dann weitete er das Bild aus: Auf einen verschwommenen weißen Hintergrund trat ein lila Fleck und hüpfte, zerbrochene Strichfiguren glitten aus der halb geöffneten Tür. Oder er sah in dem auf dem Dach liegenden Auto weiche Skulpturen, die in ihre eigenen zermatschten Köpfe sackten. Oder er sah, wie die Fenster barsten und das Weiß der Umgebung bespritzt und befleckt wurde, mit Rot, Hellrosa und Grau – Blut, Fleisch, Gehirnmasse. Porzellansplitter landeten auf der Leinwand: Knochen und Zähne.

Als der Brief vom College mit dem Angebot einer Lehrstelle kam, zeigte er ihn ihr. Sie sagte nein.

Er schrieb ja, verpackte die Stiche und buchte einen Flug.

»Exfoliation beendet«, sagte Paige mit leiser Stimme. Er machte die Augen auf. Sie hielt das gefaltete Handtuch in Händen. Er wurde eines Bergs durchscheinender Hautfetzen ansichtig, aus dem hier und da ein Zehennagel herausragte und obenauf eine dicke Hornhaut lag, die sie entfernt hatte, ohne dass er etwas gemerkt hätte. Er bestaunte diese Absonderungen, wie ein kleiner Junge stolz seinen Haufen betrachtet. »Ein zweites Einweichen«, sagte sie und brachte neues klares, warmes Wasser.

Seine Füße weichten ohne Hilfe.

Sie setzte sich neben ihn. Sie seufzte: Es klang ziemlich glücklich. Vielleicht hatte ihn das Schicksal vermittels des Maklers, der ihm die Wohnung gezeigt hatte, zu ihr geführt. Sie könnte lernen, sich für Bilder zu interessieren, vielleicht sogar das Pokerspielen einzuschränken. Auch er seufzte. Und er nahm das Weinglas mit der Hand neben dem Tisch und wechselte es in die andere Hand. Sie legte ihre Hand auf seine gefalteten Socken. Er befingerte ihre Finger.

Zusammen sahen sie das Taxi die Channing Street entlangrollen, auf sie zu, das Leuchten heller Augen. Es hielt vor seinem Haus. Heraus stieg eine Blonde in einem Regenmantel mit Gürtel. Das Januartauwetter war zu warm für den Otterpelz. Ihr Haar war so zerzaust, wie er es außerhalb des Schlafzimmers nie gesehen hatte. Die gedrungene Taxifahrerin hob einen großen Koffer auf Rollen aus dem Wagen.

»Das ist Finnegans Taxi. Sie ist eine meiner Pokerfreundinnen«, sagte Paige.

Finnegan nahm ihr Geld entgegen und fuhr davon, obwohl das Haus mit Ausnahme des Turmgeschosses dunkel war. Renée ließ den Koffer auf dem Gehweg stehen und stieg die Stufen zur Haustür hoch. Bobby sah sie und spürte förmlich, wie sie auf die Klingel drückte.

Renée stand eine Weile vor der Tür, dann ging sie mit gesenktem Kopf die Stufen nach unten und zog ihren Koffer über die Channing Street zur Main Street. Er konnte ihr hübsches Gesicht sehen und den Ausdruck von Angespanntheit, der nie ganz verschwand. Es war das Gesicht, das sich ihm genähert hatte, als sie zwischen den Kirchenbänken auf ihn zugekommen war. Er sah die Narbe, die er verursacht hatte, oder zumindest glaubte er sie zu sehen. Er vermutete, sie habe ihm endlich verziehen, dass er nicht umgedreht und zurückgefahren war und die Leichen aus dem Volkswagen gezogen hatte. Er hatte ihr schon längst ihre heiligmäßigen Vorwürfe verziehen. Sie überquerte die Main Street und stand jetzt vor Zartfuß.

Sollte er sie reinlassen? Ihre Gegenwart oder Nicht-Gegenwart, ihr Verzeihen oder Erstaunen, eine gelegentliche Fußpflege oder sein Tändeln mit Psychoanalyse, Meditation, Religion, Drogen und Kaffeeeinläufen – nichts würde je das Bild vor seinem geistigen Auge auslöschen, als die lila Maschine in die Höhe stieg, in den Schnee fiel und umgekehrt auf dem Asphalt liegenblieb. Mit der Erinnerung musste er leben. Dann konnte er ebenso gut mit Renée leben.

Trotzdem blieb er sitzen.

Und sie blickte hinein.

Mit einem gereizten Schulterzucken ging Paige zur Tür, öffnete sie und nickte dem späten Gast zu, bat ihn herein.

»Das ist Renée, meine Frau, von früher«, sagte Bobby. »Das ist Paige, meine Fuß… meine Ästhetologin.«

»Angenehm.«

»Angenehm.«

»Vielleicht könnten wir mehr Wein bekommen«, sagte Bobby.

Paige sagte: »Vielleicht sollten Sie sich die Füße abtrocknen und die Dame nach Hause geleiten.«

Er ließ sich Zeit mit dem Abtrocknen, dem Binden der Schnürsenkel, der vergeblichen Suche nach dem Buch über Rom, dem Bezahlen. Er vergaß, kein Trinkgeld zu geben, und Paige nahm das Geld. Endlich waren sie gegangen, Renée immer noch mit ihrem Koffer im Schlepptau. Paige wandte sich den willkommenen Tätigkeiten zu – die Handtücher in die Waschmaschine legen und die Instrumente auskochen. Dann drehte sie die Lichter im Laden aus.

In seinem Turmgeschoss war es immer noch hell. Sie wusste, dass er sie von seinem günstig gelegenen Fenster aus beobachtet hatte. Sie hatte ihn deutlich gesehen, wenn er im Zwielicht dasaß; sie hatte ihn nachts gesehen, wenn das milde Licht der Straßenlaternen in das Turmgeschoss einfiel und sanft von den Reflektionen in Porzellan und Spiegel verstärkt wurde, wodurch ein komplizierter Hintergrund des Chiaroscuro entstand, vor dem seine sitzende Form ein dunkler Umriss war. Vielleicht belebte das Kommen und Gehen im Zartfuß seinen Geist; vielleicht musste er, um schwierige Momente zu bewältigen, auf der Toilette sitzen. Sie hatte sein Alleinsein mit Sympathie betrachtet, es schien ihr vielversprechend. Jetzt – denn er hatte, ohne es zu merken, in seinem Dämmerschlaf geredet, das machten Menschen oft – wusste sie, dass er nicht allein war und dass er in der erdrückenden Umklammerung eines unvergesslichen Erlebnisses lebte.

Selbst in der Traurigkeit nach Carls Tod hatte sie keine derartigen Verfolgungen zu erdulden gehabt. Wenn sie an Carl dachte, erinnerte sie sich mit Lust an die weichen Härchen seiner dichten Augenbrauen und die nachdenkliche Miene, mit der er ein schadhaftes Gerät betrachtete, bevor er entschied, wie er bei der Reparatur vorgehen würde, und die Footballspiele am Sonntag, die Enttäuschung, die ihm seine Unfruchtbarkeit bedeutete, obwohl ihn das mehr bekümmert hatte als sie: Sie lehnte sich nicht gegen das Schicksal auf. Oh, und seine Füße. Er mochte es, wenn sie ihm die Füße wusch und die Nägel schnitt, und sie tat es gern für ihn, und dann liebten sie sich, nachdem sie erst die Jalousien runtergelassen und sich flach auf den Boden gelegt hatten, so dass ihre Fußsohlen sich berührten. Langsam rutschte er dann nach vorn, strich mit der Ferse über die Innenseiten ihrer Oberschenkel, ging mit der großen Zehe in ihre Öffnung und fuhr eine Weile darin herum – mehr brauchte sie nicht. Nach ihrem Höhepunkt machten sie mit konventionellen Positionen und einer zweiten Welle der Lust weiter.

Sie setzte sich auf den Stuhl, auf dem Bobby gesessen hatte, und streifte sich die Clogs ab. Sie nahm Das spätrömische Reich in die Hand – es lag unter einem Handtuch versteckt. Sie ließ ihre nackten Füße in sein Wasser gleiten, das jetzt kalt war. Sie empfand die ruhige Enthemmung, die Flüssigkeit möglich machte. Sie dachte: Bobby und seine Frau, von früher, waren zu Zeugen einer Katastrophe erwählt worden und hatten nicht gehandelt. Ein neuer Gedanke, schwer und mit Kettenrädern wie ein Panzer, rollte auf sie zu; Carl sah sie mit einem Ausdruck der Enttäuschung aus dem Panzer heraus an. Auch sie hatte nicht gehandelt. Als Carl zum Militär gehen wollte, hatte sie ihre Einwilligung nicht verweigert. Sie hätte ihn hindern können. Sie hätte ihn zu Hause behalten können. »Man konnte nicht wissen, ob ein Kind mit im Auto war«, hatte Bobby vor einer halben Stunde gesagt, die Augen geschlossen, Ebd. und Sic auf ihrem Schoß, als er nicht wusste oder es ihm gleichgültig war, dass er laut dachte, als er nicht wusste oder es ihm gleichgültig war, dass er mit seinen ruhenden Füßen ihre glatte Unschuld durchlöchert hatte. »Vielleicht ein Baby.«

Ein Baby, ein alter Mann, ein Marine … was machte es, wer sie waren. Wer immer sie waren, sie waren aus dem Lebendigsein herausgeschleudert worden, sie hatten ihre Zukunft aufgegeben. Sie hatten ihre toten Rücken den Hinterbliebenen zugewandt, die jetzt zum Trauern verdammt waren, bis ans Ende ihrer eigenen Tage.

Traumkinder

WILLA FAND DAS ERSTE Bild an einem Abend im Juli, als sie ihr Zimmer aufräumte. Sie hatte den beiden älteren Jungen vorm Zubettgehen erlaubt, dort zu spielen, und jetzt war der Fußboden mit Schachfiguren und Othello-Spielsteinen übersät. Sie hob die Teile auf und legte sie an ihren Platz, in die vorletzte Schublade der zerkratzten Kommode mit den Elfenbeinknäufen – eine auf Maß gefertigte Kommode, hatte die Mutter ihr gesagt –, die unter dem Fenster stand. Willas Blusen und Untersachen lagen in den flachen oberen Schubfächern. Die Kommode, eine Lampe und ein Bett – das nicht lang genug war, so dass Willa oft auf dem Fußboden schlief – waren die einzigen Einrichtungsgegenstände in dem schmalen Zimmer hinter der Küche, aber auch in den anderen Zimmern gab es kaum mehr Möbel. Im Land ihrer Herkunft hatte jede Dorfbar einen Fernseher, und in der Hauptstadt besaß noch die ärmste Familie ein Gerät. Aber in dieser Wohnung in New York – nichts. »Wir sehen nicht gern fern, und wir wollen nicht, dass die Kinder fernsehen«, hatte die Mutter am ersten Tag gesagt und besorgt zu der hochgewachsenen Willa aufgesehen. »Aber wenn Sie möchten …«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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