Horror Western 07: Die Fährte des Wendigo - Anton Serkalow - E-Book

Horror Western 07: Die Fährte des Wendigo E-Book

Anton Serkalow

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Beschreibung

Die Witwe Helen Burkfield lebt auf einer kleinen Pferderanch. Als ihre Tochter Crystal verschwindet und die Spur direkt ins Indianergebiet führt, macht sich Helen auf die aussichtslos erscheinende Suche. Sie nimmt die Hilfe von Threefeathers an, einem Krieger, der dem gleichen Stamm angehört, der ihren Mann ermordet haben soll. Gemeinsam folgen die beiden der mysteriösen Fährte. Schon bald muss Helen erkennen, dass Crystal von einem blutrünstigen Dämon entführt wurde.

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Seitenzahl: 222

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Horror Western

In dieser Reihe bisher erschienen

3801 Ralf Kor Blutmesse in Deer Creek

3802 Earl Warren Manitous Fluch

3803 Ralph G. Kretschmann Im Sattel saß der Tod

3804 Ralph G. Kretschmann Der Fluch des Mexikaners

3805 Ralph G. Kretschmann Leben und Sterben in Virginia

3806 U. H. Wilken Die Nacht der Bestien

3807 Anton Serkalow Die Fährte des Wendigo

3808 Earl Warren Kane jagt den Ghul-King

Anton Serkalow

Die Fährte des Wendigo

Ein Horror-Western

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTestleserinnen: Anne Sandler und Melanie LübkerTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerVignette: iStock.com/IMOGISatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-287-5Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Prolog

„Wo ist der Junge? Jep?“

Hiram Jackson blieb stehen und sah sich um. Wo war Jep Billings auf einmal abgeblieben? War der Junge nicht bis eben noch neben ihm durch den hüfthohen Schnee gestapft und hatte sich mit ihm unterhalten? Hiram war sich nicht sicher. War das wirklich eben gewesen? Oder lag diese Unterhaltung bereits Stunden, wenn nicht sogar Tage zurück? Hiram hatte längst jeden Sinn für Raum und Zeit verloren. Wie lange war es her, dass sie die toten und nur halb aufgegessenen Pferde im Schnee zurückgelassen hatten?

Er blickte wieder nach vorn, wo sich die restlichen Soldaten des Trupps durch das ewige Weiß kämpften. Gestalten, die aussahen wie Vogelscheuchen, über die man steif gefrorene Armeemäntel geworfen hatte, deren Gewicht die Gestelle in den Boden zog.

„Hey, Jungs!“, rief Hiram. Doch das, was ihm von den Lippen kam, war nicht mehr als ein Ächzen. Ähnlich dem Geräusch, das die dünnen Äste an den Kiefern unter der Last des Schnees machten. Nein. Wahrscheinlich hatte er sich die Unterhaltung mit Jep Billings nur eingebildet. Quatschen bedeutete Kraft aufbringen. Energie, die sie längst nicht mehr hatten. Seitdem sie sich nur noch von Schnee ernährten und versuchten, das Gefühl der innen an den Magenwänden nagenden Krebse durch das Herumkauen auf abgeschnittenen Stücken ihrer Ledergürtel zu unterdrücken. „Jungs. Wartet mal!“ Diesmal gelang es Hiram, etwas lauter zu rufen. Ein paar der Trooper hielten inne und drehten sich langsam zu ihm herum.

„Was?“

„Wo ist Jep? Der Junge. Jep Billings.“

„Keine Ahnung. War doch die ganze Zeit hinter uns.“

„Ja. Aber da ist er nicht mehr.“

Hiram deutete in die Richtung, aus der sie kamen. Deutlich zeichnete sich die Schneise im Schnee ab, die sie unter Aufbringung ihrer letzten Kräfte erzeugt hatten.

„Wir müssen zurückgehen.“

„Warum?“

„Wir sind nicht mal für die Pferde zurückgegangen. Haben sie einfach liegen lassen und die hätten wir wenigstens weiter essen können.“

„Wolltest du etwa die großen Fleischstücke auch noch schleppen, Hastings?“

Immer mehr der Soldaten hatten von der Unter­brechung mitbekommen und waren stehen geblieben. Das Streitgespräch war nichts weiter als ein Flüstern im Wind. Die Trooper waren selbst dazu zu schwach, die üblichen Frotzeleien durch ihre verfilzten Bärte zu quetschen.

„Der Sergeant ist an allem schuld. Glaubt immer noch, dass wir Rothäute verfolgen und dass die sich hier auskennen. Dass er sie noch erwischt und da, wo die gefiederten Wilden dann sind, da gibts auch Essen.“

„Weil die Injuns sich auskennen, sind sie längst nicht mehr da. Haben uns in die Irre geführt. Die wissen, dass es hier außer Schnee und Eis nichts zwischen den ­Bäumen gibt. Nicht mal ein mageres Eichhörnchen.“

„Oh, Eichhörnchen. Wisst ihr, wie lecker Eichhörnchen schmecken, wenn man sie über dem Feuer ...“

„Halt die Schnauze, Goldsberry.“

„Pst. Der Sergeant kommt ...“

„Was ist los, Männer? Warum geht es nicht weiter?“ McMullons Stimme, sonst wie ein Fanfarenruf, hatte schon seit Tagen nicht mehr Kraft als ein Todkranker, der um die Sterbesakramente bettelt.

„Also ich geh jetzt zurück“, sagte Hiram mehr zu sich selbst statt einer Antwort und stapfte die Spur entlang. Auch wenn Jep Billings nur ein Weißbrot war, er war ein Junge. Ein verdammter Junge, der direkt von Moms Schoß in die Army gekommen war und das Ganze für ein großes Abenteuer gehalten hatte.

Der Weg gestaltete sich überraschend leicht. Schätze, es ist gar nicht so eine dumme Idee, immer am Ende der Truppe zu laufen und die Weißbrote die Arbeit machen zu lassen, kicherte Hiram im Stillen. Dann erblickte er den Körper von Jep Billings vor sich. Der Junge war wohl im Gehen einfach so zusammengesackt. Hiram unterließ es, nach hinten zu rufen. Er streckte einfach nur den Arm in die Luft und winkte. Dann bückte er sich zu dem Jungen. Billings war von Anfang an nur ein dünnes Kerlchen gewesen, aber nun, wo er da so zu Hirams Füßen im Schnee lag, hätte man ihn, von seinem Fellmantel eingehüllt, für ein abgemagertes Nagetier halten können. Wenn er einer der anderen Trooper gewesen wäre, ­Hastings zum Beispiel, der auch jetzt noch doppelt so breit war wie alle anderen, dann wäre er so tief in den Schnee eingesunken, dass Hiram wahrscheinlich an ihm vorbeigegangen wäre. Kein Zweifel. Der Junge war tot.

Mehr als er es sah, spürte Hiram, dass der Rest der Truppe herangekommen war und sich jetzt um ihn scharte wie die Trauergäste um ein offenes Grab. Dies löste ein Gefühl von Beklemmung aus, weshalb Hiram sich schleunigst erhob und zwei Schritte beiseitetrat. Nicht, dass die Weißbrote noch auf dumme Gedanken kamen. Oh no, Sir.

Sergeant McMullon nahm den toten Jep Billings nur flüchtig in Augenschein und bestätigte dann das Offensichtliche.

„Tot.“

„Sag ich ja. Dafür hätt’n wir nicht zurückkommen müssen“, meinte Hastings.

„Sieht aus, als ob er nur schläft“, fügte ein anderer hinzu.

„Noch so frisch und rosig.“

„Bisschen mager vielleicht, aber ...“

Keiner der Trooper reagierte auf diesen Satz.

Zunächst nicht.

„Noch warm“, fügte ein Weiterer hinzu.

„Weich. Nicht so wie auf einem Gürtel herumkauen.“

Hiram Jackson revidierte sein Bild von den Trauergästen dahin gehend, dass die Soldaten, die um den Leichnam von Jep Billings standen, eher wie Geier aussahen. Er wollte etwas sagen. Doch sein Hals fühlte sich an, als hätte jemand ihn verknotet. Schwindel erfasste ihn. Das Bild vor seinen Augen verschwamm.

In die Geier kam Bewegung. Einige beugten sich nach vorne. Streckten die Hälse aus. Andere stießen verzerrte Töne aus: „Ich hab mal von einer Truppe Siedler gehört, die in der Sierra Nevada liegen geblieben sind. Im tiefsten Winter ...“

„Soll wie Hühnchen schmecken, wenn man’s brät ... und vielleicht kriegen wir ein Feuer hin ...“

Das könnt ihr nicht!, schrie es in Hiram auf. Er wagte nicht, aufzublicken. Den Geiern in ihr hungriges Antlitz zu schauen. Geschweige denn seinen Protest laut zu äußern. Sein eigener Magen kniff sich bei dem Gedanken an gebratenes Fleisch zusammen. Aber dennoch ... das ... konnte ... doch ... nicht ...

„So hat es wenigstens einen Sinn“, krächzte eine Stimme.

„Damit wir leben können ...“

Einer zog sein Messer und bückte sich.

Hiram glaubte zu spüren, wie ihm eine unsichtbare Kraft das Hirn durch ein Loch im Hinterkopf nach oben aus dem Schädel saugte. Er griff Halt suchend ins Leere ...

Später war Hiram Jackson sich sicher, dass dies der Augenblick gewesen war, wo alles begonnen hatte. Schon nach wenigen Stunden, als die Truppe etwas abseits von Jep Billings, von dem, was von Jep Billings übrig geblieben war, ihr Lager aufgeschlagen hatte und keiner es wagte, dem anderen in die Augen zu schauen. Jeder darauf bedacht zu sein schien, größtmöglichen Abstand zum Nächsten zu halten. Da hatten sie es zum ersten Mal vernommen. Dieses Geräusch. Ein Flüstern im Unterholz.

Die Männer waren in ihrer Mischung aus Scham und Sättigungsgefühl reizbar und ballerten wild in die Dunkelheit. So ging es den nächsten Tag weiter. Aus dem Gefühl, dass da etwas in den Wäldern war, das sie verfolgte, wurde nach und nach Gewissheit. Da war irgendetwas, das immer in ihrer Nähe zu sein schien, auch wenn sie es nie zu Gesicht bekamen. Nur manchmal sah es bei genauem Hinsehen so aus, als würden sich weiße Schatten aus dem Schnee zusammensetzen und mit ungelenken Bewegungen durch die hohen Bäume pirschen. Doch kaum hatten sie es erblickt, lösten sich die Schemen wieder auf.

Selbst am nächsten Morgen, als ein trübes Sonnenlicht die Umgebung etwas erhellte, war dieses Wispern ihr steter Begleiter gewesen. Ein Ton, der sich bald ausnahm, als würde jemand ununterbrochen mit den Zähnen knirschen. Und der Grund, warum Hiram nicht einfach fortging. Auch wenn er es in der Nähe der Truppe nicht mehr aushielt. Es gelang ihm nicht mehr, in denen, die bis vor Kurzem noch seine Kameraden gewesen waren, etwas anderes als Aasfresser zu sehen. So folgte er auch weiterhin den Spuren, die sie im Schnee hinterließen, blieb aber auf Abstand. Versuchte, das Flüstern und die Schemen am Rande seiner Wahrnehmung zu verdrängen. Denn das waren mit Sicherheit keine Crow, und irgendwann konnte selbst Sergeant McMullon diesen Umstand nicht mehr leugnen.

Nicht nur, dass sie sich längst verlaufen hatten, dass sie hungerten und vor Erschöpfung immer wieder zusammenbrachen. Dass sie das Gefühl hatten, aus nichts anderem, als dem ständigen Gefühl des Erfrierens zu bestehen und der Angst, dass Zehen und Finger bei der kleinsten Bewegung wie Glas brechen würden. Oh no, Sir! Dazu kam jetzt noch, dass da draußen irgendetwas in den Wäldern war, das sie verfolgte und dem Kugeln nichts anhaben konnten.

Vielleicht war der Moment, wo Sergeant McMullon es zugeben musste, der, als er der Erste gewesen war, den ES oder SIE, geschnappt hatten. Die Schreie des Offiziers, die noch lange durch die Nacht hallten, waren weithin hörbar gewesen. Laut genug, dass es die Soldaten trotz des Bedürfnisses, einfach im Schnee liegen zu bleiben und für immer zu schlafen, wach gehalten und schließlich sogar weiter durch den Wald getrieben hatte.

Oh yes, Sir. Angefangen hatte es mit Jep Billings.

Und jetzt, am Ende, war nur noch er, Hiram Jackson, übrig. Er hatte keine Ahnung, warum ihn das Ding sich bis zum Schluss aufgehoben hatte.

Da stand es vor ihm. Riesengroß und von einer Anatomie, die eigentlich unmöglich war. Betrachtete sein letztes Opfer mit schräg gelegtem Schädel. Die klauenartige Vorderpfote packte Hiram und ...

Vielleicht war das Ding einfach satt. Von den anderen Troopern, die es erbeutet hatte. Oder gelangweilt. War sich seiner Beute einfach sicher. Vielleicht hatte es ihn auch bis eben übersehen. Trotz seines Zustandes gelang es Hiram, eine Abwehrbewegung zu machen, und so erwischte ihn das Wesen nur am Arm, statt, dass es ihm gleich den Kopf von den Schultern riss. Die rasierklingenartigen Krallen bohrten sich in sein Fleisch. Wie eiskaltes Wasser schoss es Hirams Adern entlang. Bis zur Schulter und weiter in die Brust, als das Ding ihn hochhob und sich vor die Nüstern hielt. Zwei Augen von der Struktur und Farbe blauer Eisblumen inspizierten den Soldaten. Augen, die sich in Hirams Innerstes bohrten wie Stacheln aus Glas und ihm mit einem Mal gewahr werden ließen, dass dieses Wesen noch unendlich viel älter war als die Wälder, in denen es lebte.

Die Kreatur riss das Maul auf. Gab einen Ton von sich, der in Hiram das Bild von festgerosteten Getrieben, die sich unter dem Einfluss einer unfassbaren Kraft langsam lösten und wie unter Schmerzen in Bewegung setzten, auslöste. Mit dem infernalischen Schrei schlug dem Soldaten der Atem des Wesens entgegen. Ein Gestank von Verwestem, Erde und Eisen schlug über ihm zusammen. Raubte ihm beinahe die Besinnung.

Hiram griff unter Aufbietung seiner letzten Kraft nach dem Säbel. Die Finger zitterten vor Anstrengung. Rutschten vom Griff ab. Eiskrallen griffen nach Hirams Herz. Er keuchte. Trotz der Kälte trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Die Kreatur musterte ihn wie ein Knabe, der einem Schmetterling die Flügel ausgerissen hatte und jetzt dem müden Bestreben des Tieres zusah, dennoch zu entkommen. Schlieren legten sich vor Hirams Augen. Es gelang ihm irgendwie, den Kopf beiseitezudrehen. Die Hand noch einmal auszustrecken und endlich doch die Waffe zu packen und aus der Scheide zu ziehen.

Kapitel 1

Etliche Jahre später.

„Halt sie fest!“ Helen Burkfield sprang einen Schritt nach hinten und zur Seite weg, um dem ausschlagenden Huf zu entkommen. Sie schaute über den Rücken des Pferdes zu ihrer Tochter, die auf der anderen Seite stand und das Halfter hielt. „Du musst sie festhalten“, sagte Helen deutlich sanfter.

„Sie hat Schmerzen, Mom.“ Dem Mädchen gelang es nicht wirklich, das Tier dauerhaft ruhig zu halten. Die Stute schnaubte und schüttelte den Kopf, als versuchte sie, der Hand zu entkommen. „Sie meint es doch nicht so.“

„Ich weiß, Crystal“, antworte Helen. „Doch das nützt mir nichts, wenn sie mich erwischt.“ Sie holte Luft, trat langsam an die Flanke des Pferdes heran und legte eine Hand auf die Kruppe, die unter der Bewegung, die nicht schwerer als ein landender Schmetterling sein konnte, erzitterte. „Geh Delbert holen“, fügte Helen noch hinzu, in dem Versuch, sich versöhnlich zu geben.

Crystal schien einen Moment zu überlegen, ob sie ihrer Mutter wirklich Folge leisten sollte, als wenn Helen tatsächlich die Absicht gehabt hätte, dem Tier wehzutun. Dann schlüpfte das Mädchen unter dem Hals der Stute hindurch, zwängte sich an Helen und der Wand der Box vorbei und eilte auf den Gang.

Woher hat das Mädchen bloß diese sensible Ader?, fragte sich Helen in Gedanken, während sie mit einer Hand nach vorn griff, um die Führleine der Stute direkt am Halfter zu packen. „Pscht“, flüsterte sie dabei leise in die zuckenden Ohren des Tiers und strich mit der anderen Hand langsam über den Hals des Pferdes. Crystal war wie ihre Mutter auf der Pferderanch geboren und aufgewachsen, von wem hatte sie also diese weiche Art geerbt?

Das Knarzen der mit Stroh bedeckten Holzbohlen verriet, dass jemand den Stall betrat. Einen Moment lang verbarg die Gestalt des Neuankömmlings das Licht der Kerosinlampen. „Sie iss’n gutes Mädchen, Helen“, verkündete eine Stimme, die klang wie ein Bär, der sich zur Winterruhe begab.

Helen stutzte. Hatte sie den Gedanken etwa laut ausgesprochen?

Delbert trat in die Box, dabei wie immer den Kopf zwischen den Schultern einziehend und sich leicht zur Seite drehend, als wäre der Durchgang für ihn zu klein. Die meisten Türen waren es auch. Kaum war der Hüne im Innern angekommen, stand die Stute still.

Trotz der Enge der Box schaffte Delbert es, sich zwischen dem Pferd und der Wand so zu platzieren, dass er seitlich neben dessen Flanke stand und das Tier so allein durch seine Nähe und Präsenz festhielt. Er hätte die Hände eigentlich nicht gebraucht, mit denen er jetzt nach dem Halfter und Hals des Tieres griff. „Crystal hat sie großgezog’n, mit der Flasche, wie’s an’nere Mädchen mit Puppen tun“, fügte er noch hinzu. Dann begann er, leise ein Lied zu summen. Eine Melodie, die wie ein schmutziger Saloongesang klang, den ein kleiner Junge irgendwo aufgeschnappt hatte und jetzt voller Begeisterung ständig wiedergab, ohne sich der Bedeutung der Worte bewusst zu sein.

Als Helen Delbert dabei beobachtete, wie er dort stand, den Gürtel so hoch angesetzt, dass man sich fragte, ob er nicht sogar die Brustwarzen bedeckte, der nicht nur durch seine körperliche Statur die Box ausfüllte und auch nach Jahrzehnten immer noch das Gesicht eines Lausbuben hatte, da huschte über ihr Gesicht ein Lächeln. Das ihren über die Jahre kantig gewordenen Zügen einen Glanz verlieh, den sie selbst an sich nicht mehr wahrnahm. Nicht seitdem ... Helen verdrängte die aufkommenden Gedanken an Mason. Strich stattdessen weiter über das Fell der Stute. Beim Rist beginnend, bis zur Hinterhand und dann am Lauf entlang zu der geschwollenen Fessel. Und dank des Hünen stand das Tier diesmal still. Helen tastete das Gelenk ab. Als sie endlich zu einem Ergebnis kam und den Kopf hob, um es laut auszusprechen, blickte sie unverwandt in die strahlend blauen Augen ihrer Tochter, die auf der anderen Seite der Boxentür stand. Noch bevor Helen sich auf die Zunge beißen konnte, war der Satz schon raus: „Wir werden sie nie einreiten können.“

Crystals Augen begannen zu glänzen, denn sie wusste um die Konsequenzen einer derartigen Diagnose. „Ich werde mich um sie kümmern ...“, hob sie an, doch Helen unterbrach sie.

„Du weißt, dass wir uns kein Pferd leisten können, das nur frisst. Sie wird das Fohlen, das sie trägt, im Frühjahr noch gebären, dann ...“ Den Rest des Satzes musste Helen nicht vollenden. Er spiegelte sich in Crystals Augen, in ihrem Gesicht und der Bewegung, mit der sie vor ihrer Mutter zurückwich, sich herumdrehte und aus dem trüben Gang des Stalls nach draußen in die mittägliche Wintersonne rannte.

„Sie iss’n gutes Mädchen, Helen“, brummte Delbert. Seine Hände, die weiter den Hals der Stute entlangstrichen, ließen diesmal offen, ob er ihre Tochter oder das Pferd meinte.

Sie wird hier draußen nicht überleben, nur, weil sie ein gutes Mädchen ist. Das war ich vielleicht auch mal, antwortete Helen in Gedanken. Dieses Land ist erbarmungslos. Ich habe es am eigenen Leib erfahren und du weißt das, Delbert. Wir beide sind die Einzigen, die von allen übrig sind. Die immer noch hier sind. Aber Helen schwieg. Vielleicht hatte Crystal diese weiche Art von ihm, denn auch wenn der Hüne nicht ihr leiblicher Vater war, so begleitete er das Mädchen schon weitaus länger, als Mason es getan hatte. Doch im Gegensatz zu Crystal nahm sich Delbert hier draußen wie eine uralte Stieleiche aus, der auch ein Blizzard nichts anhaben konnte. Um weich zu sein, benötigte man Stärke, schloss Helen den Gedanken und trat ebenfalls aus der Box. Sie erhaschte dabei noch einen Blick auf Crystals Gestalt, die wie eine Antilope über den vom Schnee befreiten Bereich vor dem Haupthaus entfloh.

„Sie wird eine gute Zeit haben, bis es ...“ Helen versuchte, ihre Tochter zu umarmen, doch das Gefühl, lediglich eine Holzpuppe zwischen den Händen zu halten, bremste sie aus. „Brennnesseln und Weidenrinde werden ihr die Schmerzen ertragen helfen und zur Sicherheit habe ich noch Opium mit auf den Zettel geschrieben. Wir können es verdünnt verabreichen.“ Helen ließ Crystal los. Das Mädchen war immer noch wütend. Helen schob sie etwas von sich weg. Versuchte, ihren Blick einzufangen. Wie groß das Mädchen geworden war. Helen musste kaum noch das Kinn senken, um in die blauen Augen ihrer Tochter zu blicken. Daran scheiterte es nicht. Crystal wich ihr aus. Helen wollte etwas sagen, das die Spannung zwischen ihnen auflockerte, doch sie fand keine Worte. Hilfe suchend glitt ihr Blick über das Mädchen und blieb am Hals hängen. Während der Umarmung war Crystals Schal verrutscht. Ein Gebilde aus Knochen, das in der Mitte etwas Honigfarbenes trug. Eine Kette? Bevor Helen die Frage, die sich ihr aufdrängte, laut formulieren konnte, raffte Crystal schnell den Schal zusammen. Dabei zog eine leichte Röte über ihre Wangen. Von Jocey wahrscheinlich, dachte Helen und setzte ein verständnisvolles Lächeln auf.

Crystal nutzte die Gelegenheit, rückte einen Schritt zurück und drehte sich von ihrer Mutter weg. Ging zu ihrem Pferd und schwang sich in den Sattel. „Delbert“, verkündete sie mit einem Tonfall, der Helen innerlich fast zum Lachen brachte. Genau die Mischung aus Frage und Befehl, der zu einer Ranchbesitzerin passte.

Der Riese machte das Spiel mit, zog sich den zerknautschen Lederhut vom Kopf, presste ihn kurz vor die breite Brust und fügte ihm so noch weitere Falten zu. Dabei neigte er den Kopf.

„Die Einkaufsliste?“, fragte Helen.

Delbert stülpte sich den Hut zurück und deutete, schuldbewusst, als hätte die Frage ihm gegolten, mit dem Finger auf Crystal.

„Ich kann ja eh nich’ les’n.“

Helen nickte. Sie blickte zum Himmel. Dieser zeigte sich in einem strahlenden Blau, nur wenige Wolkenstreifen harmonierten in ihrer Farbe und Leichtigkeit mit dem Schnee, der das Land über weite Flächen bedeckte. Und dennoch, dachte Helen, das Wetter war oft trügerisch.

„Wenn ...“, hob sie, diesem Gedanken folgend, laut an, doch diesmal unterbrach Crystal ihre Mutter: „Wenn plötzlich ein Schneesturm kommt, dann bleiben wir über Nacht in der Stadt.“ Sie sagte es mit einem Tonfall, dem Helen deutlich entnahm, dass ihre Tochter ziemlich wenig dagegen hatte, etwas länger als nur den Nachmittag in Old Creek zu verbringen. Abstand zwischen sich und ihrer Mutter zu bringen. Doch bevor Helen dazu etwas sagen konnte, schob sich der Karren, den Delbert kutschierte, zwischen die beiden. Er ließ die Zügel leicht auf die Hinterteile der Maultiere klatschen und nickte Helen noch einmal zu. Sie wird sich schon wieder fangen, schienen seine Augen unter den dichten Augenbrauen zu sagen. Und ich pass auf sie auf.

Ja, dachte Helen und hob die Hand, um den beiden hinterher zu winken. Doch auf halber Höhe hielt sie inne und senkte den Arm langsam wieder. Als Reiterin und Karren aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren, gab Helen sich einen Ruck und drehte sich um. Es gab genügend zu tun auf der Ranch, bevor die Sonne unterging. Kein Grund, hier rumzustehen und auf die Straße zu schauen.

Kapitel 2

Einige Meilen weiter nordöstlich trat eine Frau auf die Veranda eines Farmhauses: „Sieh zu, dass du fertig wirst, bevor dein Vater zurückkommt!“ Rettie Winspear stemmte die Hände in die Hüften und schaute zu dem Klohäuschen, das einige Schritte abseits in der Nähe des Schweinepferches stand. Dort mischten sich die Gerüche der beiden Areale zu einer Einheit, die nur bei Südwind zum Haupthaus herübergeweht wurde, und der war hier selten. „Und wasch dir die Hände, bevor du ins Haus kommst“, fügte Rettie hinzu. Wohl wissend, dass Doyle dort eigentlich nur saß, um sich vor der Hausarbeit zu drücken und eine dieser Dimenovels zu lesen, die ihm Friedman, der Barbier von Old Creek, immer zusteckte, nachdem sie von seinen Kunden fast bis zur Unkenntlichkeit zerfleddert worden waren. Rettie hatte insofern nichts dagegen, dass sie dem alten Friedman in der Hinsicht zustimmte, dass Lesen durchaus wichtig sei, auch wenn es erfundene Geschichten über legendäre Wild-West-Helden waren. Besser als gar nicht lesen. Dennoch. Wer vom Outhouse kam, hatte sich die Hände zu waschen. Gerade wollte Rettie ihrer Einstellung noch einmal mit einer entsprechenden Äußerung Nachdruck verleihen, doch eine Bewegung am Rande ihres Gesichtsfeldes unterbrach sie. Die Farmerin wandte den Kopf in Richtung Nordosten.

Von der Sonne, die sich hinter dem Haus anschickte, langsam hinter der Bergkette zu verschwinden, in einen rötlichen Schein getaucht, näherten sich vier Reiter.

Rettie blinzelte.

Die Männer kamen in einem lockeren Trab rasch näher und so konnte sie bald Einzelheiten ausmachen.

Drei Weiße und eine Rothaut. Die Gesichter der Ersteren waren hinter dicken Tüchern verborgen, um sich vor dem schneidenden Winterwind zu schützen. Die Krempen ihrer Hüte warfen tiefe Schatten, sodass kaum die Augen zu sehen waren. Mit Fell besetzte Mäntel hingen über die Rücken ihrer Pferde. Die Reiter brachten ihre Pferde einige Schritte entfernt vor der Veranda zum Stehen. Bis auf einen. Dieser ließ sein Tier noch ein paar Schritte weiter gehen, bevor er es ausbremste. Allein diese Bewegung genügte, dass Rettie ein ungutes Gefühl erfasste und sie sich dazu zwingen musste, nicht zurückzuweichen.

„N’abend, Ma’am“, ertönte die durch den Stoff des Tuches dumpf klingende Stimme des Mannes. Sein Zeigefinger tippte kurz gegen die Krempe. In der gleichen Bewegung hob er das Kinn und Rettie blickte in tiefbraune Augen unter Brauen, die von Farbe und Beschaffenheit an Dachsschwänze erinnerten. „Hätten Sie vielleicht die Güte, ein paar müden Reitern die Gelegenheit zu geben, ihren Pferden einen Schluck Wasser zu gönnen und selbst ein wenig die Beine an einem Kaminfeuer auszustrecken?“

Rettie konnte sehr deutlich erkennen, wie der Blick des Mannes zu dem über dem Dach des Hauses hinter ihr aufsteigenden Rauch wanderte. Ebenso, wie sie selbst in diesem Augenblick den Duft des Eintopfes, der über dem Feuer vor sich hin köchelte, übertrieben detailliert wahrnahm. Als würde dieser fast mit den Händen greifbar durch die angelehnte Tür herauswabern.

„Wir ...“, setzte Rettie an. Ihre Hände begannen unwillkürlich, die Schürze zu kneten. Sie hatte kein gutes Gefühl bei den Kerlen. Dennoch bemühte sie sich, dem Sprecher weiter ins Gesicht zu sehen. Bloß nicht zum Klohäuschen schauen. Hoffentlich blieb der Junge da drin. Doyle war neugieriger als eine Katze und diese Kerle sahen genau so aus, wie es sich so ein Bengel mit viel zu viel Phantasie vorstellte. Revolverschwinger. Rettie verdrängte die Gedanken und räusperte sich. „Bis nach Old Creek sind es nur noch ein paar Meilen.“ Erleichtert darüber, dass ihr diese Antwort eingefallen war, deutete Rettie nach Südwesten.

Der Reiter folgte dieser Geste allerdings nicht. Er senkte lediglich das Kinn wieder und seine Stimme klang jetzt etwas leiser. Was nicht am Tuch vor dem Mund lag, sondern dem gespielt enttäuschten Tonfall, den der Mann jetzt aufsetzte: „Sie wollen uns wirklich bei dem Wetter noch weiter durch die Wildnis jagen?“

Auch wenn es eigentlich unsinnig war, ertappte sich Rettie dabei, wie ihre Augen den Himmel absuchten. Was sie sah, waren von der untergehenden Sonne in einen rosa Farbton getauchte, weiße Wolkenstreifen vor einem ansonsten klaren Blau, das allmählich in ein sanftes Grau überging.

„Wir sind nicht auf Gäste eingestellt, Mister“, versuchte Rettie, ihrer Stimme etwas festeren Klang zu verleihen. „In Old Creek gibt es ein Hotel und ...“ Der Mann hatte nichts getan, um die Frau auf der Veranda zu unterbrechen, und dennoch stockte Rettie.

„Ich befürchte, dass wir die Stadt vor dem Blizzard nicht mehr erreichen werden, Ma’am.“

„Blizzard“, wiederholte Rettie flüsternd und schaute noch einmal zum Himmel. Wo blieb Friedrich bloß?

Der Mann nickte. „Mein Freund hier“, er deutete auf die Rothaut, die sich etwas abseits von den anderen ­beiden Männern hielt, „hat die Fähigkeit, solche Sachen vorherzusagen. Glauben Sie mir, Ma’am, ein Blizzard wird kommen und sie sind doch sicherlich eine gute Christin und werden vier armen Reitern bei so einem Unwetter nicht die Gastfreundschaft versagen?“

Rettie folgte der Handbewegung des Sprechers, als wären an seinen Fingerspitzen Fäden befestigt, deren Enden ihren Kopf dirigierten. Und wenn ihr schon die ganze Zeit über unwohl gewesen war, dann war es der Anblick dieses Mannes, den sie jetzt unwillentlich musterte, der ihre Gedanken fliehen ließ wie ein Rehkitz, das von einem Rudel Wölfen gejagt wurde. Die obere Hälfte seines Gesichtes war komplett schwarz bemalt, was seine Augen auf unheimliche Art wie die einer Krähe erscheinen ließ. Die schmalen roten Streifen, die von da an senkrecht bis zum Kinn liefen, verzerrten die Züge zu einer dämonischen Fratze.

Christin? Unwetter? Wo blieb Friedrich? Warum hatte sie das Gewehr nicht mit auf die Veranda genommen? Warum? Weil sie doch nicht eine Waffe mitnahm, wenn sie ihren Sohn vom Klo holen wollte.

Das Chaos in Retties Kopf prallte von dem Gesicht des Indianers ab und dennoch glaubte Rettie, dass sein Blick sich unbarmherzig in ihr Innerstes bohrte und er jede ihrer Ängste aufnahm, wie Dylan die Buchstaben auf den Seiten seiner Dimenovels. Sie wusste: Er nahm ihre Panik wahr. Er verschlang ihr Grausen.