Lovecrafts Schriften des Grauens 37: Das Fest - Anton Serkalow - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 37: Das Fest E-Book

Anton Serkalow

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Beschreibung

Mit einer außergewöhnlichen Party will die Musikerin Fiona Schaller ihr Comeback-Album Die Masken des Nyarlathotep promoten. Als eine spielerisch gedachte Beschwörung völlig außer Kontrolle gerät, werden die als Bodyguard engagierte Sahila Atar und der Influence-Star Kay Boehm in grauenvolle Ereignisse verstrickt, die sie für immer miteinander verbinden und weit über die Grenzen alles bisher Vorstellbaren katapultieren.Die Menschheit ist nur eine, vielleicht die geringste, der hoch entwickelten, dominanten Rassen in der langen und weitgehend unerforschten Geschichte dieses Planeten. DER SCHATTEN DER ZEIT von H. P. Lovecraft

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Seitenzahl: 205

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In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume2104 Jörg Kleudgen & Uwe Voehl Stolzenstein2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 22118 Alfred Wallon Salzburger Albträume2119 Arno Thewlis Der Gott des Krieges2120 Ian Delacroix Catacomb Kittens2121 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 32122 Tobias Reckermann Gotheims Untergang2123 Michael Buttler Schatten über Hamburg2124 Andreas Zwengel Finsternacht2125 Silke Brandt (Hrsg.) Feuersignale2126 Markus K. Korb Treibgut2127 Tobias Reckermann (Hrsg.) Drommetenrot2128 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 42129 Peter Stohl Das Hexenhaus in Arkheim2130 Silke Brandt (Hrsg.) Das Kriegspferd2131 Anton Serkalow Berge des Verderbens2132 Klaus-Peter Walter Sherlock Holmes gegen Cthulhu2133 T. E. Grau Diese alten und dreckigen Götter2134 Anton Serkalow Träume im Heckenhaus2135 Michael Buttler Die Astronautenvilla2136 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 52137 Anton Serkalow Das Fest2138 Julia A. Jorges Hochmoor2139Manuela Schneider Unbekannter Feind2140 Jörg Kleudgen & Uwe Voehl Halligspuk

Das Fest

Verfluchte Träume 1

Lovecraft’s Schriften des Grauens

Buch 37

Anton Serkalow

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

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© 2024 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a,  51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Korrektorat: Melanie Lübker

Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney

Logo: Mark Freier

Vignette: Jörg Kleudgen

Satz: Gero Reimer

2137v1

ISBN: 978-3-7579-7275-2

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Anmerkungen

„Vision ist die Kunst, Unsichtbares zu sehen.“ Jonathan Swift

KapitelEins

Im Fahrstuhl stank es nach Pisse, Bier und Hasch. Die Wände waren mit Tags vollgeschmiert, die Tafel mit den Knöpfen sah aus wie ein halb herausgerissenes Glied, das jetzt nur noch an einigen Sehnen baumelte.

Ein Wunder, dass das Ding überhaupt noch fährt, dachte Harald Offenberger, als er die Kabine bestieg und dabei den Eindruck hatte, dass diese wankte wie ein schlecht vertäutes Boot im Sturm. Die Treppen würden allerdings nicht viel besser aussehen, und der Gedanke, die ganzen Etagen bis nach oben zu laufen, bereitete ihm auch nicht gerade Vergnügen. Offenberger hatte solche Häuser zu Genüge gesehen. Plattenbauten, die selbst an einem Frühlingstag wie heute, bei Vogelgezwitscher und Blütenrausch, aussahen wie in Nebel aus Dreck gehüllt. Stahlbetonkonstruktionen, die zu vibrieren schienen wie ein Bienenstock auf Speed. Untermalt mit der Geräuschkulisse aus einem billigen Actionfilm: Gesprächsfetzen in allen möglichen Sprachen, Liebesdramen, ob aus dem TV oder dem Schlafzimmer, Rap, Schlager, Geschrei, Gelächter und Gestöhne.

Die Kids auf dem Spielplatz hatten sich von der Armada an Einsatzfahrzeugen vor dem Eingang nicht in ihren mitternächtlichen Beschäftigungen stören lassen. Vielmehr hatte Offenberger den Eindruck gehabt, dass sie den Wechsel aus Rot- und Blaulicht, der die Fassaden mit einem jeweiligen Farbfilter tränkte, als willkommene Lightshow für die Hip-Hop-Videos nutzten, die sie mit ihren Smartphones zwischen den Klettergerüsten, von denen die Farbe abblätterte, drehten. Smartphones, die vermutlich so viel kosteten, wie Offenberger im Monat verdiente.

Dass hier überhaupt jemand die Polizei gerufen hatte, war schon ein Wunder. Im Grunde war das doch eine völlig normale Atmosphäre für diese Uhrzeit in dieser Gegend. Damit allein war klar, dass etwas Großes im Gange war. Nicht einfach nur Ruhestörung aufgrund von häuslicher Gewalt, die an der Wohnungstür dann als etwas lauter gewordene Party erklärt wurde.

Ivo Dragicevic, der ihn vor dem Haupteingang in Empfang genommen hatte und jetzt neben ihm stand, bestätigte die Vermutung des Hauptkommissars, ohne dass dieser fragen musste.

„Die Geräusche, die aus der betroffenen Wohnung gekommen sind, waren dann wohl auch für die Verhältnisse hier etwas zu …“ Dragicevic machte eine Pause und wischte auf seinem Tablet, das er wie eine antike Statue ihre Tafel mit den eingemeißelten Hieroglyphen im Unterarm balancierte, herum. „Ungewöhnlich.“

Was war nur aus den guten alten Notizblöcken geworden, dachte Offenberger. „Was wissen wir bisher über das Opfer?“, fragte er laut.

„Bisher heute Abend eigentlich nichts Auffälliges. Der Kerl hat wohl öfter mal ziemlich laute und seltsame Musik gehört.“

Offenberger zog eine Augenbraue in die Höhe. „Das will schon was heißen in dieser Gegend. Wer sagt das?“

„Der Nachbar. Meinecke. Justus Meinecke, der den Notruf gewählt hat. Ich habe vorhin seine Aussage aufgenommen.“ Dragicevic wischte wieder über sein Tablet und eine männliche Stimme erklang, die zeigte, dass der Kommissar die Formulierung wortwörtlich gemeint hatte. „Ziemlich absonderliche Klänge, deren Harmonien in keinerlei Beziehung zu irgendeiner mir bekannten Musik standen, die mich aber durchaus in ihren Bann schlugen“, tönte es aus dem Tablet.

„Bitte?“

Dragicevic zuckte mit den Achseln.

„Ist der Kerl … dieser …“

„Meinecke, Justus Meinecke.“

„… ist der Musiker? Komponist oder so?“

„Nein. Er studiert Informatik.“

„So redet doch kein normaler Mensch.“

„Nun ja, Chef.“ Dragicevic blickte demonstrativ auf sein Tablet. Ja, schon verstanden, murmelte Offenberger im Stillen. Ich bin zu alt für so einen Quatsch.

 „… aber heute Abend, also so ab ungefähr 21:30 Uhr, wurde die Musik immer absurder. Grauenhafter als alles, was ich je gehört habe. Verstehen Sie mich nicht falsch.“

„Lassen Sie sich Zeit.“

„Also … ähm … ja. Gut. Ich meine, es klang, als würde er versuchen, Lärm statt wie bisher Musik zu erzeugen. Lärm, der aus Angst heraus entsteht, um etwas zurückzudrängen oder zu übertönen. Verstehen Sie? So, als würde man im Wald ein Wildschwein anschreien und in die Hände klatschen, damit es einen nicht angreift. Das war eher ein irrwitziges Spiel, fiebrig und hysterisch zugleich, das aber dennoch bis zum Letzten von der überragenden Genialität des Musikers zeugte …“ Dragicevic spürte den Blick des Hauptkommissars. Er zuckte mit den Schultern und stoppte die Aufnahme. Ein Pling ertönte und die Tür zum Aufzug öffnete sich mit einem Stöhnen, wie ein alter Mann, der sich kaum noch aus dem Sessel hieven konnte.

„Und darum hat er die Polizei gerufen?“

Vor den beiden Polizisten erstreckte sich links und rechts ein schmaler Flur. Das Linoleum auf dem Boden hatte längst Blasen geschlagen, die Farbe ließ keine Rückschlüsse darauf zu, ob es sich um ein gewolltes Muster oder den Dreck der Jahrzehnte handelte, der sich hineingefressen hatte. Der Ton, in dem die Wände getüncht waren, erinnerte Offenberger an Erbrochenes. Mehrere der Lampen an der Decke waren blind, andere flackerten. Der Geruch von gewachsten Spänen mischte sich mit dem von gekochtem Kohl, scharfem Curry, Chlorbleiche und billigem Weichspüler, wobei Letzterer offenbar im Versuch, die anderen Düfte zu übertünchen, exzessiv zum Einsatz gebracht wurde.

Auch wenn die Beamten vor Ort alle Leute erfolgreich wieder in ihre Wohnungen zurückgedrängt hatten, glaubte Offenberger, nur allzu deutlich die Gesichter zu erahnen, wie sie sich von hinten gegen die Pressspantüren drückten. Die Augen hinter den verschmierten Spionen zusammengekniffen.

„Den Notruf hat er informiert wegen eines lauten, wilden Kreischens und Wimmerns, begleitet von einem Krachen.“ Dragicevic deutete in den Flur. „Wegen dem da!“

„Das waren wohl nicht wir“, murmelte Offenberger. Dies war nicht als Frage gemeint, denn es war zu offensichtlich, was sich den beiden Polizisten darbot.

Der einzige Abschnitt des tristen Flures, der mit Neonstrahlern in schon fast schmerzhafte Helligkeit getaucht war, zeigte die leere Zarge, während die Tür zu der Wohnung verbogen und halb geborsten auf der Erde lag. Was allerdings an ein physikalisches Wunder grenzte, denn der billige Pressspan war von innen mit mehreren schweren Metallriegeln und Schlössern gesichert gewesen.

„Nein. Dann würde die Wölbung ja in die andere Richtung gehen“, antwortete Dragicevic dennoch.

Wölbung war eine ziemliche Untertreibung für das Bild, das die Tür bot. Sie sah aus, als wäre sie lediglich ein Blatt Papier gewesen, das jemand von innen mit einem Tritt zerfetzt hatte. Und das trotz der Verriegelungen.

Die Beamten, die im Flur standen, nickten dem Kommissar zu.

„Dass ihr das Ding überhaupt aufbekommen habt.“

Einer der Polizisten, der die Ramme neben sich an die Wand gelehnt hatte, antwortete: „Wenn die Tür nicht schon von innen halb aus den Angeln gehebelt worden wäre, wären wir wahrscheinlich jetzt noch nicht drin. Die ganze Wohnung ist gesichert wie Fort Knox. Selbst die Fenster sind von innen mit Stahlplatten verschraubt.“

„Er hat wohl sehr zurückgezogen gelebt, sich Essen und Einkäufe immer nur liefern lassen. Die wurden dann vor die Tür gestellt. Bezahlt vermutlich online“, gab Dragicevic Auskunft.

„Was zum Teufel hat das dann da geschafft“, fragte Offenberger und deutete mit dem Kinn auf die verbogenen Metallschienen, die das zersplitterte Kunstholz zusammenhielten.

„Na, dafür sind Sie ja jetzt hier, Offenberger“, antwortete der Polizist mit der Ramme. „So etwas wie da drinnen haben selbst Sie noch nicht gesehen. Fragen Sie den da.“ Der Beamte zeigte grinsend auf einen jüngeren Polizisten. Dieser lehnte an der Wand. Sein Gesicht wies den gleichen Farbton wie die Mauer hinter ihm auf. Auf seiner Stirn stand Schweiß und er presste ein Papiertuch, wie man es aus Spendern auf Toiletten bekam, vor den Mund.

„Ja. Das …“, setzte Dragicevic an, schwieg dann aber.

Zwei Gestalten in weißen Ganzkörperanzügen, die bei jeder Bewegung ein Knistern von sich gaben und Offenberger auch nach all den Jahren immer an Astronauten denken ließen, schritten gerade nacheinander aus der Tür in den Flur.

Ohne dass Offenberger hineintreten musste, bot sich ihm so jetzt bereits ein ungeschöntes Bild der dahinter liegenden Einzimmerwohnung. Er verschwendete keine einzige Hirnzelle daran, sich mit dem Erfassen von Einzelheiten zu beschäftigen, was die Inneneinrichtung anbelangte. Das Wesentlichste, was er sofort abspeicherte, wie eine Kamera, war die groteske Gestalt des Opfers, die vor ihnen auf dem Boden lag. Sie erinnerte Offenberger an ein Kunstobjekt, das vor etlichen Jahren – wahrscheinlich Jahrzehnten, fügte er in Gedanken hinzu – mal für ziemlichen Wirbel gesorgt hatte. Da hatte irgendein Typ eine Kuh in einzelne Streifen geschnitten, diese irgendwie in Glasscheiben konserviert und sie hintereinander angeordnet. Nur dass dieser Körper hier nicht vollständig war. Er war der Länge nach einmal halbiert worden. Es sah aus, als hätte er zu dem Zeitpunkt noch gestanden und die Glasplatte hatte ihn genau in der Mitte guillotiniert. Dann war die Scheibe wieder entfernt worden, der Körper hatte jeglichen Halt verloren und war zu Boden gesackt. Nur fehlte die andere Hälfte. Nichts in dem Rest des Raumes deutete darauf hin, dass sie je existiert hatte. Selbst wenn sie der Täter mitgenommen hatte, die einzigen Spuren von Blut, zerschnittenen Organen, Knochen, Muskeln und Sehnen waren dort zu finden, wo der Halbierte auf dem Boden lag. Von der zerstörten Tür abgesehen, erschien alles andere im Innern der Wohnung unbeschädigt.

„Das ist das, was von dem Bewohner noch übrig ist“, sagte Dragicevic. „Nachdem, wie der Nachbar gesagt hat, irgendwann mit einem Mal Ruhe war. Von einem Moment auf den anderen. Als hätte man einen Schalter umgelegt.“

„Ich habe so etwas Ähnliches schon mal gesehen“, murmelte Offenberger.

„Wirklich?“

Der Kommissar nickte. Er versuchte, sich von dem Vordergründigen abzulenken und seinen Blick jetzt auf andere Kleinigkeiten zu richten. „Ist schon ’n paar Jahre her. Die Geschichte damals im Heckenhaus.“

Dragicevic nickte. „Der Büroturm, der seitdem leer steht. Die Sache mit diesem sogenannten Fahrstuhlritual. Das ging ja ausführlich durch die Presse. Aber keine Einzelheiten zum Zustand der aufgefundenen Toten.“

„Die Frau, die wir im Aufzug gefunden haben, sah an Armen und Beinen genauso aus wie …“ Offenberger deutete mit dem Kinn zu dem entstellten Körper. „Allerdings haftete sie auf irgendeine Art und Weise, die wir niemals erklären konnten, noch an den Spiegelwänden. Erst als wir sie abgeschnitten haben, sah es so aus.“

„Nur dass die Spiegelwände hier fehlen“, ergänzte Dragicevic leise.

Offenberger nickte. „Aber den Rest, also die Hände und Füße, haben wir damals auch nie gefunden.“

„Wahnsinn“, murmelte Dragicevic.

Du sagst es, gab Offenberger still zurück. Dass ich genau so einen Scheiß noch einmal erleben muss. Ein paar Wochen vor der Pensionierung. Das war doch wohl ein schlechter Witz. Er erfasste einige Details. Elektronische Geräte, die er als Mischpulte, Synthesizer und Equipment, wie man es in einem Musikstudio aus dem Fernsehen kannte, identifizierte. Schien ziemlich teures Zeug zu sein. Passte irgendwie gar nicht hierher. Die Wände waren mit diesen Styroporplatten verkleidet, die aussahen wie Eierkartons. „Dennoch hat dieser Meinecke ihn gehört?“

„Wohl nur manchmal.“

Offenberger schüttelte den Kopf und betrachtete einige Bilderrahmen, die an den Wänden hingen. Auszeichnungen in Form von Goldenen Schallplatten. Hätte ja nie gedacht, dass es so was heute noch gibt. Aber eine vergoldete MP3-Datei als Preis war ja wohl auch Quatsch, oder?

„Er war mal eine ziemlich große Nummer gewesen“, sagte Dragicevic, der dem Blick des Kommissars gefolgt war. Dann begann er, eine Melodie zu summen.

Offenberger hörte dem ein paar Sekunden zu und gab dann ein unbestimmtes Brummen von sich.

Dragicevic, der gerade dabei war, den Körper etwas hin und her zu wiegen und die Arme zu heben, erstarrte und verstummte. „Kennen Sie nicht? Das wurde mal in diesem Jeanswerbespot verwendet. Er war früher DJ und Elektronikmusiker. Ziemlich bekannt. Hat einen Haufen Geld verdient, Tourneen, Filmsoundtracks, so Sachen halt … bis er …“ Dragicevic wischte wieder über sein Tablet. „Soweit ich im Internet herausgefunden habe, wandte er sich irgendwann so krudem Esoterikkram zu. Ging dann auch in die Richtung von Verschwörungserzählungen und so. Die haben ihn gefeiert. Er hat Musik komponiert, die mathematisch auf der Umdrehung der Planeten unseres Sonnensystems beruhte und gesagt, dass er auf der Suche nach dem Sound sei, der Materie, der die Dimensionen, also das gesamte Universum zusammenhält. Dass seine Musik allerdings nur der Schatten von Musik sei, die in einem Traum erklingt.“

Offenbergers Blick wurde bei diesen Worten von einem Plakat angezogen, das an einer Wand hing. Eine bleiche Gestalt, mit schwarzen Augen, in denen zwei Sterne kalt glitzerten.

„Sandman. Lord Morpheus, der Herr der Träume, der Gestalter. Das war sein Künstlername, den er für die letzten Produktionen angenommen hatte, bevor er vor zwei Jahren von einem Tag auf den anderen komplett von der Bildfläche verschwand. Seitdem keinen einzigen Auftritt mehr in der Öffentlichkeit. Nichts. Keine Homepage, kein Social Media. Nada. Stattdessen, wie wir jetzt wissen: Rückzug hier in den Plattenbau.“

„Wo er sich verbarrikadierte, als sei der Teufel hinter ihm her“, sagte Offenberger.

„Was ihm nichts genützt hat.“ Dragicevic hielt seinem Vorgesetzten das Tablet hin. Offenberger blickte in ein fratzenartiges, satyrhaftes Gesicht mit blauen Augen und beinahe kahlem Schädel. Der Fotografierte schien über die Aufnahme halb verärgert und halb verängstigt zu sein. Die Ähnlichkeit zu dem halbierten Antlitz des auf der Erde liegenden Toten war offensichtlich. Unter dem Bild stand ein Name: Eric Zann.1

KapitelZwei

Der Mann schlug blitzschnell zu.

Das Mädchen reagierte ebenso rasch, wehrte den Schlag ab, doch der Mann ließ ihr keine Zeit, nachzusetzen. In einer kaum nachvollziehbaren Bewegung drehte er den Körper leicht zur Seite und trat mit dem rechten Bein gegen die Hüfte des Mädchens. Sie taumelte – nur den Bruchteil eines Augenaufschlages lang –, dann fing sie sich wieder. Wich aus, beugte den Oberkörper vor, brachte die Taille nach hinten und packte das Bein des Mannes, im selben Moment, in dem er noch nicht wieder mit den Füßen einen sicheren Stand erreicht hatte. Gleichzeitig schoss der rechte Arm des Mädchens nach vorn. Die nach oben gestreckte Hand traf die Brust des Mannes. Kaum, dass die Berührung erfolgte, trat sie vor und rammte ihre Schulter hinterher. In der gleichen Bewegung zog sie das immer noch gepackte Bein höher. Sie nutzte die gesamte Energie ihrer Bewegungen und der des Angreifers und brachte ihn so zu Fall.

Gemeinsam gingen sie zu Boden. Das Mädchen allerdings oben. Triumphierend blieb sie auf der Brust des Mannes sitzen. Die Oberschenkel seitlich an seine Rippen gepresst. Der Mann klopfte mit der flachen Hand auf die Matte.

„Sehr gut, Mel.“ Sahila klatschte in die Hände und das Mädchen gab den am Boden Liegenden frei. Beide sprangen auf. Verbeugten sich voreinander und traten dann jeweils ein paar Schritte zurück. Sahila ging zwischen sie. „Allerdings solltest du schneller von ihm wieder runterkommen. Vergiss nicht: Die Kerle da draußen sind nicht so nachsichtig wie er.“ Sie nickte kurz in Richtung des Mannes.

„Ich habe keine Rücksicht genommen …“, setzte der Mann an.

„Danke, Youssouf“, unterbrach Sahila. Youssouf verstummte, legte die Handflächen auf Brusthöhe aneinander und verbeugte sich.

Sahila klatsche noch einmal in die Hände.

„Für heute ist Schluss. Danke, dass ihr alle da wart!“ Trotzdem ihr zu Hause duschen müsst, fügte sie in Gedanken hinzu. Sind wir froh, dass die Heizung wenigstens noch nicht abgestellt wurde.

Die Mädchen strömten zur Umkleidekabine.

„Sie ist die Beste von allen“, sagte Youssouf, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

„Ich weiß“, antwortete Sahila. „Dennoch ist das hier immer nur eine Trainingssimulation. Ich weiß, dass du dich kaum zurücknimmst.“ Youssouf holte Luft, doch Sahila hob die Hand. „Du kannst mir nichts vormachen. Du würdest niemals ein Mädchen richtig angreifen.“

Youssoufs Wangen über dem am Unterkiefer verlaufenden Bart färbten sich dunkel.

Sahila grinste. „Weil du weißt, dass du es dann automatisch mit mir zu tun bekommst.“ Ohne Vorwarnung schoss sie nach vorn und brachte Youssouf in einer Bewegung zu Fall, der kaum ein Beobachter hätte folgen können. Nicht einmal dem Mann selbst gelang es, den Angriff der Frau in irgendeiner Art zu kontern. Noch bevor sein Hirn die entsprechenden Befehle an die Muskeln und Gelenke ausformuliert hatte, lag er schon am Boden und Sahila stand wieder am Ende der Matte, als hätte sie diesen Punkt nie verlassen.

Youssouf blieb einen Moment liegen. Erst als Sahila ihm die Hand entgegenstreckte, raffte er sich in die Höhe, ergriff sie und ließ sich hochhelfen. Der Versuchung, Sahila dabei nach hinten zu sich zu ziehen, widerstand er, als er sah, dass die Frau ihr rechtes Bein einen halben Schritt nach vorn setzte und die Muskeln unter der Haut sich deutlich anspannten.

„Brauchst du mich noch, Chef?“, fragte er, als er wieder stand.

Sahila warf einen Blick zu der großen Uhr, die an der Wand der Halle über der geöffneten Tür zum Sportgeräteraum hing, und schüttelte den Kopf.

„Dann bis morgen“, sagte Youssouf und drehte sich um.

„Grüß Zeynep von mir“, rief ihm Sahila hinterher, bevor er durch die Tür verschwand. Youssouf signalisierte ihr mit einem Winken, dass er dem Wunsch nachkommen würde.

Während aus der Umkleide die Stimmen der Mädchen gedämpft drangen, machte sich Sahila daran, die Sportgeräte einzusammeln und in den angrenzenden Raum zu bringen. Sie ließ sich Zeit dabei. Durch die schmalen Fenster unter der Decke fiel das schmutzig gelbe Licht der Straßenlaternen, die mühsam gegen die Trübheit eines typischen Spätnachmittags ankämpften, und mischten sich mit den LEDs im Innern der Halle.

Sahila rückte ein paar Matten auf dem Stapel gerade, als würde es darauf ankommen, dass diese plan lagen. Rollte ein paar Petzibälle in ihrer Halterung hin und her und sortierte die Hanteln nach Gewicht in den Holzkästen. Sie warf einen abschließenden Blick in den Raum und trat rückwärts hinaus. Gerade wollte sie die Tür schließen, da unterbrach ein Räuspern sie. Sie fuhr ruckartig herum. Die Hände zur Abwehr erhoben.

„Frau Atar? Sahila Atar?“

Im Eingangsbereich zur Halle stand ein Mann in der gleichen Haltung wie die Obdachlosen, die sich hinter dem Bahnhof über Tonnen die Hände am Feuer wärmten. Dieses Bild wurde allerdings durch den Anzug konterkariert, den Sahila auf den ersten Blick als maßgeschneidert und extrem teuer einstufte. Ein Hauch von Parfüm, herb, aber irgendwie doch viel zu süß, wehte zu ihr herüber.

„Wenn Sie Ihre Tochter zu einem Kurs anmelden wollen, muss ich Sie leider enttäuschen. Zurzeit kann ich keine Neuen aufnehmen.“ Ich weiß nicht einmal, ob ich das je wieder kann, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Oh, nein, Frau Atar, ich bin gekommen, da ich Sie selbst engagieren möchte.“

Das Gesicht des Kerls hatte etwas Rattenartiges, fand Sahila. Sie schloss die Tür und drehte sich dann vollständig zu ihm um.

„Walter Gilmann, Manager und PR-Berater.“

„Ich arbeite ausschließlich für und mit Frauen“, unterbrach Sahila den Mann.

Gilmanns Nagergesicht verzog sich zu einem schmallippigen Lächeln. Seine Hände bewegten sich, als würde er sie gerade eincremen. „Das weiß ich, Frau Atar, das weiß ich. Ich möchte Sie auch nicht für mich engagieren, sondern für meine Auftraggeberin, Frau Fiona Schaller.“

Sahila erwiderte nichts. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, behielt die Füße fest auf dem Boden, die Beine leicht gespreizt. Gilmann behielt die Pose des Rumpelstilzchens bei, das nur kurz in seinem Tanz um das Feuer innegehalten hatte und darauf wartete, dass die Prinzessin endlich den Namen errät. Als diese immer noch nicht reagierte, setzte er nach: „Fiona Schaller? Die Sängerin und Musikerin?“

Sahila schwieg weiterhin.

„Gut. Nun ja, vielleicht … ist ja auch nicht so wichtig. Frau Schaller plant endlich ihr Comeback und nach dem Ereignis wünscht sie sich jemanden, der für ihre Sicherheit.“ So, wie er das Wort dem betont hatte, ging er wohl davon aus, dass Sahila das betreffende Ereignis, auf das er damit hindeutete, bekannt war. Da sie aber nicht einmal etwas mit dem Namen anfangen konnte …

„Ich arbeite nicht mehr als Bodyguard“, sagte sie. Schon gar nicht für irgendwelche verwöhnten Tussis, die nach einem Entzug, einer Abtreibung, einer medienwirksam inszenierten Trennung oder was auch immer Aufsehenerregendes geschehen war, wieder ins Rampenlicht wollten, fügte sie im Stillen hinzu.

Gilmann zuckte kurz zusammen, als hätte Sahila ihn geohrfeigt. Offenbar war er keine Absagen gewöhnt. Was dann wohl auch für seine Auftraggeberin gelten dürfte, konnte sich Sahila gut vorstellen.

„Nun das ist schade, Frau Atar“, sagte er leise. Eine Hand wanderte in die Innentasche seines Jacketts und holte ein silbernes Etui hinaus. Ein silbernes Etui! Dem er doch tatsächlich eine Visitenkarte entnahm. Dabei ließ er seinen Blick durch die Halle schweifen. „Frau Schaller wäre auch bereit, ein großzügiges Honorar weit über den üblichen Konditionen der Branche zu bezahlen. Nach dem Vorfall damals ist ihr mehr als nur bewusst, dass ihre Sicherheit und ihre körperliche Unversehrtheit nahezu unbezahlbar sind.“

„Ich kann Ihnen ein paar Kolleginnen empfehlen“, unterbrach Sahila Gilmann, da ihr sein salbungsvoller Ton auf die Nerven ging.

„Frau Schaller wollte nur die Beste“, erwiderte er. Dann legte er die Visitenkarte auf die Bank, die vor der Sprossenwand neben der Eingangstür stand. „Wenn Sie es sich anders überlegen. Es ist noch etwas Zeit. Die Veranstaltung, um die es geht, ist erst in ein paar Wochen.“ Gilmann tippte sich an eine imaginäre Hutkrempe und drehte sich um. „Ich empfehle mich.“ Beim Hinausgehen erkannte Sahila, dass er ein Bein etwas nachzog. Der Ratte hatte wohl mal jemand eins übergezogen. Aber dass sie mit dem Leben davongekommen war, sprach durchaus für sie, ging es Sahila durch den Kopf, bevor sie den Gedanken verhindern konnte.

* * *

„Na, Süße? Was quält dich?“ Barb legte eine Serviette vor Sahila auf den Tresen und platzierte dann einen Gin Tonic darauf. Daneben stellte sie ein Schälchen mit Erdnüssen.

Statt einer Antwort holte Sahila lediglich tief Luft, legte den Brief, den sie in den Händen gedreht hatte, beiseite und hob das Glas.

Barb entging der Umschlag nicht.

„Die Immobilienfirma?“ Sie hatte das Logo des Absenders natürlich erkannt. Jeder hier im Viertel kannte es.

Sahila trank einen Schluck, spürte der herben Frische des Drinks nach und stellte das Glas dann zurück. Sie behielt es in den Fingern, als sie antwortete: „Die neuen Eigentümer.“ Sie spuckte das Wort regelrecht aus. „Mir wäre es lieber, wenn irgendwelche osteuropäischen Mafiakerle sich hier breitmachen wollen würden. Damit käme ich klar. Mit denen könnte ich umgehen. Aber nicht mit diesen …“ Sie wedelte mit der freien Hand in Richtung des Briefes. „Anwälten“, spie sie. „Sie behaupten, die Duschen entsprächen nicht den aktuellen Hygienevorschriften und jetzt sind sie noch der Meinung, dass die Heizung saniert werden müsse. Wenn sie die auch noch abdrehen, kann ich dichtmachen.“

Barb schwieg. Blieb aber dennoch gegenüber von Sahila stehen. So früh am Abend war in der Black Lodge