Lovecrafts Schriften des Grauens 41: Die Aussenseiter - Anton Serkalow - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 41: Die Aussenseiter E-Book

Anton Serkalow

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Beschreibung

Nur wenige Tage sind seit den Ereignissen aus dem Roman Das Fest vergangen. Unabhängig voneinander versuchen Sahila und Kay wieder ein normales Leben zu führen. Dann stößt Sahila in einem Hotel auf einen uralten Schrecken. Unterdessen verwandelt sich für Kay der Job in einem Museum in einen grauenvollen Albtraum. Beide müssen erkennen, dass der Schleier über ihrer jeweiligen Realität trügerisch ist.

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In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Voehl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim

2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür

2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo

2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen

2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 2

2118 Alfred Wallon Salzburger Albträume

2119 Arno Thewlis Der Gott des Krieges

2120 Ian Delacroix Catacomb Kittens

2121 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 3

2122 Tobias Reckermann Gotheims Untergang

2123 Michael Buttler Schatten über Hamburg

2124 Andreas Zwengel Finsternacht

2125 Silke Brandt (Hrsg.) Feuersignale

2126 Markus K. Korb Treibgut

2127 Tobias Reckermann (Hrsg.) Drommetenrot

2128 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 4

2129 Peter Stohl Das Hexenhaus in Arkheim

2130 Silke Brandt (Hrsg.) Das Kriegspferd

2131 Anton Serkalow Berge des Verderbens

2132 Klaus-Peter Walter Sherlock Holmes gegen Cthulhu

2133 T. E. Grau Diese alten und dreckigen Götter

2134 Anton Serkalow Träume im Heckenhaus

2135 Michael Buttler Die Astronautenvilla

2136 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 5

2137 Anton Serkalow Das Fest

2138 Julia A. Jorges Hochmoor

2139Manuela Schneider Unbekannter Feind

2140 Jörg Kleudgen & Uwe Voehl Halligspuk

2141 Anton Serkalow Die Aussenseiter

2142 Jörg Kleudgen & Uwe Voehl Halligspuk

2143 Tobias Reckermann (Hrsg.) Kryptologicae

2144 Michael Blihall Die Brücke

Die Aussenseiter

Verfluchte Träume No.02

H.P. Lvecrafts Schriften des Grauens

Buch 41

Anton Serkalow

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

© 2024 Blitz Verlag

Ein Unternehmen der SilberScore Beteiligungs GmbH

Mühlsteig 10 • A-6633 Biberwier

Redaktion: Danny Winter

Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney

Logo: Mark Freier

Vignette: Jörg Kleudgen

Satz: Gero Reimer

2141 vom 27.07.2024

ISBN: 978-3-689-84052-5

Inhalt

Die Aussenseiter

Nachwort

Über den Autor

„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes.“

Salvador Dalí

Die Aussenseiter

Kommissar Ivo Dragicevic starrte auf die aktuelle Nachrichtenseite, die er wie jeden Morgen auf seinem Tablet aufgerufen hatte. Seine Hand, die bereits auf dem Weg zur Kaffeetasse war, um diese zu ergreifen, verharrte.

„Das ist ...“, murmelte er leise, ohne den Satz zu beenden. Nicht einmal in Gedanken. Denn so richtig wusste er nicht, wie er das Gelesene einordnen sollte. Die Nachrichten darüber, dass es bei der Record-Release-Party des neuen Albums von Fiona Schaller zu unerklärlichen Ereignissen gekommen war. Die Gerüchte überschlugen sich, seitdem die Medien Wind davon bekommen hatten, dass in einer alten Kirche in Nordbrode irgendetwas Seltsames vorgefallen war. Sobald das Ganze nicht mehr zu verleugnen war, gab es die ersten offiziellen Erklärungen seitens des Managements. „... der Leiter der Feuerwehr gab bekannt, dass sich unterhalb der Kirche einige alte Gasleitungen befanden, die mit sehr alten Tanks verbunden waren, von deren Existenz niemand etwas wusste. Das Gas hat leider Halluzinationen hervorgerufen, die dann wiederum zu einer Massenpanik geführt hatten. Zum Glück gab es nur Leichtverletzte ...“ So der O-Ton des Managers Walter Gilmann. Einem Kerl, der für Dragicevic aussah wie ein Nagetier, welches man in einen Nadelstreifenanzug gesteckt hatte. Der gleiche Kerl, der auf seine Anfrage zu dem verwendeten Zeichen geantwortet hatte. Zumindest war die E-Mail von seinem Büro gekommen. Geschrieben hatte sie höchstwahrscheinlich nicht Gilmann selbst.

Der Kommissar wischte auf dem Tablet, um die Mail herauszusuchen. Ah. Da war sie ja ...

„Ivo?“

Das Zeichen sei von einer Grafikerin entworfen worden, das diese gemeinfrei veröffentlicht hatte. Insofern könne es durchaus sein, dass Eric Zann es ebenfalls verwendet habe, das wisse man aber nicht. Man könne aber sagen, dass dieses Zeichen in kreativen Kreisen, die sich auf spielerische Art mit gewissen Themen – in der E-Mail hatte nicht Okkultismus oder dergleichen gestanden – beschäftigen, sehr beliebt war. Ursprünglich entstamme es eigentlich einem Rollenspiel. Und so weiter, blablabla, fügte Dragicevic in Gedanken hinzu, als er die E-Mail noch einmal gelesen hatte. Nur ein Zufall? Dass ein Musiker, der auf ziemlich groteske Art umgekommen war, ein Zeichen verwendete, das nur irgendwelche Nerds kannten? Unter anderem eine Sängerin, die es für ihr neues Album verwendete und bei dessen Erstpräsentation es zu seltsamen Ereignissen gekommen war? Zufall? Das könnt ihr jemand anderem erzählen!

„Ivo? Hörst du mich?“ Die Stimme seiner Frau riss Dragicevic zurück in die Wirklichkeit eines gewöhnlichen Morgens am Frühstückstisch.

„Was?“, fragte er.

„Hast du gehört, dass du Danica heute von der Kita abholen müsstest?“

„Äh? Ja. Klar“, murmelte er.

Madja musterte ihn. „Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Ich dachte, im Moment ist es nicht ganz so stressig auf Arbeit.“

„Ja. Ist es auch“, antwortete Dragicevic. Seit Peter Rosswang-Tauber ein vollumfängliches Geständnis abgelegt hatte und die Sonderkommission aufgelöst worden war, herrschte zum Glück etwas Ruhe in seinem Arbeitsalltag. „Ich hab halt dennoch keinen gewöhnlichen Job“, fügte er leise hinzu. In seinem Kopf stieg das Bild von Offenbergers Leichnam hoch. Der Schädel des Kommissars, der nach hinten weg regelrecht explodiert war und Knochensplitter, Blutspritzer und Hirnstücke gegen die Wand eruptiert hatte. Die Pistole, immer noch in der Hand haltend. Die auf der Brust des zurückgelehnten Oberkörpers lag und so den Lauf wieder aus dem leicht geöffneten Mund gezogen hatte. Ein Bier auf dem Tisch und so eine Art Kunstobjekt. In der Küche ein kalt gewordener, noch eingepackter Dönerteller vom Imbiss. Was war an diesem Abend geschehen? Eric Zann war geschehen. Offenbergers letzter Fall, den er nicht hatte lösen können. Den sie beide nicht hatten lösen können. Doch hatte der Alte sich wirklich deswegen umgebracht? Zwei Leute, die Musik machten? Dragicevic schüttelte den Kopf. Den seltsamen Behälter hatte der Alte aus den Asservaten von Zann mit nach Hause genommen. Niemand hatte je herausfinden können, warum er das getan hatte. Das Ding schien so eine Art Puzzlebox zu sein. Wurde die damals durchleuchtet? Ich erinnere mich nur, dass wir im Büro alle mal versucht hatten, das Teil zu öffnen, aber gescheitert waren. Hatte Offenberger genau das versucht? Hatte der Alte vermutet, dass da irgendetwas Wichtiges drin war, das Zann jedem unbefugten Zugriff entziehen wollte? Da war doch damals auch diese Festplatte von Zann verschwunden ... Hatte Offenberger etwa auch die ... Immerhin hatte er als Erster diese Idee geäußert, dass das Ganze irgendetwas mit der Musik zu tun haben könne. Nein. Der Alte konnte mit so was nix anfangen ... Der hörte Musik nur auf CD ...

„Ivo?“

„Ja?“ Er schreckte wieder hoch. Madjas Blick war jetzt vorwurfsvoll. „Alles klar“, sagte Dragicevic schnell und schaltete das Tablet ab. „Ich hör dir zu. Danica von der Kita abholen.“

„Die Leiterin will mit einem von uns über Danica sprechen. Ich bin heute Abend aber beim Yogakurs, wie du weißt.“

„Alles klar. Sie weiß, dass ich bei der Polizei bin. Das macht mehr Eindruck.“ Muss nachher unbedingt mit der Asservate sprechen. Mir die Verzeichnisse von beiden Fällen geben lassen …

* * *

„... um diesen Schuppeneffekt zu erreichen, setze ich hier und hier einige Highlights mit ...“ Etwas traf Kay wie einen Schlag und schleuderte ihn regelrecht aus der Wirklichkeit. Er keuchte.

Da ist dieses Ding vor ihm. Schwarze Haut, von einem fluoreszierenden Schimmer überzogen. Tentakel, die wie die Wurzeln einer Wasserpflanze in trüber Flüssigkeit wabern. Die Substanz der Kreatur scheint gleichzeitig fest zu sein und erinnert dennoch an schmutzigen Nebel. Dicht gewoben, wie ein Leichentuch, und trotzdem unbeständig. Augen mit senkrecht stehenden Pupillen mustern ihn. Mit einer bösartigen Intelligenz bohren sie sich in Kays Sinne. Als wollen sie durch die Löcher alles aus ihm heraussaugen, was ihn als Wesen, als Mensch ausmacht.

„Kay? Alles in Ordnung?“ Cherry sprang hinter der Cam hervor.

Kay streckte, ohne hinzusehen, die Hand, mit der er den Pinsel hielt, in ihre Richtung. „Lass mich ...“, brüllte er. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Cherry zusammenzuckte. Er bemühte sich, seine Stimme zu dämpfen. „Einen Moment in Ruhe. Bitte“, fügte er in verständnisheischendem Tonfall hinzu. Er legte den Pinsel betont vorsichtig, als müsse er sich zwingen, ihn nicht durch die Gegend zu feuern, auf dem Tisch vor sich ab. Dann sah er hoch. Cherry verharrte hinter der Cam wie eine Puppe. Kay blinzelte in den Scheinwerfer. „Mach mal kurz eine Pause. Ich brauch ein Moment.“ Er sah die Sorge in ihren Augen, aber sie nickte und schaltete das Licht aus. Dann verließ sie den Raum, den sie als Aufnahmestudio verwendeten. Eigentlich nur ein abgetrennter Bereich in der Ecke seines Wohnzimmers. Aber mit dem wechselnden Hintergrundbild sah es für die Follower so aus, als würde Kay seine Tutorials ständig vor den Fenstern einer anderen Stadt aufnehmen.

Er schaute auf sein Smartphone, das vor ihm zwischen den ganzen Schminkutensilien lag. Ohne dass es ihm bewusst wurde, rief er die Kontakte auf. Sahila Atar. Seit den Ereignissen waren ein paar Wochen vergangen, in denen sie nicht miteinander gesprochen hatten. Nur das eine Mal, als sie ihn angerufen hatte, um ihm zu erzählen, dass sie nach H. P. Lovecraft recherchiert und nichts gefunden hatte. Was es nicht besser gemacht hatte! Kays Fingerspitze verharrte über dem Kontakt. Was willst du ihr sagen? Dass du seitdem an deinem Verstand zweifelst? Ständig Dinge siehst? Monster, die dir in den Schatten auflauern? Dass du geneigt bist, der offiziellen Erklärung von dem giftigen Gas zu folgen? Weil es einfacher ist? Und wie seid ihr dann entkommen? Sie sagen, unter der alten Kirche gibt es nichts. Keine Krypta, keine Höhle, keinen unterirdischen Fluss, der ins Meer führt. War das auch eine Halluzination, dass du mit zwei Frauen, durchnässt und frierend, am Strand gelandet bist, an einer Stelle, die nur bei Ebbe zugänglich ist? Ist Lovecraft auch nur eine Halluzination? Die durch das Gas verursacht wurde, aber so stark ist, dass du glaubst, die Bücher von diesem Autor als Jugendlicher gelesen zu haben, den es gar nicht gibt? Dass du deswegen dieses Projekt gestartet hast? Clips mit Tutorials, wie man groteske Masken schminkt. Unter dem Titel Lovecrafts Dreams. Dass du seitdem darauf wartest, dass irgendwer in den Kommentaren schreibt, dass er die Geschichten kennt, dass deine Kreationen diese wunderbar transportieren, dass ...

„Kay!“ Cherrys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er hob das Kinn und sah seine Assistentin an. „Da hat sich jemand über die Kontaktdaten des Chanels gemeldet, der Bezug auf die neue Reihe Lovecrafts Dreams nimmt.“

Na endlich! Kay sprang auf, stürzte auf Cherry zu, beugte sich zu ihr hinunter, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und eilte dann zum Laptop. Der Mauszeiger zitterte, als er ihn bewegte und die Mail aufrief.

Sehr geehrtes ... blablabla ... Wir sind auf Ihre Arbeiten aufmerksam geworden ... blablabla ... Würden Sie gerne engagieren, da wir für eine geplante Ausstellung auf Grund des bestehenden Zeitdrucks und einiger nicht vorhergesehener Unterbrechungen in den geplanten Abläufen ...

Kein Wort zu Lovecraft aber ...

... Mit freundlichen Grüßen, Judith Winkler, Kuratorin, Museum für moderne Kunst, Berlin.

MMK Berlin? Kay drehte sich zu Cherry um. „Es geht nach Berlin!“ Die Assistentin riss die Augen auf. „Das MMK will mich für eine Ausstellung ... Warte ...“ Er wandte sich wieder zum Laptop und überflog die E-Mail. „... Das Grauen im Museum – Die Faszination des Horrors in der Popkultur.“ Wenn es da keine Infos zu Lovecraft gab, wo dann sonst?

* * *

„Youssouf? Hörst du mich? Die Verbindung, warte ... Ja, jetzt höre ich dich wieder. Verdammt. Das Netz bricht irgendwie andauernd weg. Warte mal ...“ Sahila beugte sich nach vorn, griff dabei fester an das Lenkrad. Sie blinzelte durch die Frontscheibe. Davor tobte eine Wand aus Schneeflocken, in die von den Scheibenwischern nur flüchtige Schlieren gerissen wurden. Die Lichter ihres Wagens verloren sich in dem dichten Weiß wie ein Feuerzeug in einem Bergwerksstollen. „So ein Mist. Ich kann kaum noch was sehen. Fahre nicht einmal mehr dreißig, und trotzdem ... Egal ... Youssouf ... Ja. Ich höre dich jetzt wieder. Pass auf, Youssouf ... weshalb ich anrufe. Du musst den Kurs heute Abend übernehmen. Ich schaffe es nicht. Ja. Ich bin auf dem Rückweg. Die ersten Kilometer hinter München sah es auch ganz gut aus, aber dann war da später ein Riesenstau auf der Autobahn. Wohl irgendein Unfall im Schneetreiben. Vollsperrung. Das Navi hat mir aber rechtzeitig eine Alternativroute angezeigt. Darum bin ich jetzt hier auf der Landstraße unterwegs. Wo? Keine Ahnung. Irgendwo im Schwarzwald, glaube ich. Ich seh auf dem Display mehr als durch die Scheibe ... Youssouf? Verdammt. Schon wieder kein Netz mehr.“ Sahila tippte auf das Display und unterbrach die Verbindung. Hatte sowieso keinen Sinn. Das Wichtigste war geklärt. Sie konzentrierte sich wieder auf die Fahrt. Zu sagen, dass sie sich wieder auf die Straße vor ihr konzentrierte, wäre ein schlechter Scherz gewesen. Die Scheibenwischer liefen zwar auf Hochtouren, doch ihnen gelang es ebenso wenig wie den Scheinwerfern, Details aus dem wirbelnden Flocken zu holen.

Wäre nicht das Navi, das ihr weiterhin zeigte, dass sie auf der angegebenen Route fuhr, hätte Sahila längst jede Orientierung verloren. Soweit sie erkennen konnte, schlängelte sich die Landstraße in Serpentinen durch einen dichten Wald. Anhand des Motors wusste sie, wann es leicht bergauf und wieder bergab ging, aber das war es dann auch schon. Undeutlich bemerkte sie im vom Schnee getrübten Scheinwerferlicht an der Seite angebrachte Warntafeln, dass sie sich einer weiteren steilen Kurve näherte. Was sollte schon sein? Ich fahr doch eh bloß noch knapp fünfundzwanzig ...

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sich hinter der Biegung inmitten des wirbelnden Weiß ein Umriss auf der Straße materialisierte. Eine Ratte!, schoss es Sahila durch den Kopf. Dann blitzten zwei Augen im Licht ihrer Scheinwerfer auf. Sahen sie an. Nein. Viel zu groß und viel zu ... Sahila riss das Lenkrad herum. Nicht bremsen! Doch der Wagen brach dennoch aus. Ehe Sahila überhaupt den Versuch unternehmen konnte, noch irgendwie gegenzusteuern, landete sie entgegengesetzt der Fahrtrichtung auf der anderen Seite der Kurve am Hang. Die automatische Vollbremsung des Systems verhinderte, dass sie gegen den Stamm eines Baumes prallte, der vor ihr aufragte. Dennoch löste der Aufprall des Wagens offenbar Schwingungen aus, die sich auf das Gefälle dahinter ausbreiteten und eine Art Lawine ins Rollen brachten. Kaum, dass Sahila das Ende ihres kurzen Ausrutschers wirklich begriff, klatschte eine Masse aus schwerem Weiß herunter und schüttete die Motorhaube und die Frontscheibe zu.

Ein Warnton erklang. Dann ging der Motor aus. Nur ein schwaches Restleuchten des Displays tauchte das Innere des Fonds in ein surreales Zwielicht.

Einen winzigen Augenblick lang starrte Sahila auf die Schneelawine, die den Wagen unter sich begraben hatte. Sie fühlte sich, als wäre sie ein verdammter Vogel, dem man eine Decke über den Käfig gelegt hatte. Schlafenszeit!

„Echt jetzt?“, stöhnte sie, die Hände um das Lenkrad gekrallt. Irgendein verdammtes Vieh bei 25 km/h. Aber was war das gewesen? Sie hätte schwören können, dass es eine Ratte gewesen war. Aber das Vieh war bald so groß wie ein Labrador gewesen und dann noch diese Augen. Dieser Blick. Als würde es ... Lass es! Sahila holte tief Luft. Schaute auf das Display. Schaltete den Motor wieder ein. Das vertraute Signal erklang. Der Screen informierte sie darüber, dass die Benutzerdaten geladen wurden. Noch bevor die Karte des Navis geladen war, setzte Sahila den Hebel auf R und nahm langsam den Fuß vom Bremspedal. Nichts. Der Elektromotor gab kein nennenswertes Geräusch von sich, was nicht weiter überraschend war. Aber das Auto rührte sich kein Stück. In der Stille hörte Sahila ein leises Knirschen, als würde sie über Kies fahren. Vorsichtig gab sie etwas Gas. Doch alles, was sie damit offenbar bewirkte, war, dass die Hinterreifen durchdrehten. Die Rückkamera zeigte ihr, dass sie nur ein paar Schritte entfernt vom Asphalt stand, aber im Tanz der Schneeflocken warnte das System sie mit einem nervtötenden Piepen dennoch vor möglichen Hindernissen. Die Vogelperspektive der Kameras zeigte kleine Fontänen von Schnee, die unter den Rädern davonstoben. Der Wagen bewegte sich nicht von der Stelle.

„Na wunderbar“. Sahila seufzte, brachte den Schalthebel in die Parkposition und drückte den Knopf für die Zündung. Stille trat ein. Ende der Reise. Sie schnappte sich ihre gefütterte Fliegerjacke vom Beifahrersitz und öffnete die Tür.

Versuchte, die Tür zu öffnen!

Denn diese rührte sich ebenso wenig wie eben der Wagen. Sahila blinzelte zur Seite. Dicht neben ihr ragten die Zweige eines Strauches aus dem Schnee, wie Klauen, die nach ihr greifen wollten. Die Masse aus Weiß war offensichtlich nicht so hoch, dass sie das Fenster verhüllte, aber die Tür blockierte. Vermutlich im Zusammenspiel mit dem Gebüsch.

„Na schön“, murmelte Sahila und beugte sich zur anderen Seite. Streckte den Arm aus und ... die Beifahrertür ließ sich ohne Probleme öffnen. Schneeflocken und Eisluft wirbelten herein. Sahila nahm den Schlüssel, krabbelte über den Beifahrersitz hinweg und gelangte so, wenig elegant, aber in Anbetracht der Umstände effektiv aus dem Auto heraus. Draußen angekommen, schloss sie die Tür wieder. Wer weiß, wie viel Zeit ich noch im Wagen verbringen muss, da soll sich die Wärme noch etwas im Innern halten, dachte sie. Dabei schlüpfte sie in ihre Jacke, zog den Reißverschluss zu und stülpte die Kapuze über. Sie sah sich um.

Der Wagen steckte in einer Verwehung. Es sah aus, als wäre der gesamte Schnee, bis eben noch friedlich von Bäumen und Sträuchern am Berghang festgehalten, im Augenblick des Aufpralls auf Sahilas Auto herunter gedonnert. Auf der Straße konnte sie die Spuren des Fahrzeugs sehen, die von dem plötzlichen Ausbruch zeugten.

Weit und breit war nichts zu erkennen. Der schieferfarbene, von vereinzelten weißen Fetzen bedeckte Asphalt der Straße schlängelte sich zu beiden Seiten durch den Wald. Große Nadelbäume, deren Äste unter der Schneelast stöhnten, bildeten eine natürliche Wand zu beiden Seiten. Das Gestrüpp zwischen ihnen war so dicht, dass Sahila keine fünf Schritte ins Dickicht schauen konnte. Das blöde Vieh ist wahrscheinlich in dem Moment, in dem meine Scheinwerfer es nicht mehr geblendet haben, im Unterholz verschwunden. Keine weiteren Spuren. Müssen nicht wenigstens Abdrücke von dem, was auch immer es war, zu sehen sein? Ein Fuchs? Ein Wildschwein? Sie hob das Kinn. Dichte Flocken wirbelten ihr entgegen, kitzelten auf der Nasenspitze und setzten sich in den Wimpern fest. Aber war das schon genug, um innerhalb so kurzer Zeit jegliche Abdrücke im Schnee zu verbergen? Oder habe ich mir den Scheiß nur eingebildet? Eine optische Täuschung?

Sahila stieß ein Seufzen aus. Dadurch bemerkte sie erst jetzt die Stille, die über allem lag. Nicht nur, dass der Schnee jegliches Leben in den Schlaf gezwungen hatte. Es fehlten auch andere Geräusche. Sie war instinktiv davon ausgegangen, dass sie lediglich ihre Warnweste überziehen und sich an den Straßenrand stellen musste, um auf Hilfe zu warten. Aber außer ihr schien sich nichts in diesem Wald aufzuhalten. Das konnte nicht sein. Wenn das eine Abkürzung war, um der Vollsperrung auf der Autobahn zu entkommen, wieso fuhr hier niemand weiter lang? Wann hatte sie eigentlich die letzten Scheinwerfer im Rückspiegel gesehen? Dass kein Gegenverkehr herrschte, mochte ja noch passen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, kam es Sahila mit einem Mal so vor, als sei sie seit Stunden als Einzige auf dieser Chaussee unterwegs. Sahila zog ihr Smartphone hervor. Kein Netz. Sie stapfte ein paar Schritte in die Richtung, aus der sie gekommen war, den Hang hinauf. Streckte die Hand in die Höhe. Drehte sich vorsichtig im Kreis. Nichts! Die Balken auf dem Display blieben blass. Sahila wandte sich um und ging zurück. Am Wagen vorbei, der mit der gedimmten Innenraumbeleuchtung wie ein schwelendes Lagerfeuer an der Seite glomm, und schritt weiter in die Richtung, in die das Navi sie führen wollte. Kein Strich mehr. Sahila steckte das Smartphone wieder ein und begab sich zum Auto zurück. Sie stieg ein und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. Das Display erwachte. Sie wartete, bis alle Daten geladen waren. Soweit sie erkennen konnte, lag die letzte Ortschaft knapp sechs Kilometer hinter ihr. Kein Spaziergang bei dem Wetter. Kälte und Dunkelheit machten ihr nichts aus. Im Vergleich zum Hindukusch mutete das hier wie ein Luxusressort für Senioren an, aber sie hatte nicht die entsprechende Kleidung dabei. Selbst die Schnürstiefel waren eher für den matschigen Großstadtasphalt, denn für längere Märsche durch den Schnee geeignet. Also weiter voraus. Sie fuhr mit dem Finger über das Display. Da! Ein stilisiertes schwarzes Messer, gekreuzt mit einer gleichfarbigen Gabel über einem Bett, auf weißem Grund in einem blauen Rahmen. Nur knapp zwei Kilometer entfernt. Das war zu bewältigen. Sie sammelte ihre Reisetasche, Handschuhe und Schal von der Rückbank. Als sie das Auto verließ und den Schlüssel schon bereithielt, um es zu verriegeln, überlegte sie einen Augenblick, ob sie das Warndreieck aus dem Kofferraum holen sollte. Das Schneetreiben brachte sie dazu, diese Idee zu verwerfen. Wozu? Das Ding wäre innerhalb von Minuten eingeschneit. Der Wagen stand weit genug vom Rand der Straße entfernt, und außerdem würde sie ja relativ schnell wieder hier sein. Mit einem Abschleppdienst. Sie warf einen Blick auf ihr Smartphone. Es war noch nicht einmal wirklich Abend. Sahila dachte beim Anblick des Wagens an einen Hund, den sie auf einer Raststätte aussetzte. Gewohnheitsmäßig überprüfte sie ihre Waffe im Schulterholster, dann griff sie die Reisetasche und marschierte los.

* * *