House of Gucci - Sara Gay Forden - E-Book

House of Gucci E-Book

Sara Gay Forden

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Beschreibung

Am Morgen des 27. März 1995 hallten vier schnelle Schüsse durch die eleganten Straßen Mailands. Maurizio Gucci, der Erbe der legendären Modedynastie, wurde auf den Stufen zu seinem Büro von einem unbekannten Schützen überfallen und ermordet. Zwei Jahre später betrat der Mailänder Polizeichef den prächtigen Palazzo von Maurizios Ex-Frau Patrizia Reggiani – von der Presse »die schwarze Witwe« genannt – und verhaftete sie wegen des Mordes. Hat Patrizia ihren Ex-Mann umgebracht, weil er vor ihren Augen das Vermögen der Familie verschleuderte? Hat sie es getan, weil er seine Mätresse heiraten wollte? Oder ist es möglich, dass Patrizia gar nichts mit dem Mord zu tun hat? Die Geschichte der Guccis ist eine Geschichte voller Glanz, Glamour und Intrigen – eine Chronik des Aufstiegs, Falls und kometenhaften Wiederaufstiegs einer Modedynastie. Herausragend erzählt, tadellos recherchiert und von Kritikern hochgelobt ist House of Gucci ein fesselnder Bericht über High Fashion, Hochfinanz und herzzerreißende persönliche Tragödien.

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Seitenzahl: 782

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SARA GAY FORDEN

Aus dem Englischen von Anja Lazarowicz

HOUSE OF GUCCI

Eine wahre Geschichte über Mord, Wahnsinn, Glamour und Gier

SARA GAY FORDEN

Aus dem Englischen von Anja Lazarowicz

HOUSE OF GUCCI

EINE WAHRE GESCHICHTE ÜBERMORD, WAHNSINN, GLAMOUR UND GIER

FBV

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2023

© 2023 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2000 bei William Morrow, einem Imprint von Harper Collins Publishers, unter dem Titel The House of Gucci. Copyright © 2020, 2001, 2000 by Sara Gay Forden. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Anja Lazarowicz

Redaktion: Brigitte Mues, Rainer Weber

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: Shutterstock.com / Yuriy Boyko_Ukraine

Satz: Daniel Förster, Belgern

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978–3-95972-607-8

ISBN E-Book (PDF) 978–3-98609-143-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978–3-98609-144-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für Julia

INHALT

ÜBER DIE AUTORIN

KAPITEL 1: EIN MORD ZU FRÜHER STUNDE

KAPITEL 2: DIE DYNASTIE DER GUCCIS

KAPITEL 3: GUCCI GOES AMERICA

KAPITEL 4: JUGENDLICHER UNGEHORSAM

KAPITEL 5: FAMILIENRIVALITÄTEN

KAPITEL 6: PAOLO SCHLÄGT ZURÜCK

KAPITEL 7: GEWINNE UND VERLUSTE

KAPITEL 8: MAURIZIO NIMMT DIE ZÜGEL IN DIE HAND

KAPITEL 9: PARTNERTAUSCH

KAPITEL 10: AMERIKANER

BILDTEIL

KAPITEL 11: VOR GERICHT

KAPITEL 12: TRENNUNG

KAPITEL 13: EIN BERG VON SCHULDEN

KAPITEL 14: EIN LEBEN IM LUXUS

KAPITEL 15: PARADEISOS

KAPITEL 16: TURNAROUND

KAPITEL 17: FESTNAHMEN

KAPITEL 18: VERHANDLUNG

KAPITEL 19: ÜBERNAHME

KAPITEL 20: GUCCI HEUTE

NACHWORT

DANKSAGUNG

BIBLIOGRAFISCHE ANMERKUNGEN

ÜBER DIE AUTORIN

Sara Gay Forden ist Journalistin. Sie ist Chefredakteurin des italienischen Magazins L’UNA. Zuvor war sie Wirtschaftskorrespondentin und Mailänder Büroleiterin für das amerikanische Modemagazin Women’s Wear Daily.

KAPITEL 1EIN MORD ZU FRÜHER STUNDE

Es war Montag, der 27. März 1995. Morgens gegen halb neun fegte Giuseppe Onorato das Laub weg, das der Wind vor das Haus geweht hatte, in dem er arbeitete. Er war wie an jedem Wochentag um 8 Uhr gekommen und hatte wie immer zuerst die beiden großen Türflügel aus Holz weit geöffnet. Das vierstöckige Renaissance-Gebäude in der Via Palestro 20 beherbergte Wohnungen und Büros und lag in einem der elegantesten Viertel von Mailand. Gleich gegenüber waren die Giardini Pubblici, gepflegte Rasenflächen und gewundene Pfade unter hohen Pappeln und Zedern, eine grüne Oase der Ruhe in dieser hektischen Stadt, die ständig unter einer Dunstglocke liegt.

Am Wochenende hatte ein warmer Wind durch die Straßen geweht, für kurze Zeit den gewohnten Smog vertrieben und die letzten welken Blätter von den Bäumen gefegt. Onorato hatte an diesem Morgen Berge von Laub vor der Einfahrt gefunden und dieses eilends weggefegt. Es sollte alles sauber sein, wenn die Ersten im Haus ein- und ausgingen. Aus seiner Militärzeit hatte er sich einen ausgeprägten Ordnungssinn und großes Pflichtbewusstsein bewahrt, wenn auch das Militär seinem persönlichen Stil nicht hatte schaden können. Mit einundfünfzig Jahren war er noch immer gut gekleidet und tadellos gepflegt, sein weißer Schnurrbart war perfekt gestutzt und sein verbliebenes Haar trug er kurz geschnitten. Er war Sizilianer und, wie so viele andere auch, auf der Suche nach Arbeit und einem neuen Leben in den Norden gekommen. Nach seinem Abschied vom Militär im Jahre 1980, er hatte vierzehn Jahre lang als Unteroffizier gedient, beschloss Onorato, sich in Mailand niederzulassen. In der ersten Zeit fand er nur undankbare Jobs. 1989 nahm er dann die Pförtnerstelle in der Via Palestro an. Mit einem kleinen Motorroller fuhr er von seiner Wohnung im Nordwesten Mailands, in der er mit seiner Frau lebte, zu seinem Arbeitsplatz und zurück. Onorato war ein Gentleman. Mit hellen blauen Augen und einem freundlichen bescheidenen Lächeln sorgte er dafür, dass der Hauseingang stets in tadellosem Zustand war. Die sechs auf Hochglanz polierten roten Granitstufen, die unmittelbar hinter der massiven Haustür nach oben führten, die vor Sauberkeit blitzenden Glastüren am Ende der Treppe und die glänzenden Steinböden im Foyer zeugten von seinem Arbeitseifer. Weiter hinten im Foyer stand Onorato eine verglaste Kabine aus Holz mit einem Tisch und einem Stuhl zur Verfügung, in der er aber nur sehr selten saß. Meistens war er unterwegs, um seinen zahlreichen Pflichten nachzukommen. Onorato hatte sich in Mailand nie richtig wohl gefühlt, das ihm zwar Arbeit, aber sonst nicht viel bot. Er spürte deutlich die Abneigung, die viele Norditaliener gegen die meridionali, die Menschen aus dem Süden Italiens, hegten, und meistens genügte schon ein Blick, um ihn aufzubringen. Er gab zwar keine ungehörigen Antworten und gehorchte seinen Vorgesetzten, wie er es beim Militär gelernt hatte, aber er duckte sich nie vor ihnen.

»Ich bin genauso viel wert wie jeder andere Mensch auch«, sagte sich Onorato immer wieder, »selbst wenn er reich ist oder aus einer bedeutenden Familie stammt.«

Er sah von seiner Arbeit auf und bemerkte einen Mann auf der anderen Straßenseite. Onorato hatte den Mann bereits am Morgen gesehen, als er gerade die beiden großen Türflügel öffnete. Der Mann hatte hinter einem kleinen grünen Auto gestanden, das quer zur Straße geparkt war, also mit der Motorhaube den Giardini Pubblici zugewandt, weg vom Haus.

Für gewöhnlich parkte in der Via Palestro ein Auto hinter dem anderen. Sie war eine der wenigen Straßen im Zentrum Mailands, in der das noch gratis war. Die Autos standen in schrägem Winkel zum Bordstein. So früh am Morgen war dieses Fahrzeug noch das einzige. Sein Nummernschild erweckte Onoratos Aufmerksamkeit, weil es so weit herunterhing, dass es beinahe den Boden berührte. Er fragte sich, was man wohl um diese Zeit hier zu tun haben mochte. Der Mann war frisch rasiert und gut gekleidet. Er trug einen leichten braunen Mantel. Nach wie vor blickte er die Straße hinunter in Richtung Corso Venezia, als ob er jemand erwarten würde. Onorato fuhr gedankenverloren mit der Hand über sein sich lichtendes Haar und bemerkte nicht ganz neidlos, dass der Mann dichtgewelltes dunkles Haar hatte.

Seitdem im Juli 1993 in der Straße eine Bombe explodiert war, hielt er ständig die Augen offen. Mit einem Knall, der die ganze Stadt erschütterte, war damals ein mit Dynamit beladenes Auto explodiert. Dabei kamen fünf Menschen ums Leben, und der Padiglione d’Arte Contemporanea, das Museum für Moderne Kunst, wurde vollkommen zerstört; es sackte in sich zusammen, zurück blieb nur ein Trümmerhaufen aus Beton, Stahlträgern und Staub. Am selben Abend war eine zweite Bombe in Rom explodiert und hatte San Giorgio Velabro, eine Kirche im historischen Stadtzentrum, zerstört. Die Bombenanschläge wurden später in Verbindung mit einer früheren Explosion in Florenz gebracht, bei der in der Via dei Georgofili ebenfalls fünf Menschen getötet, dreißig weitere verletzt und Dutzende von Kunstwerken zerstört worden waren, die in dem Gebäude über der Explosionsstelle lagerten. Die Spur der Bombenanschläge führte später zu einem sizilianischen Mafiaboss, Salvatore »Toto« Riina, der zu Beginn des gleichen Jahres verhaftet worden war. Man warf ihm vor, er habe 1992 Italiens bedeutendsten Staatsanwalt, Giovanni Falcone, den Mafiajäger schlechthin, ermorden lassen. Riina hatte die Bombenanschläge auf einige von Italiens wertvollsten Kulturdenkmälern als Vergeltung für seine Inhaftierung veranlasst. Für den Mord an Falcone und für die Bombenanschläge bekam er zweimal lebenslänglich. Der DIGOS, Italiens politische Polizei, deren besondere Aufgabe die Verfolgung terroristischer Straftaten ist, hatte damals alle portinai oder Pförtner im Umfeld der Via Palestro befragt. Onorato hatte ihnen von einem verdächtig aussehenden Wohnmobil berichtet, das an diesem Tag in der Nähe eines Eingangs zum Park abgestellt war. Seitdem machte er sich kurze Notizen auf einem Block, den er in seiner Pförtnerkabine liegen hatte und auf dem er alles festhielt, was ihm irgendwie ungewöhnlich vorkam.

»Wir sind die Augen und Ohren dieses Viertels«, erklärte Onorato einem seiner Kumpels vom Militär, der öfter auf einen Kaffee vorbeischaute. »Wir wissen, wer kommt und wer geht, observieren gehört zu unserem Beruf.«

Onorato drehte sich um und zog den rechten Türflügel auf sich zu, um die letzten Blätter dahinter hervorzukehren. Als er hinter die Türe trat, die in diesem Augenblick halb geschlossen war, hörte er das Nahen schneller Schritte und eine vertraute Stimme, die »buongiorno« sagte.

Als sich Onorato umdrehte, sah er Maurizio Gucci, der im ersten Stock seine Büros hatte und der schwungvoll wie immer und mit wehendem Kamelhaarmantel die Eingangstreppe hinauflief. Buongiorno, Dottore, antwortete Onorato mit einem Lächeln und hob die Hand zum Gruß.

Er wusste natürlich, dass Maurizio Gucci ein Mitglied der berühmten Florentiner Familie Gucci war, die unter ihrem Namen Luxusartikel vermarktete. In Italien stand der Name Gucci schon immer für Eleganz und Stil. Die Italiener waren stolz auf ihre Kreativität und ihre kunsthandwerklichen Traditionen, und Gucci war neben Ferragamo und Bulgari einer jener Namen, die Qualität und Handwerkskunst verkörperten. Zwar hatte Italien auch einige der weltbesten Designer wie Giorgio Armani oder Gianni Versace hervorgebracht, doch den Namen Gucci gab es bereits seit Generationen. Maurizio Gucci war der letzte Gucci, der das Familienunternehmen geführt hatte, bis er es zwei Jahre zuvor an seine Finanzpartner verkauft hatte, die in jenem Frühjahr mit Gucci an die Börse gehen wollten. Maurizio hatte seitdem nichts mehr mit dem Unternehmen zu tun, und er hatte sich im Frühjahr 1994 eigene Büros in der Via Palestro eingerichtet.

Er wohnte gleich um die Ecke in einem prächtigen Palazzo am Corso Venezia und ging jeden Morgen zu Fuß zur Arbeit, wo er für gewöhnlich zwischen 8 Uhr und 8 Uhr 30 eintraf. Manchmal sperrte er mit seinem eigenen Schlüssel auf und war schon oben, noch bevor Onorato die schweren Holztüren öffnete.

Onorato fragte sich oft wehmütig, wie er sich wohl an Guccis Stelle fühlen würde. Maurizio Gucci war ein reicher, gut aussehender junger Mann. Seine Freundin war groß, schlank und blond. Sie hatte ihm bei der Einrichtung seiner Büros im ersten Stock geholfen: chinesische Antiquitäten, elegant bezogene Sitzmöbel, farbenprächtige Vorhänge und wertvolle Gemälde. Sie erschien regelmäßig, um mit Gucci zu Mittag zu essen, gekleidet in Chanel und mit perfekt frisierter blonder Mähne. Auf Onorato wirkten sie wie ein vollkommenes Paar mit einem vollkommenen Leben.

Als Maurizio Gucci die oberste Stufe erreicht hatte und das Foyer betreten wollte, sah Onorato, dass der dunkelhaarige Mann in die Einfahrt trat. Schlagartig wurde ihm klar, dass der Mann auf Gucci gewartet haben musste. Er fragte sich verwundert, warum der Mann unten an der Treppe stehen geblieben war, dort, wo die breite braune Fußmatte endete und der graue Stoffläufer begann, der an jeder Stufe von einer Messingstange festgehalten wurde. Gucci hatte den Mann nicht bemerkt, der nach ihm eingetreten war, und dieser hatte ihn auch nicht angesprochen.

Und dann sah Onorato, wie der Mann mit der einen Hand seinen Mantel öffnete und mit der anderen eine Pistole hervorholte. Er hob seinen Arm, richtete ihn auf Maurizio Guccis Rücken und schoss drauflos. Onorato, der keinen Meter entfernt war, stand wie angewurzelt, den Besen in der Hand. Durch den Schock war er wie gelähmt und nicht in der Lage, den Mann aufzuhalten.

Onorato hörte kurz hintereinander drei gedämpfte Schüsse.

Voller Entsetzen sah er dem Geschehen reglos zu. Er sah, wie die erste Kugel Guccis Kamelhaarmantel in Höhe der rechten Hüfte durchdrang. Der zweite Schuss traf ihn direkt unter der linken Schulter. Onorato bemerkte, dass Guccis Kamelhaarmantel jedes Mal erzitterte, wenn eine Kugel den Stoff durchbohrte. »Es sieht ganz anders aus als im Kino«, dachte er noch. Gucci drehte sich wortlos und mit einem fragenden Gesichtsausdruck um. Er blickte den Schützen an, den er nicht zu kennen schien, dann sah er Onorato an, so als wolle er fragen: »Was geschieht hier? Warum? Warum ich?«

Die dritte Kugel streifte seinen rechten Arm.

Als Gucci mit einem Stöhnen zusammenbrach, gab der Angreifer einen letzten tödlichen Schuss auf seine rechte Schläfe ab. Der Schütze fuhr herum, um zu fliehen, blieb aber beim Anblick von Onorato, der ihn voller Entsetzen anstarrte, abrupt stehen.

Onorato sah, wie der Mann seine dunklen Augenbrauen erstaunt hochzog, so, als hätte er ihn bislang nicht bemerkt.

Der Arm des bewaffneten Mannes war noch immer ausgestreckt, und jetzt zielte er direkt auf ihn. Onorato sah die Pistole und stellte fest, dass ein langer Schalldämpfer auf ihrem Lauf saß. Er sah die Hand, die die Waffe hielt, er sah die langen, gepflegten Finger, die Fingernägel, die aussahen, als seien sie eben erst manikürt worden.

Einen kurzen Moment lang, der ihm wie eine Ewigkeit vorkam, blickte Onorato dem Schützen direkt ins Auge. Dann hörte er seine eigene Stimme.

»Neeeiiin«, schrie er, wich zurück und hob seine linke Hand, wie um zu sagen: Ich habe nichts damit zu tun!

Der Bewaffnete feuerte zwei weitere Schüsse direkt auf Onorato ab, dann drehte er sich um und lief aus dem Haus. Onorato vernahm ein Klirren und begriff, dass es von den heruntergefallenen Patronenhülsen stammte, die auf dem Granitboden herumtanzten.

»Unglaublich!«, schoss es ihm durch den Kopf, »ich spüre keinen Schmerz! Ich wusste gar nicht, dass es nicht wehtut, wenn man erschossen wird.« Er fragte sich, ob Gucci wohl Schmerzen empfunden hatte.

»So ist das also«, sinnierte er. »Jetzt sterbe ich also. Ein Jammer, so sterben zu müssen. Das ist nicht gerecht.«

Dann merkte Onorato auf einmal, dass er noch immer stand. Er schaute auf seinen linken Arm hinunter, der ihm irgendwie fremd vorkam. Blut tropfte von seinem Ärmel. Ganz langsam und vorsichtig setzte er sich auf die unterste Granitstufe.

»Wenigstens bin ich nicht gefallen«, dachte er und bereitete sich seelisch auf seinen Tod vor. Er dachte an seine Frau, an die Zeit beim Militär, er sah das Meer und die Berge seiner Heimatstadt Casteldaccia vor sich. Dann wurde ihm endlich klar, dass er nur verwundet war; zwei Schüsse hatten seinen Arm getroffen, aber er würde nicht sterben. Er war dankbar und glücklich. Onorato drehte sich um und betrachtete den leblosen Körper von Maurizio Gucci, der oben an der Treppe in einer großen Blutlache lag. Gucci lag so, wie er gefallen war, auf der rechten Seite, den Kopf auf dem rechten Arm. Onorato versuchte, um Hilfe zu rufen, aber seine Stimme schien ihren Dienst zu verweigern. Er schrie, doch er hörte nichts.

Wenige Minuten später wurde das Heulen der herannahenden Sirenen immer lauter und lauter, bis es abrupt abbrach, als ein Polizeiwagen mit quietschenden Bremsen vor der Via Palestro 20 hielt. Vier uniformierte Carabinieri sprangen mit gezogenen Waffen heraus.

»Er hatte eine Pistole«, stöhnte Onorato mit schwacher Stimme, als die Männer auf ihn zustürzten.

KAPITEL 2DIE DYNASTIE DER GUCCIS

Wie auf einem Bild von Jackson Pollock bildeten hellrote Blutflecken ein Muster auf den Türen und den weißen Wänden am Eingang - dort, wo Maurizio Gucci lag. Auf dem Boden waren Patronenhülsen verstreut. Der Besitzer eines Kiosks auf der anderen Straßenseite hatte Onoratos Schreie gehört und sofort die Polizei alarmiert.

»Das ist Dottore Gucci«, sagte Onorato zu den Beamten und zeigte mit dem rechten Arm auf den reglosen Körper an der Treppe, während sein linker Arm schlaff herunterhing. »Ist er tot?«

Einer der Carabinieri kniete sich neben Maurizios Körper, presste die Finger an Maurizios Hals und nickte, als er keinen Puls fand. Maurizios Anwalt, Fabio Franchini, der einige Minuten zu früh zu einer Verabredung mit ihm gekommen war, kauerte verzweifelt auf dem kalten Boden neben Maurizios Körper - und blieb dort auch die nächsten vier Stunden, während Untersuchungsbeamte und Sanitäter um ihn herum ihrer Arbeit nachgingen. Als weitere Krankenwagen und Polizeifahrzeuge vorfuhren, bildete sich vor dem Haus eine kleine Ansammlung neugieriger Zuschauer. Die Sanitäter kümmerten sich um Onorato und nahmen ihn in einem der Ambulanzfahrzeuge mit, kurz bevor die Mordkommission der Carabinieri eintraf. Kommissar Giancarlo Togliatti, ein großer, schlaksiger, blonder Offizier, seit zwölf Jahren in der Mordkommission, machte sich daran, Maurizios Körper zu untersuchen. In den letzten Jahren hatte Togliattis Hauptaufgabe darin bestanden, Mordfälle in verfeindeten Clans albanischer Immigranten zu untersuchen, die sich in Mailand aufhielten. Hier hatte er es zum ersten Mal mit der Elite der Stadt zu tun - es geschah nicht gerade jeden Tag, dass ein prominenter Geschäftsmann mitten in der Innenstadt kaltblütig erschossen wurde.

»Wer ist das Opfer?« fragte Togliatti, als er sich bückte.

»Es ist Maurizio Gucci«, antwortete einer seiner Kollegen.

Togliatti sah auf und lächelte ungläubig. »Natürlich, und ich bin Valentino«, entgegnete er süffisant, in Anspielung auf den Modedesigner aus Rom. Für ihn war der Name Gucci gleichbedeutend mit Florentiner Lederwaren - wozu sollte ein Gucci ein Büro in Mailand haben?

»Für mich war er eine ganz normale Leiche«, würde Togliatti später sagen.

Vorsichtig nahm Togliatti ein Knäuel blutbefleckter Zeitungsfetzen aus Maurizios lebloser Hand und nahm seine Uhr an sich, eine Tiffany, die noch tickte. Als er eben Maurizios Taschen sorgfältig untersuchte, erschien Mailands Oberstaatsanwalt, Carlo Nocerino. Es war das reinste Chaos: Kameraleute und Journalisten bedrängten Sanitäter und Untersuchungsbeamte der Carabinieri und der polizia. In Italien gibt es drei Polizeikorps - die Carabinieri, die polizia und die guardia di finanzia, also die Finanzpolizei. Aus Sorge, dass wichtige Beweise in diesem Durcheinander zerstört werden könnten, erkundigte sich Nocerino, welches Korps zuerst eingetroffen war. Eines der ungeschriebenen Gesetze in Italiens Untersuchungsbehörden besagt, dass derjenige den Fall übernimmt, der als Erster am Tatort erschienen ist. Sobald er erfahren hatte, dass die Carabinieri die Ersten gewesen waren, schickte er die polizia umgehend fort, befahl, die großen Türen zum Foyer zu schließen und den Eingangsbereich abzusperren, um die wachsende Menschenmenge in Schach zu halten. Dann ging Nocerino die Treppe hinauf zu Togliatti, der nach wie vor den Körper Maurizio Guccis untersuchte.

Nocerino und die Ermittlungsbeamten waren der Meinung, der Schuss in Maurizios Schläfe wirke wie eine Exekution im Stile der Mafia. Haut und Haare um die Wunde herum waren verbrannt. Der Schuss musste aus nächster Nähe erfolgt sein.

»Das ist das Werk eines Profikillers«, entfuhr es Nocerino, als er die Wunde und den Boden betrachtete, auf dem das Untersuchungsteam die Lage von sechs Patronenhülsen mit Kreidestrichen markiert hatte.

»Ja, ein klassischer Fall von colpo di grazia«, stimmte Togliattis Kollege, Antonello Bucciol, zu. Dennoch waren sie irritiert. Zu viele Kugeln waren verschossen worden, und zwei Augenzeugen waren am Leben geblieben, Onorato und eine junge Frau, die beinahe mit dem Killer zusammengestoßen wäre, als er aus dem Haus stürzte - das sah kaum nach der Arbeit eines Profis aus, der zur Ausführung einer traditionellen Hinrichtung entschlossen war.

Togliatti brauchte noch eineinhalb Stunden, um Maurizio zu untersuchen, aber es sollte ihn dann ganze drei Jahre kosten, bis er auch das letzte Detail aus Maurizios Leben erfahren haben würde.

»Maurizio war für uns ein Unbekannter«, sagte Togliatti später. »Uns blieb nichts anderes übrig, als sein Leben in die Hand zu nehmen und wie in einem Buch darin zu lesen.«

* * *

Will man Maurizio Gucci und die Familie, der er entstammte, verstehen, muss man sich unbedingt mit dem toskanischen Charakter vertraut machen. Anders als die eher umgänglichen Menschen der Emilia, die ernsten Lombarden und die chaotischen Römer gelten die Menschen aus der Toskana als stolze Individualisten. Ihre Heimat ist gleichsam die Wiege des kulturellen und künstlerischen Italiens und in der toskanischen Mundart hat das moderne Italienisch eine wichtige Wurzel, sie war die Sprache des Dichters Dante Alighieri. Manche bezeichnen die Toskaner als die »Franzosen Italiens« - sie seien wie diese arrogant, selbstgenügsam und abweisend. Der italienische Romancier Curzio Malaparte hat sie in seinem Werk Maledetti toscani, zu Deutsch »Die verdammten Toskaner«, beschrieben.

Im Inferno beschreibt Dante den Filippo Argenti als »il fiorentino spirito bizzarro«. Das bizarre Wesen der Menschen aus Florenz oder der Toskana kann auch verletzend und sarkastisch wirken, sie sind nicht selten ungemein schlagfertig. Ein gutes Beispiel ist Roberto Benigni, Regisseur und Hauptdarsteller des Films Das Leben ist schön, für den er einen Oscar erhielt.

Als ein Redakteur von Town & Country 1997 Roberto Gucci, Maurizios Cousin, fragte, ob die Firma Gucci auch aus einer anderen Gegend Italiens hätte kommen können, blickte Roberto ihn erstaunt an.

»Genauso gut könnten Sie mich fragen, ob der Chianti auch aus der Lombardei stammen könnte«, donnerte er los. »Das wäre dann ebenso wenig Chianti, wie Gucci noch Gucci wäre«, warf er sich in die Brust. »Wie könnten wir etwas anderes als Florentiner sein, wenn wir sind, was wir sind?«

Das Blut der an Geschichte reichen, jahrhundertealten Florentiner Kaufmannsschicht pulsiert in den Adern der Guccis. 1293 wurde Florenz zur unabhängigen Republik erklärt. Bis die Medici an die Macht kamen, wurde die Stadt von den arti, einundzwanzig Kaufmanns- und Handwerkergilden regiert. Die Namen dieser Gilden leben bis heute in den Straßennamen fort: Via Calzaiuoli (Schuhmacher), Via Cartolai (Papierwaren), Via Tessitori (Weber), Via Tintori (Färber) und viele andere. Gregorio Dati, ein Seidenhändler aus der Zeit der Renaissance, hat einmal geschrieben: »Ein Florentiner, der kein Kaufmann ist und nicht durch die Welt gereist ist, der keine fremden Länder und Menschen kennengelernt hat und anschließend mit einem gewissen Reichtum nach Florenz zurückgekehrt ist, genießt hier keinerlei Ansehen.«

Für einen Florentiner Kaufmann bedeutete Reichtum zugleich auch Ehre. Er war mit bestimmten Verpflichtungen verknüpft; so musste man zur Finanzierung öffentlicher Gebäude beitragen, in einem riesigen Palazzo mit prachtvollen Gärten leben und Maler, Bildhauer, Dichter und Musiker unterstützen.

Die Liebe zur Schönheit und der Stolz auf die Kunstwerke haben Kriege, Seuchen, Überschwemmungen und politische Wirren überdauert. Von Giotto über Michelangelo bis hin zu den heutigen Handwerkern in ihren Werkstätten hat die Kunst im Zeichen kaufmännischen Mäzenatentums in dieser Stadt reiche Blüte getragen.

»Neun von zehn Florentinern sind Kaufleute, der zehnte ist Priester«, scherzte Aldo Gucci, Maurizios Onkel, einmal. »Gucci ist so florentinisch wie Johnnie Walker schottisch ist, und es gibt kaum etwas, das jemand einem Florentiner noch über Handel und Handwerk beibringen könnte«, fuhr er fort. »Immerhin sind wir Gucci seit etwa 1410 Kaufleute.«

»Sie waren unglaublich menschlich«, hat eine Angestellte einmal über die Gucci gesagt, »aber sie hatten alle diese grauenhafte toskanische Art.«

Maurizios unmittelbare Geschichte beginnt mit der seines Großvaters, Guccio Gucci, dessen Eltern gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Florenz vergeblich versucht hatten, sich mit der Herstellung und dem Verkauf von Strohhüten über Wasser zu halten. Guccio floh vor seinem Elternhaus und dem Bankrott seines Vaters, indem er auf einem Frachter anheuerte und sich nach England durchschlug. Dort fand er Arbeit in dem berühmten Londoner Hotel Savoy.* Er wird wohl die Juwelen und die feinen Seidenkleider der Gäste bewundernd angestarrt haben, so wie auch die Berge von Gepäck, die sie dabei hatten. Schrankkoffer, Koffer, Hutschachteln und andere Gepäckstücke, alle aus Leder und mit Wappen und Initialen verziert, überschwemmten die Lobby des Hotels, eines Mekkas der High Society im viktorianischen England. Die Gäste waren reich und berühmt oder wollten mit den Reichen und Berühmten in Berührung kommen. Lillie Langtry, die Geliebte des Prince of Wales, hatte in dem Hotel für fünfzig Pfund im Jahr eine Suite gemietet, in der sie ihre Gäste unterhielt. Der große Schauspieler Sir Henry Irving wurde oft zum Essen im Restaurant des Hotels gesehen, und Sarah Bernhardt erklärte das Savoy zu ihrer »zweiten Heimat«.

Guccio verdiente schlecht und musste hart arbeiten, aber er lernte schnell. Die Erfahrungen, die er sammelte, prägten seinen weiteren Lebensweg. Es dauerte nicht lange, bis er erkannte, dass die Hotelgäste durch die mitgeführten Besitztümer ihren Reichtum und ihren guten Geschmack demonstrieren wollten. Er stellte fest, dass der Schlüssel zu ihrem gesellschaftlichen Status in den Stapeln von Koffern lag, die die Pagen durch die langen, mit Teppichen ausgelegten Hallen hin- und herzauberten und die sie aus den Fahrstühlen holten oder hineinschoben, wobei sie dann »zu den Zimmern« riefen. Das Leder war ihm vertraut; er kannte es bereits aus seiner Jugend von den Werkstätten in Florenz. Nachdem er das Savoy verlassen hatte, fand Guccio nach Angaben seiner Söhne Arbeit bei Waggons Lits, der Europäischen Schlafwagengesellschaft, und fuhr mit dem Zug kreuz und quer durch Europa. Dabei bediente und beobachtete er die wohlhabenden Reisenden und ihr Gefolge aus Dienstboten und Gepäck, bis er vier Jahre später mit seinen Ersparnissen nach Florenz zurückkehrte.

Wieder zu Hause verliebte sich Guccio in Aida Calvelli. Sie war Schneiderin und Tochter eines Schneiders aus der Nachbarschaft. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie bereits einen vierjährigen Sohn hatte. Er hieß Ugo und stammte aus einer Affäre mit einem Mann, der unheilbar an Tuberkulose erkrankt war und sie deshalb nicht heiraten konnte. Am 20. Oktober 1902, wenig mehr als ein Jahr nach seiner Rückkehr nach Italien, heiratete Guccio Aida und adoptierte Ugo. Er war einundzwanzig; sie war vierundzwanzig. Sie war damals bereits schwanger mit ihrer ersten Tochter, Grimalda, die drei Monate später zur Welt kam. Aida schenkte Guccio weitere vier Kinder, von denen eines, nämlich Enzo, als Kleinkind starb. Die anderen drei waren ebenfalls Jungen: Aldo, geboren 1905, Vasco 1907 und Rodolfo 1912.

Nach seiner Rückkehr arbeitete Guccio wahrscheinlich zunächst in einem Antiquitätengeschäft, vermutet sein Sohn Rodolfo. Dann wechselte er zu einer Lederfirma, wo er Handwerk und Business lernte und bald zum Geschäftsführer aufstieg. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war Guccio Gucci zwar bereits dreiunddreißig und hatte eine große Familie, wurde aber trotzdem als Transportfahrer eingezogen. Nach dem Krieg arbeitete er bei Franzi, einer Lederwarenfabrik in Florenz, und lernte dort, nach welchen Kriterien man ungegerbtes Leder auswählte, wie man es trocknete und gerbte, und auch die Kunst, unterschiedliche Fell- und Lederarten zu verarbeiten. Er übernahm bald als Geschäftsführer die Filiale in Rom, wohin er aber allein gehen musste. Aida blieb mit den Kindern zu Hause und weigerte sich, Florenz zu verlassen. Guccio kam jedes Wochenende nach Hause und sehnte sich danach, in Florenz ein eigenes Geschäft für Kunden zu eröffnen, die etwas von gut gemachten Lederwaren verstanden. An einem Sonntag im Jahr 1921 entdeckte er auf einem seiner Wochenendspaziergänge mit Aida in einer schmalen Seitenstraße einen kleinen Laden, der zu vermieten war, nämlich in der Via della Vigna Nuova, zwischen der eleganten Via Tornabuoni und der Piazza Goldoni am Ufer des Arno. Aida und er waren Feuer und Flamme und begannen sofort, Pläne zu schmieden. Mit Guccios Ersparnissen und wohl auch geliehenem Geld gründeten sie die erste Firma unter dem Namen Gucci, die Valigeria Guccio Gucci, die später, 1921, in Azienda Individuale Guccio Gucci umbenannt wurde. Guccio Gucci war der alleinige Inhaber. Die Nähe der elegantesten Straße von Florenz, der Via Tornabuoni, war strategisch günstig. Zwischen dem fünfzehnten und siebzehnten Jahrhundert hatten einige der reichsten Familien von Florenz - die Strozzi, Antinori, Sassetti, Bartolini Salimbeni, Cattani und Spini Feroni - schöne Palazzi entlang dieser Luxusmeile gebaut. Etwa um 1800 wurden die ersten exklusiven Restaurants und Geschäfte im Erdgeschoss eben jener Häuser eröffnet. Das Caffè Giacosa, das noch heute in der Nummer 83 besteht, verkauft seit seiner Eröffnung im Jahre 1815 hausgemachtes Gebäck und Getränke an eine elegante Klientel. Als Hoflieferant von Italiens königlicher Familie kreierte das Giacosa zum Beispiel den Cocktail Negroni, der nach einem Kunden benannt wurde, dem Conte Negroni. Das Ristorante Doney, gegründet 1827, sorgte für die Verpflegung der adeligen Familien von Florenz und bewirtete die Damen - als Pendant zu dem Männern vorbehaltenen Florentiner Jockey Club. Später würde Gucci genau gegenüber ein Geschäft eröffnen. Ein Haus weiter verkaufte der namhafte Florist Mercatelli Blumen an die Aristokraten von Florenz. Andere Unternehmen, die es heute noch gibt, sind zum Beispiel Rubelli, wo man feine venezianische Stoffe erstehen kann, die Profumeria Inglese und Procaccio, berühmt für seine appetitlichen Trüffelsandwichs. Wohlhabende europäische Reisende stiegen im Albergo Londres et Suisse ab, das wiederum nicht weit weg vom amerikanischen Reisebüro Thomas Cook & Sons an der Ecke zur Via Del Parione gelegen war.

Zunächst kaufte Guccio hochwertige Lederwaren bei toskanischen Manufakturen, aber auch in Deutschland und England ein, um sie dann an die Touristen zu verkaufen, die damals wie heute in Scharen nach Florenz kamen. Guccio spezialisierte sich auf robuste, gut verarbeitete Taschen und Gepäckstücke zu vernünftigen Preisen. Fand er nicht, wonach er suchte, gab er einzelne Stücke in Auftrag. Auch persönlich legte er Wert auf Eleganz und war stets tadellos gekleidet.

»Er hatte einen ausgezeichneten Geschmack, den wir alle von ihm geerbt haben«, berichtet sein Sohn Aldo. »Sein Stil war an jedem einzelnen seiner Artikel abzulesen.«

Guccio richtete hinter seinem Ladengeschäft eine kleine Werkstatt ein. Dort fertigte er in Ergänzung zu den importierten Produkten selbst Lederwaren an und eröffnete außerdem noch eine Reparaturwerkstatt, die bald sehr einträglich war. Er verpflichtete ortsansässige Handwerker und hatte schnell den Ruf, neben soliden Waren auch einen guten Service zu bieten. Am Ende seines ersten Geschäftsjahres erwarb Guccio am anderen Ende von Michelangelos Brücke Santa Trinità, also am anderen Ufer des Arno, in der Straße Lungarno Guicciardini, eine größere Werkstatt. Teilweise ließ er seine sechzig Handwerker bis tief in die Nacht hinein arbeiten, wenn die große Zahl der Bestellungen dies erforderte.

Das Oltrarno, also das Viertel südlich des Arno, beherbergte viele kleine Werkstätten, die das Flusswasser als Antrieb für ihre Maschinen zur Verarbeitung von Wolle, Seide und Brokat nutzten. In den breiten Uferstraßen und den kleineren Nebenstraßen, die von Süden aus in dieses Arbeiterviertel führten, erklang die sonore Melodie unermüdlicher Geschäftigkeit, Holz wurde gesägt und gehämmert, Wolle gewaschen und geschlagen und Leder geschnitten, genäht und poliert. Antiquitätenhändler, Rahmenbauer und andere Handwerker hatten sich ebenfalls hier niedergelassen. Das Gebiet rund um die Piazza della Repubblica, gleich hinter dem Fluss, hatte sich zum wirtschaftlichen und finanzpolitischen Zentrum von Florenz entwickelt, wie ja auch bereits im Mittelalter, als es Mittelpunkt der mächtigen Handelsgilden war, die das blühende Handwerk der Stadt bestimmt hatten.

Als Guccios Kinder heranwuchsen, begannen sie im Familienunternehmen mitzuarbeiten, ausgenommen Ugo, der kein Interesse daran hatte. Aldo hatte den größten Geschäftssinn, während Vasco, mit Spitznamen II Succube, der »Unterwürfige«, sich zunehmend um die Herstellung kümmerte, obwohl er eigentlich lieber in den Hügeln der Toskana auf die Jagd ging. Grimalda, mit Spitznamen La Pettegola, die »Klatschbase«, arbeitete zusammen mit einer jungen Verkäuferin, die Guccio eingestellt hatte, im Ladengeschäft. Rodolfo war noch zu jung, um im Laden zu helfen; als er heranwuchs, rümpfte er die Nase bei dieser Vorstellung und verwirklichte seinen Traum: Er ging zum Film.

Guccio erzog seine Kinder sehr streng und er bestand darauf, dass sie ihn mit dem förmlichen Lei und nicht dem vertraulichen tu ansprachen. Er erwartete gutes Benehmen bei den Mahlzeiten und gebrauchte seine Stoffserviette als Peitsche - er schlug mit ihr nach denen, die sich nicht an die Regeln hielten. Die Wochenenden verbrachte die Familie auf ihrem Landsitz außerhalb von Florenz, in der Nähe von San Casciano. Sonntags spannte Guccio das Pferd vor eine einachsige Holzkutsche, lud Aida und alle Kinder auf, und dann trotteten sie über die Felder zur Morgenmesse.

»Er hatte eine sehr ausgeprägte Persönlichkeit und forderte Respekt«, blickt Roberto Gucci zurück, einer seiner Enkel. »Ich sehe ihn immer noch mit einer Havanna und der scheinbar endlos langen goldenen Uhrkette vor mir.« Aus Sparsamkeit ließ Guccio den Schinken so dünn wie möglich schneiden, damit er ergiebiger war. Seine Wertvorstellungen reichte er an die Kinder weiter. In der Familie kursiert die legendäre Anekdote, dass Aldo die Mineralwasserflaschen immer mit Leitungswasser zu füllen pflegte. Guccio gönnte sich aber auch das eine oder andere Vergnügen, so zum Beispiel die herzhafte toskanische Küche, die Aida auf dem langen Esstisch der Familie servierte. Er hatte als Kind die Armut kennengelernt, vielleicht genoss er deshalb in seinen späteren Jahren gern gutes Essen. Beide, Guccio und Aida, waren ziemlich korpulent.

Guccio versuchte stets, Ugo wie seine leiblichen Kinder zu behandeln. Aber der Junge wollte sich irgendwie nicht in das Bild fügen, das sein Vater und seine Geschwister vorgegeben hatten. Seine Größe und seine rauen Manieren brachten ihm bei seinen Brüdern bald den Spitznamen II Prepo-tente, der »Halbstarke«, ein. Da Ugo keinerlei Interesse zeigte, im Familienunternehmen mitzuarbeiten, fand Guccio für ihn Arbeit bei einem seiner vermögenden Kunden, dem erfolgreichen Gutsbesitzer Baron Levi. Baron Levi stellte Ugo als stellvertretenden Leiter einer seiner Gutshöfe am Stadtrand von Florenz ein. Diese Situation schien wie geschaffen für den kräftigen jungen Mann. Schon bald begann Ugo, der bereits verheiratet war, sich mit seinem guten Einkommen zu brüsten. Guccio war nach wie vor sehr daran interessiert, seine Anfangsschulden zu tilgen und bat Ugo deshalb um ein Darlehen. Doch in Wahrheit war Ugo wegen einer extravaganten Freundin, der er heimlich den Hof machte, selbst in finanziellen Schwierigkeiten. Da es ihm zu peinlich war zuzugeben, dass er das Geld nicht hatte, versprach er seinem Vater das Darlehen. Inzwischen erreichte Guccio einen Vorschuss durch die Bank, mit dem er seine Schulden abzahlen konnte. Nachdem er der Bank den Vorschuss zurückgezahlt hatte, erklärte er sich einverstanden, Ugo dessen Geld nach und nach mit Zinsen zurückzuzahlen. Er konnte nicht wissen, dass Ugo, weil er sich schämte, seinem Vater zu gestehen, dass er nicht so erfolgreich war, wie er tat, 70 000 Lire (eine damals bedeutende Summe) aus Baron Levis Geldkassette gestohlen hatte. Er gab seinem Vater die 30 000 Lire, um die dieser ihn gebeten hatte, und machte sich für drei Wochen mit seiner Freundin, einer Tänzerin aus einem kleinen Theater am Ort, davon.

Baron Levi berichtete Gucci von dem ernsten Verdacht, dass Ugo ihn bestohlen habe, und verdarb damit Guccio seine Freude darüber, dass er seinen Partner endlich ausbezahlt hatte. Er konnte kaum glauben, dass sein Sohn fähig sein sollte zu stehlen, aber eine Überprüfung der Fakten schloss jeden Zweifel aus. Er versicherte dem Baron, das Geld in Raten von 10 000 Lire im Monat zurückzuzahlen.

Ugo machte seinen Eltern auch in anderer Hinsicht Sorgen. 1919 gründete der junge Benito Mussolini die Fasci di Combattimento, die Vorläufer seiner Faschistischen Partei. 1922, als Mussolini bereits im Parlament saß, zählte die Partito Nazionale Fascista bereits 320 000 Mitglieder in Italien, darunter auch Bürokraten, Industrielle und Journalisten. Ugo schloss sich ihnen an - vielleicht aus Rebellion gegen Guccio - und stieg zum Ortsvorstand auf. In dieser Funktion missbrauchte er seine Macht und terrorisierte den Baron und andere Menschen aus seiner Umgebung, für die er früher gearbeitet hatte, indem er zu jeder Tages- und Nachtzeit mit einer Horde betrunkener Freunde bei ihnen aufkreuzte und Essen und Trinken verlangte.

Währenddessen kämpfte Guccio um den Erfolg seines Unternehmens. 1924, nach den ersten zwei Geschäftsjahren, verlangten verschiedene Lieferanten, die Guccio zum Start seiner Firma Waren auf Kredit überlassen hatten, ihr Geld. Gleichzeitig zahlten einige seiner Kunden nicht, was sie ihm schuldig waren. Der junge Kaufmann hatte nicht genug Bargeld, um seine Rechnungen zu begleichen. Eines Abends eröffnete bei einem Treffen hinter verschlossenen Türen ein den Tränen naher Guccio der Familie und den engsten Mitarbeitern, dass er sein Geschäft schließen müsse.

»Wenn kein Wunder geschieht, kann ich keinen einzigen weiteren Tag durchhalten«, bemerkte Guccio damals.

Der starke, unverwüstliche Guccio wirkte wie »einer, der gerade zum Tode verurteilt worden war«, erinnert sich Giovanni Vitali, Grimaldas Verlobter. Als städtischer Bauinspektor kannte er die Familie Gucci sehr gut, außerdem hatte er erst zusammen mit Ugo, später dann mit Aldo, das römisch-katholische Gymnasium Castelletti besucht.

Vitali, der im Konstruktionsbüro seines Vaters arbeitete, hatte einige Ersparnisse für seine Zukunft mit Grimalda zur Seite gelegt. Er bot Guccio seine Unterstützung an. Guccio nahm das Darlehen an und war seinem zukünftigen Schwiegersohn sehr dankbar für die Rettung des kleinen Unternehmens. In den folgenden Monaten zahlte er Giovanni das Geld vollständig zurück. Als das Geschäft besser lief, vergrößerte Guccio die Werkstatt und ermutigte seine Handwerker, selbst Waren für das Geschäft zu entwerfen und herzustellen. Er hatte ein Händchen für fähige Handwerker und baute ein qualifiziertes Team von Lederverarbeitern auf, die eher Künstler als Handwerker waren. Sie fertigten schöne Handtaschen aus weichem Ziegenleder und echtem Chamois (Gamsleder), ausziehbare Börsen mit verstärkten Metallecken und Koffer im Stil der Gladstone-Taschen, die Guccio aus seiner Zeit im Hotel Savoy kannte. Zu ihrer Produktpalette zählten außerdem Kleiderkoffer, Schuhschachteln und Wäschekoffer - damals reisten die Touristen der Oberschicht mit ihrer eigenen Bettwäsche.

Das Geschäft lief so gut, dass Guccio 1923 einen zweiten Laden in der Via del Parione eröffnete und während der folgenden Jahre das Geschäft in der Via della Vigna Nuova erweiterte. Das Geschäft wechselte im Laufe der Geschichte der Firma mehrmals seinen Standort, zuletzt waren es die Nummern 47-49, gegenwärtig sind dort die Boutiquen von Valentino und Armani.

Aldo stieg 1925, im Alter von zwanzig Jahren, in das Familienunternehmen ein. Er lieferte mit Pferd und Wagen Pakete an Kunden, die in den Hotels der Stadt logierten. Er erledigte auch einfache Aufgaben im Laden wie putzen und aufräumen, half manchmal im Verkauf aus und dekorierte die Auslagen um. Aldos Geschick, Arbeit und Vergnügen zu verbinden, war von Anfang an nicht zu übersehen. Er vertiefte nicht nur seine kaufmännischen Fähigkeiten. Kontakte zu hübschen jungen Kundinnen verwandelte er geschickt in aufregende Flirts. Er war ein attraktiver junger Mann, schlank, mit strahlend blauen Augen, fein geschnittenen Gesichtszügen und einem breiten, warmen Lächeln, mit dem er die jungen Frauen bezauberte, die in den Laden kamen. Guccio würdigte den Einfluss, den Aldos einnehmendes Wesen auf das Geschäft hatte und sah großzügig über die amourösen Eskapaden seines Sohnes hinweg, bis eine seiner vornehmsten Kundinnen, die im Exil lebende Prinzessin Irene von Griechenland, eines Tages in seinen Laden kam und ihn privat zu sprechen wünschte. Guccio bat sie in sein Büro.

»Ihr Sohn hat sich mit meinem Dienstmädchen getroffen«, hielt sie ihm vor. »Das muss sofort aufhören, sonst sehe ich mich gezwungen, sie nach Hause zurückzuschicken. Ich trage die Verantwortung für sie.«

Guccio widerstrebte es zwar, Aldo Vorschriften zu machen, mit welcher Frau er ausgehen dürfe oder nicht, aber er wollte diese so wichtige Kundin nicht vor den Kopf stoßen. Also rief er seinen Sohn zu sich ins Büro und verlangte eine Erklärung.

Aldo war Olwen Price, einem helläugigen, rothaarigen Landmädchen aus England, zum ersten Mal bei einem Empfang des britischen Konsulats in Florenz begegnet. Olwen hatte bei den Einkäufen für ihre Herrin auch den Laden der Guccis besucht. Als Tochter eines Tischlers und als gelernte Schneiderin hatte sie alles darangesetzt, als Zofe auf das europäische Festland zu gelangen. Sie hatte Aldo mit ihrer schüchternen, bescheidenen Art, ihrem melodiösen englischen Akzent und ihrer Schlichtheit ganz für sich eingenommen. Er überredete sie, ihn weiter heimlich zu treffen, und erkannte bald, dass sich hinter ihrer zurückhaltenden Fassade eine Abenteurernatur verbarg. Sie wurden bald ein Paar und ihre amourösen Ausflüge führten in die Hügel der Toskana. Aldo merkte schnell, dass die Beziehung zu Olwen mehr war als nur ein kurzer Flirt. Als ihn Guccio und die Prinzessin zur Rede stellten, überraschte Aldo beide mit der Ankündigung, er wolle Olwen heiraten.

»Ab sofort müssen Sie sich nicht mehr um Olwen kümmern«, erklärte Aldo der Prinzessin mutig. »Sie gehört mir, und ich werde für sie sorgen.« Er gestand ihnen nicht, dass Olwen bereits schwanger war.

Aldo holte Olwen zu sich nach Hause und vertraute sie der Obhut seiner älteren Schwester Grimalda an, nicht ohne sie weiter heimlich ins Grüne zu entführen. Er folgte ihr dann nach England, um ihre Familie kennenzulernen. Sie heirateten am 22. August 1927 in einer kleinen Kirche in dem englischen Dorf Oswestry, nicht weit von Olwens Heimatort West Felton bei Shrewsbury. Aldo war zu dem Zeitpunkt zweiundzwanzig, Olwen war neunzehn. Ihr ältester Sohn Giorgio, den Aldo immer il figlio del amore nannte, ein Kind der Liebe, kam 1928 zur Welt. Es folgten zwei weitere Söhne: Paolo 1931 und Roberto 1932. Dennoch sollte es keine glückliche Ehe werden. Aldos und Olwens verliebte Eskapaden hatten sie beide fasziniert, aber als Familie in Florenz zu leben, das war etwas anderes. Zunächst musste das Paar unter einem Dach mit Guccio und Aida wohnen, die Olwen das traditionelle italienische Familienleben aufzwangen und sie Guccios strengem, autoritärem Regiment unterwarfen. Sie quetschten sich alle in die Wohnung der Gucci-Eltern an der Piazza Verzaia, ganz in der Nähe des steinernen Tores San Frediano in der ehemals ummauerten Stadt. Als sie ihren eigenen Hausstand in der Via Giovanni Prati am Stadtrand von Florenz gründeten, legten sich die Spannungen für eine Weile. Olwen widmete sich ausschließlich ihren drei Söhnen, während Aldo zunehmend mehr im väterlichen Unternehmen arbeitete. Sie lernte nie richtig Italienisch, war furchtbar schüchtern und tat sich schwer, Freunde zu finden. Als Aldo seinen Horizont berufsbedingt zu erweitern begann, reagierte sie darauf äußerst besitzergreifend und verärgert.

»Aldo war lebenslustig, aber sie setzte allem, was er tun wollte, einen Dämpfer auf«, erinnert sich seine ältere Schwester Grimalda. »Sie ließ sich nie von ihm ausführen, immer mit der Entschuldigung, sie müsse sich um die Kinder kümmern. Deswegen hatte er sie nicht geheiratet.«

Rodolfo, Guccios und Aidas jüngster Sohn, interessierte sich nicht für das Familienunternehmen, auch nicht, als seine Brüder und Schwestern bereits im Laden seines Vaters in der Via della Vigna Nuova arbeiteten. Rodolfo hatte andere Träume. Er wollte Filmschauspieler werden.

»Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um im Laden zu stehen«, protestierte der junge Mann, der von seiner Familie immer »Foffo« genannt wurde, als Vater Gucci den Kopf schüttelte. »Ich will zum Film.«

Guccio verstand nicht, wie sein jüngster Sohn auf diese Idee gekommen war, und versuchte, sie ihm auszureden. 1929, als Rodolfo siebzehn war, schickte ihn sein Vater nach Rom, um einem wichtigen Kunden ein Paket auszuhändigen. In der Lobby des römischen Plaza Hotels fiel er dem italienischen Regisseur Mario Camerini auf, der den gut aussehenden jungen Mann zu Probeaufnahmen einlud. Kurz danach traf ein Telegramm mit der Terminbestätigung im Hause Gucci in Florenz ein. Als Guccio es gelesen hatte, explodierte er.

»Du bist wohl nicht ganz bei Sinnen«, brüllte er seinen Sohn an. »Beim Film wimmelt es nur so von Verrückten. Kann sein, dass du Glück hast und fünf Minuten Ruhm genießen kannst, aber was kommt dann? Was, wenn man dich plötzlich vergisst und du nicht mehr arbeiten kannst?«

Aber Guccio spürte, dass er Rodolfo nicht umstimmen konnte, und gestattete es ihm, zu den Probeaufnahmen nach Rom zu fahren. Sie waren von Erfolg gekrönt. Rodolfo trug damals noch, wie alle Jungen in seinem Alter, kurze Hosen; er musste sich für diesen Anlass eine lange Hose von seinem Bruder Aldo leihen. Camerini mochte Rodolfo und gab ihm eine Rolle in Rotaie, einem der Meisterwerke des jungen italienischen Films. Der Film erzählt die dramatische Geschichte eines jungen Liebespaares, das in einem billigen Hotel an den Bahngleisen seinen gemeinsamen Selbstmord beschließt. Rodolfo hatte ein sensibles und ausdrucksstarkes Gesicht, perfekt geeignet für die stilisierten Filme dieser Zeit. Nach Rotaie wurde er vor allem in komischen Rollen bekannt, in denen er die Zuschauer mit seinen Grimassen und seinen albernen Streichen an Charlie Chaplin erinnerte. Als Schauspieler nannte er sich Maurizio D’Ancora. Keiner seiner späteren Filme brachte ihm viel Erfolg, obwohl er in Finalmente Soli an der Seite der jungen italienischen Schauspielerin Anna Magnani spielte, mit der man ihm eine Affäre nachsagte.

Während der Aufnahmen zu einem seiner ersten Filme fiel Rodolfo auf dem Set eine lebhafte blonde Schauspielerin auf, die eine Nebenrolle spielte. Es war Alessandra Winklehaussen, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Sandra Ravel, die für ihre Zeit sehr freizügig war und vor Energie nur so sprühte. Alessandras deutscher Vater arbeitete in einer Chemiefabrik; ihre Mutter war eine geborene Ratti und in der Nähe von Lugano, am Nordufer des Luganer Sees aufgewachsen, im italienischsprachigen Teil der Schweiz. Kurz nachdem sie Rodolfos Aufmerksamkeit geweckt hatte, stand ihm Alessandra in Together in the Dark gegenüber, einem frühen Tonfilm über ein abenteuerlustiges Starlet, das versehentlich ins falsche Hotelzimmer gerät und neben Rodolfo ins Bett schlüpft - der sich im wirklichen Leben wie auch im Film Hals über Kopf in sie verliebte. Ihr Filmtreffen im Bett entfachte wahre Liebe. Alessandra und Rodolfo heirateten 1944 höchst romantisch in Venedig. Rodolfo ließ die Hochzeit von Anfang bis Ende auf Zelluloid bannen, wie das junge Paar in einer Gondel über das Wasser der Lagune gleitet und wie es sich an der Hotelrezeption glücklich zuprostet. Als am 26. September 1948 ihr Sohn geboren wird, nennen sie ihn zu Ehren von Rodolfos Künstlernamen Maurizio.

Im Jahre 1935, während Rodolfo noch beim Film arbeitete und keinen Gedanken daran verschwendete, jemals in das Familienunternehmen einzusteigen, überfiel Mussolini Äthiopien. Obwohl weit weg von Italien, hatte dieses Ereignis großen Einfluss auf die Firma Gucci. Der Völkerbund verhängte ein internationales Handelsembargo gegen Italien. Als sich daraufhin zweiundfünfzig Länder weigerten, ihre Produkte an Italien zu verkaufen, konnte Guccio die feinen Leder und anderen Materialien nicht mehr importieren, die er zur Herstellung seiner exklusiven Taschen und Koffer dringend benötigte. Aus Angst, dass sein kleines Unternehmen genauso zusammenbrechen könnte wie Jahre zuvor das Strohhutgeschäft seines Vaters, rüstete Guccio Berichten zufolge seine Werkstätten um und fertigte Schuhe für das italienische Militär, um den Betrieb nicht einstellen zu müssen.

Guccio suchte nach Alternativen, wie andere italienische Geschäftsleute auch, so etwa zum Beispiel sein Nachbar Salvatore Ferragamo, der einige seiner besonders bemerkenswerten Schuhmodelle in der dunkelsten Zeit des Embargos geschaffen hat. Ferragamo ließ kein denkbares Ersatzmaterial aus - raffiniert verwendete er Kork, Raphiabast und sogar das Zellophanpapier von Bonbons zur Herstellung von Schuhen. Die Gucci versorgten sich so gut es ging mit italienischem Leder und verwendeten erstmals cuoio grasso aus einer Florentiner Gerberei in Santa Croce. Dafür wurde eine besondere Rasse von Kälbern aus dem üppigen Val di Chiana im Stall aufgezogen, um Verletzungen ihres Fells zu vermeiden. Die Häute wurden dann auf der Außenseite behandelt und mit Fischfett bearbeitet. Durch diese Methode wurde das Leder geschmeidig, glatt und weich; Kratzer verschwanden auf wundersame Weise mit einem Fingerstrich. Cuoiograsso wurde schnell zu einem Markenzeichen von Gucci. Guccio setzte außerdem andere Materialien wie Raphiabast, Korb und Holz zur Produktion seiner Produkte ein, um den Lederanteil auf ein Minimum zu reduzieren. Er stellte Stofftaschen mit Lederbesatz her. Er bestellte einen speziellen Hanf, canapa, aus Neapel. Dieses Material erlaubte eine Modellreihe robuster, leichter und unverwechselbarer Koffer, die bald zu den erfolgreichsten Produkten des Hauses Gucci gehörten. Guccio entwarf auch das erste Logo - einen Vorgänger des legendären Doppel-G -, eine Reihe kleiner zusammenhängender Karos, die in dunkelbrauner Farbe auf das naturfarbene Leder gedruckt wurde. Egal von welcher Seite man den Stoff betrachtete, man nahm immer das gleiche Muster wahr. Guccio hatte außerdem begonnen, neben Taschen und Koffern, den Kernprodukten seiner Firma, auch andere Artikel herzustellen. Er stellte fest, dass kleinere Lederaccessoires, wie zum Beispiel Gürtel und Brieftaschen, sehr einträglich waren, weil sie Kunden in das Geschäft brachten, die nicht nach großen und teuren Artikeln Ausschau hielten.

Währenddessen reiste Aldo durch Italien und einige Länder Europas, um das Interesse an Gucci zu erkunden. Die positive Resonanz, auf die er zunächst in Rom und später in Frankreich, der Schweiz und England stieß, weckte in ihm die Überzeugung, dass Gucci sein Potenzial mit nur einer Verkaufsstelle in Florenz nicht ausschöpfte. Wenn so viele Kunden zu Gucci kamen, warum sollte man Gucci dann nicht zu ihnen bringen? Er versuchte, seinen Vater zur Eröffnung einer Filiale in einer anderen Stadt zu überreden.

Guccio wollte davon nichts wissen. »Und was ist mit dem Risiko? Denk an die enormen Investitionen. Woher sollen wir das Geld nehmen? Geh zur Bank und frage, ob sie dir das finanzieren wollen!«

Während ihrer hitzigen Diskussionen verwarf Guccio jeden Vorschlag Aldos, sprach aber später heimlich bei den Banken vor und beteuerte, dass er Aldos Pläne unterstütze.

Aldo setzte sich schließlich durch. Am 1. September 1938 eröffnete Gucci in Rom eine Filiale. In der eleganten Via Condotti 21, im geschichtsträchtigen Palazzo Negri. Damals waren in der Via Condotti außer Gucci nur der exklusive Juwelier Bulgari und der Hemdenschneider Enrico Cucci vertreten, zu dessen Kunden Winston Churchill, Charles de Gaulle und die italienische Königsfamilie, das Haus Savoyen, zählten.

Lange vor dem legendären Film La Dolce Vita hatte Aldo erkannt, dass Italiens Hauptstadt zu den beliebtesten Tummelplätzen der Schönen und Reichen gehörte. Während sein Vater beim Anblick der Rechnungen den Kopf schüttelte, beharrte Aldo darauf, dass jede Investition gerechtfertigt war, um das Gucci-Geschäft zu einem Anziehungspunkt für begüterte und anspruchsvolle Touristen zu machen. Der Laden erstreckte sich über zwei Stockwerke. Gläserne Schwingtüren wurden von geschnitzten Elfenbeingriffen in der Form von übereinander gestapelten Oliven geziert.

»Die Griffe waren Kopien der Türgriffe des Ladens in der Via della Vigna Nuova und eines der ersten Gucci-Symbole«, erzählt Aldos dritter Sohn Roberto. In wuchtigen, verglasten Mahagonivitrinen waren die Gucci-Produkte ausgestellt; im Erdgeschoss Handtaschen und Accessoires, im oberen Stockwerk Geschenkartikel und Koffer.

Aldo mietete eine Wohnung im zweiten und dritten Stock über dem Laden und zog mit Olwen und den Kindern nach Rom. Zunächst hatte Olwen die Jungen zu ihrer Familie nach England gebracht, entschied sich dann aber doch für Italien, als der Krieg ausbrach. Die Alliierten behandelten Rom als neutrale Stadt und bombardierten sie zunächst nicht. Während Aldo dafür sorgte, dass der Laden geöffnet bleiben durfte und Gewinn abwarf, besuchten seine Söhne eine von irischen Nonnen geführte Schule. Olwen arbeitete mit einer Gruppe irischer Priester als Fluchthelferin für alliierte Gefangene. In den letzten Kriegswochen begannen die Alliierten jedoch mit der Bombardierung von Bahnlinien am Stadtrand von Rom. Aldo brachte Olwen und die Kinder aufs Land, musste aber selbst nach Rom zurückkehren, weil die Stadtverwaltung den Geschäftsinhabern die weitere Öffnung ihrer Läden verordnet hatte.

Während des Krieges zerstreute sich die Familie Gucci in alle Winde. Ugo, der sich 1922 am Marsch der Faschisten auf Rom beteiligt hatte, war als Verwaltungsbeamter der Faschisten in der Toskana tätig. Rodolfo verpflichtete sich in der Unterhaltungseinheit der Streitkräfte, reiste mit der Truppe und spielte den Soldaten die alten komischen Rollen aus seinen ersten Stummund Tonfilmen vor. Vasco durfte nach einer kurzen Dienstzeit beim Militär in die Werkstätten nach Florenz zurückkehren und die Schuhproduktion für das Militär beaufsichtigen.

Nach Kriegsende erhielt Olwen eine besondere Auszeichnung für ihre Arbeit. Loyal gegenüber ihrer Familie, nutzte sie ihre Verbindungen. Ugo wurde als Gefangener der britischen Armee in Terni festgehalten; sie erreichte zunächst, dass ihr Schwager eine bessere Behandlung erfuhr und später sogar seine Freilassung. Sie reiste mit Aldo nach Venedig, um Rodolfo zu Hilfe zu kommen, der dort nach der Kapitulation Italiens mit den Truppen gelandet war.

Italien brauchte Zeit für den Wiederaufbau. Die Werkstätten am Lungarno Guicciardini waren zerstört worden, als abziehende deutsche Truppen die Brücken von Florenz, einschließlich Michelangelos Santa Trinità, gesprengt hatten. Die Familie suchte also nach einem neuen Gelände, um die Lederwarenproduktion wieder aufzunehmen. Guccio quälte die Angst, dass Ugos Position bei den Faschisten die neue, demokratische Regierung Italiens veranlassen könnte, dessen Anteile am Familienunternehmen als Vergeltung für sein Verhalten im Krieg zu beschlagnahmen. Er besprach sich eines Tages mit seinem Adoptivsohn und bot ihm Land und eine bedeutende Summe im Tausch gegen seine Anteile. Ugo akzeptierte die Vereinbarung und ging fortan seinen eigenen Weg. Er gründete ein Lederwarenatelier in Bologna und produzierte dort Taschen und Accessoires aus Leder für die Damen der Stadt; zusätzlich belieferte er das Familienunternehmen.

Rodolfo hatte zwar als Schauspieler Erfolg gehabt, doch nach dem Krieg veränderte sich die Lage der Filmindustrie dramatisch. Der Tonfilm hatte den Stummfilm verdrängt, und die neuen Regisseure des italienischen Realismus - Rossellini, Visconti oder Fellini - wollten nicht auf die stilisierten Stummfilmstars zurückgreifen. Der junge Gucci begriff schnell, dass ihm keine großen Rollen oder guten Drehbücher mehr angeboten werden würden. Auf Alessandras Drängen bat Rodolfo, der für Frau und Kind sorgen musste, seinen Vater, in das Familienunternehmen zurückkehren zu dürfen. Aldo drängte seinen Vater, Rodolfo willkommen zu heißen. Das Unternehmen expandierte, und Guccio brauchte mehr Hilfe. Anfangs setzte Guccio Rodolfo in dem Geschäft in der Via del Parione ein. Rodolfo verzeichnete sofort großen Erfolg bei den Damen, die von diesem eleganten und gut aussehenden Verkäufer bei Gucci begeistert waren.

»Sind Sie wirklich nicht Maurizio D’Ancora? Sie sehen genauso aus wie er!«, fragten ihn einige der Mutigsten neugierig.

»Nein, Signora, mein Name ist Rodolfo Gucci«, antwortete er dann mit einer galanten Verbeugung und einem vergnügten Augenzwinkern.

Guccio beobachtete seinen Sohn ein Jahr lang und war von seiner Arbeitsweise sehr angetan. Engagiert, entschlossen und aufmerksam für die Probleme des Unternehmens bewies Rodolfo seine Zuverlässigkeit. 1951 bot Guccio Rodolfo und Alessandra an, nach Mailand zu ziehen und dort die neue Gucci-Filiale an der Via Monte Napoleone zu führen. Die Via Monte Napoleone, die von der Via Alessandro Manzoni zum Corso Matteotti im Zentrum Mailands führt, war seinerzeit die beste Einkaufsstraße der Stadt; mit einer Reihe von ausgesuchten Juwelieren, Schneidern, Lederfabrikanten und anderen Geschäften hatte sie den gleichen Rang wie die Via Tornabuoni in Florenz oder die Via Condotti in Rom. Der neue Laden versorgte bald auch Mailands literarisches und künstlerisches Volk, das sich regelmäßig gleich um die Ecke, in der Trattoria Bugatta, einem beliebten Treffpunkt, einfand. Mittlerweile zahlte sich Aldos Spekulation auf die Niederlassung in Rom aus. Amerikanische und britische Truppenangehörige, die sich nach dem Krieg in der Stadt aufhielten, kauften wie verrückt Guccis handgefertigte Ledertaschen, Gürtel und Portemonnaies, die genau die Art von Souvenir waren, nach der sie suchten. Besonders erfolgreich waren die als »suiters« bezeichneten Koffer, die außen mit der für Gucci typischen canapa bezogen und innen mit Kleiderbügeln ausgestattet waren. Die amerikanischen und britischen Offiziere transportierten ihre Uniformen darin. Zuerst konnte das Geschäft in Florenz mit dem in Rom nicht mithalten, holte dann aber auf, als die amerikanischen Touristen Italien aufs Neue überfluteten, um seine historischen und kulturellen Denkmäler zu besichtigen und wie eh und je einen Teil ihrer vielen Dollars in eleganten Geschäften auszugeben. Bald bestand Guccis Problem darin, mit der Nachfrage Schritt zu halten. 1953 eröffnete Guccio eine weitere Werkstatt im Oltrarno-Viertel, auf der anderen Seite des Arno. In einem historischen Gebäude in der Via delle Caldaie untergebracht, war sie bis in die siebziger Jahre hinein eine wichtige Produktionsstätte der Guccis.

Die Via delle Caldaie, die ihren Namen von den riesigen Bottichen hatte, in denen hier im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert die Wolle gefärbt wurde, führt von der Piazza Santo Spirito nach Süden. In dem Palazzo, den Guccio kaufte, war früher ein Laden für Filz- und Wollstoffe ansässig, bis gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts eine Kaufmannsfamilie namens Biuzzi an dieser Stelle einen geräumigen Palast erbaute, die Casa Grande. 1642 kaufte das Gebäude der Kardinal und spätere Erzbischof von Florenz, Francesco de’Nerli, den Dante in seiner Divina Commedia erwähnt. In den folgenden beiden Jahrhunderten wurde der Palast immer wieder in zahlreichen diplomatischen Berichten erwähnt. Nach 1800 war das Anwesen im Besitz verschiedener bedeutender Familien aus Florenz, bis es Guccio Gucci 1953 erwarb. Viele Räume waren von Fresken an Wänden und Decken geschmückt; die schönsten davon fanden sich auf den Wänden und der Decke der weitläufigen Räume im ersten Stock, wo Guccis Handwerker das geschmeidige cuoio grosso zu kunstvollen Taschen verarbeiteten. Unter den Bogengewölben im Erdgeschoss stellten andere Handwerker Koffer her.

Als die Nachfrage stieg, wurden weitere junge Handwerker eingestellt und von Guccis erfahrenen Lederverarbeitern angelernt, immer unter dem wachsamen Blick des capo operaio, des Vorarbeiters. Jedes Team, bestehend aus einem jungen Lehrling und einem erfahrenen Fachmann, verfügte über eine eigene Werkbank bzw. banco, und jeder Handwerker erhielt ein Namensschild mit dem Gucci-Siegel und einer persönlichen Geheimzahl - die gleiche Nummer befand sich auf der Stechkarte, die er morgens und abends lochen musste. Als Gucci 1971 am Stadtrand von Florenz eine moderne Fabrik eröffnete, hatte sich die Zahl seiner Angestellten mehr als verdoppelt und betrug 130.

Die toskanischen Lederhandwerker hielten Gucci für den allerbesten Arbeitgeber, weil er ihnen, unabhängig von den Marktschwankungen, eine lebenslange, absolute Sicherheit bot.

»Es war, wie wenn man Beamter wird«, erzählt Carlo Bacci, der 1960 als Lehrling in der Via delle Caldaie bei Gucci angefangen hatte. »Wenn Gucci dich einmal eingestellt hatte, war das für immer«, erklärte er mit seinem warmen und melodischen toskanischen Akzent. »Andere Firmen schickten ihre Leute nach Hause, wenn die Arbeit rar war. Bei Gucci war man in Sicherheit. Gucci produzierte einfach weiter; sie wussten, dass sie immer alles verkaufen konnten, was sie herstellten.« Nachdem er mehr als elf Jahre in der Via delle Caldaie gearbeitet hatte, gründete Bacci eine eigene Firma für Lederverarbeitung, wie auch andere Angestellte von Gucci, und beliefert Gucci noch heute.

»Wir fingen jeden Morgen zwischen 8 Uhr und 8 Uhr 30 an«, erinnert sich Dante Ferrari, ein anderer langjähriger Mitarbeiter bei Gucci. »Kaffeepause war um 10 Uhr. Wenn der capo operaio sah, dass jemand unter der Werkbank an einem panino herumfummelte, meldete er das! Nicht nur, weil es Zeitverschwendung war, sondern auch, weil man mit fettigen Fingern das kostbare Leder ruinieren konnte.«

Die Handwerker spezialisierten sich entweder auf die Verarbeitung der Felle oder auf die Herstellung der Taschen. Damals erforderte die Verarbeitung der Felle es auch, die Innenseite der wertvollen Häute abzuschaben, an denen oft noch Reste von tierischen Fasern hingen. Andere Arbeiter schnitten die einzelnen Teile aus, wieder andere pressten die Ecken mit einem speziellen Werkzeug flach, damit die Säume dünner und leichter zu nähen waren, diesen Vorgang nannte man scarnitura.

Die wahren Künstler aber waren diejenigen Handwerker, die abschließend die Taschen zusammensetzten. Jeder war von Anfang bis Ende für die Herstellung einer ganzen Tasche verantwortlich - eine Aufgabe, bei der manchmal bis zu hundert verschiedene Teile zusammengefügt werden mussten und die im Durchschnitt etwa zehn Stunden dauerte. »Jeder Handwerker war für seine Produkte verantwortlich und seine persönliche Nummer wurde in jeder Tasche festgehalten - falls es Reklamationen geben sollte, würden sie auf ihn zurückfallen. Es war nicht wie am Fließband, wo der eine die Taschen macht und der andere die Ärmel«, erklärte Ferrari. Er hütet eine Sammlung schwarzer, in Pappe gebundener Notizhefte, in die er sorgfältig jedes Handtaschenmodell gezeichnet und nummeriert hat, um eine Dokumentation zu führen - obwohl das Archiv von Gucci Duplikate anfertigen ließ.

»Abgesehen von den Nähmaschinen brauchte man weiter nichts als einen Tisch, ein Paar geschickte Hände und einen klaren Kopf«, betont Ferrari rückblickend.

Meistens stammten die Entwürfe für neue Taschen von den Mitgliedern der Familie Gucci, die aber auch ihre Handwerker zur Entwicklung neuer Modelle ermutigte - natürlich unter Aufsicht und mit Billigung der Familie.

Die Handtasche mit dem Bambusgriff, die einfach nach ihrer Codenummer 0633 benannt wurde, ist vermutlich auf diese Weise entstanden. Obwohl nicht mehr belegt ist, wann genau und von wem diese Tasche entwickelt worden ist, datiert sie die Modehistorikerin Aurora Fiorentini, die am Aufbau eines Gucci-Archivs mitgearbeitet hat, auf 1947. Die Verwendung von Bambus zeugt vom Einsatz jener Materialien, mit denen man das Vorkriegshandelsembargo umgehen wollte. Man nimmt an, dass die erste »Tasche mit dem Bambusgriff« von Aldo und dem damaligen capo operaio stammte und einen Ledergriff hatte - vielleicht nach dem Vorbild einer Tasche, die Aldo von einer seiner Reisen nach London mitgebracht hatte. Die auffällige Form der Tasche war der Seitenansicht eines Sattels nachempfunden. Ihre strenge Form - mehr im Stil eines kleinen Koffers als der weicheren, weniger konstruierten Taschen, die Gucci bis dahin produziert hatte - machte sie ebenfalls unverwechselbar. Der Bambus, der von Hand über einer heißen Flamme geformt wurde, verlieh den Artikeln von Gucci ihren typisch sportlichen Charakter. Bereits wenige Jahre später, 1953, trägt die junge Ingrid Bergman in Roberto Rossellinis Viaggio in Italia eine Bambusgriff-Handtasche und einen Schirm von Gucci.

Die Gucci unterhielten freundschaftliche, persönliche Beziehungen zu den Handwerkern, die für sie arbeiteten, und verbrachten viel Zeit in den Werkstätten, sprachen die Arbeiter mit ihrem Namen an, klopften den alten Meistern jovial auf die Schulter und erkundigten sich nach ihren Familien. »Wir kannten den Namen jedes einzelnen Angestellten und wir wussten von ihren Kindern, ihren Problemen, ihren Vergnügen«, weiß Roberto Gucci zu berichten. »Wenn sie Hilfe benötigten, beim Kauf eines Autos oder der Anzahlung für ein Haus - kamen sie zu uns. Schließlich aßen wir alle aus einem Topf, wenn auch einige von uns größere Löffel als die anderen hatten«, fügt er verlegen hinzu.

Vasco Gucci, der die Verantwortung für die Herstellung übernommen hatte, fuhr mit einem damals sehr beliebten kleinen Motorroller, dem Motom, kreuz und quer durch Florenz. Die Arbeiter in der Via delle Caldaie wussten immer, wann er kam, weil sie das Knattern und Stottern seines Rollers hörten, das durch das Echo in den engen Gassen noch verstärkt wurde.

»›Uffa! Eccolo arrivato!‹, riefen wir dann immer«, erinnert sich Ferrari. »Vasco war wie ein Psychologe, er spürte es geradezu, ob man sich für seine Arbeit interessierte oder nicht.«

Die Angestellten entwickelten eine Hassliebe zur Familie Gucci. Stolz und sehr selbstkritisch, wenn es um ihre Arbeit ging, übertrafen sie sich dennoch immer wieder selbst, um ein herzliches »Bravo!« von Guccio, Aldo, Vasco oder Rodolfo hören zu dürfen.

Im Frühjahr 1949 reiste Aldo, immer auf der Suche nach neuen Ideen, zu einer der ersten Industrie- und Handelsmessen nach London. Er entdeckte einen Stand mit Schweinsleder-Häuten und war von ihrer wunderbaren rötlichen Farbe beeindruckt. Er bestellte mehrere Häute bei diesem Gerber, einem Mr. Holden aus Schottland, und fragte ihn, ob es möglich wäre, einige davon in verschiedenen Farben, unter anderem auch blau und grün, einzufärben.