House of Trent - Der Herzog - Jennifer Haymore - E-Book
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House of Trent - Der Herzog E-Book

Jennifer Haymore

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Beschreibung

Wie kann sie nur noch schöner geworden sein? Sarahs Anblick trifft Simon Hawkins, den Herzog von Trent, wie ein Schlag in den Magen. Drei Jahre lang hat er sich von der Tochter des Gärtners ferngehalten, da ihr niedriger Stand jede Beziehung verbietet. Jetzt zwingt ihn das mysteriöse Verschwinden seiner Mutter zurück auf den Landsitz der Familie - und damit auch in Sarahs Gegenwart. Und mit jeder Sekunde wächst die Versuchung, seinen Anstand zu vergessen und sich einen Kuss zu stehlen. Und noch einen. Und noch einen ... "Emotional, sinnlich und bezaubernd." Romantic Times

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Seitenzahl: 457

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

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Über die Autorin

Jennifer Haymore hat als Kind mit ihrer Familie die Südsee in einem selbstgebauten Segelboot bereist. Diese Monate auf See haben den Grundstein für ihre Abenteuerlust und Erzählfreude gelegt. Als Autorin von aufregenden, sinnlichen Liebesromanen lebt sie beides aus. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern hat sie sich inzwischen in Kalifornien niedergelassen.

Mehr Informationen unter: www.jenniferhaymore.com

Jennifer Haymore

HOUSEOF TRENT

DER HERZOG

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Angela Koonen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2013 by Jennifer HaymoreTitel der amerikanischen Originalausgabe: »The Duchess Hunt«Originalverlag: Forever, an imprint of Grand Central Publishing,a division of Hachette Book Group, Inc.Published in agreement with the author,c/o BAROR INTERNATIONAL, Inc., Armonk, New York, U.S.A.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Anita Hirtreiter, MünchenTitelillustration: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deunter Verwendung von Motiven von © hotdamnstock;Thinkstock/Matt– Gibson; Thinkstock/kitipol; Thinkstock/kuceleUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3062-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Prolog

Sarah Osbourne wohnte erst seit einigen Tagen auf Ironwood Park, aber es gefiel ihr sehr. Die Vögel brachten ihr jeden Morgen ein Ständchen. Sie begrüßten sie mit ihrem Gezwitscher durch das kleine Fenster im Gärtnerhaus, das sie mit ihrem Vater bewohnte. Nachmittags schien die Sonne über dem Park und wärmte ihre Schultern durch den Musselin ihres Kleides, wenn sie über das Anwesen streifte. Und abends warfen Laternen ein goldenes Licht auf die Fassade des herrschaftlichen Hauses, das auf einem sanft ansteigenden Hügel stand und majestätisch über die Ländereien des Herzogs von Trent blickte.

Wenn Sarah aus dem Rautenglasfenster schaute, konnte sie das Haus in der Ferne sehen, eingerahmt von den anmutig gebogenen weißen Zweigen zweier Birken, die vor ihrem Cottage standen. Im Laufe des Tages sah sie häufig dort hinüber und stets noch einmal beim Schlafengehen, bevor Papa sie zudeckte. Wie ein dunkler, mächtiger Wachposten schaute es zu ihr zurück, und sie fühlte sich sicher und behütet. Eines Tages, das wünschte sie sich, würde sie vielleicht einmal in seine Nähe gelangen und um die Säulen vor dem Eingang herumlaufen. Eines Tages würde sie es vielleicht sogar betreten dürfen.

Doch im Augenblick galten ihre Gedanken nicht dem Haus. Sie flitzte einen Weg hinunter, auf der Jagd nach dem schönen schwarz-weiß gefleckten Schmetterling, der an der Buchsbaumhecke, die den Garten umgab, von Blatt zu Blatt flog.

Endlich blieb er, anscheinend müde geworden, auf einem Zweig sitzen. Sarah lief langsamer und näherte sich dann behutsam. Mit angehaltenem Atem streckte sie die Hand danach aus, um mit dem Finger über einen der Flügel zu streichen. Der war so zart. Der Schmetterling starrte sie an. Er schien ihr zuzunicken. Mit weichem Flügelschlag erhob er sich und flatterte davon. Sarah blickte auf den verlassenen Strauch.

»Oooh«, hauchte sie erfreut. Das war nicht irgendein Gebüsch, das war ein Brombeerstrauch. Im vorigen Sommer, als Mama sehr krank gewesen war, hatte Sarah jeden Tag Brombeeren gepflückt, und Brombeerwurzeltee hatte Mamas Bauch, der vom vielen Husten schmerzte, gutgetan. Sarah mochte es, wie höckerig sich die Beeren im Mund anfühlten und wie beim Hineinbeißen der kräftige Saft über die Zunge spritzte.

Es war eigentlich noch zu früh für Brombeeren, aber unter den reifenden Früchten waren doch eine Hand voll dunklere zu sehen, die schon schmeckten. Während sie sich eine nach der anderen in den Mund steckte und das süßsaure Aroma auskostete, schaute sie neugierig in die Umgebung.

Hier gab es nicht nur einen Brombeerstrauch, sondern viele. Sie hatten sich entlang eines Baches wild ausgebreitet.

Sarah blickte in die Richtung, aus der sie gekommen war, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verlaufen hatte. Die Kuppeln des Herrenhauses waren zwischen den Ulmen noch zu sehen, beruhigend wie ein Leuchtturm.

Nachdem die Hand voll Beeren vertilgt war, wandte sie sich der Suche weiterer reifer Beeren zu und pflückte sie zwischen den stachligen Zweigen heraus. Sie pflückte und aß so lange, bis sie satt war. Da erst bemerkte sie die leichten Kratzer an ihren Armen und den dunklen Saft an ihren Händen. Traurig blickte sie an sich hinab: Der Saft hatte auch ihr Kleid befleckt. Papa würde verärgert sein, wenn er es sähe, doch sie würde die Flecke herauswaschen, bevor er von der Arbeit heimkäme.

Ihr Zopf sah schon wieder unordentlich aus, einige Strähnen waren herausgerutscht und hingen ihr über die Wangen. Mit vorgeschobener Lippe blies sie aufwärts dagegen, aber vergebens. Darum schob sie sich die Haare mit ihren schmutzigen Händen hinter die Ohren.

Und dabei sah sie den Schmetterling wieder.

Jedenfalls schien es derselbe zu sein. Schön und groß, die Flügel gesprenkelt wie ein Spatzenei, hatte er sich auf einem Brombeerstrauch niedergelassen, auf einem hohen Zweig in der Mitte.

Sarah stieg auf einen abgebrochenen Ast, der zwischen die Sträucher gefallen war. Auf Zehenspitzen beugte sie sich vor und beäugte das Insekt. »Flieg nicht weg«, murmelte sie, »hab keine Angst.«

Sie streckte die Hand aus, doch diesmal wollte sie ihn einfangen. Sie wollte ihn halten, die zarten Beine auf der Handfläche spüren.

Nur noch ein kleines Stück weiter … Knackend zerbrach der Ast unter ihr. Sie taumelte nach vorn, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, aber vergeblich. Mit dem Kopf voran fiel sie in den Brombeerstrauch. Sie japste vor Schmerzen, als die Dornen ihr die Haut aufrissen.

Auf allen vieren landete sie in dem Busch und mit einem Handballen auf einer stachligen Ranke.

Keuchend und mit zugekniffenen Augen hob sie die Hand langsam an. Dann zog sie sich die abgebrochenen Dornen heraus. Aus den kleinen Stichwunden quoll Blut, und schon lief ein warmes Rinnsal ihren Unterarm hinab. Bei jedem Atemstoß entfuhr ihr ein leichter Schmerzenslaut. Die Knie taten ihr schrecklich weh. Es war unmöglich, sich aufzurichten, ohne sich auf etwas zu stützen, und da gab es nichts außer dornigen Zweigen.

»Darf ich behilflich sein, Miss?«

Sie wollte über die Schulter blicken und sehen, wer sie ansprach, doch sofort stach sie ein Dorn in die Wange, und darum drehte sie den Kopf wieder nach vorn.

Die Stimme gehörte einem Mann. Er klang freundlich.

»Ja, bitte, Sir.«

»Gut. Halte still.«

Es schien ewig zu dauern, aber nach und nach schnitt er rings um sie herum mit einem Messer die Zweige weg. Schließlich fasste er sie bei der Taille und hob sie an, sah, dass noch ein Zweig sie kratzen könnte, schnitt auch diesen weg und hob sie endgültig aus dem Strauch.

Er stellte sie auf festen, dornenfreien Boden. Erleichtert drehte sie sich um und blickte zu ihm auf.

Vor ihr stand ein großer Junge, der viel älter war als sie. Er hatte Sommersprossen auf der Nase und dunkelblonde Haare, die bis zu den Schultern reichten. Er betrachtete sie mit klaren grünen Augen, zwischen den Brauen zwei tiefe Falten, die seine Besorgnis erkennen ließen.

»Geht es einigermaßen?«

Sarah war es nicht gewohnt, mit Jungen zu sprechen. Besonders nicht mit hübschen Jungen in Kniehosen und feinen dunklen Wolljacken. Jungen, die bereits eine tiefe Stimme bekommen hatten, weil sie sich zum Mann entwickelten.

Sprachlos und mit großen Augen nickte sie. Seine Miene wurde weicher.

»Hier.« Er ging in die Hocke und zog ein Taschentuch aus dem Ärmel. Ganz behutsam tupfte er ihr damit die Wange ab. Bei ihrem Versuch, sich nach ihm umzudrehen, hatte der Dorn sie gestochen, und es hatte sofort geblutet. Dann faltete der Junge das Taschentuch und wischte ihr die Hände ab. Anschließend besah er ihre Knie. Seinem Blick folgend schaute sie an sich hinunter.

»Oh nein«, hauchte sie.

Ihr Rock war von den Knien bis zum Saum zerrissen, und ihre Strümpfe, ebenfalls ruiniert, waren dadurch zu sehen. Zu allem Übel war der Stoff durch einen angetrockneten Blutfleck mit einem Strumpf verklebt.

Papa würde wütend sein.

Sie musste wohl einen Laut von sich gegeben haben, denn der Junge zog erneut die Brauen zusammen und fragte ernst: »Tut es sehr weh?«

Sarah schluckte schwer. »N-n-nein.«

Er lächelte. »Du bist sehr tapfer, nicht wahr?«

Bei diesen Worten verflüchtigte sich ihre Angst. Sie straffte die Schultern und sah ihm, nunmehr zu voller Größe aufgerichtet, direkt in die grünen Augen. »Ja, durchaus.«

»Wo wohnst du?«

Sie zeigte in Richtung des Herrenhauses. »Dahinten.«

»Nun, sieh mal einer an. Ich wohne auch dort. Kannst du laufen?«

»Natürlich.«

Nebeneinander gingen sie den Pfad entlang, der zum Haus führte. Sarahs Knie schmerzten, sodass sie nicht umhinkam, ein wenig zu humpeln. Wortlos bot der Junge ihr seinen Arm an und stützte sie.

So gingen sie am Gärtnerhaus vorbei auf die Rückseite des Herrenhauses zu. Sarah schwieg und der Junge ebenfalls. Auf der Unterlippe kauend schaute sie ihn verstohlen aus den Augenwinkeln an. Er war groß und kräftig, und ihr gefiel es, wie seine Haare in der Sonne schimmerten.

Als sie nicht mehr weit vom Haus entfernt waren und es ganz so schien, als wollte er sogar hineingehen, wurden Sarahs Schritte immer steifer. Sie wusste nicht, wo Papa sich gerade befand, er würde jedoch sehr zornig sein, wenn er entdeckte, dass sie sich bis zum Herrenhaus gewagt hatte. Er hatte ihr nämlich eingeschärft, dass sie die Familie nicht belästigen dürfe. Anderenfalls könne er seine Stellung verlieren.

Im Schatten des Hauses angelangt, ging der Junge langsamer. Dann, als sie auf die Treppe zuhielten, schaute er zu ihr herab. »Kannst du noch?«

Sie bejahte, brachte aber kaum mehr als ein Piepsen zustande.

Daraufhin blieb er stehen und musterte sie aufmerksam.

»Wie heißt du?«, wollte er wissen.

»Sarah.«

»Mein Name ist Simon.« Er schaute zum Haus, das jetzt vor ihnen aufragte, so gewaltig und erhaben, dass sie kaum zu atmen wagte. »Komm mit hinein. Man wird sich um dich kümmern, dafür werde ich sorgen.«

Unsicher leckte sie sich über die Lippen, dann flüsterte sie: »Mein Papa hat gesagt, ich darf die Familie nicht stören.«

»Du wirst niemanden stören.« Das klang wie ein Versprechen.

Sie sah ihn an. Sie hätte keinen Grund dafür nennen können, aber sie vertraute ihm ganz und gar. Hätte er ihr erzählt, er unternehme tägliche Ausflüge auf den Mond, sie hätte ihm geglaubt.

»Ich habe dich mehr schlecht als recht verarztet«, fuhr er fort. »Darum soll sich Mrs. Hope deine Kratzer ansehen. Sie hat eine Salbe, mit der sie im Nu verheilen werden.«

Sarah hatte noch nie von einer Mrs. Hope gehört, doch die Kratzer brannten, stachen und juckten. Eine schnell heilende Salbe wirkte auf sie ebenso verlockend wie der Reiz des Verbotenen.

Sie nickte.

»Dann komm.« Behutsam nahm er sie bei der nicht ganz so malträtierten Hand.

Er führte sie die Treppe hinauf und in einen großen Raum, den größten, den sie je gesehen hatte. Ihre zögerlichen Schritte gerieten vollends ins Stocken. Offen und kalt und gewaltig war er, und es standen keine Möbel darin außer einigen Bänken und Tischen an den Wänden. Die eisernen, zu Weinranken geschmiedeten Beine trugen schwere Marmorplatten und die Tische wiederum schöne Vasen und Büsten wichtig aussehender Männer. Der Raum wirkte beinahe blendend hell, denn die großen Steinquader der Wände waren weiß, ebenso der Stuck an der Decke. Farbliche Abwechslung boten nur die schwarzen Bodenplatten, die im Schachbrettmuster angeordnet waren, und der enorme vergoldete Kronleuchter in der Mitte.

Sarah legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den kunstvollen Stuckornamenten an der Decke. Himmelhoch kam sie ihr vor.

Simon stand neben ihr und tat es ihr gleich. Bei einem heimlichen Seitenblick beobachtete sie seine Miene – er wirkte, als sähe er den Raum auch zum ersten Mal.

Sie griff fester um seine Hand. »Bist du sicher, dass wir hereindürfen?« Selbst Geflüster hallte zwischen diesen Wänden.

Simon schüttelte ab, was immer er soeben gedacht hatte, und lächelte sie an. »Natürlich. Das ist die Marmorhalle. Hier halten wir uns selten auf. Komm.«

Er führte sie weiter und hielt auf eine von zwei Türen zu, zwischen denen eine Marmorskulptur stand: ein bärtiger nackter Mann und zwei nackte Knaben rangen mit einer Riesenschlange, die sich bereits um ihre Leiber geschlungen hatte. Nach ihren schmerzverzerrten Gesichtern zu urteilen, wurden die drei von ihr zerquetscht.

Vor der Tür blieb der Junge stehen, da er zweifellos bemerkte, dass sie die Statue mit offenem Mund bestaunte. »Kennst du die Geschichte von Laokoon?«

Sie schüttelte stumm den Kopf. Von einem Laokoon hatte sie noch nie gehört. Sie hatte auch noch nie einen nackten Mann oder einen nackten Knaben gesehen. Oder etwas so Böses wie diese Schlange.

»Hast du schon einmal vom Trojanischen Krieg gehört?« Er zögerte, während sie den Kopf schüttelte. »Nun, es gab einen Krieg zwischen den Trojanern und den Griechen. Laokoon war der Sohn des trojanischen Königs. Die Griechen planten, die Trojaner zu überlisten, und schenkten ihnen ein riesiges Pferd aus Holz. Laokoon traute dem Ganzen nicht und warnte vor dem Geschenk. Die Götter standen aber auf der Seite der Griechen, und Laokoons Warnung machte sie wütend. Poseidon, der Gott des Meeres …«

»Von dem habe ich gehört!«, rief Sarah aus und hielt sich an das eine Element der Geschichte, das ihr bekannt war. Mama hatte ihr abends oft von den griechischen Göttern erzählt.

»Nun, Poseidon schickte die Riesenschlange aus dem Meer, damit sie Laokoon und seine beiden Söhne tötet. Und das wird hier dargestellt.«

Sarah starrte die Figuren an. Sie war dem Tod schon einmal begegnet. Vor Kurzem erst. Jemanden sterben zu sehen war schlimm. Warum um alles in der Welt wollte jemand tagtäglich an den Tod erinnert werden?

Simon sah ihren Blick. »Ich mag sie auch nicht«, bemerkte er leise.

Nachdem sie die grausige Szene noch eine weitere Minute stirnrunzelnd betrachtet hatten, öffnete Simon die Tür und führte Sarah in einen Raum, der kleiner, aber genauso prächtig war. Im Gegensatz zu der Halle war dieser warm, bunt und voller Lachen. Auf einem rot-gold-braun gemusterten Teppich lagen Kinderspielzeuge verstreut, und in dem großen Kamin loderte ein Feuer.

Abrupt und mit klopfendem Herzen blieb Sarah auf der Schwelle stehen, denn es wimmelte geradezu von Menschen, und sobald sie eingetreten waren, richteten sich alle Augen auf sie.

Oh nein, dachte sie entmutigt. In der Mitte stand eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm, ringsherum lauter Kinder, die ihrem Alter nach zwischen Sarah und Simon lagen, und alle waren Jungen.

Das war also die herrschaftliche Familie. Das musste sie sein. Diener trugen keine seidenen Kleider und auch nicht so feine Wolle und Leinen wie diese Jungen. Diener spielten nicht zwischen seidenen Wandbehängen und persischen Teppichen. Ihre Spielzeuge waren nicht aus goldverziertem Elfenbein.

Papa würde ungeheuer wütend sein.

Sarah wurde es mulmig. Simon hatte sie genau dorthin gebracht, wo sie unter keinen Umständen sein durfte. Und nichts belastete sie schwerer als der Gedanke, ihren Vater zu enttäuschen. Seit Mama tot war, hatte sie nur noch ihn.

Sie wollte Simon die Hand entziehen, aber er hielt sie fest, sodass sie neben ihm stehen bleiben musste.

Die Frau, die von den Kindern umringt war, trug ihr rotbraunes, schon ein wenig grau meliertes Haar kunstvoll gelockt und hochgesteckt. Nur ein paar Locken hingen neben ihren Wangen herab. All die hübsche blaue Seide betonte ihren voluminösen Busen und die schmale Taille. Das Kleinkind hatte noch dunklere Haare als seine Mutter. Ob es ein Mädchen oder ein Junge war, rätselte Sarah noch. Jedenfalls hatte es ein rosiges Gesicht und im Nacken weiche Ringellöckchen.

Die Herrin des Hauses war eine Herzogin. Sarah hatte sich immer gewünscht, eines Tages mal eine zu sehen.

Es konnte kein Zweifel bestehen: Diese Frau war keine Amme, obwohl sie von Kindern umringt war und sogar eines auf der Hüfte trug. Nein, sie musste die Herzogin von Trent sein.

Nun also stand eine wirkliche Herzogin vor ihr. Doch Sarah blutete und war schmutzig, ihre Strümpfe und das Kleid waren zerrissen. Wie gern hätte sie die blaue Seide angefasst, die den Körper der schönen Dame umschmeichelte.

Wäre es möglich, an Schamgefühl zu sterben, wäre Sarah auf der Stelle tot umgefallen.

Als die Herzogin bemerkte, wie Sarah sich an Simons Hand festhielt – umso fester, seit sie den Stand der Dame erkannt hatte –, lächelte sie. »Was für ein Wesen hast du uns denn diesmal gebracht, Liebling? Eine Waldnymphe?«

Liebling? Sarah zog die Brauen fast bis zum Haaransatz hoch.

Simon zuckte die Achseln, und ein leichter Verdruss zeigte sich auf seinem Gesicht. »Bin mir nicht sicher. Ich hab sie im Kampf mit einem hinterhältigen Brombeerbusch am Bach gefunden.«

»Komm näher, Kind.« Die Herzogin rückte das Kleinkind auf ihrer Hüfte zurecht – solch eine vornehme Dame tat etwas so Gewöhnliches? Sollten nicht niedere Leute ihr Kind tragen?

Simon trat vor und zog Sarah mit sich.

»Wie heißt du? Woher kommst du?«

Sarah öffnete den Mund, aber es wollte kein Wort herauskommen.

»Sie sagte, ihr Name sei Sarah und sie wohne hier«, antwortete Simon an ihrer Stelle.

Die Herzogin zog ihre dunklen Brauen hoch. »Tatsächlich?«

»Runter, Mama!«, quengelte das Kleinkind und wand sich in ihrem Arm. »Runter, runter, runter.«

Seufzend und ohne hinzusehen, ließ sie das Kind auf den Boden. Es schaute Sarah neugierig an, dann rannte es zu den Jungen. Sarah konnte den Blick nicht lange genug von der Dame losreißen, um zu erfassen, was im hinteren Teil des Raumes vor sich ging.

»Ich kann mich nicht entsinnen, auf Ironwood Park kleine Mädchen wohnen zu haben«, überlegte die Herzogin laut. »Du vielleicht, Simon?«

»Nein, Ma’am. Andererseits bin ich nicht daheim gewesen. Sind diesen Sommer keine neuen Angestellten gekommen?«

»Nein, nur …« Ihre Augen leuchteten auf. »Der neue Gärtner. Fredericks hat ihn eingestellt. Gesehen habe ich ihn noch nicht. Vielleicht gehört sie zu ihm.«

Simon schaute Sarah an. »Bist du die Tochter des Gärtners?«

Auf einer Lippe kauend blickte Sarah auf den schönen Teppich hinunter, den sie mit ihren schmutzigen Füßen betreten hatte, und wusste, sie hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Sie hätte Simon aufhalten müssen, als sie am Gärtnerhaus angelangt waren. Sie hätte nicht in das Herrenhaus gehen dürfen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Sie hatte gar nicht gedacht.

»Ja«, antwortete sie leise.

Eine feste Hand griff ihr unters Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben und in das ernste Gesicht der Herzogin zu sehen. Sarah traten Tränen in die Augen. Dieser Moment war ihre einzige Chance.

»Bitte«, flüsterte sie mit belegter Stimme. »Bitte, entlassen Sie meinen Papa nicht.«

Die Dame kniff die Augen ein wenig zusammen, und Sarah rutschte das Herz in die Hose.

»Was hat dein Papa getan?«

Sarah erschrak. »Gar nichts!«

»Warum sollte ich ihn dann entlassen?«

Sarah schoss Simon einen hilfesuchenden Blick zu.

»Mutter«, sagte er ruhig, »du machst ihr Angst.«

Die Herzogin ließ Sarahs Kinn los. Sarah stand mit heißen Wangen da. Mutter? Also gehörte Simon zur Familie. Ach, sie war wirklich ein Riesendummkopf.

»Ich habe sie hergebracht, weil ihre Wunden versorgt werden müssen.« Ein Anflug von Gereiztheit hatte sich in seinen Ton geschlichen. »Wo ist Mrs. Hope?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Die Herzogin drehte sich zu den Jungen um. »Mark, mein Schatz, bist du so gut und holst uns Mrs. Hope her? Sag ihr, sie soll die Salbe mitbringen, die sie bei euch Lumpenkindern verwendet, wenn ihr euch die Knie aufgeschlagen habt. Sam, du gehst bitte zu unserem neuen Gärtner, ja? Sag ihm, seine Tochter sei verletzt. Lass ihn aber auch wissen, dass es nichts Ernstes ist. Bring ihn zu uns, wenn er es wünscht.«

Sarah erschrak. Ihr Vater hatte sie noch nie geschlagen, nun jedoch hatte sie sich etwas Ernstes zuschulden kommen lassen und eine Tracht Prügel verdient. Hoffentlich würde er damit warten, bis sie allein wären. Nichts wäre so entwürdigend, wie im Beisein von Simon geschlagen zu werden.

»Darf ich mit Sam gehen, Mama?«

»Ja, Luke, aber bleibe bei ihm und komm sofort wieder hierher. Verstanden?«

»Ja, Ma’am.«

»Ich auch?«, fragte der kleinste Junge. »Ich will auch mit, Mama.«

»Also gut, Theo, aber lauf deinen Brüdern nicht weg.«

Als die Tür hinter den vier Jungen leise zufiel, lief das Kleinkind zurück zur Herzogin. Es ist ein Mädchen, dachte Sarah. Das schloss sie mehr aus den Gesichtszügen als aus dem Kleidchen. Die Herzogin nahm es an der Hand und wandte sich Sarah wieder zu. »Wirklich, Kind, du brauchst keine Angst zu haben. Du hast nichts Falsches getan.« Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Der Herzog sagte, du habest mit einem Busch gekämpft. Du wirst ihn sicherlich nicht zu dem Angriff ermutigt haben.«

Langsam, als steckte sie bis zum Hals in einem Bottich mit Sirup, drehte Sarah den Kopf zu Simon. »Der Herzog?«, flüsterte sie.

Ohne sich ihrem fragenden Blick so ganz zu stellen, zuckte Simon die Achseln, und Sarahs Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Ich sehe, er hat sich dir nicht gebührend vorgestellt«, sagte die Herzogin und sodann an ihren Sohn gewandt: »Ach, Liebling, musst du denn immer die Tatsache übergehen, dass du jetzt der Herzog bist? Es sind nun schon fast drei Jahre.«

»Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns angemessen miteinander bekannt zu machen. Glaub mir, Mutter«, fügte er trocken hinzu, »wann immer es dazu kommt, werde ich nicht vergessen, den Titel zu erwähnen.«

Nach einem stillen Blick auf ihren Sohn lächelte die Herzogin. »Natürlich nicht.« Sie hielt Sarah die Hand hin. »Nun komm, Kind, und setz dich. Dein Knie blutet noch. Im Stehen tut es gewiss weh.«

Sah schaute zu dem makellosen Seidensofa, auf das die Herzogin zeigte, und schüttelte den Kopf. Es war so schön, von einem satten Purpur, wie sie es noch nie gesehen hatte, und es leuchtete in der Sonne, die zum Fenster hereinschien. »Oh nein, Ma’am. Ich kann nicht. Ich bin zu schmutzig.«

»Wenn ich mich vor ein wenig Schmutz und Blut fürchtete, wäre ich nicht imstande gewesen, auch nur ein Kind großzuziehen. Aber ich ziehe sechs groß und kann dir versichern, dass du nicht zu schmutzig bist, um auf meinem Sofa zu sitzen.«

Simon blickte sie ermutigend an. »Ich denke, du solltest dich setzen.«

Also nahm sie die ausgestreckte Hand und ließ sich von der vornehmen Dame zum Sofa führen. Simon half ihr, es sich auf der glänzenden Polsterfläche bequem zu machen, bevor er sich ebenfalls darauf niederließ. Die Herzogin nahm auf einem eleganten Sessel gegenüber Platz, ihr Töchterchen wanderte zu den bunten Spielsachen in der Ecke. Sarah betrachtete die Herzogin, die aussah wie eine Märchenkönigin auf ihrem Thron. Dann schenkte sie Sarah ein Lächeln, das dem ihres Sohnes an Freundlichkeit nicht nachstand. »Möchtest du eine Tasse Tee, Sarah? Ich werde läuten.«

»Äh …?« Sie sah Simon fragend an.

Er nickte und zwinkerte ihr zu, was ihr das Gefühl gab, als hätte gerade eine Verständigung zwischen ihnen beiden stattgefunden, obwohl sie deren Inhalt nicht begriffen hatte. Dann wandte er sich an seine Mutter: »Etwas warme Milch?«

Lächelnd blickte Sarah in ihren Schoß. Das klang wirklich nett.

»Natürlich.« Die Herzogin läutete, und ein zierliches Dienstmädchen kam und nahm die Anweisung entgegen, das Gewünschte aus der Küche zu holen. Es streifte Sarah mit keinem geringschätzigen Blick, sondern beeilte sich, der Anordnung Folge zu leisten.

Nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte, sahen der Herzog und seine Mutter ihren Gast erwartungsvoll an, und Sarah wurde sich der abwegigen Situation vollends bewusst.

Sie saß im Salon eines Herzogs. Soeben hatte man ihr Tee angeboten, und nun blickten ein Herzog und eine Herzogin sie an, als erwarteten sie von ihr, eine wichtige Unterhaltung zu beginnen. Zerkratzt und blutend ließ sie die Beine von einem vornehmen Sofa baumeln und machte dabei Schmutzflecke hinein.

Ein bisschen verzweifelt und auf eine ganz andere Art von Rettung hoffend, schaute Sarah zur Tür.

»Sie ist charmant, nicht wahr, Simon? Und hübsch dazu, nehme ich an, unter all dem Schmutz. Das Beste, was uns heute passiert ist.« Die Herzogin machte ein Gesicht, als denke sie noch einmal darüber nach. »Nun, abgesehen von den leidigen Schürfwunden.«

In dem Moment ging die Tür auf, und eine ältere Frau mit flauschigen weißen Haaren eilte herein. Simon stand auf. »Mrs. Hope, danke für Ihr rasches Erscheinen.«

Die Angesprochene knickste. »Euer Gnaden.«

Sarah hätte auch knicksen und »Euer Gnaden«, sagen sollen, zu Mutter und Sohn. Sie hätte zumindest vom Sofa aufstehen müssen. Doch nun war es zu spät dafür, denn Mrs. Hope kam bereits mit einer Flasche in der Hand auf sie zu. Sarah wich gegen die Polsterlehne zurück.

»Nun, meine Kleine, sehen wir uns die Kratzer einmal an.« Mrs. Hope ging vor ihr in die Hocke, nahm zunächst Sarahs Arme in ihre sanften Hände und zog ihr dann behutsam die Strümpfe von den wunden Knien. »Die müssen wir zuerst einmal waschen. Binnie, gib mir ein Handtuch.«

Sarah bemerkte erst jetzt das junge dunkelhaarige Dienstmädchen, das mit Mrs. Hope hereingekommen war. Es stand neben dem Sofa bereit, mit einer Schüssel und mehreren weißen Handtüchern, von denen es nun eines Mrs. Hope reichte. Diese reinigte Sarahs Knie, wobei sie sich murmelnd darüber ausließ, wie schrecklich die Verletzungen aussähen, in Wirklichkeit aber gar nicht schlimm seien, und nachdem sie sie trocken getupft und Salbe aufgetragen hätte, werde sich die Patientin wieder springlebendig fühlen. Einmal, als Mrs. Hope ihr das Kleid anhob und auf die Oberschenkel raffte, drehte sie den Kopf zu Simon. »Wäre sie nur ein bisschen älter, Euer Gnaden, würde ich Sie hinausschicken.«

Simon verzog keine Miene. »Ich habe sie gefunden, also bin ich für sie verantwortlich. Ich werde bleiben, bis ich sicher sein kann, dass sie rundum versorgt ist.«

Sarah lächelte ihn schüchtern an. Dank ihm ging es ihr schon viel besser. Sie hätte sich einen Herzog nicht so freundlich vorgestellt. Auch eine Herzogin nicht.

Seit sie mit Papa nach Ironwood Park gezogen war und im Schatten des Herrenhauses wohnte, war durch seine strengen Ermahnungen, der Familie unter allen Umständen fernzubleiben, in ihr die Vorstellung entstanden, die Trents seien ein Haufen kalter, unfreundlicher Aristokraten, die sie beiseitefegen würden wie eine lästige Fliege – falls sie sich überhaupt herabließen, sie anzusehen. Doch sie waren ganz anders. Unter dem großen Giebeldach lebte trotz des vielen Pomps aus Marmor, Seide und Vergoldungen eine erstaunlich normale Familie.

Einer der Jungen – Mark, wie Sarah sich erinnerte – kam mit einem dampfenden Becher in den Händen zurück, den die Herzogin ihm abnahm und, nachdem sie ein paarmal hineingeblasen hatte, Sarah reichte. Die warme süße Milch war wohltuend. Sarah trank und blieb ansonsten so starr wie dieser Laokoon, während Mrs. Hope die nach Wald riechende Salbe auftrug. Wenn Laokoon stillhielt, obwohl er von einer Riesenschlange erdrückt wurde, dann würde sie wohl die brennenden Schmerzen am Knie klaglos ertragen können.

Und wenn Simon sie für tapfer hielt, dann wollte sie tapfer sein.

Kurz darauf ging erneut die Tür auf, und ein Diener trat ein, gefolgt von ihrem Vater. Er stürzte an dem Diener vorbei, blieb abrupt stehen, straffte die Schultern und zog seinen breitkrempigen Gärtnerhut vom Kopf, während die Jungen hinter ihm hereindrängelten.

»Euer Gnaden.« Er verbeugte sich tief vor Simon und dessen Mutter. »Bitte verzeihen Sie mir. Meine Tochter …«

»Ah, Sie müssen Mr. Osborne sein.« Die Herzogin erhob sich aus dem Sessel, um ihn zu begrüßen. »Willkommen auf Ironwood Park. Ich hoffe, Ihnen gefällt das Anwesen.«

Sein Blick huschte zu Sarah, die ihn furchtsam anschaute, aber noch von der fürsorglichen Mrs. Hope aufgehalten wurde, die ihr Bein festhielt. Daher konnte sie nicht an seine Seite eilen, obwohl er es ihr mit stummer Miene befahl.

»Ironwood Park ist idyllisch, Euer Gnaden. Es ist mir eine Ehre, hier angestellt zu sein. Das Gelände ist meisterhaft gestaltet, und ich werde mein Bestes tun, seine Pracht zu erhalten.«

Sarah schluckte schwer. Sie begriff, was Papa gerade tat. Er wollte die Herzogin überzeugen, dass er seine Pflichten zu ihrer Zufriedenheit erfüllen würde, trotz des ungezogenen Verhaltens seiner Tochter.

Er versuchte, seine Stellung zu sichern. Und es war Sarahs Schuld, dass er dazu gezwungen war.

»Es ist ganz hübsch, nicht wahr? Knaben, ihr dürft nun gehen«, sagte die Herzogin mit einem Wink zur Tür. »Bis zum Dinner spielt ihr draußen. Gebt aufeinander acht, und bitte ruiniert euch heute einmal nicht die Kleider.«

»Ja, Mama!« Die vier liefen aus dem Salon, aber Simon rührte sich nicht von seinem Platz. Er stand schweigend da, die Haltung aufrecht, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mit einem Ausdruck ernster Höflichkeit betrachtete er Sarahs Vater.

Die Herzogin lächelte ihren Gärtner an. »Der Herzog hat Ihre Tochter vor einem angriffslustigen Brombeerstrauch gerettet.« Ihre dunklen Brauen hoben sich zu zwei makellos geformten Bögen. »Niemand hat mich informiert, als wir Sie einstellten, dass Sie auch eine Familie haben, Mr. Osborne. Fredericks hat das versäumt. Ich habe ihm immer wieder eingeschärft, mir über jeden, der auf Ironwood Park lebt, alles zu sagen.«

Papa neigte den Kopf. »Wir sind nur zu zweit, meine Sarah und ich, Euer Gnaden. Meine Frau ist … im vorigen Jahr gestorben.« Papa konnte noch immer nicht davon sprechen, ohne dass seine Stimme schwankte. »Ich habe Mr. Fredericks versprochen, meine Tochter nicht in Ihre Nähe zu lassen.«

Die Herzogin winkte ab. »Je mehr Kinder an diesem kalten, betrüblichen Ort herumtollen, desto einladender und freundlicher wird er. Und Ihre Tochter ist trotz ihrer wilden Erscheinung ein Inbild der Lieblichkeit. Ganz abgesehen davon, dass es in diesem Hause am weiblichen Geschlecht mangelt.«

»Wir haben Esme«, stellte Simon heraus.

Die Herzogin lachte. »Ich vergesse immer wieder, dass mein Jüngstes ein Mädchen ist. Das arme Ding – bei fünf älteren Brüdern wird sie sich wahrscheinlich in einen ebensolchen Rabauken verwandeln wie sie und nicht in eine schickliche junge Dame.«

Papa warf einen Blick auf das Kleinkind, dann schaute er die Herzogin an, sichtlich unsicher, was er darauf erwidern könnte.

»Aber nun zurück zu Ihrer Tochter«, sagte die Herzogin. »Wie gesagt war Sarah dem brutalen Angriff eines dornenbewehrten Bösewichts ausgesetzt. Unsere Haushälterin hat mir jedoch versichert, der Schaden sei gering. Ich kann Ihnen erleichtert mitteilen, dass die Kratzer nicht tief sind und sich dank Mrs. Hopes Wundersalbe keine Narben bilden werden, mit Ausnahme am Knie vielleicht.«

Papa nickte knapp und räusperte sich. »Meine Tochter neigt dazu herumzustreunen. Doch das wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich. Sie wird von jetzt an in unserem Cottage bleiben.« Sein Tonfall kündete schon von weiteren Strafen, und Sarah ließ bedrückt die Schultern hängen.

»Oh, aber, Mr. Osborne, für Kinder ist es ganz natürlich, herumzustreunen, die Umgebung zu erkunden und auf Entdeckungsjagd zu gehen. Erst recht, wenn sie an einen unbekannten Ort kommen. Ich habe meine Kinder immer ermuntert, dies zu tun, soweit ihre Neugier geweckt war.«

Papa sperrte verblüfft den Mund auf, doch er fasste sich rasch und verneigte sich ergeben, den Hut an seine Brust gedrückt. »Dennoch, Ma’am, sollte meine Tochter nicht über das Gelände streifen, als gehörte es ihr. In Zukunft wird sie das nicht mehr tun.«

Die Züge der Herzogin wurden weich. »Können Sie von einem Kind ihres Alters und ihrer Lage wirklich verlangen, den ganzen Tag in dem Cottage zu sitzen, während Sie Ihren Pflichten nachgehen? Kein Kind sollte derart eingeschränkt werden, Mr. Osborne.«

Papa schaute zu Sarah und gab keine Antwort. Offenbar wollte er am liebsten hinaus und wieder seine geliebten Büsche beschneiden.

Die Herzogin sah zwischen Sarah und dem Gärtner hin und her, einen merkwürdigen Schimmer in den braunen Augen. »Sagen Sie, kann Sarah lesen?«

Papa stutzte bei dieser unerwarteten Frage, dann reckte er stolz den Kopf. »Aber ja, Ma’am. Ihre Mutter war recht gebildet – sie war Lehrerin an der Pfarrschule, bevor wir geheiratet haben. Sie hat unserem Mädchen Lesen und Schreiben beigebracht.«

Die Herzogin klatschte in die Hände. »Ah, ich dachte es mir doch! Sie hat so eine Art, sich auszudrücken …« Nachdenklich wandte sie sich an Sarah, die Mrs. Hope einen Arm hinstreckte und sich die Kratzer mit Salbe betupfen ließ. »Möchtest du gern mehr lernen, Liebes?«

Unsicher, was sie darauf antworten sollte, schaute Sarah ihren Vater an. Natürlich wollte sie Ja sagen, denn sie war wissbegierig. Besonders über den Trojanischen Krieg, den Simon erwähnt hatte, wollte sie mehr erfahren. Wenn Mama noch lebte, würde Sarah nach Hause rennen und sie bitten, ihr die Geschichte sofort zu erzählen.

Würde Papa aber wollen, dass sie antwortete?

Die Herzogin folgte ihrem Blick. »Ich sehe, sie wendet sich an Sie, Mr. Osborne. Nun denn, hatte Ihre Tochter Freude am Lernen?«

»Das hatte sie«, gab Papa widerstrebend zu. »Große sogar.«

»Fein!«, rief die Herzogin aus und klatschte in die Hände. »Dann ist es beschlossene Sache.«

Alle blickten sie fragend an, auch Simon. »Was ist beschlossene Sache, Mutter?«

»Von morgen an wird Miss Sarah Osborne am Unterricht bei Miss Farnshaw teilnehmen.«

Niemand sprach ein Wort. Sarah sah ihren Vater sprachlos vor Verblüffung dastehen.

Und so kam es, dass eine Gärtnerstochter mit den Sprösslingen eines Herzogs zusammen erzogen wurde.

1

SECHZEHN JAHRESPÄTER

»Willkommen daheim, Euer Gnaden.«

Simon schaute den Stallburschen an, der ihm die Zügel abgenommen hatte. »Danke, Tanner. Sind meine Brüder schon eingetroffen?«

»Ja, Sir. Aller außer Lord Lukas.«

Simon biss verärgert die Zähne zusammen und stieg aus dem Sattel. Es hätte ihn nicht überraschen sollen, dass Luke seinen Wunsch ignorierte – Simon hatte den Brief an sein Haus in London geschickt, ohne zu wissen, ob sein Bruder sich dort überhaupt aufhielt. Er konnte sich ebenso gut seit Tagen in einem unzüchtigen Etablissement oder bei einer ausgedehnten Zechtour vergnügen. Möglicherweise war sein Schreiben gar nicht in Lukes Hände gelangt.

Tanner führte das schweißbedeckte Tier in den Stall, als Simon sich den Säulen am Vordereingang des Hauses näherte. Fast drei Jahre lang war er nicht mehr auf dem Familiensitz gewesen, aber Ironwood Park hatte sich nicht verändert. Allerdings hatte er das auch nicht erwartet. Ironwood Park veränderte sich nie.

Ebenso wenig Mrs. Hope. Sie stand oben auf der Treppe, um ihn voller Freude willkommen zu heißen. Mit ihrer blassen Haut, den rosigen Wangen und den hochgesteckten weißen Haaren sah sie aus wie immer.

Der Anblick löste etwas in ihm aus. So war es immer – nicht Ironwood Park selbst, sondern die Menschen, die hier wohnten, gaben ihm das Gefühl, nach Hause zu kommen.

»Euer Gnaden«, sagte Mrs. Hope herzlich, »willkommen daheim.« Dann furchte die Sorge ihre Stirn, und er verstand. Es tat ihm weh, unter diesen Umständen heimzukehren. Er bedauerte, dass er in letzter Zeit so beschäftigt gewesen war und nur ein Notfall von diesem Ausmaß ihn zu einem Besuch bewegen konnte.

Er nahm Mrs. Hopes verschränkte Hände in die seinen und drückte sie. »Ich danke Ihnen, Mrs. Hope.«

Dann erschien Esme hinter der Haushälterin, in einem Kleid so dunkel wie ihr Haar, und er wandte sich ihr zu, um sie zu begrüßen.

»Esme, du siehst gut aus.«

Und das tat sie. Erschrocken stellte er fest, dass sie sich seit fast einem Jahr nicht gesehen hatten. Seit damals war sie gewachsen und zu voller Weiblichkeit herangereift.

»Danke«, murmelte sie mit niedergeschlagenen Augen. »Du auch.«

»Kommen Sie herein, Euer Gnaden«, befahl Mrs. Hope. »Sie werden sich umziehen wollen, bevor Sie zu ihren Brüdern gehen. Sie möchten sich vor dem Dinner im Salon treffen, und das Dinner wird in«, sie blickte auf ihre Taschenuhr, »einer guten Stunde serviert.«

Die Dämmerung hatte sich wie eine weiche Decke über das Haus gesenkt – auf Ironwood Park aß man stets früher zu Abend als in London. »Ausgezeichnet«, sagte er. Und zu seiner Schwester: »Wir sehen uns in ein paar Minuten im Salon.«

Sie blickte zu ihm auf, und da erst sah er die Tränen in ihren Augen schimmern. Spontan legte er eine Hand auf ihre Schulter, spürte aber sofort, wie sie sich versteifte. Es hatte eine tröstliche Geste sein sollen, doch Esme war von ihm so etwas nicht gewöhnt und empfand sie offenbar als unangenehm. Er zog die Hand zurück und sagte leise: »Mach dir keine Sorgen. Wir werden sie finden.«

Esme nickte mit tränenverschleiertem Blick, dann sah sie hastig blinzelnd weg. In dem Moment erschien Fredericks im Durchgang zur großen Treppe. Nachdem Simon mit ihm ein paar Grußworte gewechselt hatte, scheuchte Mrs. Hope ihn nach oben in sein Ankleidezimmer, wo eine Schüssel mit heißem Wasser auf dem Waschtisch dampfte und Kleider zum Wechseln für ihn bereitgelegt waren.

Er wusch und rasierte sich. Die Stille in dem Zimmer kam ihm laut vor nach dem städtischen Getriebe in London und Burtons unaufhörlichem Redestrom. Wegen der Dringlichkeit seines Besuchs hatte er seinen Kammerdiener in London gelassen, wo er vermutlich zufrieden mit dem neuen Anzug beschäftigt war, den er für Simon während seiner Abwesenheit schneidern lassen wollte.

Simon zog sich eine lederfarbene Hose an, knöpfte sich die bordeauxgestreifte Weste und den dunklen Frack zu, kämmte sich sodann und schaute in den Spiegel in sein ernstes Gesicht. Die Krähenfüße an den Augenwinkeln sprachen von Erschöpfung – er war nach der Parlamentssitzung gestern in London losgeritten, hatte unterwegs das Pferd gewechselt, aber nicht übernachtet. Seine Augen wirkten trübe, das Grün nicht so hell wie gewöhnlich, sondern dunkel. Er holte tief Luft und atmete langsam aus.

Es war Zeit, seinen Geschwistern gegenüberzutreten und ihnen einen Plan zu unterbreiten. Den er leider noch nicht hatte.

Er verließ das Ankleidezimmer und ging nach unten. Mit gemessenen Schritten näherte er sich dem Salon. An der Tür angelangt zögerte er nicht, sondern trat ein und schloss sie hinter sich, bevor er sich umdrehte und schaute, wer anwesend war.

Außer Luke waren alle da.

Samson, sein älterer Halbbruder, lehnte an der Laibung des hohen rechteckig verglasten Fensters am anderen Ende des Raumes. In dem Jahr, bevor Mama den Herzog von Trent heiratete, hatte sie Sam unehelich zur Welt gebracht. Für die Eheschließung hatte sie es unter anderem zur Bedingung gemacht, Sam behalten und mit den künftigen leiblichen Kindern des Herzogs aufziehen zu dürfen. Aus Gründen, die Simon nicht kannte, hatte sein Vater eingewilligt und Sam sogar den Namen Hawkins verliehen. Dieses eine Versprechen hatte er stets gehalten, wenngleich er nie so weit gegangen war, Sam wie einen Sohn zu behandeln.

Sam hatte nach draußen geschaut, drehte sich bei Simons Eintreten aber herum. Er war seit fast fünf Jahren nicht mehr zu Hause gewesen. Seine Arbeit im Dienst der Krone nahm ihn völlig in Anspruch. Simon traf sich aber manchmal mit ihm in London. Sam war schon immer ein ernster Mensch gewesen, das Militär hatte ihn jedoch hart gemacht, ihm einen permanent kalten und gleichgültigen Gesichtsausdruck verliehen, der wohl nie wieder verschwinden würde, wie Simon annahm. Dafür hatte sein Bruder schon zu viel erlebt.

Seine nächstjüngeren Brüder Theodore und Markos saßen nebeneinander auf dem pflaumenblauen Sofa. Sie hatten die gleichen hellbraunen Haare und Augen und waren einander so ähnlich, dass sie oft für Zwillinge gehalten wurden, unterschieden sich jedoch sehr hinsichtlich ihres Charakters. Theo war still und gebildet wie Esme, Mark war dagegen derjenige in der Familie, der Leichtigkeit in eine Unterhaltung bringen konnte. Heute jedoch wirkte er düster und starr, seine gewohnte Überschwänglichkeit war durch den Ernst der Situation gedämpft.

Simon wandte sich dem Tisch in der Mitte zu, wo Esme gerade Tee einschenkte, und sein Blick fiel schließlich auf Sarah Osborne, die neben seiner Schwester stand und ihr zur Hand ging.

Bei ihrem Anblick erwachte sein Körper sofort, selbst nach all der Zeit. Verlangen, Sehnsucht, Begierde, das alles durchschoss ihn in einem Hitzeschwall. Verflucht. Sie war schöner denn je.

Als er zuletzt auf Ironwood Park gewesen war, hatte er die Hände nicht von ihr lassen können. Und er hatte es weiß Gott versucht.

Wie sie mit den Lippen seinen Mund liebkost, wie sich ihr Körper unter seinen Händen angefühlt hatte … Drei Jahre waren seitdem vergangen. Er hätte das längst vergessen müssen.

Aber wie könnte er diese Lippen vergessen, die süßesten, die er je gekostet hatte? Wie könnte er die Rundung ihres Gesäßes, ihre weichen, vollen Brüste vergessen?

Wie könnte er vergessen, dass er die Situation einer unschuldigen jungen Frau ausgenutzt hatte, die in seinem Hause arbeitete, in seinen Diensten stand? Wie könnte er sich verzeihen, nachdem er eine Grenze überschritten hatte, die er niemals, unter keinen Umständen hätte überschreiten dürfen?

Nun hatte sie die ganze Macht ihres breiten Lächelns auf ihn gerichtet und neigte kurz den Kopf, während sie in einen Knicks sank. »Euer Gnaden.«

»Guten Abend, Sarah.« Er schaute sie an, nahm ihre dunklen Haare, den schwarzen Wimpernkranz, die großen blauen Augen, ihren Porzellanteint, ihre gertenschlanke Gestalt in sich auf, vielleicht eine Sekunde zu lang, bevor er seine Aufmerksamkeit gezwungenermaßen seinen Brüdern zuwandte. »Ich bin froh, dass ihr alle so schnell kommen konntet«, sagte er.

»Wo ist Luke?«, fragte Theo. »Du hast ihm doch auch geschrieben, nicht wahr?«

Nachdem er die Tasse Tee von Sarah entgegengenommen und sich dafür bedankt hatte, trat er auf ihn zu. »Das habe ich getan. Offenbar hat er sich entschieden, nicht zu reagieren.«

Darauf herrschte erst einmal Schweigen. Schließlich ließ Sam sich vom Fenster her vernehmen: »Oder er hat die Aufforderung nicht bekommen. Wir wissen schließlich, wie Luke zu Mutter steht.«

»Schon möglich«, räumte Simon ein. Sam hatte recht: Luke betete seine Mutter an, so unzulänglich er sonst auch sein mochte. »Mir war nicht bekannt, wo er sich derzeit aufhält. Ihr wisst ja, er kann überall sein.«

Theo stieß einen leisen Pfiff aus, als Sarah ihm und Mark eine Tasse Tee reichte. »Danke, Sarah. Richtig. Nun ja, wir sind unter uns. Aber Luke wird nicht glücklich darüber sein, wenn er hört, dass wir uns ohne ihn getroffen haben.«

Simon blickte seinen jüngsten Bruder mit hochgezogenen Brauen an. »Dann sollte er entweder seine Wohnung ab und zu aufsuchen oder uns mitteilen, wo er stattdessen steckt, wenn er bei wichtigen Familienneuigkeiten miteinbezogen werden will.«

Theo hob seine Tasse. »Das stimmt.« Er trank einen Schluck und stellte sie auf den langen Teakholztisch vor dem Sofa.

Simon setzte sich gegenüber von Theo und Mark auf den mit Seidendamast bezogenen, ägyptisch anmutenden Empire-Sessel. Er schaute seine Schwester an und deutete dabei auf den zweiten Sessel dieser Art, der neben ihm stand. »Bitte nimm Platz, Esme.«

Als Esme seiner Bitte nachkam, stellte Sarah die Teekanne ab und ging zur Tür.

»Sarah, Sie bleiben hier.« Sein Ton war knapp und duldete keine Widerrede. Er sah seine Brüder an. Keiner reagierte auf die deplatzierte Anweisung. Demnach verstanden sie genau, warum er ihr zu bleiben befahl.

Es ging um eine Familienangelegenheit, und während jede andere Hausangestellte gewöhnlich hinausgeschickt wurde, nachdem sie mit dem Einschenken fertig war, war diese sehr mit dem Leben auf Ironwood Park verwachsen und mochte von Begebenheiten oder Umständen wissen, die allen anderen entgangen waren. Seine Geschwister begriffen ebenso gut wie er, dass Sarahs Anwesenheit von Vorteil sein konnte.

Außerdem … nun ja, er hatte sie gern in seiner Nähe. Aber das brauchten seine Geschwister nicht zu wissen.

»Ja, Euer Gnaden« Ihre Antwort erfolgte mechanisch, ebenso der Knicks. Sie blieb im Salon und stellte sich neben den Teetisch, aufmerksam, aber still.

Als alle Aufmerksamkeit auf Simon gerichtet war, wandte er sich an seine Schwester.

»Berichte uns, was passiert ist, Esme. Wir müssen jedes Detail hören. Von Anfang an.«

Sie nickte und holte tief Luft. Den Blick auf den Teakholztisch geheftet, die Hände um die Armlehnen ihres Sessels geschlungen, begann sie zu sprechen. »Ich sehe Mama nicht mehr jeden Tag – nicht seit sie ins Witwenhaus gezogen ist. Daher weiß ich nicht, wann es tatsächlich passiert ist, aber … aber … ich hätte besser achtgeben müssen. Sie ist meine Mutter. Ich hätte sie täglich besuchen sollen, mich erkundigen sollen, ob es ihr gut geht …«

»Wann hast du sie zuletzt gesehen?« Sams Ton war wie immer kühl und unbeteiligt.

Esmes Augen füllten sich mit Tränen. »Vor einer Woche.«

Simon nickte. »Sprich weiter.«

»Nun, vorgestern fiel mir auf, dass ich ihr einige Tage nicht begegnet war. Darum ging ich zum Witwenhaus, um ihr einen Besuch abzustatten. Und …«

»Und?«, drängte Theo und beugte sich, die Ellbogen auf die Knie gestützt, vor, um seine Schwester gespannt anzusehen.

Sie erwiderte seinen Blick. »Es war niemand da. Weder Mama noch Binnie und James. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.«

Simon runzelte die Stirn. Binnie und James waren die beiden Hausangestellten, die seine Mutter bei ihrem Umzug ins Witwenhaus mitgenommen hatte. Er hörte nun zum ersten Mal, dass sie ebenfalls verschwunden waren.

»Ich habe immer wieder geklopft. Als ich das Haus betreten wollte, um nach dem Rechten zu sehen, fand ich die Tür verschlossen, und ihr wisst, dass Mama selten abschließt. Darauf lief ich zurück und bat Mrs. Hope um den Schlüssel. Sarah kam schließlich mit mir, und zusammen gingen wir ins Haus, aber es war tatsächlich niemand da.«

»Warum hast du dich nicht sofort an den Konstabler gewandt?«, fragte Mark und zog besorgt die Brauen zusammen, was er so gut wie nie tat.

»Ich … ich …« Esme stockte und sandte einen hilfesuchenden Blick in Sarahs Richtung.

»Wir hielten es für das Beste, eine Nachricht an Seine Gnaden zu schicken, bevor wir Außenstehende auf die Lage aufmerksam machen«, erklärte Sarah. »Wenn die Polizei erst einmal hinzugezogen ist, wird alle Welt Vermutungen anstellen. Wir dachten, es sei klüger, die Entscheidung darüber Seiner Gnaden zu überlassen.«

»Das war recht so«, beschied Simon. Und er hatte nicht vor, die Polizei einzuschalten, solange es sich vermeiden ließ. Sarah kannte ihn gut genug, um zu verstehen, dass er Familienangelegenheiten diskret behandeln würde. Denn wenn es um die Hawkins ging, wurden die Klatschmäuler erfinderisch und schmückten die Tatsachen mit den absonderlichsten Details aus. Außerdem hatte er bei der Suche nach seiner Mutter mehr Möglichkeiten als ein Konstabler.

Sam trat einen Schritt vom Fenster weg, den kühlen Blick auf seine Schwester gerichtet. »In welchem Zustand hast du das Witwenhaus vorgefunden? War es ordentlich? Oder durchwühlt? Fehlte etwas von Mutters Sachen?«

»Es war ordentlich«, antwortete Esme leise.

»Soweit wir feststellen konnten, waren ihre Sachen unberührt«, fügte Sarah hinzu. »Aber ihr Geldschrank stand offen und war leer. Das Geld war fort, ebenso ihre Juwelen.«

Das war verflucht misslich. Seine Mutter besaß genügend Juwelen, um davon ein Dorf ein Jahr lang zu ernähren.

»Sie wurde ausgeraubt?«, fragte Mark finster.

Wenn jemand Ironwood Park auszurauben wünschte, so war das Witwenhaus der beste Platz, um damit anzufangen, denn es lag nicht nur abgeschieden – versteckt in einem Gehölz am nördlichen Rand des Besitzes –, sondern es war auch schlecht bewacht, und jeder, der mit seiner Mutter bekannt war, wusste, dass sie von solch albernen Dingen wie Schlössern nichts hielt.

Aber wenn jemand in das Witwenhaus eingedrungen war, um die Juwelen zu stehlen, was hatte er dann mit der Herzogin und ihren Dienern getan? Bei dem Gedanken bekam Simon einen bitteren Geschmack im Mund.

»Es sieht ganz so aus«, sagte er, doch in seiner Stimme klangen noch seine Zweifel mit.

»Wer hat das Witwenhaus durchsucht?«, wollte Sam von Sarah wissen.

»Mrs. Hope, Lady Esme und ich, Sir. Wir waren heute Morgen noch einmal dort, während wir auf Sie alle gewartet haben.«

Sam begegnete Simons Blick. »Wir werden alles noch einmal gründlich durchforsten. Jeden Stein umdrehen.«

»Und nicht nur im Haus«, fügte Simon hinzu. »Auch im Wald und der Umgegend. Und«, er holte tief Luft, »wir werden den See mit einem Schleppnetz absuchen müssen.«

Esme schluchzte leise. Der Bach, der das Anwesen durchfloss, speiste den kleinen See in der Nähe des Witwenhauses. Ihn abzusuchen hieß, sich einzugestehen, dass ihre Mutter vielleicht ertränkt worden war. Als Simon sich seiner Schwester zuwandte, sah er ihre Schultern nach vorn sacken und eine Träne über ihre Wange rinnen. Verflucht. Er war mit Brüdern aufgewachsen. Esme war erst zur Welt gekommen, als er schon zehn war und in Eton erzogen wurde. Seine Mutter war immer der Inbegriff von Stärke gewesen, sie hatte in seiner Gegenwart nie eine Träne vergossen. Er hatte nie gelernt, eine weinende Frau zu trösten.

Er schaute auf und sah, dass auch seine Brüder Esmes Tränen ratlos gegenüberstanden. Sie blieben starr an ihrem Platz. Sie verzogen nicht mal eine Miene angesichts ihrer leise wimmernden Schwester.

Es war Sarah, die sich ihrer annahm. Sie eilte zu Esme, setzte sich neben sie und bot ihr ein Taschentuch an, dann legte sie einen Arm um ihre Schultern und ließ sie weinen. Während sie ihr übers Haar strich, sah sie zu Simon auf. Ihre blauen Augen, gewöhnlich munter und herzlich, waren dunkel vor Mitgefühl … und vor Sorge. Sarah liebte die Herzogin wie eine Mutter.

»Schsch.« Sie schaute Esme ins Gesicht und rieb ihr dabei sanft den Rücken. »Wenn jemand sie finden kann, dann Seine Gnaden.«

Esmes Schultern bebten. Als Sarah wieder aufblickte, wurde ihm klar, was er jetzt sagen musste. »Wir werden sie finden, Esme. Das verspreche ich dir.«

Er schaute zu seinen Brüdern, die alle bekräftigend nickten.

Esme atmete tief durch. »Aber was, wenn sie … wenn sie … wenn sie …«, stammelte sie an Sarahs Schulter,sodass sie kaum zu verstehen war.

»Nichts deutet darauf hin, dass Ihrer Mutter ein Leid geschehen ist«, hielt Sarah ihr beruhigend entgegen.

»Das ist richtig«, sagte Sam, und seine kühle, leidenschaftslose Stimme war noch leiser als sonst. »Und mit dieser Haltung sollten wir uns auf die Suche machen.«

»Mama würde nicht …« Theo stockte stirnrunzelnd.

»Was würde sie nicht?«, fragte Simon.

Theo sah ihn mit düsterer Miene an. »Sie würde nicht durchbrennen, nicht wahr?«

Alle starrten ihn an. Sogar Sarah schaute verwundert. Schließlich hakte Mark nach. »Warum sollte sie durchbrennen?«

Theo schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht. War bloß ein Gedanke.« Er zuckte die Achseln.

»Wenn Mama sich entschieden hätte, Ironwood Park zu verlassen, sollte man doch annehmen, dass sie jemanden wissen lässt, wohin sie reist«, sagte Mark.

Simon schaute zu Esme, deren Tränen allmählich nachließen. Sarah blieb jedoch bei ihr sitzen, einen tröstenden Arm um ihre Schultern gelegt, und er war froh, dass er sie angewiesen hatte zu bleiben. »Hat unsere Mutter in letzter Zeit irgendwelche ungewöhnlichen Launen gezeigt?«

Mark schnaubte. »Was für eine Frage ist das, Trent? Unsere Mutter zeigt ständig ungewöhnliche Launen.«

»Ich meine, noch ungewöhnlichere als sonst.«

Esme schüttelte ernst den Kopf. »Nein, das könnte ich nicht behaupten. Sie war in aufgeregter Vorfreude, weil sie für nächste Woche einige Damen zum Lunch eingeladen hatte. Sie hat für jede ein Taschentuch bestickt und wollte es ihnen schenken.«

»Demnach hatte sie nicht vor, durchzubrennen«, schloss Theo nachdenklich.

»Aber ihr kennt sie. Sie ändert ihre Pläne aus einer Laune heraus«, gab Mark zu bedenken.

»Das stimmt«, pflichtete Sam bei. »Wir sollten in ihrem Haus am Lake Windermere und auch bei ihrem Londoner Stadthaus vorsprechen.«

»Und bei ihren Schwestern. Vielleicht hat sie sich zu einem spontanen Besuch entschlossen«, meinte Simon.

Theo schüttelte den Kopf. »Wenn unsere Mutter spontan abgereist ist, kann sie jetzt sonst wo in England sein.«

»Aber dann wird jemand sie gesehen haben«, stellte Mark heraus. »Wir kennen ihre Lieblingsplätze und die Routen, die sie zu nehmen pflegt.«

»Dort werden wir überall nachfragen«, beschloss Simon.

Es klopfte an der Tür. Ein Diener verkündete, das Dinner werde nun aufgetragen. Simon entließ den Mann, dann wandte er sich noch einmal an seine Geschwister, obwohl sein Magen in Erwartung einer warmen Mahlzeit knurrte, denn er hatte seit dem gestrigen Tag nichts gegessen.

»Wir werden uns nach dem Essen einen vernünftigen Plan ausdenken.« Und zu Sarah sagte er: »Danke fürs Bleiben. Wollen Sie sich um neun Uhr wieder hier einfinden?«

»Wenn Sie es wünschen, Euer Gnaden.«

»Das tue ich.«

Sie nickte und sah ihn mit ihren großen graublauen Augen an. »Dann werde ich hier sein.«

2

Mitternacht war über Ironwood Park hereingebrochen, als Sarah endlich das Herrenhaus verließ und zum Cottage hinüberging, das sie sich mit ihrem Vater teilte.

Gestern hatte es geregnet, aber jetzt stand der Mond am Himmel und schien hell über die Bäume, Sträucher und Blumen, für deren Pflege ihr Vater verantwortlich war. Er machte seine Sache ausgezeichnet, und die Herzogin lobte ihn immer wieder gern. Sie lachte oft und sagte, sie habe, als er eingestellt wurde, gewiss nicht geglaubt, dass er sogar den berühmten Landschaftsarchitekten Capability Brown übertreffen könnte.

Doch das hatte er getan. Die Gärten rund ums Haus waren das ganze Jahr über schön anzusehen und verströmten die frischen, süßen Düfte von Blumen und Kräutern. Der weitere Garten war ein Musterbeispiel geometrischer Formgebung und klar von der umliegenden Landschaft abgegrenzt, welche Papa fortwährend in Augenschein nahm und anpasste, um ein Idyll zu erschaffen, das sich harmonisch mit den Konturen des Landes verband.

Trotz der Schönheit und Perfektion des Geländes war Sarah ganz elend zumute.

Das seltsame Verschwinden der Herzogin hatte die kleine Welt von Ironwood Park aus der Bahn geworfen. Die Herzogin von Trent war darin eine Konstante gewesen. Gewiss, sie reiste häufig, besuchte London und ihre in ganz England verstreuten Verwandten. Ironwood Park jedoch war ihr Zuhause, ihr Rückzugsort, und wenn sie fort war, spürte jeder ihre Abwesenheit deutlich. Und die hatte diesmal – das ahnte jeder – nichts mit einer Vergnügungsreise zu tun. Die Dienerschaft war gereizt. Sogar Mrs. Hope – eine Frau von ausgeglichenem, optimistischem Wesen – hatte Angst.

Am schlimmsten von allen ging es der Familie. Sam, Mark und Theo waren eilig angereist, worin sich ihre Sorge deutlich zeigte. Luke war nicht gekommen, was aber niemanden beunruhigte – nur alle paar Monate erschien er mal entweder in London oder auf Ironwood Park. Aber Sarah wusste, wie sehr er sich aufregen würde, wenn ihm die Neuigkeit endlich zu Ohren käme. Von den Geschwistern stand Luke seiner Mutter am nächsten.

Die arme Esme hatte das Verschwinden entdeckt, und aus irgendeinem Grund gab sie sich die Schuld für diese absonderliche Situation. Sie fürchtete, dass etwas Schreckliches passiert sein könnte. Das befürchteten auch alle anderen, sie jedoch war nicht imstande, ihre Angst auszublenden, wie es die Übrigen taten.

Allen voran Simon.

Sarahs Schritte wurden langsamer. Sie schaute zum Nachthimmel auf, wo die samtene Dunkelheit von silbernen Pünktchen übersät war.

Simon.

Sie durfte seinen Namen nicht mehr laut aussprechen. Das wäre nicht angemessen. Aber in ihren Gedanken hatte sie nie damit aufgehört. Nicht seit dem Tag, da er sie in dem Brombeerstrauch gefunden und ihr gesagt hatte, wie er hieß.

Vor drei Jahren hatte sie ihn zuletzt gesehen. Er war noch stattlicher, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. So war es jedes Mal – sie redete sich ein, er sei in Wirklichkeit gar nicht so reizvoll, nur um bei der nächsten Begegnung wieder von seiner Anziehungskraft überwältigt zu werden.

Als sie ihn am frühen Abend im Salon wiedergesehen hatte, war ihr Herz für ein paar Sekunden stehen geblieben, nur um dann weiterzuschlagen, als ob hundert Pferde in ihrer Brust galoppierten. Bilder von Lippen und Händen, von heißen Berührungen in atemloser Hast waren ihr durch den Kopf geschossen. Es war ihr so gerade eben gelungen, den Tee einzuschenken und ihm seine Tasse zu reichen, ohne heftig zu zittern und den Tee auf dem Teppich zu verschütten.

Seine glatten Haare waren ein bis zwei Zoll länger als früher, aber die Farbe – ein helles Braun mit goldenen Strähnen – hatte sich, seit er erwachsen geworden war, nicht verändert. Seine scharfsinnigen grünen Augen waren immer ernst gewesen, aber nun wirkten sie geradezu düster. Die Fältchen in seinen Augenwinkeln waren neu, doch Sarah mochte sie. Sie ließen seine Züge charaktervoller wirken.