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Max Krenke ist alarmiert: Zehn Jahre verheiratet, zwei Kinder, hat er immer häufiger das Gefühl, sich in einer Sackgasse zu befinden statt auf dem Zenit seines Lebens. Seine Frau ist chronisch unzufrieden mit ihm, seine Kinder nehmen ihn irgendwie nicht ernst, und der Job dümpelt so vor sich hin. Er beschließt, zu handeln und zunächst die Bewunderung seiner Frau zurückzugewinnen. Wie kriegt man Frauen? Mit einem gestählten Körper. Er begibt sich also ins nächstgelegene Fitnessstudio, um dort leider auf Nancy zu treffen, eine diplomierte Fitnessökonomin, Physiotherapeutin und Burlesque-Tänzerin, die hochkant Spagat im Türrahmen kann und über übermenschliche Freiheitsgrade im Bereich der Hüftrotation verfügt. Max Krenke muss sich plötzlich ein wenig anstrengen, um sich auf die Vorzüge seiner gestrengen Gattin zu besinnen. Ist das Midlife-Crisis? Wie kommt Max da wieder raus? Und vor allem: Muss Max da überhaupt wieder raus, wo doch jetzt Leopardenfellunterwäsche, langes Haar und anatolische Hüften auf ihn und sein Begehren warten? Eine brillant geschriebene, unglaublich komische Geschichte mitten aus dem Leben.
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Seitenzahl: 306
Veröffentlichungsjahr: 2010
Stefan Schwarz
Roman
Max Krenke ist alarmiert: Zehn Jahre verheiratet, zwei Kinder, hat er immer häufiger das Gefühl, sich in einer Sackgasse zu befinden statt auf dem Zenit seines Lebens. Seine Frau ist chronisch unzufrieden mit ihm, seine Kinder nehmen ihn irgendwie nicht ernst, und der Job dümpelt so vor sich hin. Er beschließt, zu handeln und zunächst die Bewunderung seiner Frau zurückzugewinnen. Wie kriegt man Frauen? Mit einem gestählten Körper. Er begibt sich also ins nächstgelegene Fitnessstudio, um dort leider auf Nancy zu treffen, eine diplomierte Fitnessökonomin, Physiotherapeutin und Burlesque-Tänzerin, die hochkant Spagat im Türrahmen kann und über übermenschliche Freiheitsgrade im Bereich der Hüftrotation verfügt. Max Krenke muss sich plötzlich ein wenig anstrengen, um sich auf die Vorzüge seiner gestrengen Gattin zu besinnen. Ist das Midlife-Crisis? Wie kommt Max da wieder raus? Und vor allem: Muss Max da überhaupt wieder raus, wo doch jetzt Leopardenfellunterwäsche, langes Haar und anatolische Hüften auf ihn und sein Begehren warten?
Eine brillant geschriebene, unglaublich komische Geschichte mitten aus dem Leben.
Stefan Schwarz, Jahrgang 1965, ist mehrfach erprobter Ehemann und leidenschaftlicher Vater. In der Berliner Traditionszeitschrift «Das Magazin» bestreitet er eine monatliche Kolumne über das letzte Abenteuer der Menschheit: das Familienleben. Diese Geschichten erschienen in den Bänden «War das jetzt schon Sex?», «Die Kunst, als Mann beachtet zu werden» und «Ich kann nicht, wenn die Katze zuschaut». «Hüftkreisen mit Nancy» ist der erste Roman von Stefan Schwarz.
Her name was Magill and she called herself Lil,
but everyone knew her as Nancy.
Rocky Raccoon/The White Album/The Beatles
Der Erektion nach zu urteilen, musste es so gegen vier sein. Es ist völlig rätselhaft, aber es ist so: Die härteste Erektion, die ein Mann meines Alters überhaupt haben kann, ereignet sich kurz vor dem Morgengrauen. Um diese Zeit aber ist sie so nutzlos und unzeitgemäß wie eine dieser tollen Erwiderungen, die einem Stunden nach einem Streit plötzlich auf der Straße einfallen. Angeblich verdanken sich solche Erektionen gewissen nächtlichen Prüfroutinen des Körpers, aber mir war unklar, wieso dies in einer Exzellenz geschehen musste, die ich bei anderen und wesentlich wichtigeren Gelegenheiten mittlerweile dann doch gelegentlich vermisste.
Draußen schien ein lampenheller Mond, der vermutlich auch nicht ganz unschuldig an der Sache war. Neben mir lag Dorit mit ihren prächtigen Hüften und atmete tief und gleichmäßig. Dorit, die jeden Morgen behauptete, schlecht oder gar nicht geschlafen zu haben. Stundenlang habe sie wach gelegen. Ihr tiefes und gleichmäßiges Atmen war offenbar nur vorgetäuscht. Wahrsch einlich lagen wir just in diesem Moment regungslos und ruhig atmend nebeneinander – und waren wach. Nur gab es keiner dem anderen zu erkennen. Zu zweit allein im Universum. Was für ein schönes Bild für unsere Beziehung. Schlicht und klug zugleich. Fast wie aus dem Kleinen Prinzen. Leider würde ich es mir nicht merken. Ich würde gleich wieder einschlafen, und der Schlaf würde das schöne Bild auslöschen wie Wellen ein Wort der Liebe im Ufersand. Auch sehr poetisch. War ich etwa in einem neuronalen Metaphernfeld eingerastet? Gezwungen, in Schönen Zungen zu reden?
Die Erektion trollte sich nicht. Ich überlegte einen Moment, mich Dorit zu nähern. Andererseits schien mir die rein praktische Erektionsbeseitigung kein hinreichender Grund für Sex zu sein. Im Ehebett sollte es um Liebe gehen und nicht um Beihilfe. Hinzu kam, dass Dorit vermutlich ungehalten reagieren würde, wenn ich sie jetzt mitten im Tiefschlaf überraschte. Also lieber umdrehen und ganz bewusst an die Umsatzsteuervorauszahlung denken. Funktionierte sofort. Ich konnte wieder einschlafen.
Zu sagen, ich komme morgens gut raus, wäre krass untertrieben. Ich starte in den Tag wie ein kapitalistisches Role Model, wie ein gottverdammter Leistungsträger. 6.15 Uhr. Die Augen klappen auf, und da sitz ich schon. Kaum sitz ich, da steh ich schon. Und zwar vorm Spiegel, während der Rasierpinsel über die handgesiedete Oliven-Avocado-Seife tremoliert. Ich balbiere mich mit schnellen Strichen. Mein Vater rasiert sich so vorsichtig, als gehöre sein Gesicht einem anderen, als wäre er nicht ganz sicher, ob diese Art Haut überhaupt rasiert werden darf. Ungeachtet seiner Vorsicht schneidet er sich hier und da und klebt dann kleine Fetzen Toilettenpapier auf die Schnitte. Ich schneide mich nie. Frisch gehe ich in die Küche, klopfe das Espressosieb aus und mahle eine neue Füllung hinein. Ich setze Haferbrei (die Packung für neunundzwanzig Cent – und zwar bei Rewe! Bei Aldi gibt’s die wahrscheinlich umsonst) auf, und ruck, zuck bin ich satt und koffeiniert. Alles schläft noch. Ich bin knallwach.
Bereit, Großes zu schaffen. Voller Energie. Leider wird diese Energie in den nächsten zehn Minuten neutralisiert werden, genau dann nämlich, wenn ich meinen Sohn wecken muss, dessen Aufstehen keinerlei Selbstbeteiligung kennt.
Ich öffnete die Tür zum Jugendzimmer und schaltete das Licht an. Das Zimmer roch säuerlich, als sei Geschlechtsreifung ein Gärungsprozess. Konrad lag regungslos mit der Decke zwischen den Knien auf dem Bett und tat so, als wäre Licht nur eine weitere Form der Dunkelheit. «Morgen, mein Sohn! Aufstehen!», sagte ich und ging wieder, aber nur, um nach einer Minute Fingertrommeln in der Küche erneut in Konrads Zimmer zu erscheinen. «Aufstehen!», sprach ich forsch das Bett an, «Du musst jetzt aufstehen!» Keine Reaktion. Auf dem Tisch blinkte Konrads Laptop im Ruhezustand. Sah nach einer unerlaubten Nachtschicht aus. Ich ging ans Bett und schüttelte ihn kurz an der Schulter, worauf er einen rindsähnlichen Laut des Unwillens hervorbrachte. «Los jetzt!» Früher hatte ich ihm in solchen Fällen die Decke weggezogen, aber Konrad war fünfzehn. Das gehörte sich nicht mehr.
«Steh auf», sagte ich, breitbeinig vor dem Bett stehend. «Steh auf, oder ich check deinen Browser-Verlauf!» Das wirkte. Ich war mehr als sein Vater, ich war sein System-Administrator!
«O Mann eh, ja eh, ich steh ja auf. Mann eh, gleich, Mann!», röhrte Konrad dumpf vor sich hin und prügelte das Kissen unter seinem Kopf zurecht.
«Ich mach das. Ohne Scheiß. Steh auf!», sagte ich.
Konrad drehte sich auf den Bauch und schob seinen Hintern hoch. Ich ließ es als Aufstehen gelten und verschwand.
Wenig später klappte die Badtür und wurde hörbar verriegelt. Warnakustik der jugendlichen Privatsphäre. Irgendwie freute mich zwar, dass mein Sohn ein Mann wurde, andererseits zerfraß es mich vor Neid. Ich wurde schon lange von allen Praktikantinnen auf eine Weise gegrüßt, als wäre ich kein Mann, sondern nur irgendwas Älteres, das sich als Mann verkleidet hat. War ja auch richtig. Ich war raus aus dem Paarungsgeschäft. Konrad hingegen – die Jeans auf den schmalen Hüften, die Haare fettig, die Zähne hinter Gittern – stand unbeholfen auf dem Schulhof rum, grinste, und die Mädchen zogen ihn auf, stichelten und stänkerten, aber sie kamen nicht von ihm los. Das nackte, biologische Interesse. Das noch einmal erleben und das von Frauen wissen, was man heute weiß. Halleluja.
Ich stellte Konrad seine Frühstücksflocken hin, die er still in sich hineinschaufelte. «Vergiss dein Sportzeug nicht. Ihr habt heute Sport», sagte ich zu ihm, weil man in einer Familie nicht einfach so wortlos am Tisch herumsitzen darf.
«Papa?», schredderte Konrad die Cornflakes in seinem Spangengebiss. «Wie geht Atmen?»
Ich überlegte, ob ich Respekt einfordern sollte, was mir aber ein Zeichen von Schwäche schien. Also lieber dagegenhalten. «Einatmen, ausatmen. In der Reihenfolge. Halt dich dran und pass auf, dass kein Rauch aus irgendwelchen Tüten dazwischenkommt.»
Konrad guckte mich über den Schüsselrand hinweg an und zeigte kurz mit dem Zeigefinger auf mich. Korrekt, Alter. Ich hatte trotzdem nicht gewonnen. Ich war nur ein lässiger Verlierer.
Dann warf er sein Zeug über und verschwand, selbstverständlich türknallend. In der nächsten Sekunde kam Mascha aus dem Kinderzimmer geschnipst und taperte zottelig an mir vorbei ins Schlafgemach, um noch eine Prise Muttiduft zu nehmen.
Ich zog mich an und ging Brötchen holen. Der Mond hatte es verträumt unterzugehen und stand als weißer Schemen am Himmel. Der Platz vor dem alten Gemüseladen war noch leer. Bald würden sich hier Männer mit fleckigen Jacken und braunen Bierflaschen zum Morgentrunk sammeln und die Welt blaffend und blökend der Inkompetenz zeihen. Ein Schattenkabinett aus Alkoholikern, die sich gegenseitig andauernd «Das kannst du vergessen, Alter!» empfahlen. Wenn man ihnen länger zuhörte, bekam man den Eindruck, dass man im Grunde alles vergessen könne. Nur nicht die Öffnungszeiten. Die Kaufhalle hatte nämlich noch nicht auf. Ich war zu früh.
Dann sah ich ihn. Am Ende der Treppe, oben auf der gemauerten Umrandung des Eingangsbereichs, lag ein Mann in einer speckigen weinroten Steppjacke. Sein Arm war sonderbar ausgestreckt, als entbiete er der Morgensonne über sich einen Gruß. Die andere Hand hielt lose eine leere Wodkaflasche auf der Brust. Ansonsten tat er nichts. Ich trat näher. Die Art und Weise, wie er mit dem Rücken auf der steinernen Kante der Umrandung lag, den Oberkörper seltsam angehoben, die Beine steif und breit ausgestreckt auf den Platten, ließ ein Gefühl von kreatürlicher Verstörung in mir hochsteigen. «Hallo?», sprach ich ihn an. Der Mann lag steif da und reagierte nicht. Er war keiner der hiesigen Struppis. Etwas jünger vielleicht. Das letzte Mal vor zwei, drei Tagen rasiert. Ohne archäologische Vorkenntnisse erkennbarer Haarschnitt. Trockene oder schon wieder getrocknete Hose. «Hallooo?», fragte ich lauter. Der Mann sah zum Himmel, vor der Brust hielt er die geringelte Wodkaflasche wie einen kristallenen Schlüssel, der ihm den Transfer in eine andere Galaxie sichern sollte. Er verzog keine Miene. Ich habe ganz ordentliche Bauchmuskeln. Ich war früher gut in Klappmesser. Fast meine Paradedisziplin. Ich wusste, dass man in einer Position wie dieser nicht lange ohne Zittern aushalten kann, schon gar nicht mit einer Flasche Wodka intus. Es musste also etwas anderes vorliegen als Körperspannung. Ich sah mich um, aber da war niemand, dem ich den Casus überhelfen konnte. Der Mann war zwar nicht wirklich dreckig, aber anfassen wollte ich ihn doch nicht. Stattdessen hob ich den Fuß und stupste ihn leicht gegen den Schuh.
Das war falsch.
Der Mann kippte hintenüber und verschwand hinter der Umrandung. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er sich irgendwie abgefangen hätte. Ich ging einen Schritt nach vorn und sah hinunter. Mir wurde flau und grau, denn einen Meter unter mir lag der Mann mit der weinroten Steppjacke, den Kopf auf irreparable Art zur Seite abgeknickt. Die leere Wodkaflasche rollte die Rasenfläche hinunter auf den Gehsteig. «Geht es Ihnen nicht gut?», fragte ich, aber die Frage kam zu spät. Dem Mann ging es gar nicht mehr. Der Mann war tot. Ich betrachtete meinen Fuß, der in einem etwas ausgetretenen Slipper steckte. Hatte ich ihn damit umgebracht? Natürlich nicht. Entscheidend war doch eher die Lage des Mannes. Da hätte ein Vogelschiss auf den Kopf genügt, und der wäre gekippt. Balance-Spezialisten der Kriminalpolizei würden mir recht geben. Der war längst tot. Gott sei Dank dampfte jetzt hinter mir die Automatiktür der Kaufhalle auf. Ich holte schnell Brötchen und sagte beim Bezahlen beiläufig, da draußen läge einer so komisch rum. Die Kassiererin ging nachschauen und kam schreiend wieder, man solle einen Notarzt rufen. Ich stand noch ein bisschen im Eingang, die warmen Brötchen in der Tüte, aber keiner wollte was von mir. Ein Sanitätswagen kam angefahren. Ein Sanitäter und eine Ärztin sprangen heraus, liefen auf den Mann zu. Als sie nahe genug war, rief die Ärztin: «Ach, du Scheiße!», und wandte sich kurz ab, um ihre Rettungsabsichten hörbar auszuatmen. Der Sanitäter machte ein zischendes Geräusch, wie einer, der nachempfinden kann, was er da sieht. Aber das war hier natürlich kaum möglich. Die ersten Kunden kamen. Einige Hartgesottene blieben stehen, um zu gaffen. Andere defilierten, große ernste Augen auf den Corpus gerichtet, langsam die kurze Treppe zur Kaufhalle hinauf. Die Brötchen waren immer noch warm, und ich beschloss, nach Hause zurückzukehren, bevor die auch noch kalt wurden.
Dorit kam mit der schlafwuscheligen Mascha auf dem Arm in die Küche und setzte sich an den Tisch. «Frag nicht!», befahl sie, gab dann aber selbst Auskunft: «Von vier bis sechs habe ich wach gelegen.» Ich brachte ihr wortlos einen Kaffee, was sie mit einem «Danke» beseufzte, und schnitt ihr ein Brötchen auf. Dann setzte ich mich ihr gegenüber und lächelte kurz, damit sie mich nicht nach meiner Gemütsverfassung fragen konnte.
Im Normalzustand wirkt mein Gesicht auf andere depressiv. Also habe ich mir angewöhnt, von Zeit zu Zeit ein mildes Lächeln und ein munteres Augenbrauenheben in meine Miene zu streuen. Wie die Spätsommersonne, die jetzt durchs Fenster schien, so schien auch ich. Der Tisch war reich gedeckt, demonstrativer Konsum, es gab geräucherte Putenbrust, Mortadella, spanischen Schinken, dreierlei Käse, von mild bis würzig, Quark, ja sogar «Unsere Frühstücksmarmelade des Jahres», aber für den Mann vor der Kaufhalle würde es das alles nicht mehr geben. Wahrscheinlich arbeiteten die Lebensmittelchemiker schon an der nächsten Jahres-Frühstücksmarmelade, die noch besser schmeckte. Ob ihn diese Aussicht davon abgehalten hätte, sich totzusaufen? Keine Ahnung. Das würde mir jedenfalls nicht passieren. Ich würde noch mindestens dreißig Frühstücksmarmeladen des Jahres durchhalten. «Was guckst du denn so finster?», fragte Dorit jetzt, und Mascha drehte sich aus dem Halsbeugenkuscheln um und sah mich an. «Ich habe heute Morgen einen Mann vor der Kaufhalle gesehen, der offenbar an einem Alkoholabusus verschieden war», wählte ich kinderseelenschonend meine Worte. «Keiner der hiesigen Nuschelstruppis und auch noch nicht lange auf Trebe. Der sah eher aus wie jemand, dem plötzlich alles entglitten war. Baufacharbeiter mittleren Alters, wahrscheinlich unter der Woche im Westen auf Montage. Möglicherweise Scheidungssache. Die Frau überlastet und kalt. Die Kinder adipös und ADS, Fertigteileigenheim in Randlage, in dreißig Jahren lastenfrei, zwei Gebrauchtwagen mit Reparaturbedarf. Das war alles, wofür er gelebt hat. Und dann die Scheidung und der Schnaps …» Ich schnippte mit den Fingern und pustete sein Leben in die Luft. «Und da habe ich mich eben gefragt, ob die Sinnangebote des Kapitalismus nicht einen alten Scheißdreck wert sind.»
«Ich habe noch ein Sinnangebot für dich, Genosse. Du musst die nächsten Wochen Mascha aus der Kita holen. Ich bin mit dem Lindenwohnpark-Projekt im Verzug und muss mal länger machen, sonst schaffe ich es nicht bis zur Immo-World», sagte Dorit nicht unfreundlich.
«Scheißdreck ist ein Schimpfwort, nicht wahr?», petzte Mascha und fragte: «Was ist verschieden, Mama?»
«Na, so verschieden. Du kennst doch auch verschiedene Leute. Und dieser Mann war eben von uns verschieden, wollte Papa sagen.»
Ich nickte.
Der tote Mann, der mir am Morgen versehentlich runtergefallen war, machte mir den ganzen Weg zur Arbeit zu schaffen. Ich übersah Vorfahrten, und bei fast jedem Ampelgrün wurde ich ungeduldig angehupt. Ich werde nicht gern an den Tod erinnert. Ich habe fürchterliche Angst vor dem Tod. Schon immer. Mein Vater sagt, das sei ein Zeichen dafür, dass ich noch nichts Sinnvolles geschafft habe. Was genau ich zu schaffen habe, konnte er mir aber auch nicht sagen. Ich würde es aber daran merken, dass der Tod seinen Schrecken verliert. Dann faltete er die Hände vor dem Bauch und nickte ein in seinem Sessel. Er ist schon sehr alt und fürchtet sich vor nichts mehr. Er hat alles geschafft, und es hat ihn geschafft.
Wenn man als Journalist in der Nachmittagssendung eines Lokalsenders arbeitet, beschäftigt man sich eigentlich den ganzen Tag mit Kleinkram. Mit aufregendem Kleinkram immerhin, deswegen merkt man es nicht so. Aber ehe man sich’s versieht, sind zehn Jahre um, und man hat wieder nichts geschafft.
Heute würde es nicht anders sein. Als ich kurz vor zehn in die Redaktion kam, war schon alles im Konferenzraum. Gemurmel und Gezische. In dessen Mittelpunkt Petra, die hysterisch herumfuchtelte und ständig «nix, nada, niente» wehklagte. Petra war eine untersetzte Frau Anfang vierzig mit hydrantenrotem Haar und einer kuriosen Schwäche für zu enge Kleider. Eine aus dem Leim gegangene Pippi Langstrumpf. Die Haarfarbe war kein Unfall, sie sollte zeigen, dass Petra sich weniger zum hiesigen Landfunk als zum Internationalen Showbiz zählte. Petra kümmerte sich um die Schlagersänger und Serienschauspieler, um die Visagisten und Weltreisenden, die sogenannten Prominenten, die allnachmittäglich auf der Couch im Studio Platz nahmen. Obschon die Prominenzbehauptung bisweilen mühsam von der Karteikarte abgelesen werden musste («Viele Zuschauer kennen Hans-Peter Bösewetter als … na, was heißt das hier? … als Rudi, den lustigen Postbeamten, aus der Serie ‹Tierarztpraxis Pfötchen›» …), rutschten die «Promis» aufgekratzt und auskunftsfreudig auf der Couch hin und her und gaben Ferienerlebnisse aus Kroatien («ein wundervolles Land») und Eindrücke der letzten Autohauseröffnung in Brummsack an der Daller zum Besten («ein wundervolles Publikum»). Draußen im Land saßen die Rentner vor dem Fernseher und behaupteten, Hans-Peter Bösewetter sei «aber alt geworden» oder hätte ihnen «ohne Bart besser gefallen», was freilich auf einer Verwechslung mit Hans-Joachim Kulenkampff beruhte, dessen Ableben vor rund einem Jahrzehnt ihnen entgangen war. Aber diesmal war es Essig mit den Prominenten.
Chef kam wie immer exakt auf die Minute – wahrscheinlich ging er schon ewig im Büro auf und ab, bis der Zehn-Sekunden-Countdown für die paar Meter übern Korridor angezeigt wurde – und fläzte sich an die Stirnseite des langen Konferenztisches. «Der eine oder andere hat es schon per Flurfunk mitbekommen. Houston, wir haben ein Problem!», sagte Chef in seiner bedrückend leutseligen Art. «Es geht um die Promi-Schiene für heute. Petra?»
Petra rang kurz um Fassung. «Es ist so. Eigentlich sollte Susan Krüger heute kommen.» In der Runde fragende Gesichter. «Susan Krüger war mal die Partnerin von Gunnar Gunnarsson.» Das Rätselraten nahm kein Ende. «Hat sich dann aber für eine Solokarriere entschieden, und jetzt ist ihre erste Platte rausgekommen.» Niemand wollte Näheres wissen. «Gestern Abend hat mir Susan Krüger abgesagt. Wegen Halsentzündung. Ich hab dann Dickie Garré angeklingelt, den Wortakrobaten, der zwar jetzt nicht direkt was Neues hat, aber vor zwei Monaten hier getourt ist.» Juliane, die Moderatorin, presste die Lippen aufeinander. Offenbar hatte sie im Studio schon mehrmals Proben seiner Wortakrobatik ertragen müssen. «War aber Fehlanzeige. Dickie ist auf Malle. Ist ja auch klar: Saison. Dann hab ich Peter, den Visagisten, gefragt.»
«War der nicht erst letzte Woche da?», fragte jemand.
«Ja, weiß ich selbst. Aber der heiratet seinen Freund. Und Slavko Korjevich, der auf der Freilichtbühne Fregel den Aladin spielt, musste wegen ‹Todesfall in Familie› nach Hause.» Jetzt blieb eigentlich nur noch Miss Veronika, eine schon sehr betagte, hagere und zudem herausfordernd wortkarge Zirkusartistin. Miss Veronika war vor Jahren mit ihrer Taubendressur einmal kurzzeitig in die Lokalpresse gerauscht, als ein zur Ehefrauenbelustigung geplanter Auftritt während des Pastritzer Schützenfestes zeitlich mit dem Trap-Schießen koinzidierte. Seitdem konnte Miss Veronika nur noch mit einem extrem reduzierten Tauben-Ensemble auftreten, was sie und ihre Täubchen allerdings studiotauglich machte. Aber Petra hatte beim Rundklingeln tatsächlich niemanden ausgelassen. «Und Miss Veronika geht irgendwie nicht ans Telefon.» Die Liste der kurzfristig erreichbaren C-Promis war damit erschöpft.
«Was ist mit Gorbatschow?», fragte Chef.
Der neuen Praktikantin fiel der Unterkiefer runter. Aber Gorbatschow war nur der interne Spitzname von Atze Hollmann, dem Sieger über vierhundert Meter von 1956. Ein ehemaliger Spitzensportler, dessen rote Wangen und abgezehrte Erscheinung sich nicht fortdauernder Verausgabung an frischer Luft, sondern einem Flachmann in seiner Brusttasche verdankten. Sein vollständiger Spitzname Wodka Gorbatschow war das Ergebnis eines kollektiv veranstalteten Riechversuchs gewesen, bei dem die halbe Redaktion unter allerlei Vorwänden in die Atemluft des Altstars eingedrungen war, um das Geheimnis seiner Spritmarke zu knacken. Atze Hollmann hatte sich das Alkoholproblem im Zuge seiner schon länger zurückliegenden Popularität erworben, hielt sich aber ausgesprochen gut und wirkte oberflächlich ansprechbar.
«Sorry», sagte Petra, «das kann keiner mehr verantworten.»
Chef wirkte allmählich leicht genervt. «Hat noch einer Vorschläge für die Promi-Schiene heute?»
Schweigen.
Erst hörte das Schweigen sich an wie ein ganz normales Redaktionskonferenzschweigen, aber zwei Atemzüge später stand es schon als Ausdruck stummer Fassungslosigkeit im Raum. Was, wenn es überhaupt keine Prominenten mehr gab? Was, wenn wir den letzten Baum auf der Osterinsel gefällt hatten? Die Promis waren alle. Häuptling Hotu Chef Nui rieb sich gestresst das Gesicht. Dann hatte er eine Idee: «Wir müssen ein oder zwei Reserveprominente aufbauen, die wir bei Bedarf präsentieren können.» – «Reserveprominente?», fragte Petra kicksend, offenbar fürchtete sie, ihr könnte mit einem neuen Kompetenzfeld das Wasser abgegraben werden.
«Reservepromis. Leute, die wir heimlich aufbauen, um sie als Prominente zu präsentieren. Leute, die eigentlich keine Promis sind.»
«Noch weniger Promi als Miss Veronika geht doch gar nicht», murrte ich. «Da ist ja der Wachschutzmann vom Foyer interessanter.»[*]
«Darum geht es nicht», sagte Chef, «wer prominent ist, bestimmen wir. Wir treffen eine stillschweigende Prominenten-Vereinbarung mit Leuten, die verfügbar sind und bei Bedarf ins Studio geholt werden können.» Chef boxte in seine Faust. Das hatte er in irgendeinem Film gesehen, aber wie die meisten seiner Gesten und Mienen wirkte auch diese seltsam verirrt. Dann schnipste er aus seiner Faust den Zeigefinger heraus und wies auf mich. «Der Mann mit den tollen Sprüchen kann sich mal was einfallen lassen. Bis nächste Woche. Heute senden wir die Wiederholung mit Dickie Garré. Der spricht so schnell, das kann man sich ruhig nochmal anhören. Das wär’s fürs Erste.»
Die Tischordnung löste sich erleichtert auf, und ich, genervt von der Aussicht auf eine äußerst unerquickliche Suche nach lagerfähigen Pseudoprominenten, packte mein Zeug zusammen und ging ins Großraumbüro.
Das Büro war leer bis auf Norbert Kruschik, ein alt gewordenes Jungchen Anfang dreißig, mit Aknespuren im Gesicht und der matten Gestik einer von andauernder Unzufriedenheit mittlerweile körperlich geschwächten Ehefrau. Kruschik war unlängst von Chef im Zuge seines Vorhabens, sich mit konturlosen Lakaien und Armleuchtern zu umgeben, zum Verantwortlichen für die Rubrik Service befördert worden und damit der Mann der Stunde, denn Service war in aller Munde. Die panische Angst, dass der Kapitalismus ihnen wichtige Informationen vorenthielt, um sie über unqualifizierte Kaufentscheidungen in den Ruin zu treiben, saß tief in der Seele der ostdeutschen Menschen. Ratgeber versprachen Abhilfe, die Quoten waren bizarr gut. Kruschik brachte diese flüchtige Erscheinung des Zeitgeistes unverständlicherweise mit seiner eigenen Person in Zusammenhang. Mit ihm zu sprechen war unergiebig, es sei denn, man war entschlossen, die Geschirrspülermarke zu wechseln.
Doch jetzt betrat Nergez den Raum. Nergez war eine scharfnasige, quecksilbrige Türkin mit der unglaublichen Fähigkeit, inmitten eines Telefongesprächs von exzellentem Deutsch in wahrscheinlich ebenso exzellentes Türkisch zu wechseln, ohne Haltung oder Stimmfarbe zu ändern. Es klang, als würde sie plötzlich zurückgespult. Sie war klug. Sie war sogar emanzipiert, solange ihre Familie nichts davon wusste. Sie war ein Springquell, ein Labsal.
«Nergez!»
«Schätzchen! Ich bin zu spät, ich weiß. Was kochst du uns heute?»
«Die Faustballerinnen von Bolzow. Sind Vizemeister geworden.»
«Klingt ja irre spannend. Eine Minute fünfzehn fürs Ersatzregal?»
«Täusch dich nicht. Verschwitzte Mädels in Zeitlupe. Das wird ein Aufmacher.»
«Verschwitzte Mannweiber in Zeitlupe. Damenbärte in Großaufnahme. Es ist Faustball. Was ist los mit dir? Stellst du dir das unter Sex vor?»
«Ich bin ein Mann, Nergez.»
«War mir doch so.»
«Ich bin völlig außerstande, bei Begegnungen mit irgendwelchen Frauen darüber hinwegzusehen, dass sie auch als Sexualpartnerinnen in Betracht kommen.»
«Das ist nicht bei allen Männern so», fistelte Kruschik finster in seinen Computerbildschirm, aber Nergez wollte offenbar ihr Interesse nicht auf einen Mann verschwenden, der stolz auf seinen Mangel an Libido war. Sie setzte sich auf den Tisch und drehte sich übertrieben aufmerksam zu mir ein.
«Erzähl doch mal …»
«Nicht, dass ich das selbst will. Es passiert einfach mit mir.»
«Aber Faustballerinnen. Ich bitte dich. Wie weit muss man denn vom Weg abkommen, um sich was mit Faustballerinnen vorzustellen?» Nergez legte ihre Jacke über die Lehne und ordnete ihr Haar. «Haste schon mal überlegt, eine Therapie zu machen?»
«Nein, ich leide ja nicht darunter. Sich ständig vorzustellen, wie man mit irgendeiner fremden Frau Sex macht, ist nicht das Schlimmste. Aber es lenkt mich ab. Ich finde es lästig. Und außerdem finde ich es … abstoßend.»
«Abstoßend? Du stellst dir vor, wie du mit einer Frau Sex machst, und denkst dauernd dabei: ‹Pfui pfui pfui, wie kann ich nur?›»
«So ungefähr. Aber nicht in diesem Gouvernantenton. Ich finde es einfach unpassend. Ich liebe meine Frau. Ich verstehe nicht, warum sich irgendetwas in mir damit nicht zufriedengeben kann.»
Nergez ließ ihren Kugelschreiber zwischen den Fingern wippen. «Und denkst du jetzt gerade daran, wie du mit mir Sex hast?»
Kruschik stöhnte leise.
«Nein, nicht mehr. Die Phase ist vorbei.»
«Wann hast du denn daran gedacht, mit mir Sex zu haben?»
«Am Anfang. Als wir uns noch nicht so gut kannten.»
«Seit du mich besser kennst, kannst du dir Sex mit mir nicht mehr vorstellen?»
«Das hab ich nicht gesagt. Aber es ist wie in einer echten Beziehung. Wenn man sich länger kennt, ist der Reiz raus. Oder nicht mehr so … unwillkürlich.»
«Du sagst mir jetzt genau, was du dir vorgestellt hast! Und zwar unwillkürlich!»
Kruschik murrte lauter. «Könnt ihr mal bitte mit dem Scheiß aufhören. Ich geh echt zum Chef und beschwer mich. Bei so was kann kein Mensch arbeiten.»
Nergez schnitt ihm eine Grimasse.
«Es war nicht so doll», wehrte ich ab, «ganz normaler Sex halt. Das übliche Hin und Her. Vielleicht etwas wilder. Aber sonst nichts Besonderes.» – ‹Und es hatte mit Mangosaft zu tun›, dachte ich. ‹Aber im Großen und Ganzen war es normaler Sex.›
«Nichts Besonderes? Vielleicht gut, dass ich davon nichts wusste.»
Kruschik legte sein Arbeitszeug wichtig beiseite. «Ich hab es euch gesagt. Ich will diesen Mist nicht wissen. Ihr hört jetzt auf, oder ich gehe und lass einen Aktenvermerk machen.»
Nergez verdrehte die Augen und stand auf. «Kommst du mit essen?» Wir gingen über den Flur, und Nergez grinste: «Schäm dich. So habe ich dich nicht eingeschätzt. Ganz normaler Sex, eh.» Ich schlurfte neben ihr her und war ein wenig beleidigt. «Was halt so bei mir normal ist.» Nergez blieb kurz stehen. «Du weißt aber schon, dass ich vier Brüder habe.»
«Weiß ich», sagte ich. «Aber wissen deine Brüder, dass du dir die Achseln rasierst?»
«Das reicht noch nicht für einen Ehrenmord, Schätzchen. Aber kann es sein, dass du kulturelle Vorurteile hast?»
«Ich verehre dich, Nergez.»
«Da tust du gut dran.»
Die Kantine dampfte. Es gab Blutwurst mit Sauerkraut, Grießbrei mit Kirschgrütze und Gemüseburger mit Kartoffelbrei. Umsonst. Es hätte auch alles zusammen geben können. Nergez nahm sich einen Joghurt und einen Apfel aus der Kühltheke. Figursorgen. Nergez hatte kleine Brüste und ein Becken, das sich anschickte, auf sehr orientalische Weise ausladend zu werden. Ihr Körper steckte noch in Anatolien. Und sie hasste es. Sie löffelte ein bisschen Joghurt. «Du stellst dir vor, dass du mich von hinten nimmst.»
«Nergez, das ist die totale Mackersprache. Du musst das Milieu wechseln. Geh mal in die Oper. Außerdem bist du einen halben Kopf größer. Glaubst du, dass mich die Vorstellung, wie ich mir einen kleinen Hocker hinstelle, irgendwie erregt?»
«Sag es mir doch. Bitte! Du musst es mir sagen. Wir sind beide in der Gewerkschaft.»
«Na gut. Wir liegen so rum. Knutschen und so. Liebe machen. Das ist alles.»
«Nicht knebeln und fesseln?»
«Nein. Dafür bist du nicht der Typ.»
«Ha, das ist ja interessant. Deine sexuellen Phantasien wechseln mit dem Objekt deiner Begierde. Für jede Maid ein eigenes Kleid. Kannst du dir mich nicht hilflos vorstellen?»
Nergez schob sich den Apfel fast komplett in den Mund und machte ein so schockierend echtes hilfloses Geräusch, dass von den Nebentischen verwirrt herübergeschaut wurde. Eine türkische Exhibitionistin.
«Nein, aber das ist doch völlig klar. Du kommst aus einer restriktiven Kultur. Du bist schon gefesselt. Nackicht und entspannt miteinander rumhängen ist doch der viel schärfere Kontrast.»
«Das ist sooo klug, Schätzchen. Du bist ein verdammter Nazi. Kommst du zu meiner Party?»
«Mal sehen.»
Natürlich würde ich nicht zur Party gehen. Es war schön, mit Nergez über Sex zu reden. Es war die perfekte Art, miteinander Sex zu haben. Es war so … rückstandsfrei. Unnötig zu sagen, dass man um ein Vielfaches länger über Sex reden kann als ihn praktizieren. In mancherlei Hinsicht ist ja die Zunge potenter als der Schwanz. Und was Nergez betraf, sollte es auch besser dabei bleiben.
Denn wenn es jemals dazu kommen sollte, dass ich der Letzte auf ihrer Party wäre, und es war dies so sicher wie nichts sonst, dann würde in einem fahlen, sofalümmelnden Morgengrauen ihr überdrehtes Lachen mit einem Mal zu Boden fallen. Dann würden wir es tun, und es wäre vorbei. Ich würde nie wieder hören, wie Nergez, die Arme weit ausgebreitet, durch das Büro ruft: «Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich schwitze beim Sex! Ich schwitze wie verrückt. Ich schwitze sofort. Es ist noch gar nichts passiert, da schwitze ich schon. Oh, ich schäme mich so dafür.» Ich würde es wissen, aber ich würde es nie wieder hören.
Chefs Büro lag auf der Mitte des Flurs. Raumstrategisch beziehungsweise wehrgeografisch ein Punkt der Beherrschung. Alle mussten dran vorbei. Chef kontrollierte Kommunikation und Verbindungswege. Hatte Einsicht ins Kommen und Gehen. Wenn es ihm beliebte, konnte er jeden abfangen. So wie mich jetzt. Er lauerte mir auf in einer Pose äußerst gekünstelter Beiläufigkeit. «Ach, da ich dich gerade sehe. Komm doch mal kurz rein. Hast du gegen zehn nach eins Zeit?»
«Wassen?»
«Wir müssen mal was bereden.»
«Isses was Wichtiges?»
«Wirste dann schon sehen.»
Ich kannte Chef. Das konnte nichts Gutes sein. Wenn er sich unerheblich gab, dann nur um Delinquenten stunden- oder tagelang im Schrecken nicht konkretisierter Vorwürfe schmoren zu lassen. Ohne Informationen. Außerstande, Rechtfertigungen vorzubereiten. Das war eine stalinistische Zermürbungstaktik. Stalin war als mein Redaktionsleiter wiedergeboren worden. Vom Standpunkt des Karmas war das nicht unbedingt vorhersehbar. Oder ging es Würmern und anderen Karma-Mieslingen dann doch noch vergleichsweise prächtig? Lebte Chef als Stalins Wiedergänger auf diesem unscheinbaren Posten im Nachmittagsprogramm eines Lokalfunks im innersten Zirkel der Hölle? Wenn man gewisse Ambitionen hat … schon möglich.
Zehn nach eins sah ich schon von weitem Kruschik vor Chefs Zimmer. Er stand mit Siegrun Wedemeyer zusammen. Sie standen da, wechselten knappe Sätze und schwiegen wieder länger, musterten das Teppichmuster und seufzten nickend. Der ewig scheiternde Smalltalk der Gehemmten. Siegrun Wedemeyer trug eine pflegeleichte Schüttelfrisur, deren Pflegeleichtigkeit auf eine vollkommen erwartungsfreie Form der Selbstbewirtschaftung schließen ließ. Sie hielt ihren Leib mit einem naturmodischen Wollponcho bedeckt, als handle es sich um Schüttgut. Eine Frau irgendwie immer schon überschrittenen Alters und unbestimmbarer Herkunft, die ebenso FDJ-Schulungsheimen wie katholischen Mädchenpensionaten entwichen sein konnte. Ein Affront gegen die allseits beglaubigte Tatsache der deutschen Teilung. Eigentlich aber Redakteuse. Eine Großraumbuchtenexistenz mit eigener Teetasse. Weiß der Teufel, was sie hier zu suchen hatte. Jemand blies mir in den Nacken. «Schätzchen, jetzt binden sie dir die Eier hoch!» Nergez. Ich drehte mich um. «Weißt du, was die wollen?»
«Jetzt spiel hier nicht den Ahnungslosen. Du hast mir die Unschuld geraubt. Und zwar vor allen Leuten.»
«Nee, nich?»
«Doch, doch. Erinnerst du dich nicht mehr, was du alles mit mir angestellt hast?» Sie hob ihren Zeigefinger und tippte mir zwischen die Augen. «Hier. In deinem Oberstübchen.» Sie fasste mich bei den Ohren und rief: «Ich weiß, dass ich da drin bin! Was tust du gerade mit mir?»
Ich wehrte sie ab. «Hör auf mit dem Quatsch. Mir ist jetzt nicht nach Witzen.»
Kruschik beugte sich zu Siegrun Wedemeyer und wies auf uns. Nergez roch säuerlich nach dem ewigen Zuwenigessen. «Nur, dass du es weißt: Bettina hat gehört, wie Kruschik sich bei Chef beschwert hat. Und die Wedemeyer ist irgendeine Ombudsfrau. So sind die Tatsachen, Schätzchen. Jetzt will ich dich winseln und um Gnade flehen hören.» Nergez kniff die Augen zusammen. Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich Nergez richtig eingeschätzt hatte. Chef erschien und bat die Wedemeyern und Kruschik förmlich ins Büro, uns winkte er mit knapper Geste hinterdrein. Zumindest schien Nergez nicht offiziell zur dunklen Seite zu gehören.
Chef wies uns an den Tisch und holte sich selbst einen Stuhl, um der Angelegenheit nicht hinter seiner Cheftheke vom Chefsessel aus vorsitzen zu müssen. Ganz Teambildner, Gefühle-Zulasser und ehrlicher Makler. «Ihr kennt mich», behauptete Chef, «ich bin für manchen Spaß zu haben. Aber Spaß muss Spaß bleiben. Kurz gesagt, wenn der Spaß anfängt, die Arbeit der Kollegen zu beeinträchtigen, dann, und ich sage das hier ganz frei heraus, dann hört der Spaß für mich auf.» Dann lehnte er sich zurück. Kunstpause nach Dr. Leaderships Rhetorikseminar.
«Danke. Gut, dass das mal gesagt wurde!», sagte ich. «Kann ich jetzt gehen? Ich hab eine Menge zu tun.»
Siegrun Wedemeyer verzog unwillig ihren Mund. «Herr Krenke! Sie scheinen das alles nicht sonderlich ernst zu nehmen. Aber ich als Gleichstellungsbeauftragte des Senders bin nicht hierhergebeten worden, um mir Flapsigkeiten aus Ihrem Mund anzuhören. Mir liegen Beschwerden vor, dass Sie Ihre Mitmenschen in diesem Haus in nicht mehr hinzunehmender Weise verbal sexuell belästigen.»
Ich sah Nergez an, und sie nickte mit kindlicher Ernsthaftigkeit. Ich sah Kruschik an, aber Kruschik sah durch mich hindurch. «Da bin ich ja mal gespannt. Ich kann mich nämlich an nichts dergleichen erinnern.»
Siegrun Wedemeyer wiegte ihre Schüttelfrisur und buchte innerlich irgendwas auf ein Pluskonto. «Ich denke, hier sitzen zwei Menschen, die Ihrem Erinnerungsvermögen gleich auf die Sprünge helfen werden.»
Mich wundert manchmal, welche zähnefletschende Metaphorik in manchen Frauen so am Abzug sitzt.
«Frau Bülcyn, erzählen Sie uns doch mal, was Ihnen Herr Krenke vor drei Tagen über seine Phantasien mitgeteilt hat.»
Nergez zupfte an ihrer Strickjacke, blinkerte ein bisschen vor Aufregung und sagte dann sehr beflissen: «Er hat mir gesagt, dass er sich vorstellt, wie er mit mir intimen Umgang hat …»
Siegrun Wedemeyer drehte ihren Kopf jetzt eulenartig zu mir: «Das Auslösen von Vorstellungen intimen Inhalts bei Menschen, die nicht darum gebeten haben, ist eine der Definitionen von sexueller Belästigung nach Lahmers und Grechout. Ich muss Ihnen nicht extra erklären, welche Zumutung das für eine junge Frau aus einer Kultur mit viel höheren Schamstandards als den mitteleuropäischen bedeutet.»
Mir wurde doch etwas bang ums Herz. Nicht, dass Nergez unser stillschweigendes Einverständnis stillschweigend aufgelöst hatte. Nicht, dass aus dieser Farce tatsächlich ein förmliches Verfahren wurde. Chef rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und versuchte dringend, Kruschik das Wort zu erteilen. «Mich würde ja in dem Zusammenhang mal Norberts Version …»
Doch Siegrun Wedemeyer genoss ihren Weise-Frauen-Geständniszauber viel zu sehr, um jetzt abzugeben. «Frau Bülcyn, wie haben Sie sich da gefühlt?»
Nergez hob den Kopf und sah mich unverwandt an. «Ich habe ihn sofort zur Rede gestellt und ihn aufgefordert …»
«Aber er hat nicht darauf reagiert?»
«Nicht wirklich.»
«Norbert», hakte Chef ein, der wohl ahnte, dass Nergez’ altosmanische Schamstandards bei weitem nicht so hoch waren, wie Siegrun Wedemeyer annahm. Aber Kruschik kam nicht zu Wort.
«Ich habe ihm gesagt, er soll mir sofort sagen, was genau er sich vorstellt.»
«Na, kommt Ihre Erinnerung wieder, Herr Krenke?», frohlockte die Wedemeyern. Es war ihr vorerst letzter Triumph, denn Nergez erfuchtelte sich weiter Aufmerksamkeit.
«Ich habe ihm in aller Deutlichkeit gesagt, dass ich wissen will, was genau er sich da vorstellt! Von vorn, von hinten oder verkehrt herum, allein oder mit ein paar Freunden und/oder schwerem Gerät. Kuschelsex oder die heftige Tour. Aber da war er plötzlich ganz kleinlaut, der saubere Herr Kollege.»
«Das hat Sie empört?», fragte Siegrun Wedemeyer noch etwas entgeistert hinterdrein, aber ihr zuckendes Gesicht verriet, dass sie bereits verstanden hatte. Nergez schob ihr Dekolleté mit der Strickjacke zusammen und rümpfte kurz die scharfe Nase. Ich liebte sie. Mangosaft wollte ich von ihrem Rücken lecken. Falls es ihre Brüder erlaubten. «Am meisten hat mich empört, dass er gesagt hat, er konnte sich nur am Anfang vorstellen, es mit mir zu machen. Jetzt nicht mehr. Möchten Sie eine Frau sein, bei der ein Mann sich nichts mehr vorstellen kann?», rührte Nergez an den wundesten Punkt, an den im Umkreis von zehn Meilen zu rühren war, und schloss schnippisch: «Ich sage mal: Abmahnung ist ja wohl das Mindeste.»
«Norbert», sagte Chef, und es klang wie amen, «Kollege Norbert Kruschik hat wohl noch eine Sichtweise zu bieten, die über diese zweifelhafte Vorstellung hinausgeht. Ich versuche erst gar nicht, herauszufinden, was dich, Nergez, die ich viele Jahre schon als couragierte und engagierte (damit war sein Französisch fürs Erste alle) Autorin kenne, bewogen hat, hier so aufzutreten. Und für dich, lieber Max, hoffe ich, dass sich deine Frau Dorit, die ich ja auch gut kenne, nicht wirklich Sorgen machen muss.»
Die Stalin-Wiedergänger-These begann überraschend schnell auszuhärten. Väterchen Chef kennt sie alle noch von früher. Herrjemine. Was ist nur aus ihnen geworden. Alles Abweichler. Kopfschüttelnd unterschreibt er die Hinrichtungslisten.
«Ich weiß schon, dass die beiden hier alles tun, um das ins Lächerliche zu zerren», beschwerte Kruschik sich jetzt sehr gefasst, «aber ihr seid im Büro nicht allein. Ich muss euch zuhören. Und ich finde es, verzeiht mir die Offenheit, abstoßend. Ja, abstoßend. Ich möchte hier meine Arbeit tun, und ich komme nicht Tag für Tag hierher, um mir euren Unterhosenkram anzuhören.»
Die paar Sätze hatten gereicht, um Siegrun Wedemeyer wieder auf Zack zu bringen. Sie warf Nergez einen Blick frauensolidarischer Enttäuschung zu und konzentrierte sich dann auf den Notizblock vor sich. «Ich danke Herrn Kruschik. Es geht hier nicht um eine Sache zwischen zweien. Es geht auch und vor allem um sexuelle Belästigung Dritter. Wer dies in der Öffentlichkeit eines Büros tut, tut dies allen an.»
Ich lehnte mich weit zurück und verschränkte meine Arme hinter dem Kopf. «Kneifen Sie mich mal. Ist das jetzt die neue Masche nach Rauchverbot und Secondhand-Smoke: sexuelle Belästigung Dritter? Wo soll denn das hinführen? Kommste mit ins Schweinereienabteil, mal fünf Minuten über Sex quatschen?»
Siegrun Wedemeyer kritzelte etwas Unleserliches auf ihren Block und deutete dann mit dem Kugelschreiber auf mich. «Was Sie da gerade machen, ist eine Axilla-Präsentation. Sie zeigen uns Ihre Achseln. Sie machen sich optisch größer und breiter. Sie wollen, dass wir Ihre Pheromone, Ihre männlichen Sexuallockstoffe, schnuppern. Könnten Sie das bitte lassen?»
Ich klappte sofort zusammen.
«Kennen Sie den Begriff Spiegelneuronen, Herr Krenke?»
Ja, Herr Krenke kennt den Begriff. Ich dachte immer, dass gemeinsames Wissen einander sympathisch machen müsste. Aber hier war es mal anders. Man sollte Berechtigungsscheine für bestimmte Erkenntnisse ausgeben. So wäre zu verhindern, dass Unberufene aus den Preziosen der avancierten Wissenschaften ständig Unheil schmieden. Jetzt müssen die armen Spiegelneuronen zur Begründung für Tante Wedemeyers talibanesken Sittenkodex herhalten.
«Jeder Mensch hat Spiegelneuronen im Gehirn», dozierte Siegrun Wedemeyer, in die Runde blickend, fort, «Neuronen, die uns Handlungen anderer, dazu zählen auch Worte oder Gesten, nachvollziehen lassen. Sie sind der Grund dafür, dass wir uns ineinander einfühlen können. Und das sind nicht immer nur schöne Gefühle.»
Chef nickte ein bräsiges ‹Na, da schau her. Die Wissenschaft!›, und Siegrun Wedemeyer räusperte sich zufrieden. Das Seminar der gewerkschaftlichen Erwachsenenfortbildungsstätte zum Thema «Traumatisierungen durch ungerichtete symbolische Gewalt im Arbeitsumfeld. Anzeichen, Formen, Auswirkungen» hatte sich gelohnt.
«Vielleicht fehlen mir ja ein paar Neuronen», grimmte ich, «ich kann das nämlich absolut nicht nachvollziehen!»
«Wenn Sie Ihre schlüpfrigen Vorstellungen im Büro äußern, dann mag das vielleicht auf Frau Bülcyn gemünzt sein, die das vielleicht auch noch aus falsch verstandener Kollegialität hinnimmt, aber im selben Moment zwingen Sie auch Herrn Kruschik, sich in Ihre unerfreuliche Gedankenwelt zu begeben. Herr Kruschik möchte aber vielleicht mit seinen Gedanken bei der Arbeit sein und nicht bei Ihren verschwitzten Phantasien.»
«Jetzt bin ich, ehrlich gesagt, ein bisschen schockiert», sagte ich, «denn bisher bin ich immer davon ausgegangen, dass Nobbi (ich hatte ihn noch nie «Nobbi» genannt, nicht mal «Norbert», ich hatte einfach immer vermieden, ihn anzusprechen) gar nicht weiß, wovon wir sprechen. Ist es nicht so, dass Vorstellungen an bestimmte Erfahrungen geknüpft sein müssen?»
«Das ist ja wohl die Höhe!», fauchte Kruschik böse. «Es geht dich einen Dreck an, ob ich …»
Seine Aknenarben färbten sich dunkelrot ein. Ich überlegte, ob es meinem Leben Glanz verleihen könnte, mir Kruschik zum Feind zu machen. Immerhin lebten Leute wie er davon, dass man sie für nicht satisfaktionsfähig hielt. So konnten sie sich vermehren. «Wenn ich ‹Eene meene mopel, wer frisst Popel?› gesagt hätte, dann hätten deine Spiegelneuronen gewusst, wovon ich rede, aber so doch nicht.» Es klang ein bisschen nach Schulhof. Aber Nergez sah mich an, eine Spur Dawunderichmichaber in ihrem Blick und eine neue Art Aufmerksamkeit, etwas Scharfes, Scharfstellendes, als entdecke sie plötzlich etwas an mir, das sie nicht kannte und das ihr gefiel. Mangosaft. Himmel! Ich musste unbedingt verhindern, dass je Mangosaft, Mangomischsaft oder ein mangosaftersatzhaltiger Tropicanadrink zwischen uns geriet.
«Schlagt mich tot», schlug Chef vor, «aber so wie ich das sehe, ist es einfach nicht kollegial. Überlegt doch mal: Kollegial wäre es, wenn ihr Norbert in euer Gespräch mit einbeziehen würdet. Ihr redet über sexuelle Phantasien. Okay. Bezieht Norbert einfach mit ein. Fragt ihn. Auch wenn er vielleicht nicht so viele persönliche …»
«Ich habe Erfahrungen!», rief Kruschik jetzt mit hoher Stimme dazwischen.
«Man muss gar nicht alle Erfahrungen selbst gemacht haben, Norbert», beschwichtigte ihn Chef mit einer Hand, aber Kruschik wollte den Jungfernkranz nicht. Er atmete schwer.
«Herr Kruschik hat Erfahrungen», sagte Siegrun Wedemeyer sehr fest, als werde sie gleich bekanntgeben, einmal selbst Teil derselben gewesen zu sein, «aber er verzichtet darauf, andere Menschen damit zu belästigen. Und Sie sollten es ebenso halten, weil ich sonst davon ausgehen muss, dass Sie Schwierigkeiten mit der sachbezogenen Arbeitsatmosphäre hier im Sender haben und möglicherweise woanders besser aufgehoben sind. Haben wir uns so weit verstanden?»