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Verliebt, vermählt, geschieden: die umwerfende Trennungskomödie von Stefan Schwarz Der Schauspieler Jannek Blume wird gern als Märchenprinz gebucht. Im richtigen Leben allerdings ist er schon ein paar Schritte weiter. Die Ehe mit der schönen Larissa war nämlich doch nicht die ganz große Romanze, und nun soll endlich auseinandergehen, was nie zusammengehörte: die Hamburger Chefarzttochter und der überimpulsive Sohn einer alleinerziehenden Berliner Köchin. Dummerweise ist da noch der kleine Timmi, ein kluges Kind und notorischer Terrorbolzen. Jannek legt es auf einen Sorgerechtsentscheid an und hat schnell die Bude voll mit Gutachtern und Experten. Ein Mandala aus Teufelskreisen – denn je länger der Streit dauert, umso «verhaltensorigineller» wird Timmi. Und umso schwerer kann Jannek seine Neigung zum Jähzorn beherrschen, die Larissa aber immer noch recht attraktiv findet. Jannek muss handeln: Er braucht quasi sofort eine Stiefmutter mit Nerven aus Stahl und was Besseres als Prinzenjobs, und er muss den mysteriösen Mann finden, der einst in tiefer DDR sein Erzeuger wurde und wohl einiges erklären könnte. Eine Geschichte, die ungewöhnlicher klingt, als sie ist. Eigentlich passiert sie jeden Tag irgendwo in Deutschland. Aber niemand kann so komisch davon erzählen wie Stefan Schwarz.
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Seitenzahl: 369
Veröffentlichungsjahr: 2016
Stefan Schwarz
Oberkante Unterlippe
Roman
Ihr Verlagsname
Verliebt, vermählt, geschieden: die umwerfende Trennungskomödie von Stefan Schwarz
Der Schauspieler Jannek Blume wird gern als Märchenprinz gebucht. Im richtigen Leben allerdings ist er schon ein paar Schritte weiter. Die Ehe mit der schönen Larissa war nämlich doch nicht die ganz große Romanze, und nun soll endlich auseinandergehen, was nie zusammengehörte: die Hamburger Chefarzttochter und der überimpulsive Sohn einer alleinerziehenden Berliner Köchin.
Dummerweise ist da noch der kleine Timmi, ein kluges Kind und notorischer Terrorbolzen. Jannek legt es auf einen Sorgerechtsentscheid an und hat schnell die Bude voll mit Gutachtern und Experten. Ein Mandala aus Teufelskreisen – denn je länger der Streit dauert, umso «verhaltensorigineller» wird Timmi. Und umso schwerer kann Jannek seine Neigung zum Jähzorn beherrschen, die Larissa aber immer noch recht attraktiv findet. Jannek muss handeln: Er braucht quasi sofort eine Stiefmutter mit Nerven aus Stahl und was Besseres als Prinzenjobs, und er muss den mysteriösen Mann finden, der einst in tiefer DDR sein Erzeuger wurde und wohl einiges erklären könnte.
Eine Geschichte, die ungewöhnlicher klingt, als sie ist. Eigentlich passiert sie jeden Tag irgendwo in Deutschland. Aber niemand kann so komisch davon erzählen wie Stefan Schwarz.
Stefan Schwarz, Jahrgang 1965, ist mehrfach erprobter Ehemann und leidenschaftlicher Vater. Er schreibt Kolumnen, Theaterstücke und für das Fernsehen. Seine Lesungen genießen längst Kultstatus. Zuletzt erschienen seine Erfolgsromane «Hüftkreisen mit Nancy» (2010), «Das wird ein bisschen wehtun» (2012) und «Die Großrussin» (2014).
Für Jonathan
Make me your Aphrodite
Make me your one and only
But don’t make me your enemy
Katy Perry, Dark Horse
Wir alle lieben magische Momente. Ich würde sogar behaupten, dass sie für die meisten Menschen der eigentliche Sinn des Lebens sind. Sie wissen, was ich meine. Alles für diesen Moment: Sonnenuntergang. Meeresbrise. Jungsein, Grünflaschenbiertrinken. An einem weißen Strand. Sand, der von der Haut rieselt. Wir alle wollen hingerissen und überwältigt werden von der Liebe auf den ersten Blick. Von einer Liebe, die uns den Verstand raubt. Wir sind versessen auf diesen Augenblick, in dem unser Herz pocht und wir keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Wir sind Moment-Junkies.
Warum eigentlich? Vielleicht sollten wir etwas vorsichtiger sein mit magischen Momenten, denn sie sind oft nicht so unschuldig und belebend, wie sie sich anfühlen. Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, die mit einem magischen Moment beginnt. Aber wenn Ihnen im Verlaufe dieser Geschichte nicht nach und nach die Erkenntnis dämmert, dass magische Momente des Teufels sind, dann ist Ihnen auch nicht mehr zu helfen. Dann suchen und seufzen Sie von mir aus weiter nach magischen Momenten, nach der Liebe auf den ersten Blick.
Ich bin jedenfalls raus.
Mein magischer Moment ereignete sich im Sommer 1998. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Nachrichtensprecher für ein privates Radio in Berlin. Es war nur ein Job. Eigentlich bin ich von Beruf Schauspieler, aber ich stand erst im dritten Berufsjahr, und meine Engagements waren noch etwas dürftig. Nachrichten sprechen zahlte meine Miete. Es war die große Zeit des Talkradios, und auch der Sender, für den ich arbeitete, hatte eine Talk-Sendung. Donnerstagnacht. Sie hieß «Nightlights» und wurde von Benno moderiert. Benno war ein glatzköpfiger Kumpeltyp, der sich für eine Art Rundfunkrebell hielt, weil er nicht nur die Hits der Achtziger und Neunziger, sondern auch welche aus den Sechzigern und Siebzigern spielte. In «Nightlights», im Redaktionsjargon auch «Leidnights» genannt, durften sich Leute mit Liebeskummer Lieder wünschen und dann mit Benno über ihren Schmerz sprechen. Der Trick bestand in dieser Reihenfolge.
Nach einer Überdosis «I Will Always Love You» mussten die Anrufer meistens von Benno mühsam per Telefon reanimiert werden. «Sabine, bist du noch da? Sabine? Möchtest du mit mir sprechen? Sabine? An wen hast du gerade gedacht, als du dieses Lied gehört hast?» Sabine, die ihr Gesicht schon beim ersten Refrain in ein Sofakissen gestürzt hatte, schnappte dann meistens hörbar nach Luft, um den Namen «Uwe» hervorzustoßen. Benno, den Kopfhörer nur auf dem rechten Ohr, sortierte währenddessen am Mischpult irgendwelche Jingles, um schließlich mit einem unnachahmlichen Gespür für Kunstpausen und einer wirklich authentisch wirkenden Herzenswärme in der Stimme zu fragen: «Was war mit Uwe?»
Wenn man Benno so hörte mit seiner Country-&-Western-Stimme, dann wurde selbst ein Behelfsname wie Uwe – für gewöhnlich Ausdruck völligen elterlichen Desinteresses bei der Benennung des Kindes, eher ein Laut des Unwillens als ein wirklicher Name – plötzlich zu einem Zeichen des Heils. Wiewohl des verlorenen Heils. Eine gewisse, für alle fühlbare Uwe-Losigkeit schwang durch den Äther.
Ich mochte «Nightlights» trotzdem nicht. Wenn Benno mit Stimmbändern wie aus Rauleder im Herzschmerz schrecklich vereinsamter Berliner Bürokauffrauen herumpulte («Und du hast dir nichts gedacht, als er diese Kollegin nach deiner Geburtstagsfeier noch mit deinem Auto nach Hause brachte?»), um zu prüfen, ob sich nicht doch noch ein kleiner Weinkrampf aus Sabine herauskitzeln ließ, wurde mir unbequem, und ich drehte den Sender weg. Üblicherweise endete meine Schicht als Nachrichtensprecher zu den 22-Uhr-Nachrichten, also genau dann, wenn Benno mit seiner Sendung begann. Ich las die News, das Wetter und den Verkehr, während sich Benno vor mir im Studio in einem etwas befremdlichen Ritual den Unterkiefer geschmeidig kaute, dann grüßten wir uns, und ich fuhr nach Hause.
Aber an jenem Abend war es anders. Es war schwül gewesen in der Stadt, und als ich am Nachmittag vor Schichtbeginn mein auf der Straße parkendes Auto aufschloss, um zum Sender zu fahren, atmete es dermaßen aus, dass sich Passanten mit Brechreiz in den Gesichtern nach uns umdrehten. Ich muss wohl erwähnen, dass ich damals noch nicht über die Fähigkeit verfügte, leere Flaschen, alte Zeitungen, Wischlappen, Verpackungsreste und allerlei An- und Abgebissenes aus einem Auto zu entfernen, und dass der Fiat Panda den halben Tag in der Sonne gestanden hatte. An den Scheiben hatte sich Feuchtigkeit abgesetzt, ein Hinweis, dass bereits eine Art Gärung oder Verrottung in Wageninneren eingesetzt hatte. Ich zwängte mich mit angehaltenem Atem auf den glühenden Sitz, kurbelte die Fenster herunter und stemmte sogar das Schiebedach auf, was ich selten tat, da es klemmte. Dann fuhr ich mit meiner kochenden Mülltonne zur Arbeit.
Der Sender hatte ein paar Plätze auf dem obersten, offenen Parkdeck des Bürokomplexes reserviert, so hatten es Mitarbeiter wie ich nicht so weit und konnten, wie zum Beispiel an diesem Abend, auch schneller erkennen, wenn sie einen schweren Fehler gemacht hatten. Denn als ich nach der Schicht zurück auf das Parkdeck über dem nächtlichen Berlin trat, wurde mir klar, dass ich das vermaledeite Schiebedach nicht nur sehr selten geöffnet, sondern auch genau einmal zu wenig wieder geschlossen hatte. Es goss in Strömen. Wenig überraschend eigentlich: Im Laufe des Abends konnte es aufgrund der schwülen Witterung zu Wärmegewittern, Schauern und Starkregen kommen. Hatte ich selbst vorgelesen, eine Viertelstunde zuvor. Aber wenn man in einem fensterlosen Studio sitzt, dann sind Wetterumschwung und Wolkenbruch bloße Vokabeln. Ich ging fassungslos durch das Geprassel auf mein Auto zu, klatschnass nach drei Sekunden, und warf einen bangen Blick durch das offene Schiebedach. Ein halbes, zugegeben schon etwas pelziges Thunfischsandwich und ein braun-krumpeliger Apfelgriebsch schwammen auf sich lose wellenden Zeitungen inmitten von zerdrückten Coladosen über dem Fahrersitz herum. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich das Auto komplett vollregnen lassen solle, in der Hoffnung, diese Gerümpeljauche schließlich durch eine gewaltige Ausspülung loszuwerden, öffnete dann aber die Tür und machte mich daran, den pappnassen Kehricht von Sitzen und Bodenblech zu raufen. Dazu rief ich die Worte «Verfickte Scheiße!» und «Scheißdreckskrempel!» sowie «Blöde Scheißkarre mit verschissenem, verficktem Scheißschiebedach!». Ich war also ein klein bisschen außer mir. Ich muss das so zurückhaltend formulieren, um mir Möglichkeiten zur Steigerung offenzuhalten. Denn es kam zu einer Steigerung. Nach der halbstündigen Säuberung weigerte sich das Auto anzuspringen. Vermutlich die Elektrik. Nach einem halben hundert erfolgloser Zündschlüsseldrehungen, auf dem sumpfigen Fahrersitz hockend, brüllte ich mir erst mal Regenwurmadern in die Schläfen, krallte meine Hände ums Lenkrad und machte Anstalten, es durchzubeißen. Es gelang mir nicht. Ich stieg aus, warf die Fahrertür mit einem derartigen Hass zu, dass der Fiat eigentlich hätte umkippen müssen, und trollte mich.
Nass und unschön war ich anzusehen, und alle Taxis fuhren an mir vorbei. Niemand wollte das erste Opfer eines sich offensichtlich anbahnenden Amoklaufes werden. Kurz vor Mitternacht war ich daheim.
Ich stieg aus dem nassen Zeug und trocknete mich ab. Fraß mürrisch eine Handvoll Cashewkerne, gluckerte ein Bier herunter und stieg ins Bett. Ich lag noch nicht richtig, als Toni Braxton von nebenan «Un-Break My Heart» losjammerte. Ich schlug mir das Kissen um die Ohren, aber Toni Braxton bestand, zwar dumpf, aber doch hörbar darauf, dass ich sage, dass ich sie wieder lieben und dass ich den Schmerz tilgen solle, den ich verursacht habe. Ich riss mir wütend das Kissen herunter und knautschte es im Nacken einer Kopfstütze. L.A. Langpapp! Mein einziger Nachbar auf dieser Etage. Mir noch persönlich unbekannt. Wohnte seit ungefähr vier Wochen hier. War bis jetzt noch nicht unangenehm aufgefallen. Einmal hatte der Wasserkessel etwas länger gepfiffen, aber sonst … eher ruhig. Ich hatte schon neben Leuten gewohnt, die zur Nacht auf Bassgitarren dilettierten. Toni Braxton verlangte jetzt in bedeutender melodischer Schwingung, ich solle ihre Tränen verunweinen, ihr Herz verunbrechen. Was ein Schwachsinn! Ich sprang hoch, klopfte an die Wand und rief: «Un-pump the volume!» Nichts geschah. Ich hätte rübergehen und bei L.A. Langpapp klingeln können. Spießig, aber möglich. Aber dazu hätte ich mich anziehen und vorher auch noch durch den Kleiderschrank wühlen müssen, denn außer den nassen Sachen lag nichts rum. «Martina?», fragte es da plötzlich in der Nachbarwohnung mit einer vertrauten Stimme. «Martina? Was empfindest du bei diesem Lied?» Es war eine Stimme wie ein von Gott berufener Lastkraftwagenfahrer – Benno! Im engeren Frequenzband eines Telefonanrufs hörte ich jetzt ein ersticktes: «Ich verstehe es einfach immer noch nicht!» Ich warf mich quer übers Bett und schnappte mir das Telefon und wählte. Martina erzählte derweil Benno, mir und schätzungsweise dreißigtausend anderen Hörern mit vernehmbarer Erschütterung, dass Thorsten nur die Sachen von seiner Ex hatte holen wollen, nur die Sachen holen, und das könne doch nicht sein, so könne doch kein Mensch sein, sie hätte sich am Morgen noch lieb gehabt und am Nachmittag hätten sie in eine Ausstellung gehen wollen, in eine Ausstellung mit Bildern von der Reichstagsverhüllung (das schien mir fad und durchaus geeignet, die Flamme einer jungen Liebe zum Erlöschen zu bringen), sie könne das nicht glauben, so schnell könne man sich doch nicht … In meinem Telefon klingelte es lange. Endlich ging Jens, der Redakteur, ran …
Und so kam es, dass Benno, Moderator von «Nightlights», in jener regnerischen Sommernacht, klar und deutlich zu vernehmen in der Nachbarwohnung, mit seinem ureigenen Gefühl für Schleim und Timing, die Anruferin Martina nach ein paar salbungsvollen Worten verabschiedete und wieder allein vor dem eisigen Abgrund männlichen Wankelmuts erschaudern ließ, und zwar mit Celine Dion und «My Heart will Go On». Doch nach nur einer halben Minute zog er die Musik wieder herunter, das Lied verstummte.
«Ich weiß», sagte Benno, «dass viele Menschen da draußen sind, die nicht schlafen können, weil ihr Herz schwer ist vor Sehnsucht oder vor Kummer. Aber es gibt auch Menschen da draußen, die nicht schlafen können, weil ihr Nachbar das Radio zu laut hat. Und deswegen geht jetzt meine Bitte an L.A. Langpapp in der Cotheniusstraße 17 in Berlin-Friedrichshain: Machen Sie Ihr Radio ein bisschen leiser! Ihr Nachbar hat den ganzen Tag schwer gearbeitet und sich die Nachtruhe verdient.»
Den Schock, den diese Ansage in der Nebenwohnung auslöste, konnte man quasi durch die Wand spüren. Sofort verstummte das Radio. Ich rutschte zufrieden mein zusammengeknautschtes Kopfkissen herunter. Tja, L.A. Langpapp! Jetzt ist erst mal Dunkeltuten, Herzchen! Wenn man vom eigenen Radio gebeten wird, es leiser zu machen, um Mitternacht, mitten in Berlin, dat jibt Risse im Jemüt. Nach ein paar Sekunden klappte im Flur eine Wohnungstür, und dann klingelte es an meiner. Ich wickelte mir das Handtuch, mit dem ich mich eben noch abgetrocknet hatte, um die Lenden, ging und öffnete. Und dann machte plötzlich alles Sinn: die Hitze, das Auto, der Regen, meine Wut, die Sendung, mein Job, mein Einfall.
Wahrscheinlich sprach sie irgendwas Entschuldigendes, wahrscheinlich wechselte sie vom Siezen ins Duzen, als sie mich sah, wahrscheinlich versuchte sie sich an einer halb verlegenen, halb putzigen Erklärung des Geschehens, aber das änderte nichts daran, dass sie von einer derartigen visuellen Präsenz und Erscheinung war, dass ich es nicht vermochte, auch noch etwas zu hören. Es stand mein Mund – und zwar offen. Die Lungenflügel starrten gespreizt. Das Bier in meinem Magen – ein spiegelnder See. Wahrscheinlich ruhte sogar meine Darmperistaltik. Ich stand da – ein einziges Monument der Begeisterung. Sie hatte blaugrüne Augen wie eine Nixe und so viele Sommersprossen, als wären Pippi Langstrumpf und das Sams ihre Eltern. Ihr rotblondes Haar trug sie am Hinterkopf mit einem Bleistift zusammengesteckt wie ein Versprechen, es bei passender Gelegenheit sogleich wieder auseinanderfallen zu lassen, und sie steckte in nichts als einem XXL-T-Shirt, in dem es bei ihrer gestenreichen Rede fröhlich zuging.
«Ich bin jedenfalls Larissa», sagte Larissa Adelheid Langpapp endlich halbwegs hörbar durch das weiße Rauschen in meinen Ohren und streckte mir ihre ebenfalls sommersprossige Hand hin. Ich kurbelte meine schockstarre Rechte mühsam nach vorne, und beinahe hätte ich gesagt: «Scheiße, bist du schön!»
Wenn ich mich nicht mit Gewalt davon hätte abhalten müssen, so etwas Dämliches zu sagen, wüsste ich das wahrscheinlich alles nicht mehr. Peinliches bleibt einem länger erhalten. Aber diese Erschrockenheit im Angesicht des Schönen … das gibt es nur beim ersten Mal. Nur wusste ich das damals noch nicht. Ich war völlig benommen von der Perfektion des Moments. Und das ist ja wohl ein Moment von filmreifer Güte, wenn man eines Nachts in der Großstadt die Tür öffnet, und es steht der helle Tag draußen, ein fuchsfarbenes, gesprenkeltes Mädchen, dem eine nackte Schulter keck aus dem T-Shirt hängt. Noch dazu ein Mädchen von einer so zitronenfrischen Zugereistheit, dass einem ganz Single wird. Und das war ich. Mehr oder weniger. Hin und wieder gab es noch Inez, eine Schauspielkollegin, aber das war ja in diesem Moment quasi schon vorbei.
«Ich heiße Jannek», sagte ich.
Larissa bewegte ihre Nixenaugen in Richtung Klingelschild.
«Jannek … Blume?», fügte sie zusammen und hob belustigt die Augenbrauen. Ich zuckte verlegen mit den Schultern.
«Ich hätte gerne einen heldischen Nachnamen, aber Frau Blume, meine Mutter, blieb lieber unbemannt.»
Larissa zog das getüpfelte Näschen kraus und machte einen Schmollmund.
«Kann ich das wiedergutmachen?»
«Das mit meiner Mutter? Denke, nicht.»
«Nein, du Doofer», sie stupste mich kokett vor die Brust, «die Ruhestörung.»
Also, bevor mir das alles zu viel wurde, fasste ich mal schnell zusammen: Ich habe eine Nachbarin! Sie ist von einer gewissen, ich würde sogar sagen beträchtlichen, jedenfalls gar nicht zu verleugnenden Wunderschönheit! Sie heißt Larissa, und sie hat eben unaufgefordert meinen Brustmuskel berührt! Und: Sie möchte mir etwas Gutes tun! Es ist nicht so, dass ich da nicht gleich einige Vorschläge gehabt hätte, aber ich fing erst mal hiermit an.
«Mmmh», brummte ich, so mürrisch ich konnte, «Spaghetti vongole und ein Weißwein aus dem Piemont? Bei dir?»
Larissa schien nicht überfordert.
«Jaaa!», sagte sie begeistert. «Genau! Morgen Abend?»
Ich nickte ein Okay, trat einen Schritt zurück, winkte kurz und schloss die Tür. Dann tippte ich vorsichtshalber das Licht im kleinen Flur aus und spähte durch den Türspion. Draußen stand immer noch Larissa mit offenem Mund, rollte ihre blaugrünen Augen beeindruckt und wedelte ihre gespreizte Rechte aus dem Handgelenk, als hätte sie sich verbrannt, so wie es Schwedinnen tun, wenn sie über «den snygge man» tuscheln.
Ich drehte mich um, riss das Gesicht zum Jubel auf und rammte stumm einen Siegerellenbogen in die Luft.
Wahrscheinlich ist dies der Zeitpunkt, an dem ich etwas über mich sagen muss.
Ich bin ein gutaussehender Mann. Einen Meter fünfundachtzig und schlank, ohne dass ich was dafür tun müsste. Bier und Pommes sind kein Problem. Ich verbrenne einfach gut. Hohe Stirn, aber volles, dunkles, leicht welliges Haar. Gerade, weiße Zähne. Ich finde, ich habe etwas große Ohren und strichhafte Augenbrauen, die sich auf meiner Stirn bewegen wie aufgeklebte Balken, aber das scheint außer mir niemanden zu stören. Ich gestikuliere gerne, mir wurde schon gesagt, dass ich für einen deutschen Mann sehr viel mit den Händen rede. Wenn mir etwas sehr wichtig ist, hebe ich den Zeigefinger, was manchmal etwas dozierend rüberkommt. Wenn ich Nachrichten spreche, geht zuweilen mein schauspielerisches Naturell mit mir durch, und ich lese die Verkehrsinformationen so, als wäre die Sperrung der Rudolf-Wissel-Brücke der Anfang vom Ende aller Tage. Frauen finden, dass ich schöne, glänzende Augen habe.
Eigentlich müsste ich keine Probleme haben, eine Partnerin zu finden, aber trotzdem war ich jetzt seit anderthalb Jahren Single, wenn man von den Ausflügen zu Inez mal absah.
Ich übernahm Dienste an Weihnachten und Silvester, weil niemand auf mich wartete. Ich war wie Hunderttausende andere Singles ermüdet und verblödet vom Alleinsein in Berlin. Unter diesen Umständen war das hier der Perfect Match. Ich war einfach nicht imstande, zu sehen, dass ich mit meinem Anruf im Sender selbst eine Situation provoziert hatte, die ich jetzt als romantisch überinterpretierte. Natürlich ist eine vom Radio aufgeschreckte, wunderschöne junge Frau vor einer mitternächtlich offenen Tür besser als ein Schwerkrimineller, der gerade vergessen hat, dass er auf Bewährung draußen ist, aber trotzdem: So sollte man keine Frau kennenlernen. Durch diesen Umstand fühlte es sich nämlich an, als hätte uns das Schicksal auserwählt und zusammengeführt. Aber es war nur ein Zufall, der sich als Schicksal verkleidet hatte. Und der nahm jetzt seinen Lauf.
Bevor ich aber dazu komme, will ich jetzt doch noch mit ein paar Worten auf mein Vorleben eingehen. Meine Ab-und-zu-Freundin Inez hatte, wie ihr Name schon andeutet, spanische Eltern und war etwas älter als ich. Wir waren 1996 zusammen in einem Stück im Theater am Park. Es war Fußball-Europameisterschaft, und alles Volk, was nicht auf der Bühne gebraucht wurde, saß in der Kantine und glotzte die Spiele im Fernseher. Es ist ja bekannt, dass Schauspieler durchaus imstande sind, jenseits der Bühne einander feind zu sein, dann aufs professionellste umzuschalten und nebeneinanderher als traute Freunde, nette Worte wechselnd, ins Rampenlicht zu spazieren. Bei Inez war es noch mal was anderes. Sie fieberte bis zur letzten Sekunde mit den Fußballspielen mit, wartete Freistöße und Eckbälle ab, während die Inspizientin schon gereizt «Frau Artegas-Ruiz! Bitte sofort auf die Bühne!» durch den Lautsprecher schnarrte, und flitzte dann die Treppe hoch zur Bühne, um punktgelandet, als hätte sie seit Stunden nichts anderes im Kopf, versonnen eine Kunstmargerite abzupflücken oder rechtzeitig tot im Bett zu liegen, den Arm vom Bettkasten hängend. Nicht mal ihre flache Brust atmete heftiger.
Das Problem lag darin, dass Inez eine Frau war, mit der man so richtig abgackern konnte. Das hört sich erst mal seltsam an, denn es wird ja immer behauptet, dass die Qualität einer Beziehung daran abzulesen sei, wie viel man miteinander lache. Das mag sein. Wir lachten einfach zu viel. Anders gesagt: Ich kam nicht richtig an sie ran. Schuld daran war sicher auch, dass Inez über den Tag verteilt kleinere Mengen Alkohol, sogenannte «Shots», zu sich nahm, obwohl sie sonst keine Anzeichen einer Trinkerin zeigte. Eher noch war sie von Lippenstiften abhängig. Immer und in jedem Fall aber war sie auf Ulk getrimmt. Sie rief dem Taxifahrer zu, der uns nach der Vorstellung zu ihr brachte, er möge den Rückspiegel verhängen, es könne im Fond zu Ausschweifungen kommen. Sie wechselte die Rollen von dröhnender Intendantin – «Ich muss Sie leider entlassen, Herr Blume! Ich habe meine Prinzipien! No fucking in the company!» – zur Piepsstimme – «Was ist das denn hier unten? Darf ich das mal anfassen?» –, sie lachte, staunte, grollte, schnaufte. Sie fiel mit ausgebreiteten Armen aufs Bett, wobei sie merkte, dass ihre Achseln nicht ausreichend rasiert waren, klemmte dann die Arme an den Leib wie ein Meldegänger und rief: «Heute geht’s a mal ohne Umarmung ins Bett, mei Bübele!» Das war witzig, aber ihre Art, auch die intimsten Situationen noch mit Sprüchen zu versehen, mich überdies mit allen möglichen Titeln wie «Bübele» oder «mein lieber Freund und Kupferstecher» zu bedenken, traf nicht unbedingt meine Erwartung von heiliger Leidenschaft. Wenn ich mich endlich in Stimmung und Stellung gebracht hatte, riss Inez Augen und Schenkel auf und rief: «Oh, oh! Himmelsakrament! Jetzt wird’s ernst!» Außerdem konnte sie sich nie verkneifen, mir irgendwann während des Aktes mit flachen Händen auf den Hintern zu klatschen und «Nun mach aber mal ein bisschen Galopp hier!» zu rufen. Die Sache unter diesen Umständen zu genießen war fast unmöglich. Und so begann ich, mich nach wahrer, warmer, schicksalhafter Liebe zu sehnen.
Was für ein Fehler!
Vor Inez war ich zwei Jahre lang mit Charlotte liiert, welche allgemein Charly genannt wurde und das ganze Gegenteil von Inez gewesen war. Still, verträumt vielleicht, jedenfalls anspruchslos, unentschieden in beinahe allen Dingen, dafür aber mit einer rätselhaften Leidenschaft für Hunde ausgestattet, und als wäre das nicht schon schlimm genug, insbesondere für Schäferhunde und ganz speziell für Sixton, den ihren. Sixton war eine gestörte Kreatur, die unter Albträumen litt und nachts im Schlaf winselte und schnappte, dass man das Herzkollern kriegte. Unnötig zu sagen, dass er seinen Schlafplatz im Bett zu unseren Füßen hatte. Hinzu kam, dass Charly, die als Kellnerin arbeitete, nur ungern ausging und Sixton abends so lange an der Wohnzimmertür kratzte und jaulte, bis er hereindurfte, um das Fernsehprogramm zu bestimmen, das dann leider ausschließlich aus Städteporträts und Naturfilmen bestand. Alles andere war seiner Hundeseele nämlich abträglich. Ich gucke gerne Sport, aber es stellte sich schnell heraus, dass Sixton es überhaupt nicht vertrug, wenn ich mitfieberte, anfeuerte oder Freudentänze aufführte. Er bekam Panik, er sprang hektisch im Zimmer umher, im schlimmsten Fall griff er mich an. Charly hatte mir ein Dutzend Mal erklärt, dass es ganz natürlich sei, wenn Hunde Menschen beißen, die erst minutenlang völlig still und fingernägelknabbernd auf dem Polsterrand kauern, um dann plötzlich wie irre auf die Couch zu springen und herumzubrüllen. Nun macht es aber keinen Spaß, mit erzwungener Ruhe Fußball zu gucken, nach neunzig Minuten betont langsam aufzustehen und nach einem leisen Räuspern «Soso, also Pokalsieger!» zu sagen. Also wickelte ich mir zum Pokalfinale 1995, als Charly kellnern war, ein Kissen und eine alte Decke um den Arm und ließ Sixton sich bei jedem Tor in meinen linken Arm verbeißen, bis er völlig fertig war. Leider kam Charly an dem Abend unerwartet früh zurück und entschied, dass sie nicht länger mit einem Tierquäler zusammen sein könne. Ich litt nur unwesentlich. Charly war so brav gewesen, dass mir Inez danach wie ein Springquell des Lebens vorkam. Jetzt wiederum erschien mir die temperamentvolle Inez plötzlich als überlustig. Mit etwas Innehalten wäre mir vielleicht aufgefallen, dass meiner Partnerwahl eine bloße Suche nach ständigen Kontrastprogrammen zugrunde lag.
Aber ich war schon im Banne des Schicksals, als Larissa dann am nächsten Abend mit offenem rotgoldenem und grandios vernachlässigtem Haar, einem hinreißenden Bed Head, vor mir in ihrer Küche hin und her lief. Wir hatten erst eine halbe Flasche Wein im Stehen getrunken, Umzugs- und Wohnungs- und Berlin-so-im-Allgemeinen-Zeug gequatscht und den Fall des Radioanrufs erörtert. Ich hatte bedeutend am Küchenbord gelehnt, bis Larissa meine bewusst zurückhaltende Nachbarschaftlichkeit mit einem Löffel Muschelsud durcheinanderbrachte. Sie pustete, kostete und hielt ihn mir dann vor den Mund.
«Hier, probier mal auch! Ist okay so?»
Mir sank langsam der Unterkiefer, wie bei einem Kind, das Hustensaft kriegen soll. Was war denn das? Das war ja wie Küssen über Bande! Wir kannten uns doch gerade erst zwanzig Minuten! Beinahe hätte ich sie vor Glück an der Taille gefasst, als sie mir den Löffel in den Mund schob.
«Gekauft», sagte ich etwas holzklotzig.
Dann setzten wir uns an den schmalen Tisch vor dem Fenster. Larissa hatte eine feine, präzise Art, die Spaghetti mit der Gabel auf den Löffel zu drehen und dann in den Mund zu befördern; wie jemand Spaghetti isst, der als Kind schon Kleider anhatte, die man unter keinen Umständen bekleckern darf.
«Jannek Blume», entschied sich Larissa zielstrebig für das für sie spannendste Thema, «du hast gesagt, dass deine Mutter unbemannt blieb. Was war denn mit deinem Vater?»
«Keine Ahnung», erwiderte ich. «Ich kenne ihn nicht.»
«Hast du deine Mutter nie nach ihm gefragt?»
«Doch, aber sie hat gesagt, sie könne es mir nicht sagen. Und vor allem: Sie wolle es mir nicht sagen.»
«Und das hast du akzeptiert? Jeder Mensch will doch wissen, von wem er abstammt!»
«Ich nicht. Ich hab’s mir abgewöhnt.»
«Glaube ich nicht.»
«Larissa, meine Mutter ist eins fünfzig im Quadrat, hat eine dicke Brille und war Köchin. Sie war fast vierzig, als ich sie mich bekam. Wer immer mein Vater war, ich will es nicht wissen. Ich liebe meine Mutter, aber ich habe einen Spiegel.»
Larissa betrachtete mich und lachte einmal laut auf. Es klang, als müsse sie ihr Lachen einfangen, sobald es den Mund verlassen hatte.
«Ist es dir peinlich, dass deine Mutter womöglich mit einem stattlichen Mannsbild im Bett war?»
«Mir ist nur peinlich, dass es den beiden offenbar peinlich war.»
«Du solltest deinem Vater dankbar sein für dein Spiegelbild.»
Ich sagte: «Ja, danke auch!», und stach drei Muscheln auf die Gabel. Wer immer dieser eins fünfundachtzig Meter große, dunkle Typ mit dem markanten Kinn gewesen sein mochte, dem ich wie aus dem Gesicht geschnitten war, wo immer er meine Mutter getroffen hatte, es konnte sich nur um eine Geschichte handeln, deren Details mir auch nicht helfen würden, um es ganz vorsichtig auszudrücken. Ich kam lieber aus dem Nichts als aus dem Chaos.
«Nachrichtensprecher bist du also.»
«Ich bin kein richtiger Nachrichtensprecher. Ich bin eigentlich Schauspieler. Nachrichten spreche ich nur nebenbei.»
«Schauspieler, oho! Kann man dich irgendwo sehen? Im Fernsehen? Im Kino oder so?»
Ich überlegte, ob ich Larissa den Besuch einer Vorstellung im Theater am Park anbieten sollte, aber die nächsten Vorstellungen waren alle am Vormittag, und inmitten von krakeelenden Schülern wollte ich diese Frau eher nicht sitzen haben. Also tat ich, als hätte ich derzeit kein Engagement.
«Schwerer als Moderieren ist es jedenfalls. Wenn man nicht aufpasst, verspricht man sich. Aber wenn man zu sehr aufpasst, verspricht man sich auch. Es ist ein bisschen paradox.»
«Was war dein schlimmster Versprecher?»
«Bahnhofshuren. Die Bahnhofshuren werden pünktlich umgestellt.»
Larissa hielt sich prustend den Mund zu wie jemand, der gar nicht wusste, wie es ist, keine exzellenten Tischmanieren zu haben. Weil das so hübsch aussah, erzählte ich ihr gleich noch, wie ich beim Sprechen der Verkehrsmeldungen einmal bei «Hultschiner Damm» Reste eines gerade gegessenen Nussriegels in den Hals bekommen und dann auch noch die rettende «Räuspertaste» verfehlt und stattdessen auf die Regietaste gedrückt hatte, sodass nicht nur die Regie, sondern ganz Berlin mein halbminütiges Gekrächze und Geröchel in voller Lautstärke mitbekam.
Larissa studierte an der Hochschule der Künste Musiktherapie. Zum Beispiel Schmerzpatienten Linderung verschaffen, etwa mit Musik aus Klangschalen.
«So was funktioniert?», fragte ich.
«Aber ja doch. Klangmassagen können noch viel mehr. Dich energetisieren, die Chakren öffnen und deine Meridiane reinigen.»
«Ich habe dreckige Meridiane?»
Es sollte ein Witz sein, aber Larissa nickte überzeugt.
Dann funkelte sie mich mit schmalen Nixenaugen an, überlegte, ob ich jemand sein könne, der für eine spontane Klangreise empfänglich wäre, hieß mich schließlich aufstehen und mit ihr ins Zimmer gehen. Ich musste mich rücklings auf ihr Futonbett legen, das auf glänzenden Wurzelholzkugeln stand und irritierend nach herben Kokosfasern und zitronenfrischer Sommersprossenhaut gleichermaßen roch. Dann sank Larissa zwischen bergkristallenen Klangschalen in den Lotussitz, legte sich das Fuchshaar hinter die Ohren und begann, mit zwei Filzklöppeln langsam in den Schalen herumzustreichen. Noch ehe ich überhaupt etwas hörte, spürte ich es: Irgendwas rieselte in feinen Bahnen durch meinen Körper. Dann erst vernahm ich leises Singen, das den Schalen entströmte und begann, sich im Zimmer selbständig zu machen. Das kristallene Singen löste sich von seinem Ursprung, nahm die Form einer gewaltigen Ellipse an, wimmerte um mich herum und durch mich hindurch. Ich fühlte Blut und Lymphe gefälliger fließen, und die Nieren wurden mir irgendwie weit.
Und dann geschah es. Meine Blase füllte sich. Wo immer der piemontesische Weißwein sich bis zu dieser Minute in meinem Körper aufgehalten hatte, jetzt sammelte er sich sturzbachmäßig in meiner Blase. Larissa strich ein paar tiefere Töne, und der Harndrang nahm umgehend fordernde Ausmaße an. Ich krallte meine Hände in das Laken und sorgte mich, dass Larissa mit ihren Filzklöppeln Töne anstreichen könnte, die die quantenenergetische Entsprechung von «Wasser marsch!» enthielten. Die großen, geräumigen Klangschalen wurden für mich plötzlich mehr Schale als Klang: In meiner Phantasie rührte Larissa jetzt in zwei riesigen Kloschüsseln herum, die zu nichts anderem als rauschender Füllung verlockten. Nach ein paar Minuten völliger Versunkenheit ins Spiel hob Larissa ihren Kopf, um mich friedlich und freundlich anzulächeln, und erschrak. Sie hatte mich steif gerührt. Ich lag da, starr und geschockt von der Erkenntnis, dass jemand mit einem Musikinstrument die Kontrolle über meine Blasenfunktion übernehmen konnte.
«Du musst aber auch mal loslassen!», sagte Larissa.
«Auf keinen Fall!», presste ich hervor.
Dann war Schluss. Larissa legte ihre Klöppel beiseite und setzte sich zu mir auf das Futon. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog kritisch die Augenbrauen zusammen.
«Na ja», sagte sie. «Das war wohl eher nichts.»
«Es tut mir so leid, aber ich muss pinkeln.»
Larissa war kurioserweise nicht überrascht. Ihr Blick wurde mild.
«Das sind die ungeweinten Tränen, die sich da in deiner Blase gesammelt haben», sagte sie mit gespenstischer Ruhe. «Ich glaube, ich habe eben etwas in dir gelöst, was dich schon lange blockierte.»
Sie strich mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand frivol über meine Brust, meinen Bauch, bis zu meinem Gürtel, wo sie stoppte und kurz mit einem Finger auf meinen prallen Unterleib tippte.
«Vielleicht hat uns da etwas zusammengeführt, etwas, das wollte, dass ich dich heile …»
Ich hatte noch nie mit einer Frau zu tun gehabt, die mich heilen wollte.
«Darf ich vorher deine Toilette benutzen?»
Der zumindest in meinem Körper ausschließlich harntreibende Effekt ihrer Klangschalenspielerei sollte sich als dauerhaft erweisen. Was immer sie in unserem späteren gemeinsamen Leben an Tönen aus den Schüsseln hervorlockte, es war stets wie ein Befehl für mich, zu gehen und Wasser abzuschlagen. Darüber war ich, wie Sie sich denken können, nicht gerade froh. Ich wollte, dass die zauberhafte Aura, die Larissa in meinen Augen umgab, sich auch auf all ihr Tun erstreckte. Alles, was sie berührte, sollte doch fortan mit Glück und Segen behaftet sein. Every little thing she did was magic. Bis auf dies.
Aber ich sah es noch nicht als den feinen Riss, der es tatsächlich war. Ich war verliebt. Ich sah nicht, dass es Larissa, wie alle Helfer und Heiler, gar nicht leiden konnte, wenn sich der zur Heilung Erkorene der Hilfe und Heilung verweigerte.
Bei unserem zweiten Essen, der zwingend logischen Gegeneinladung, die drei Tage später in meiner Wohnung stattfand, gab es Rehrücken mit Pumpernickelsauce. (Klingt nach Haute Cuisine, hat aber eigentlich nur drei Zutaten und geht so schnell, dass ein Betrunkener länger braucht, ein Brot zu belegen. Und es kostet, das nur nebenbei, weniger als zwei Big Macs, weil der Rehrücken von Aldi war, was ja aber wohl egal ist, es gibt schließlich keine Massenrehhaltung.) Sowie als Dessert heiße Birnen mit süßem Zimtfrischkäse im Orangendip. Hey, ich bin der Sohn einer Köchin und habe mit sechs Jahren schon Mehlschwitzen gerührt. Ich kann kochen, aber ich mache kein großes Gewese drum.
Wir redeten stundenlang und bestanden beide nur aus Zustimmung und Ergänzung. Irgendwann war es halb drei, und Larissa täuschte Abschiedsvorbereitungen an. Die Langsamkeit ihres Aufstehens, die gedehnten Bekundungen, wie schön der Abend gewesen wäre, richtig schön und nicht nur nett, das Abwenden und Zurückdrehen, das plötzlich aufreißende, verlegene Lächeln – das alles war ein Countdown, den ich herzklopfend mitzählte. Kurz vor der Küchentür, zu der wir uns fünf Minuten lang hingezögert hatten, sagte Larissa, fast schon zitternd vor Aufregung:
«Also, Jannek Blume, dann mach’s mal gut!»
Dann knutschten wir los. Es geschah derart abrupt, dass es von außen ausgesehen haben muss, als wären an dieser Stelle des Films ein paar Bilder herausgeschnitten worden. Wir knutschten uns begeistert in mein Zimmer, und in jeder anderen Zeit der Weltgeschichte hätte ich Larissa auf mein Bett geworfen, um dort weiterzumachen. Aber hier und jetzt hätte ich ein paar Leute rausklingeln müssen, die beim Werfen mit anfassen. Denn wir sprechen vom Berlin der neunziger Jahre. Und deswegen stand in meinen Zimmer kein Bett, auf das wir fallen konnten, sondern mein selbstgebautes, zweieinhalb Meter hohes Hochbett auf den selbst abgeschliffenen Dielen aus Kiefernholz. Auf dieses Hochbett führte eine ebenso selbstgebaute Leiter, die herausfordernd senkrecht dastand. Ich brauchte nur einen Blick durch Larissas flimmernd rotes Haar, um zu erkennen, dass es keine Möglichkeit gab, in dieses Bett zu kommen, ohne einen kompletten Zusammenbruch der Romantik herbeizuführen.
In keinem der Menschheit bekannten Szenario spontanen Liebesrausches zählte Leiterklettern zum Vorspiel. Egal, wer voranstieg. Oben angekommen, würde, was als keuchendes Begehren unten begonnen hatte, nur noch das Keuchen der Erschöpfung sein. Zumal die dritte Sprosse von unten schon mal aus der Halterung gerissen und von mir aus Faulheit nur notdürftig wieder eingesteckt worden war, seitdem hatte ich sie immer mit einem Riesenschwung überstiegen. Die Vorstellung, dass Larissa auf dieser Sprosse durchbrechen könnte, sich womöglich das Kinn aufschlagen oder auf die Zunge beißen würde, machte unseren erotischen Pfad von der Küche ins Zimmer endgültig zur Sackgasse. Ich löste mich von Larissa und sagte lächelnd:
«Ähem! Mein Bett ist gerade nicht so vorzeigbar … Wollen wir nicht lieber zu dir gehen?»
Der Plan erwies sich leider als genauso interruptiv wie Leiterklettern, denn im Hausflur begegneten wir Herrn Göllner, der bei einer Reinigungsfirma arbeitete und um diese späte Stunde zur Schicht ging. Jemanden zu treffen, der arbeiten gehen muss, während man selber gerade Spaß zu haben beabsichtigt, nimmt einem dann doch die Unbeschwertheit. Hinzu kam, dass Herr Göllner uns beiden auf ekelhafte Weise mit den Augenbrauen zuwinkte.
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass wir weder an diesem Tag noch an einem anderen je auf meinem Hochbett Sex hatten. Manchmal denke ich, dass das ganze Unglück damit begann, dass wir an diesem Abend nicht einfach auf ein Bett fallen konnten. Ich rate darum von Hochbetten ab.
Obwohl Larissa mich bei sich zu meiner großen Freude zielstrebig vom Flur ins Zimmer und dort aufs Bett zog, blieb meine Freude ausgesprochen kindlich. So groß meine große Freude, so klein blieb mein kleiner Freund. Umgekehrt wäre es natürlich besser gewesen: kleine Freude, großer Freund. Aber ich war nicht nur im Fluss der Leidenschaft unterbrochen und gestört worden. Ich war einfach zu überwältigt. Es mag paradox klingen: Aber um mit einer Frau schlafen zu können, muss man ein bisschen über das Stadium der Anbetung hinaus sein. Man muss eine Frau auf eine bestimmte, ergreifende, ich sage jetzt mal zweckdienliche Art anfassen können, um in Erregung zu kommen. Und das konnte ich nicht. Ich konnte sie berühren, aber nicht anfassen.
Als Larissa ihr Hemd aufhob und das ganze Ausmaß ihrer Sommersprossigkeit offenbarte, einen ganzen Sternenhimmel an Sommersprossen, begann ich mich dann doch zu fragen, ob sie etwas von mir erwartete. Etwas, das ich im Stande meiner Anbetung nicht liefern konnte. Ich konnte sie küssen, doch wenn ich dabei mit meiner Hand vorsichtig über ihre gesprenkelte Haut, ihren Bauch, ihr Gesäß, über ihr Schambein strich, beschlich mich die Furcht, den Gegendruck ihres Beckens zu spüren, das untrügliche Zeichen weiter gehenden Verlangens. Aber sie blieb weich und zärtlich. Ich streichelte und liebkoste sie, und ich weiß, dass sie in dieser Nacht zu der Auffassung gelangte, dass ich der einzig Richtige sei. Und zwar genau deswegen, weil ich nicht gleich was von ihr gewollt hatte.
In der dritten Nacht ohne Verkehr war sich Larissa dann nicht mehr so sicher, dass ich der Richtige sei. Wir hatten uns wundgeknutscht. Dann aber löste Larissa sich und stellte ihr Kinn auf die Handfläche.
«Sag mal, ist es was Religiöses?»
«Was bitte?»
«Dass du nicht mit mir schläfst.»
«Nein.»
«Was Organisches?»
«Um Himmels willen. Wo denkst du hin?»
«Also, was ist?»
«Nichts», wiegelte ich ab. «Ich dachte, du magst es, gestreichelt zu werden.»
Larissa drehte ihren Sommersprossenatlas gelangweilt einmal hin und einmal her auf dem Laken.
«Ja, aber irgendwann ist ja auch mal gut mit Streicheln. Wir sind hier ja nicht im Streichelzoo.»
Ich erklärte, dass ich sie lieben würde, wie ich noch nie eine Frau geliebt hätte, aber dass genau dies das Problem sei. Ich hätte das Gefühl, Sex sei etwas, das man mit gewöhnlichen Frauen mache. Sie sei aber eine außergewöhnliche. Ja, und deshalb wäre ich derzeit unvermögend. Aber aus Liebe.
Larissa schüttelte den Kopf.
«Das klingt total süß, stimmt aber nicht. Liebe ist Potenz. Wahre Liebe jedenfalls. Es ist die stärkste Potenz überhaupt. Ich habe was weiß ich wie viele Seminare dazu gehabt.»
Sie warf einen kurzen, prüfenden Blick auf mein Glied, das so leblos auf meinem Oberschenkel lag wie etwas, das vor kurzem von einem Hochhaus gesprungen war. Als wolle sie sich diesen Eindruck bestätigen, nahm Larissa es zwischen Daumen und Zeigefinger, hob es kurz an und ließ es wieder fallen. Dann drehte sie sich auf den Bauch und schlenkerte mit ihren Füßen durch die Luft.
«Bleibt das jetzt immer so?»
«Bitte keinen Druck ausüben!», sagte ich. «Aggression hilft nicht bei Erektionsproblemen.»
Ich sollte irren.
Nichtsdestotrotz waren wir innerhalb einer Woche ein Paar geworden, schwer verliebt, und ich konnte nicht umhin, dies zu bekennen. Und zwar gegenüber der einzigen Person, die das etwas anging. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht im Theater am Park. Wir hatten «Krass! – Das Punk-Musical!» gespielt, das mich zu Tode langweilte, weil bei mir Punk in seiner seit dreißig Jahren immer gleichen Haarspray-Irokesen-Sicherheitsnadel-Lederjacken-Uniformität noch hinter bayrischer Trachten-und-Dirndl-Seligkeit rangierte. Das Stück war zwar nun eine Abendvorstellung, aber so grauenhaft in seiner Attitüde, dass ich es Larissa nicht antun wollte, sie dazu einzuladen. Obwohl das die elegantere Lösung gewesen wäre, den Kollegen meinen neuen Status zu demonstrieren. Der Kantinenmann stellte noch einen halben Kasten Bier und eine Kladde zum Eintragen raus, falls noch jemand was trinken wollte, und schloss die Rollläden an der Ausgabe. Zeit zu gehen. In diesem Moment kam Inez zu mir herüber. Sie stellte sich breitbeinig vor meinen Tisch, stemmte die Hände in die Hüften und schaute mich aus schlecht abgeschminkten, großen Drama-Augen an wie ein Kneipenschläger, der Streit sucht. Ich lächelte matt.
«Machsten noch?», fragte Inez.
«Nix.»
«Kommste noch mit? Ein bisschen runterkommen? So erst mit raufkommen und dann ein bisschen mit runterkommen?»
Sie machte eine frivole Wellenbewegung mit der Hand. Für einen kurzen Augenblick war ich geneigt. Wenn man aus Gründen schlimmer Verliebtheit unter Männlichkeitseinbußen leidet, ist die Versuchung groß, seine Potenz mit jemandem zu prüfen, für den man eher kollegiale Gefühle hegt. Aber nein! Das wäre Betrug am großen Gefühl. Ich presste mir ein verlegenes Grinsen ab.
«Ich habe jemanden kennengelernt.»
Inez verzog das Gesicht.
«Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?»
«Doch. Sieht so aus.»
Inez sagte: «Aha!», und hob noch kess eine Augenbraue, aber die Ironie gelang ihr nicht recht. Sie warf einen Blick über die Schulter. Für den Fall, dass sie jetzt irgendetwas verletzen würde, wollte sie keine Zeugen.
«Jemand aus der Branche?», fragte sie.
«Ja, du kennst sie», antwortete ich mit einem Ton großen Bekenntnisses. «Es ist Cordula!» Ich wusste, dass Inez Cordula hasste. Cordula, eine Kollegin aus dem Viadukt-Theater, eine bleichsüchtige Wald-und-Wiesen-Schönheit, die, obwohl schauspielerisch am Rande der Uneignung, erfolgreich die Gunst berühmter Regisseure suchte und fand. Es war ein Scherz. Ich wollte Inez necken, um ihr das, was doch folgen musste, ein bisschen leichter zu machen .
«Quatsch!», sagte Inez, aber doch etwas verunsichert.
«Nein, es ist natürlich nicht Cordula», fuhr ich fort. «Jemand anders. Du kennst sie nicht. Sie heißt Larissa.»
«Larissa. Ja, das ist mal ein Name. Habt ihr schon zusammen Kaviar gefrühstückt?»
«Nein.»
«Ach, das heißt, du liebst sie, aber sie weiß noch nichts davon. So wie früher. Auf dem Schulhof.»
«Nein, sie kennt mich bereits. Larissa ist meine Nachbarin.»
«Wie praktisch. Plant ihr einen Wanddurchbruch?»
Ich wollte nicht, dass Inez ihr Spiel der kessen Antworten bis zum Verdruss spielte, und darum sagte ich fast etwas barsch, dass es eben Klick gemacht habe und gut.
«Was liebst du denn an ihr?»
«Alles!», antwortete ich verdutzt, weil mir die Frage so sinnlos vorkam.
«Alles? Du liebst alles an ihr? Ärmster! Was ist denn das für ein Scheiß? Wenn du alles an ihr liebst, liebst du gar nichts an ihr.»
«Wieso, kann man einen Menschen nicht rundum und gänzlich lieben?»
«Nein. Weil der Mensch nichts Ganzes ist.»
«Möglicherweise sind meine Gefühle philosophisch nicht korrekt, aber ich fühle sie trotzdem.»
Inez überging es.
«Das Ganze, das ist immer eine Projektion. Ein Reich, ein Führer, ein Herz. Lass dir das gesagt sein. Niemand ist nur gut oder rundum liebenswert. Jannek, wenn du glaubst, alles an dieser Dame zu lieben, liebst du einen frommen Glauben.»
«Nun mach mal langsam, ich kenne sie noch nicht so gut. Aber alles, was ich von ihr kenne, liebe ich.»
«Wart’s nur ab, Henry Higgins. Jeder Mensch hat seine andere Seite, seine faulen Stellen. Ich zum Beispiel liebe Benedikt, den von den Bühnenleuten, das ist ein feiner Mann, der hat mir mal hinter der Bühne die Zehen massiert, als ich den ganzen Abend mit Plexiglas-Schühchen rumrennen musste. Er hat so selbstbewusste Hände, gerade das Richtige für nervöse Haut.» Ich gab ihr mit einem kurzen Blick zu verstehen, dass der Hinweis auf meine sofortige Ersetzbarkeit angekommen war.
«Aber leider», fuhr Inez fort, «hat er auch einen ekligen Adamsapfel, einen Kanten, als ob er einen Bauklotz verschluckt hätte. Ich kriege Angst, wenn ich den sehe. Oder nimm Klaus van den Zween. Klaus ist ein eitler alter Sack, aber wenn ich seine Stimme höre, diese noch von ondulierten UFA-Sprechzuchtmeisterinnen ausgebildete Edelstimme, dann wird mir immer ganz Hans Albers zumute. Ich liebe diese Stimme einfach. Wenn ich Halsweh habe, telefoniere ich immer mit Klaus. Es ist wie Bonbons lutschen mit den Ohren. So ist der Mensch, jeder Mensch: Er besteht aus schönen und weniger schönen Stellen, ein bisschen zum Liebhaben, ein bisschen zum Davonlaufen.»
«Du sprichst nicht von lieben. Du sprichst von mögen.»
«Liebe ist was für Masochisten. Sehnsucht und der ganze Kram, wer will denn diesen Mist?» Sie blickte schmerzensreich gen Himmel und verknotete die Hände vor der Brust. «O Jannek, ich kann ohne dich nicht leben! Ich verschmachte!» Und schlüpfte wieder aus der Rolle: «Bullshit. Klar kann ich ohne dich leben! Jeder kann das. Gute Nacht!»
Drehte sich um und ging.
«Inez!», rief ich ihr hinterher. Sie blieb stehen, wandte aber nur kurz den Kopf zur Seite.
«Ja?»
«Ich mag deine Augen.»
Sie seufzte theatralisch, was ich angemessen fand, sprach: «Und meine Augen mögen deine.»
Und fort war sie. Ich versuchte, belustigt den Kopf zu schütteln, aber es belustigte leider nicht. Manchmal verteidigt man erfolgreich gegenüber einem anderen seine Position, nur um nach seinem Fortgehen festzustellen, dass es nichts als eitle Selbstbehauptung war. Was, wenn Inez mit dem grundsätzlich Partiellen, Selektierten der Liebe recht hatte? Was, wenn ich mich mit Larissa nicht erfolgreich vereinigen konnte, weil ich sie noch nicht in geile und weniger geile Teile aufgeteilt hatte? Ich versuchte, mir Larissas Hintern vorzustellen, aber es ging nicht. Larissa hing einfach immer mit dran. Einfach nur sommersprossig und wunderschön. Eine Persönlichkeit. Unmöglich, so was zu bekleckern.
Tatsächlich blieb es die Frage, ob meine rätselhafte Impotenz die wundervolle Verbindung von Larissa und mir nicht doch irgendwann beeinträchtigen würde. Glückliche Fügung, dass Larissa sich in unserer ersten Zeit dringend auf ein paar Prüfungen vorbereiten musste und ich von den Proben zu Samuel Marschaks «Tierhäuschen», wo ich als Hahn besetzt war, stark in Anspruch genommen war. So schliefen wir getrennt, trafen uns nur morgens zum Frühstück. Mehr Zeit füreinander war nicht. Und eigentlich genoss ich diese Phase unserer unschuldigen Frühstücksfreundschaft. Aber dann kam der Tag und der Abend der Premiere. Es erwies sich, dass die Entscheidung des Regisseurs, mich als Hahn zu besetzen (wörtlich hatte er in der ersten Besprechung gesagt: «Ich sehe hier eigentlich nur einen Gockel, und das ist Jannek!»), ausgesprochen glücklich war. Ich bekam reichlich und lauteren Applaus als der Rest der Mannschaft, was ich mit gespielter Demut entgegennahm. In Wirklichkeit schwoll mir der Kamm vor Stolz. Und da ging noch ein bisschen mehr. Ich betrat die anschließende Premierenfeier mit dem ruhigen Bewusstsein, dass hier und da noch eine paar Brisen höchsten Lobes auf mich einwedeln würden.